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Heute Morgen sind zwei systematische Vorlesungen dran. Sie bewegen sich also nicht mehr auf der Ebene des Neuen Testaments oder der Einzelinterpretation bestimmter Texte, sondern es sind systematische Vorträge, die von der Erfahrung der Gegenwart ausgehen. Es ist sehr wichtig, dass man teils von der Bibel ausgeht und bis zur Gegenwart aktualisiert. Aber auch die andere Vorgehensweise ist sehr wichtig, dass man ganz aus der heutigen Gegenwartserfahrung ausgeht und dann irgendwie biblische Gedanken an passender Stelle damit verquickt. Die Sinnfrage ist eine der grundlegenden Fragen des neuzeitlichen Menschen. Es gibt keine Sinnfrage im Mittelalter

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und es gibt keine Sinnfrage in der Antike. Das Wort Sinn kommt aus dem Germanischen und hat ursprünglich folgende Bedeutung gehabt. Eine Richtung einschlagen, planen und dann auch reisen. Das ist die Urbedeutung von Sinnan im Mittel- und Althochdeutschen. Und aus diesem Wort ist dann das Wort Sinn geworden. Es gibt dieses Wort erst ab dem 19. Jahrhundert. Vorher gibt es dieses Wort nicht. Also die Sinnfrage ist eine typisch, spezifisch neuzeitliche Frage. Ich werde meinen Vortrag der Mensch vor der Frage nach dem Sinn in sieben Kapitel einteilen. Ich lese immer die Kapitelüberschrift zweimal vor von jedem dieser sieben Kapitel. Also das heißt, ich schlage eine bestimmte Richtung ein in der Art und Weise, wie ich mich der Sinnfrage nähere.

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Das erste Kapitel ist überschrieben. Sinn als Befriedigung von Bedürfnissen. Sinn als Befriedigung von Bedürfnissen. Es gibt seit den 80er-Jahren sozialwissenschaftliche Institute, die immer wieder die Bevölkerung befragen in repräsentativen Untersuchungen. Sind sie mit ihrem Leben im Großen und Ganzen zufrieden? Diese Frage wird regelmäßig seit den 80er-Jahren bis heute gestellt. Die Antworten schwanken etwas, aber erstaunlicherweise nicht sehr. Sie liegen erst mal immer zwischen 60 und 70 Prozent. Also diejenigen Menschen, die sagen, ja, im Großen und Ganzen bin ich mit meinem Leben zufrieden, trotz der Probleme, die wir natürlich alle haben. Also so ist die Frage gemeint. Und es kreist immer um zwei Drittel, die Antwort. Also ungefähr zwei Drittel der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger

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sind mit ihrem Leben im Großen und Ganzen zufrieden. Trotz der Probleme, die es natürlich gibt. Es ist interessant, was die befragten Bundesbürgerinnen und Bürger so spontan antworten. Das würdet ihr wahrscheinlich gar nicht denken. An erster Stelle ist folgende Antwort. Wichtig ist mir ein guter Bekanntenkreis, mit dem ich immer wieder was unternehmen kann. Das ist auf Platz eins. Aber natürlich auch, dass ich nicht nur die Frage der Bekanntenkreise, die ich hier vorgegeben habe, sondern auch die Frage der Bekanntenkreise, die ich hier vorgegeben habe, die ich hier vorgegeben habe, die ich hier vorgegeben habe. Das ist auf Platz eins. Aber natürlich, wenn Sie befragt werden nach den Gründen, warum sind Sie im Großen und Ganzen zufrieden, dann äußern Sie auch, ja, einen guten Freund, eine gute Freundin, ich habe eine stabile Ehe,

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ich habe eine stabile Ehe, in der ich mich fassiniere, ich habe eine liebliche Kneipe, in der mich keiner fragt, was du hast oder bist. Das sind so irgendwie die Antworten. Und diese Antworten zeigen eigentlich schon sehr klar, wann der Mensch sich zufrieden fühlt. Der Mensch ist zufrieden, der seine Bedürfnisse einigermaßen befriedigen kann. Das geht uns allen so. Wir sind an diesem Punkt völlig gleich. Wir sind also bedürfnisorientierte Wesen. Wir haben das Bedürfnis nach Erlebnissen und Abenteuern. Wir haben das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Erotik. Wir haben das Bedürfnis nach einem spannenden Flirt, aber auch nach einer stabilen, guten Ehe. Wir haben das Bedürfnis nach Anerkennung und Erfolg.

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Das Bedürfnis nach finanzieller Sicherheit. Wir haben das Bedürfnis nach Kleidern, geschmackvollen Kleidern, in denen wir uns wohlfühlen, und nach einer gemütlichen Wohnung. Wir haben das Bedürfnis, unsere Schüchternheit zu überwinden und vor anderen Menschen eine gute Figur zu machen. Wir haben aber auch das Bedürfnis nach Bildung, nach Reisen und so weiter. Wenn wir krank werden oder krank sind, haben wir vor allem das Bedürfnis nach Gesundheit. Wer schlecht behandelt wird, ungerecht behandelt wird und unterdrückt wird, der hat ganz stark das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Wo der Krieg herrscht oder droht, da wird das Bedürfnis nach Frieden wahnsinnig stark. Das heißt, je nachdem, was fehlt, spitzen sich die Bedürfnisse entsprechend zu. Ich habe zunächst mal bis jetzt die Bedürfnisse

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relativ wahllos aufgezählt, nämlich so, wie sie mir am Schreibtisch eingefallen sind. Tiefenpsychologen könnten da vielleicht schon sehr viel über mich erkennen, aber das lasse ich mal lieber. Man kann aber auch wissenschaftlich versuchen, die Bedürfnisse zu ordnen und zu systematisieren. In Amerika haben das Sozialwissenschaftler getan. Mit gutem Erfolg. Das ist heute weitgehend international anerkannt. Zunächst mal kann man die Bedürfnisse in Gruppen ordnen. Es gibt ganz elementar grundlegend biologische Bedürfnisse. Ich habe mal eine Frage an euch. Wachst über euch selber hinaus, seid nicht schüchtern und meldet euch jetzt und antwortet. Was seid ihr, ist das stärkste Bedürfnis des Menschen? Geliebt zu werden, Geborgenheit. Essen. Ihr habt es noch nicht. Es sind alles wichtige Bedürfnisse, aber wir haben nicht das Wichtigste.

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Trinken, das ist schon ziemlich gut, aber es ist nicht das Wichtigste. Atmen, atmen. Das wichtigste, grundlegende Bedürfnis, also trinken, das kannst du locker mal einen Tag oder zwei essen, fünf, sechs, kann man auch mal ein paar Wochen aufschieben. Aber atmen, schieb das mal 20 Minuten auf. Also, das elementarste Bedürfnis des Menschen ist das Atmen. Wir sind Atemwesen. Dann aber ganz gut, das Nächste ist Trinken und Essen, Wohnen und Schlafen, Sexualität und Gesundheit. Das sind die biologischen Bedürfnisse. Eine zweite Gruppe von Bedürfnissen sind die materiellen Bedürfnisse. Das beginnt auch wieder ganz elementar. Schutz vor Witterung. So in Lappland im Winter, da brauchst du Klamotten. Dann auch Versorgung, elementare Versorgung.

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Dann aber wird es immer besser, Wohlstand, Konsum, Luxus. Ich hab mal eine Frau kennengelernt, bildhübsche Frau, total gesund, sportlich. Und die hat mir mal gesagt, also, Siegfried, der Mann, der mich haben will, der muss mir Luxus bieten. Ich bin eine Luxusdame. Ohne Luxus geht bei mir nichts. Gibt's alles auf der Welt. Also materielle Bedürfnisse. Die dritte Gruppe der Bedürfnisse sind soziale Bedürfnisse. Soziale Bedürfnisse sind Anerkennung. Also geliebt werden, akzeptiert werden, Anerkennung. Erfolg. Dann aber auch Selbstwertgefühl. Selbstbestimmung. Aber auch Gerechtigkeit und Frieden. Und auch zum Beispiel Zärtlichkeit. Sexualität ist ein biologisches Bedürfnis.

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Zärtlichkeit und Kontakt, das sind soziale Bedürfnisse. Und als vierte Gruppe kann man noch geistig-ästhetische Bedürfnisse ordnen. Das ist zum Beispiel ganz grundlegend, geht so bei den Einjährigen, Zweijährigen volle Pulle los, Neugier. Das ist ein geistig-ästhetisches Bedürfnis. Neugier, Entdeckerdrang, Bildung, Wissen, Reisen, Kunst, Musik. Das sind geistig-ästhetische Bedürfnisse. Nach dem Ergebnis der sogenannten Bedürfnispyramide, die Sozialwissenschaftler entwickelt haben, die stimmt auch. Natürlich kann man die Bedürfnisse nie ganz bis in den letzten Millimeter objektivieren. Aber im Großen und Ganzen kann man mit Sicherheit sagen, die biologischen Bedürfnisse sind in aller Regel die stärksten. Und dann kann man auch sagen, die materiellen Bedürfnisse müssen grundlegend befriedigt sein,

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bevor dann sehr schnell auch die sozialen Bedürfnisse und dann auch die geistig-ästhetischen kommen. Also, Fazit. Wir sind bedürfnisorientierte Wesen. Man kann Bedürfnisse auch künstlich erwecken, man kann sie manipulieren ein Stück weit. Der Mensch ist sehr stark beeinflussbar von Werbung, von politischen, anderen Leitbildern, von Idolen und aber auch von seiner maßgebenden Umgebung. Die Bedürfnisse eines armen Menschen sind kolossal anders als die Bedürfnisse eines reichen Menschen. Die leben eigentlich gar nicht in der gleichen Welt. Trotz all dieser Unterschiede kann man sagen, der Mensch ist ein bedürfnisorientiertes Wesen. Der Mensch fühlt sich so lange zufrieden, solange er seine Bedürfnisse einigermaßen befriedigen kann. Aus unseren Bedürfnissen heraus ergeben sich unsere Interessen. Unsere Wünsche.

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Aber auch unsere Ziele, unsere Pläne. Deswegen, Sinan im Hochdeutschen heißt, eine Richtung einschlagen, planen, reisen. Jeder Plan setzt einen Sinn voraus. Sonst würden wir gar nicht planen. Jedes Vorhaben, jede Aktivität setzt einen Sinn voraus. Sonst würden wir völlig apathisch in der Zeit in der Zimmerecke rumhocken. Also, der Mensch ist ein Bedürfniswesen. Jetzt kommt der zweite Baustein in unserer Recherche nach dem Sinn. Ich lese mal die Überschrift vor. Die Unterbrechung der Sinnerfahrung in der Krise. Die Unterbrechung der Sinnerfahrung in der Krise. In dem ersten Kapitel habe ich eine völlig richtige, satte, allgemein bestätigte Antwort gegeben.

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Der Mensch ist so lange mit seinem Leben zufrieden, solange er seine Bedürfnisse einigermaßen befriedigen kann. Das ist eine echte, volle Antwort, die stimmt. Wenn diese Antwort aber ausreichend wäre, könnte ich jetzt aufhören oder ich könnte heimgehen. Aber diese Antwort, obwohl sie stimmt, ist nicht ausreichend. Warum nicht? Weil diese Antwort zugleich die schwersten Probleme enthält. Also, diese richtige, international, von allen Kulturen anerkannte Antwort ist eine Antwort, die zugleich schwerste Probleme enthält. Ich will mal bei meiner Antwort nur zwei Worte jetzt ganz auffällig betonen. Und dann merkt jeder, dass diese Antwort nicht ausreicht, sondern zugleich schwerste Probleme enthält. Der Mensch ist so lange zufrieden,

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solange er seine Bedürfnisse einigermaßen befriedigen kann. Das ist das Problem des Lebens. Deswegen ist das Leben kein Kinderspiel. Deswegen sagen alle Menschen auf der Welt, das Leben ist einerseits wunderschön. Habt ihr auch schon erlebt, denke ich, ich auch. Und das Leben ist andererseits fürchterlich schwer. Das Leben ist wunderschön, das Leben ist fürchterlich schwer. Und das hängt eben an dieser Bedürfnisstruktur. Der Mensch ist so lange zufrieden, solange er seine Bedürfnisse einigermaßen befriedigen kann. Diese Erfahrung, dass die Bedürfnisbefriedigung nicht immer klappt, dass sie unterbrochen werden kann, ist nicht die Behauptung eines kirchlichen Berufsredikers,

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sondern das ist die Sprache, die das Leben selber spricht. Das lehrt uns die Erfahrung. Die Bedürfnisbefriedigung kann mal ganz schön weggehen. Und da siehst du ganz schön alt aus, wie du das bis dahin überhaupt nicht vermöglicht gehalten hättest. Da wird dir der Boden unter den Füßen weggezogen. Und die ganzen großen Antworten, die großen philosophischen Antworten, die großen politischen Antworten, auch die großen religiösen Antworten, die helfen dir verdammt wenig, wenn dir der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Die Antworten im Großen werden da auf einmal merkwürdig mickrig. Diese Erfahrungen, dass die Bedürfnisbefriedigung nicht mehr klappen kann, nennen wir Krisen. In der Krise wird die Sinnerfahrung unterbrochen. Es gibt natürlich so vielfältige Krisen, so bunt-gescheckte Krisen, wie das Leben vielfältig und bunt ist.

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Aber es ist durchaus möglich, die Vielfalt der Krisen in einige wenige Grundprobleme zu ordnen. Und das will ich jetzt mal machen. Ich hab viel da aufgenommen von Heidegger. Also, das Leben hat Krisen. Die erste typische Krise ist eine Verlusterfahrung. Ich mache eine Verlusterfahrung. Der Verlust kann sich auf sehr Verschiedenes beziehen. Zum Beispiel den Verlust der Heimat, Flüchtlinge. Die Flüchtlingsströme heute in diesen Wochen sind größer als jemals zuvor auf der Welt. Also, Flüchtlinge haben schon ein hartes Schicksal. Wenn die Heimat verloren geht, in der man sein ganzes bisheriges Leben zugebracht hat, und wenn die vertrauten Wege und Plätze fehlen, dann stellt sich das behagliche Lebensgefühl einfach nicht mehr ein.

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Vor allem ältere Menschen kann man nicht einfach umtopfen. Sie gehen oft still und ohne Gegenwehr in der Fremde zugrunde. Aber der Verlust kann sich auch auf ganz andere Dinge beziehen. Sagen wir mal, auf den Verlust einer wertvollen Zukunftsperspektive, die ich bisher hatte, die geht durch irgendwas weg. Oder ich werde abgewählt von einem Posten in der Partei oder im Verein. Oder die Pensionierung kann eine schwere Krise auslösen. Für Kinder und Jugendliche kann auch der Umzug der Eltern eine schwere Krise auslösen. Die Spielgefährten sind weg. Oder die Clique, in der ich anerkannt war, ist weg. Am schwersten ist natürlich eine Krise, wenn es sich auf den Verlust eines geliebten Menschen bezieht. Ein französischer Autor hat einmal gesagt,

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ein einziges Wesen fehlt dir, und alles ist entvölkert. Wenn ein geliebter Mensch stirbt oder den Wunsch nach Trennung äußert, das stürzt einen ganz schön ins Bodenlose. Ich habe mal in einem Haus gelebt, in der der zweijährige Markus starb. Seine Mutter raste durch die Wohnung, es war ein größeres Haus mit acht oder zehn Parteien. Ich hörte den Krach im Treppenflur. Sie raste durch die Wohnung. Sie klopfte an der Nachbarstür, weil dort ein Telefon war. Sie hatte leider kein Telefon. Sie rief sofort den SOS in den Rettungswagen, weil ihr Markus hatte einen Erstickungsanfall, einen Krupphusten. Bevor der Rettungswagen kam, starb der zweijährige Markus vor den Augen der eigenen Mutter

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auf dem Sofa der Nachbarin. Auf der Beerdigung brach die Mutter dem Kindersarg mehrfach zusammen. Und ungefähr zwei, drei Monate nach diesem Tod zogen die beiden jungen Eltern getrennt aus dem Haus aus. Vielleicht hatte der Markus eine schwierige Ehe gerade noch gekittet. Vielleicht aber, weil Menschen sehr unterschiedlich trauern, haben sie sich in Trauern auseinandergelebt. Auf jeden Fall in den fünf Minuten auf der Sofa der Nachbarin zerbrach diese Ehe und zerbrach eine Entwicklung von Jahren. Nach einer Verlusterfahrung kann die Lebensfreude völlig zerstört sein. Melancholie breitet sich aus. Man kommt von diesem Verlust nicht mehr weg. Die Gedanken kreisen um ihn und kreisen um ihn. Man kann sich nicht mehr lösen von diesem Verlust. In manchen Fällen wird der Tod etwas Begehrenswertes.

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Der Tod erscheint als der letzte verbliebene Freund, der mich nicht so verletzen wird, wie das Leben mich verletzt hat. Aber eigentlich ist nicht der Tod das Begehrenswerte, sondern die Betäubung einer unerträglichen Situation. In der Bundesrepublik begehen jährlich, setzen jährlich ungefähr 14.000 Menschen ihrem Leben ein Ende. Das ist weitaus mehr wie alle Verkehrstote. Und eine noch größere Zahl versucht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Und die Dunkelziffer ist unbekannt. Die zweite Krisenerfahrung ist die Erfahrung des Versagens. Du versagst. Das Schmerzliche an der Erfahrung des Versagens ist etwas, was bei einer Verlusterfahrung gar nicht da sein muss, nämlich die Erkenntnis, du bist selber schuld.

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Und dieser Selbstvorwurf, du bist schuld, das macht das Erlebnis des Versagens so bitter. Ständig schlechte Noten in der Schule. Häufiges Versagen kann einen fix und fertig machen. Ich kenne eine Frau, die ist zweimal hintereinander durchs Abitur gefallen. Sie ist heute, schätze ich, so 54, 55 Jahre alt. Ich glaube, sie ist erst seit einigen Jahren drüber weg. Heute kann sie drüber reden. Ich kenne jemand, der hat sein Geschäft aufgeben müssen, ist Pankrott gegangen, weil er schlampig kalkuliert hat. Er ist bis heute nicht drüber weg über diese Erfahrung des Versagens. Er zahlt heute noch Schulden ab. Versagen in der Liebe. Ich verliere meine Partnerin oder meinen Partner wegen meiner Unzuverlässigkeit. Ich konnte sie nicht glücklich machen.

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Das nagt. Es kann so weit gehen, dass man sich selber nicht mehr leiden kann. Dass man in der Spiegel guckt und sagt, du bist eine Niete. Andere sind nicht so langweilig und dumm wie du. Dann gibt es eine dritte Krisenerfahrung, die ist völlig anderer Art. Ich glaube nicht, dass einer oder eine der hier Anwesenden, die schon mal gemacht hat, würde mich sehr wundern. Das ist die Erfahrung des Übertrusses. Die kommt vor allem in der Schickeria vor. Superreiche Söhne von irgendwelchen Papas. Alle Autos, allen Sex, alle R-Teile, alles durchprobiert, alles ausgekostet. Die haben so viel Geld, die können es beim besten Willen nicht ausgeben. Die haben das erlebt, wovon der kleine Spießer nicht mal zu träumen wagt. Das haben die alles erlebt. Und vor allem wird das Leben langweilig. Es schmeckt wie abgestandenes Bier.

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Alle Reize ausgekostet, alles durchgemacht. Und die erstaunte Öffentlichkeit fragt, wieso hat dieser superreiche Bleber setzt seinem Leben mit Schlaftabletten ein Ende? Supererfolgreiche Popstars, Filmidole setzen gar nicht so selten ihr Leben ein Ende. Haben alles gehabt, sind überall rumgekommen. Das ist das Erlebnis des Überdrusses. Das Leben ist kein Abenteuer mehr. Was soll mir das Leben jetzt noch bieten? Ich hab schon mit 26 alles zehnfach erlebt. Ein berühmter Mann schreibt einmal in sein Tagebuch, ich komme von einer Gesellschaft, deren Mittelpunkt ich war. Die Witzworte strömten von meinen Lippen. Alles bewunderte mich. Und ich ging hinaus und wollte mich erschießen. Das ist übrigens Sören Kirkegaard hat das geschrieben in sein Tagebuch. Diese Erfahrung des Überdrusses gibt es auch für uns Otto Normalverbraucher.

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Die geht doch ein bisschen anders. Aber diese Erfahrung könnte auch euch mal treffen. Vielleicht hat sie euch, glaub ich, eher nicht. Und zwar, die geht so, da hast du doch ja, da hast du doch jahrelang in deinem Leben alles für dieses attraktive Ziel eingesetzt. Die ganze Fantasie, ganze Energie. Du hast jahrelang geschuftet, gezielt, bewusst geplant, strategisch, klug. Dieses Ziel wolltest du erreichen. Und jetzt hast du es erreicht. Und jetzt merkst, ihr habt mir zu viel versprochen. Als die Ziele in der Zukunft lagen, waren sie faszinierend. Das hat mir was vorgegaukelt. Jetzt habe ich endlich die Frau, die ich immer schon wollte. Und die Ehe entwickelt sich ziemlich schwierig. Ich habe endlich den Posten, den ich immer schon wollte.

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Ich bin überfordert und unzufrieden. Oder politisch gesehen, endlich ist die Revolution gelungen. Und es ändert sich trotzdem nicht viel. Da bist du erledigt. Ernst Bloch nennt diese Erfahrung die Melancholie der Erfüllung. Die Erfüllung bringt das nicht, was ich mir erhofft habe. Die vierte Krisenerfahrung ist eine nur neuzeitliche, das ist die Burn-out-Erfahrung. Ich bin leer, ich bin zehn Jahre im Schuldienst. Ich komme zwölf Jahre von der Bank heim, jeden Abend um halb acht. Und jetzt bin ich kaputt, jetzt bin ich erschöpft. Der Elan ist weg. Ich war mal in einer Fakultätsratssitzung bei uns und dann war ein Dekan, eine Zeit lang war er ein Pädagogikprofessor, ein Dekan, der hat immer ein Wort zum Tage vorgelesen. Und der hat also aus einem Buch von Gudjohns, das ist ein großer Pädagoge zurzeit,

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hat einen Satz vorgelesen von Gudjohns, den werde ich nie wieder vergessen. Er sagt, liebe Kollegen, die eine Sache ist, Niveau zu erreichen. Die andere ist, es zu erreichen. Die andere ist, es zu halten. Ich habe mir schon manchmal gedacht, Mensch, Siggi, mit 48 hast du die Vorlesung schon besser gehalten als heute. Also Burn-out, man ist jetzt schon 15 Jahre in der PH, wie war das noch in den ersten Jahren? Da ist man herangegangen, jetzt gleiche Vorlesung zum achten Mal, zehn Jahre Schuldienst, elf Jahre Deutsche Bank und so weiter. Irgendwann bist du leer und der Elan ist weg. Und die Luft ist weg. Es reizt dich nicht mehr, Midlife-Crisis und so weiter. Also dieses Burn-out-Syndrom kann in schwerste Krisen stürzen. Und die letzte und fünfte Krise ist die Krise der Vergänglichkeit.

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Du erlebst echt intensiv, nicht nebenbei, deine eigene Vergänglichkeit. Zu menschlichem Leben gehört die Zeit. Und die Zeit vergeht. Du kannst den glücklichen Augenblick, der gerade war, nicht festhalten. Er kommt nie wieder. Im Raum kannst du hin und her gehen, du kannst einen Gang wiederholen, in der Zeit kannst du das nicht. Die Zeit ist wie eine Einbahnstraße, es ist wie ein Strom. Und dieses unaufhaltbare Vorüberfließen der Zeit kann einen ganz schön fix und fertig machen. Also wenn du älter wirst und in der Firma die jüngeren Kollegen jetzt schon bevorzugt werden, wenn der Fußballverein dir höflich nahelegt, jetzt langsam in die Seniorenmannschaft überzuwechseln, wenn du keine Jugendarbeit mehr machen kannst,

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kannst du nicht mehr mit der Jungscharleute über den Tisch springen mit 43. Wenn die Gebrechen des Alters sich melden, wenn das, was die Gesellschaft als Schönheit definiert hat, weggeht, das ist das Erlebnis der Zeit. Wenn Künstler und Sportler erleben, wie schnell der Ruhm und der Erfolg vorübergehen kann. Am schlimmsten natürlich trifft uns die Erfahrung der Vergänglichkeit bei schwerer Krankheit und Todesgefahr. Mit einer niemals gedachten Dringlichkeit meldet sich die Frage nach dem Sinn. Das hättest du nicht vermöglicht gehalten. Weil solange du deine Bedürfnisse einigermaßen befriedigen kannst, findest du die Frage nach dem Sinn eine Luxusfrage. Ist was so für Philosophen, die da Zeit haben. Aber du hast praktische Dinge zu tun, Pfeifedeckel. Und wenn du in schwere Krankheit gerätst und Todesgefahr, ich kenn Topmanager, Herzinfarkt mit 43,

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gerade noch davon gekommen, die spüren, dass ihr bisheriges Leben sinnlos war. Das brauchst du denen gar nicht sagen, das wissen die. So schnell kann's gehen, gell? In der Todeszelle einer amerikanischen Gefängnis fand man mit Fingernägeln eingekritzt, das kann nicht der Sinn meines Lebens gewesen sein. Also, das ist die Erfahrung der Vergänglichkeit. Diese fünf Krisenerfahrungen, die Verlusterfahrung, die Erfahrung des Versagens, die Überdrusserfahrung bzw. die melancholische Erfüllung, das Ausgebranntsein und die Erfahrung der Vergänglichkeit, das sind die großen Krisenerfahrungen des Menschen. Oft kommen sogar mehrere dieser Krisen zusammen, bis einer zusammenbricht. Da hat jeder so seinen eigenen psychologischen, physikalischen Haushalt. Der Mensch verkraftet unterschiedlich viel von diesen Dingen. Die Krisen haben eine merkwürdige Angewohnheit,

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die kommen immer dann, wenn man sie nicht brauchen kann. Sie kommen ungeplant in Augenblicken, wo es gar nicht leiden kann. Und diese Krisen zeigen, dass das Leben viel unberechenbarer ist, als die klar aufgebauten Lehrpläne der Schulen es uns vorgaukeln. Ich komme auf die Krisen nicht deshalb zu sprechen, weil ich die Zufriedenen unter euch ärgern will und unsicher machen will. Sondern ich komme auf die Krisen zu sprechen, weil es unrealistisch wäre, so zu tun, als ob es sie nicht gäbe. Der Mensch hat schon ein Recht darauf, nach Glück zu streben. Das ist eine Erkenntnis der Neuzeit. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zum Beispiel steht, jeder Mensch hat das Recht auf Glück. Und das stimmt auch. Jeder Mensch hat das Recht, nach Glück zu streben. Und dieses Recht solltet ihr euch von niemandem ausreden lassen.

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Früher im Mittelalter und in der Antike war das Leben ein Jammertal. Das Leben ist ein Jammertal und im Jenseits, hoffen wir mal. Aber in der Neuzeit wird entdeckt, nein, so kann man die Menschen nicht gängeln. Sondern das Leben ist was Wertvolles. Der Mensch hat ein Recht auf Glück. Also ich komme nicht auf die Krisen zu sprechen, weil ich den Menschen das Recht auf Glück madig machen will. Das darf ich ja nicht. Sondern ich komme darauf zu sprechen, weil ich die Hoffnung habe, dass in einer Krise ein Erkenntnisgewinn steckt. Der erschütterte Mensch will seine Fundamente tiefer legen als der Sonny Boy. In der Krise spürt der Mensch, dass seine Beseitigung in der Krise ziemlich oberflächlich war. Er will seine Fundamente tiefer legen. Und wer weiß, vielleicht steckt sogar in den Krisen eine Botschaft.

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Eine Botschaft des Lebens an uns. Jetzt kommt der dritte Baustein. Die große Bedeutung der Kindheit für die Sinnerfahrung. Die große Bedeutung der Kindheit für die Sinnerfahrung. Wenn wir in der Recherche nach dem Sinn einen echten Schritt weiterkommen wollen, ich meine jetzt wirklich einen echten, dann müssen wir eine Frage stellen, die der Mensch normalerweise nicht stellt. Denn die Frage ist so lapidar, sie ist so einfach und sie klingt so banal, dass wir normalerweise über die Frage kommen, diese Frage zu stellen. Und diese Frage lautet, warum empfindet eigentlich der Mensch die Krise als etwas Unangenehmes? Die Frage scheint doof, ist es aber überhaupt nicht. Wie kommt es, dass jeder Mensch auf jedem Erdteil

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interreligiös, interkulturell die Krise als etwas Beklagenswertes? Dann kommt die Krise, die ist so Wie kommt es, dass jeder Mensch auf jedem Erdteil interreligiös, interkulturell die Krise als etwas Beklagenswertes? Dann kommt die Klage. Warum eigentlich? Ja, das hat einen tiefen Grund. Weil in der Krise etwas verloren geht an Sinnerfahrung, die wir bisher hatten. Vor der Krise hatten wir etwas, eine Erfahrung von Sinn und Geborgenheit und Glück und Stabilität, und die rutscht jetzt weg. Und das tut weh, und deswegen klagen wir. Jeder Mensch hat also vor der Sinnerfahrung, vor der Krise, jeder Mensch hat vor der Krise immer schon eine Sinnerfahrung gemacht, von der kommt er her, und die verliert er in der Krise. Und jetzt frage ich mich, was ist das für eine Sinnerfahrung, von der wir immer schon herkommen,

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die jeder Krise vorausliegt, sonst würden wir die Krise gar nicht als Krise empfinden können. Wenn wir dieser Sinnerfahrung konsequent nachgehen, das müssen wir jetzt machen, kommen wir zurück in unsere frühe Kindheit. Am Anfang unseres Lebens steht nicht die Erfahrung des Absurden, des Nichtigen, des Sinnlosen, sondern am Anfang unserer Lebens steht eine tiefe Erfahrung von Sinn. Unser Leben begann nicht in der Fremde. Ich lasse jetzt mal, weil es sonst viel zu schwer würde, die Erfahrung von Findelkindern und vielleicht auch von Heimkindern, ausgesetzten Kindern, ich lasse jetzt mal diese Erfahrung beiseite. Nicht, weil ich sie unwichtig finde, sondern weil sie so wichtig ist, dass man sie nebenbei gar nicht behandeln kann. Ich gehe also mal davon aus, dass ihr alle relativ normal aufgewachsen seid.

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Eigentlich bin ich mir da ziemlich sicher, wenn ihr aufgewachsen wärtet, würdet ihr jetzt nicht hier sitzen. Also euer Leben und mein Leben begann nicht in der Fremde, sondern an einem vertrauten und geschützten Ort, in der Wiege, in den Armen der Eltern und an der Brust der Mutter. Das lächelnde Gesicht, das über unserer Wiege auftaucht, ich mache es euch mal kurz vor, erinnert euch mal dran, als ihr ein Jahr alt wart. Bitte erinnert euch jetzt mal dran. Also als wir ein Jahr alt waren, da lagen wir so in der Wiege. Wisst ihr es noch? Und da war das so der Horizont. Und dann tauchte manchmal so ein kreisrundes Mund, ein Mund, Gesicht kann man auch sagen, was Eltern sind, weiß ein Einjähriger nicht. Also da taucht irgendein Mund auf, der verzieht sein Gesicht. Und dann sagt er, du kleines Putzen, wie geht's denn heute?

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Also trellert uns an, guckt da so ein Einjähriger, und dann streichelt er uns, schiebt den Schoppen uns in den Mund, zieht die Windeln hinter dem Po vor und lächelt uns an. Und weil wir angelächelt wurden, lernten wir zurückzulächeln. Alles Lächeln ist Zurücklächeln. Ermöglicht, weil wir angelächelt wurden. Und das war der Start unseres Lebens. Das war die erste Lebensordnung, und deswegen war das Leben in Ordnung. Ein Kleinkind, ein ein- oder zweijähriges Kind, spürt ganz genau, da sind so Riesen um uns herum, eine Riesen, ein Riese, zwei oder drei, die Oma oder so. Auf jeden Fall, es sind so ein, zwei, drei Riesen ständig um mich herum. Und ein Kleinkind spürt ganz deutlich, die könntet mich tottappen. Machen ja auch manche. Ich könnte gar keinen Widerstand leisten.

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Ich kann gegen diese Riesen keinen Widerstand leisten. Aber wenn die Riesen sich über mich beugen, mich antrellern und anlächeln, dann spürt ein Kleinkind, ich darf leben. Und ein Kleinkind spürt vor allem, irgendwie bin ich wichtig. Weil diese Riesen kümmern sich um mich. Die könnten mich ja auch in der Ecke liegen lassen. Aber die Kleinkinder spüren, diese Riesen tolerieren mein Dasein, nicht nur, sie umsorgen es. Also irgendwie bin ich für diese Riesen wichtig. Und weil ich für diese Riesen wichtig bin, bin ich wichtig. Kein Mensch kann sich selber sagen, wie wichtig er ist. Niemand. Das siehst du nur im Gesicht eines anderen. Nur in den Augen eines anderen kannst du ablesen, wie willkommen du bist. Das kannst du dir nicht selber sagen.

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Und in der Kindheit haben wir gespürt, ich bin wichtig, einfach, weil ich da bin. Und ich sage euch, was Gesünderes gibt es nicht. Das werdet ihr nie wieder überbieten können. Ein Kleinkind im Normalfall, können Eltern ruhig einige Fehler machen. Denn was die empirischen, konkreten Eltern aus der Kindheit machen, das ist ein Kapitel für sich. Auch ich habe mal meine Tochter gefragt, Chrissi, kannst du mir mal ein paar unangenehme Sachen sagen, so in der Kindheit, die ich gar nicht gemerkt habe. Da war sie so 18. Da habe ich mal gedacht, so als progressiver Pädagoge, ich frage mal meine Tochter. Und dann sage ich euch, hat sie mir ein paar Dinge gesagt, die kann ich hier nicht sagen. Da schäme ich mich, da geniere ich mich. Und da ist Chrissi ganz schön normal aufgewachsen. Sie wollten nur sagen, wir Eltern brauchen keine Engel sein, wir machen viele Tausend Fehler. Aber wenn die Chemie grundsätzlich stimmt, wenn das Kind spürt, ich bin so glücklich, dass du da bist, dann spürt ein Kind, ich bin wichtig, einfach, weil ich da bin.

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Also, die Eltern können immer nur partiell das aus einer Kindheit verwirklichen, was potenziell in einer Kindheit drinsteckt. Die Kindheit ist ja keine Erfindung der Eltern. Die haben doch nicht die Kindheit erfunden. Sondern die Kindheit ist eine Vorgegebenheit des Lebens. Und was die konkreten empirischen Eltern aus der Kindheit machen, ist ein Kapitel für sich, das lassen wir jetzt einfach mal weg. Aber grundsätzlich schlummern im Phänomen der Kindheit tiefste Glückserfahrungen. Ich will damit die Kindheit nicht schönreden. Es gibt schlimme Verletzungen in der Kindheit. Viele blicken zurück im Zorn. Oft könnte man Papa, Mama grad mal auf den Mund schießen. Und wenn mal ein Fünfjähriger sagt, Mama, ich hasse dich, brauchst du nicht in Ohnmacht fallen, ist völlig normal. Drei Tage später liebt es dich auch wieder. Kinder müssen auch die Eltern mal hassen dürfen. Das muss man nicht gleich schlapp machen. Also, die Kindheit auch realistisch betrachtet

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ist aber schon ein enormer Start. Weil das Interesse dieser Riesen, die Reaktion der Riesen auf mich ermöglicht mein Leben. Ich fasse mal das Kapitel so zusammen. Am Anfang unseres Lebens stehen zwei Grunderfahrungen. Die erste ist, ich verdanke mein Urvertrauen, meine Lebenszuversicht, meine Lebenslust, verdanke ich einer Beziehung. Das Dach überm Kopf Sauerstoff, Milch und Brot ist wichtig, aber die reichen nicht aus. Sondern ich verdanke meine Grunderfahrung einer Beziehung. Und das Interesse hat mir gezeigt, ich bin wichtig, einfach, weil ich da bin. Und die zweite Grunderfahrung ist, ich musste diese Beziehung nicht bezahlen. Ich musste nicht bezahlen. Ich wusste ja noch gar nicht, was Geld ist. Ich begann, mich zu verlieben.

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Ich wusste gar nicht, was Geld ist. Ich bekam diese entscheidende Erfahrung umsonst. Und das ist die erste Lebensordnung, die wir alle verschmeckt haben. Und deswegen war für uns das Leben in Ordnung. Wir werden es nie wieder vergessen können, dass wir das erlebt haben. Dass wir so etwas Kostbares erlebt haben. Dieser Geschmack bleibt auf unserer Zunge. Wir kriegen den Geschmack nicht mehr los. Und dieser Geschmack macht uns nicht satt, sondern hungrig. Jetzt kommt der vierte Baustein. Die Lebenserfahrung in der Erwerbs- und Tauschgesellschaft. Der Lebenskampf, besser gesagt. Der Lebenskampf in der Erwerbs- und Tauschgesellschaft. Bald kommen wir raus aus dem Glück der frühen Kindheit. Wir müssen heraus aus dem Vertrauten ins Unvertraute. Und in der Gesellschaft herrschen ziemlich andere Regeln.

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Da bist du nicht einfach wichtig, weil du da bist. Ja, wo kämen wir da hin? Wenn in der Welt jeder Mensch wichtig wäre, einfach weil er da ist, ist ja nicht auszudenken, was sich da ändern müsste. Also so geht es nicht, dass jeder Mensch einfach wichtig ist, weil er da ist, gell? Nein, nein. In der Gesellschaft musst du deine Daseinsberechtigung dir erwerben. Durch Qualifikationen, durch Nutzwerte, durch Qualitäten. Du musst dir deine Daseinsberechtigung erwerben. Und da herrschen ganz andere Gesetze, nämlich das Gesetz der Beurteilung. Du zappelst im Netz der Beurteilung. Bist du gesund, bist du schön, bist du klug? Bist du auf der Hauptschule oder Sonderschule, Realschule, Gymnasium? Harte Selektion. Wir werden immer wieder zu Stellen bewerbern, dessen Tauglichkeitsgrad taxiert wird.

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Wir werden taxiert wie eine Ware auf dem Markt. Wir werden taxiert nach unserem Gebrauchswert. Es ist irgendwie so symbolisch gesprochen, nehmen Sie doch bitte mal Platz, kommen Sie mal her, dass ich mal Ihre Verwendungsmöglichkeiten prüfen kann. Wie können wir Sie eigentlich verwenden? In welche Schublade gehören Sie eigentlich? Können Sie in die Schublade qualifiziert oder unqualifiziert? Können wir gebrauchen oder bitte schön, danke schön? Wir können Sie leider nicht gebrauchen. Wir haben ja andere, die Ihre Stelle einnehmen können. Also der Mensch wird immer wieder zum Stellenbewerber. Und den prüfenden Blick haben Sie alle gemeinsam. Der prüfende Blick, die Personalschefs, die Bildungsexperten, die Lehrer. Ein Kunstlehrer sagte mal zu meiner Tochter, Krissi, du bist künstlerisch unbegabt. Das hat die tatsächlich fünf Jahre lang geglaubt. Also diese Beurteilungen, wie die uns fertig machen, dass irgendwelche Instanzen, Nachbarn, Idioten,

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Chefs, Abteilungsleiter uns ständig beurteilen und am Schluss glauben wir das noch. Diese beurteilende Kraft hat ja eine Macht über uns, über unser Gewissen, über unser Selbstwertgefühl. In all diesen Dingen schimpfe ich nicht. Denn ich sage euch, eine Gesellschaft kann gar nicht anders. Eine Gesellschaft muss so handeln, wenn sie funktionieren will. Ich schimpfe darüber nicht, aber sagen möchte ich schon. Der Mund verbieten lasse ich mir nicht. Also jede Gesellschaft legt eine Messlatte an ihre Mitglieder an. Jede feudalistische, kapitalistische, sozialistische, aristokratische, jede Gesellschaft, sie kann gar nicht anders. Die Art der Messlatte ist anders in der feudalistischen wie in der kapitalistischen. Aber die Tatsache, dass eine Messlatte an dich angelegt wird und deine Nützlichkeitswerte, dein Verwendungszweck geprüft wird, der bleibt.

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Und wenn du dann in der Erwerbs- und Tauschgesellschaft was bieten kannst, Qualifikationen, Qualitäten, Lehrkapazität, kommunikative Kapazität, kriegst du im Tausch Anerkennung. Es wird alles getauscht. Hast du was zu bieten, kriegst du was. Hast du nichts zu bieten, bleiben dir die Komplexe. Ist ja völlig klar. Hast du was zu bieten, bekommst du Achtung und Anerkennung. Hast du weniger zu bieten, wirst du psychisch und finanziell degradiert. Du findest dann im besten Fall Verständnis. Aber nicht Achtung, Verständnis. Ich verstehe schon, wie das bei dir in deiner Biografie ist. In unserer modernen Industriegesellschaft, die immer stärker verwaltet werden wird, immer technokratischer werden wird, immer zweckrationalisierter, da entscheidet eigentlich der Nutzen, den wir füreinander haben. Wenn ich einen Laden betrete, dann bin ich nicht der einmalige Siggi.

45:04
Ich möchte euch nebenbei mal sagen, ich bin der einmalige Unwiederholer. Ich bin der einmalige, unwiederholbare Siggi. Aber wenn ich einen Kaufladen betrete, bin ich einfach ein Kunde, dessen Funktion es ist, hier zu kaufen. Da weiß die Verkäuferin schon, sie sollte freundlich sein. Wenn ihr im Flugzeug sitzt, finde ich schon gut, dass die Suartes freundlich ist. Ist mir lieber, als wenn sie unfreundlich ist. Aber ihre Freundlichkeit gilt nicht mir als dem einmaligen, unwiederholbaren Siggi, sondern sie gilt dem Fluggast. Also, es ist eigentlich die Funktion, die bei uns zählt in dieser Erwerbs- und Tauschgesellschaft. Die Firma braucht einen Bilanzbuchhalter. Ob das der einmalige Hugo Mayer oder der ebenfalls einmalige Sepp Müller ist, ist eigentlich egal. Es tut nichts zur Sache, Hauptsache, er beherrscht sein Geschäft. Wenn sich drei gleich gute Finanzbuchhalter melden, sind sie austauschbar.

46:01
Wir haben in unserer Gesellschaft nur die Unersetzbarkeit eines Werkzeugs. Wenn eine Gesellschaft mehrere gleich gute Werkzeuge hat, sind wir völlig austauschbar. Bitte, Sie können ja gehen, wir haben andere, die ihre Stelle einnehmen. Solange es Mangel an Werkzeugen gibt, ist es ein bisschen besser. Aber ich sage euch, wenn es Überfluss an Werkzeugen gibt, gell? In einem Sozial- und Wohlfahrtsstaat bin ich froh, dass die Bundesrepublik ein Sozial- und Wohlfahrtsstaat ist, wird das abgefedert, Gott sei Dank. Aber im Prinzip gilt es hier auch. Wenn du keine Qualitäten und Qualifikationen vorweisen kannst, bist du im Prinzip entbehrlich, ja, ich muss sogar sagen, stehst als Hindernis herum. Und in so einer Gesellschaft, wo das Prinzip der Beurteilung herrscht, stellt sich folgende Frage. Welchen Nutzen hat eigentlich Gott? Da wird man doch mal fragen dürfen. Ich würde mich mal interessieren, in welche Schublade gehört eigentlich der? Gehört der in die Schublade qualifiziert oder nicht qualifiziert?

47:07
Können wir gebrauchen oder... Bitte schön, danke schön. Können wir nicht gebrauchen? Ich meine, kann man Gott verwenden? Kann man Gott zu einem wertvollen Mitarbeiter der Firma machen? Kannst du Gott zu einem wertvollen Mitarbeiter machen? Kannst du Gott vor deinen Karren spannen? Kannst du Gott zum Angestellten machen? Martin Buber hat mal gesagt, in einer Gesellschaft, wo das Gesetz der Beurteilung herrscht, herrscht immer Gottes Finsternis. Denn auf die Tour, auf diese billige, plumpe Tour lässt er sich nicht finden. Noch ein paar letzte Worte in dieser Gesellschaft, in dieser Tausch- und Erwerbsgesellschaft, wo du alles erwerben musst, wo nur getauscht wird. Da entwickelt sich natürlich ein Kampf ums Dasein.

48:04
Wir werden hineingezogen in einen Konkurrenzkampf. Wir sind potenziell ständig Konkurrenten. Das entfremdet uns voneinander. Wir bemühen uns um die besten Plätze, um einen Platz an der Sonne. Da kämpfen wir. Und in einer Konkurrenzgesellschaft kannst du nur attraktiv sein im Vergleich zu anderen, die nicht so attraktiv sind. Du kannst nur erfolgreich sein im Vergleich zu anderen, die nicht so erfolgreich sind. Glück und Selbstsicherheit auf der Seite der Winner. Das ist keine Kunst, wenn die freundlich sind, herzlich. Das ist keine Kunst. Und bei den anderen Verzweifel des Bemühen, doch noch den Anschluss zu schaffen. Und wenn nicht, die bittere Erkenntnis, es hat alles keinen Zweck mehr. Jetzt kommt das fünfte Kapitel. Freundschaft und Liebe als partielles Außerkraftsetzen des Gesetzes der Beurteilung.

49:02
Freundschaft und Liebe als partielles Außerkraftsetzen der Tausch- und Erwerbsgesellschaft. Aber ich muss euch sagen, leider nur partiell. Damit ihr euch nichts vormacht. Es gibt auf jeden Fall Erfahrungen unter uns Menschen, die laufen nicht so ab wie das Gesetz der Beurteilung. Sondern wenn ich Freunde habe und Menschen, die mich lieben, dann erlebe ich wieder etwas, was ich seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt habe. Ich bin wichtig, einfach, weil ich da bin. Wenn ich in das Gesicht dessen gucke, der mich liebt, merke ich, jetzt zählt nicht mehr meine Funktion. Die ist nicht unwichtig, aber entscheidend ist meine einmalige Person. Wer verliebt ist, entdeckt die Einmaligkeit der Person. Der kann nicht sagen, ich brauche eine Frau, egal welche. Und je länger ich mit einer Frau und einem Mann zusammenlebe,

50:01
desto unauswechselbarer wird er. Denn diese fünf oder acht Jahre kann ich mit niemandem mehr leben. Und diese fünf Jahre kann ich mit niemandem mehr wiederholen. Kannst du nicht einfach wiederholen. Bertolt Brecht sagt einmal, sei dich weiß, dass du mich liebst. Fürchte ich von jedem Regentropfen, dass er mich erschlagen könnte. So sehr passt man auf sich auf. Wenn du jemand hast, der dich liebt, dann hörst du zum ersten Mal, für mich bist du unersetzbar. Was wäre ich ohne dich? Wo du das hörst, da bist du daheim. Ich sag dir, das kann dir kein Geld sagen. Keine Karriere, keine Ideologie. Geld kann doch nicht zu dir sagen, für mich bist du unersetzbar, was wäre ich ohne dich? Das kann dir keine Partei und keine Karriere sagen. Das kann dir nur Lebendige sagen, Personen.

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Deswegen sagt Schelling, nur eine Person kann einer Person Sinn geben. Kein Geld und kein Erfolg, lasst euch bloß nicht täuschen. Es ist so, dass in der Erfahrung von Freundschaft und Liebe... Es ist nicht so, dass man in der Erfahrung von Freundschaft und Liebe faul und träge wird, dass die Leistung keine Rolle mehr spielt. Gar nicht, gar nicht. Es ist nicht so, dass in der Erfahrung von Freundschaft und Liebe die Leistung keine Rolle mehr spielen würde. Nein, ganz im Gegenteil. Du wirst zu den größten Leistungen inspiriert. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. In der Tausch- und Erwerbsgesellschaft bringst du Leistung, um anerkannt und glücklich zu werden. In der Liebe bringst du Leistung, weil du anerkannt und glücklich bist. Das ist ein Unterschied. Wenn du Leistung bringst aus der Freude raus,

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weil du bist ja sowieso schon glücklich, bist du eh schon anerkannt, diese Leistung ist freiheitlich. Sie ist spontane, dankbare Reaktion. Und das inspiriert. Da wirst du kreativ zu den größten Leistungen der Menschheit. Aus Liebe heraus, aus Dankbarkeit. Aber wenn du hecheln musst und Leistung bringen musst, damit du überhaupt anerkannt wirst, ich sag euch, das ist zweifelhaft. Ich sag euch, das ist zwanghaft und führt in Zwänge. Jetzt müssen wir aber bei der Freundschaft und Liebe ganz realistisch bleiben. Freundschaft und Liebe ist nicht die Antwort auf die Sinnfrage. Ich sag's euch gleich. Wie viele Leute haben keine echten Freunde? Gibt's für die keine Antwort. Wie viele haben keine Liebespartner? Wie viele sind in einer Ehe, die ziemlich schlecht ist, wo man sich überlegt, wann steige ich aus? Und selbst in einer glücklichen Ehe kann der Partner sterben. Also, das Glück der Freunde und Liebenden

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ist halt immer nur das Glück der Freunde und Liebenden. Wenn du in der angesagten Clique in der 9. Klasse Realschule in Ludwigsburg drin bist, da hast du Freunde. Aber kommt nicht jeder in die angesagte Clique rein. Also, wenn Freundschaft und Liebe die Antwort auf die Sinnfrage wären, dann hätten wir eine Antwort, die nicht jedem Menschen gilt, die uns nicht alle solidarisch macht. Muss es nicht eine Antwort auf die Sinnfrage geben, die für uns alle gleicherweise gilt? Doch, so eine muss es geben. Nämlich oft ist das Glück dieses Paares und das Glück dieser Clique zieht andere noch tiefer ins Unglück rein. Weil die zwei demonstrieren mit ihrem Geknutsche und Getuschle, die demonstrieren unbewußt, unabsichtlich, was den anderen fehlt, dann haut es die noch tiefer rein. Und Sozialpsychologen in Amerika haben Folgendes erforscht,

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sehr gründlich, du nimmst doch nicht jeden zum Freund. Solange du dir es leisten kannst, du wählst doch aus. Wenn du einigermaßen attraktiv bist, klug bist, kommunikativ bist, gut aussiehst, hast du schon eine gewisse Auswahl. Du wählst doch nicht jeden zum Freund und verliebst dich nicht in jeden. Meinst du, dass das Zufall ist? Eure Flirt- und Liebesbeziehungen, meint ihr, dass das Zufall ist? Gar nicht, gar nicht. Also, ich sag euch mal die Hohmannsche Interaktionsregel, gründlich erforscht, USA. Wenn du einen Menschen kennenlernst, laufen in sekundenschnelle Kosten-Nutzen-Rechnungen ab. In jedem Menschen. Bildet euch bloß nicht ein, dass es bei euch nicht so ist. Ihr sagt nämlich sehr schnell, lohnt sich das? Soll ich den näher kennenlernen? Und da habt ihr sofort Kosten-Nutzen-Rechnungen. Wie viel muss ich investieren und wie viel kriege ich zurück?

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Und den Reiz, dass du eine Beziehung reizvoll findest, ist nur, wenn du den Eindruck hast, das, was ich aufwende, kommt mindestens zur gleichen Zeit zurück. Also, es lohnt sich nur dann. Alle anderen Beziehungen sind so christliche Nexchenliebe, diagonisch. Ich bin christlich, ich bin diagon, ich muss mich um den kümmern. Jetzt lassen wir mal die diagonischen Beziehungen weg. Sondern du wählst nur die Freunde, wo du denkst, das ist ungefähr der gleiche Arbeitsmarkt, das ist ungefähr dein Stand. Und mit dem kannst du dich adäquat sehen lassen, gleich und gleich gesellt sich gern. Und was in dieser Gesellschaft, wo die Flirt- und Liebesbeziehungen hochgradig den Markt gesetzen, der Erwerbs- und Tauschgesellschaft unterliegen, besagt es manchmal gar nicht so viel, wenn dir einer sagt, ich liebe dich. Da musst du aufpassen. Vielleicht meint er im Tiefsten, ich liebe mich, und dazu brauch ich dich. Da musst du vorsichtig sein.

56:02
Es gibt zum Beispiel in Baden-Württemberg eine grundschulempirische Untersuchung. Man hat 2.000 Grundschüler anonym befragt, neben wem tätisch am liebsten würdest du am liebsten sitzen. Und die Ergebnisse waren völlig klar. Der, neben dem ich am liebsten sitzen würde, muss attraktiv sein in verschiedener Hinsicht. Er muss attraktive Eigenschaften haben. Und zweitens, er muss ähnliche Dinge mögen wie ich. Weil Sympathie beruht zu 80 Prozent auf Ähnlichkeit. Weil wenn der andere ähnlich ist, politisch, erotisch, philosophisch, dann ist auch eine Bestätigung meiner Person zu erwarten. Und das mag ich. Also, die Grundschüler wie die Erwachsenen, der, den ich gerne hätte, muss attraktive Eigenschaften haben. Und er muss ähnliche Dinge mögen wie ich. Das fühle ich mir auch ausreichend bestätigt. Und deswegen haben die Grundschüler selten, haben Mittel- und Oberschicht- grundschüler Unterschichtskinder gewählt.

57:02
Die mögen nämlich nicht die gleichen Dinge wie ich. Die kennen Chopin gar nicht. Und so weiter. Also, am Schluss von diesem fünften Baustein. Schön, dass es Freundschaft und Liebe gibt. Wie schön. Kostbar. Denn in diesen Erfahrungen durchbrechen wir die harten Marktgesetze wenigstens partiell. Und die schauen supergut, gell? Aber überschätzt es nicht, eure Liebes- und Flirt- und Freundschaftsbeziehungen sind ein bunter Strauß vieler Motive. Ihr könnt glücklich sein, und ich wünsche es euch, wenn unter all euren Motiven auch echte Liebe steckt. Sagen wir mal drei Prozent, vielleicht im extrem guten Fall fünf Prozent. Und von diesen echten Prozent wird eure echte Liebe leben. Denn diese drei oder vier Prozent, die stellen keine Kosten-Nutzen-Rechnungen an. Die stehen zu dir... unabhängig, ob du Erfolg hast oder nicht.

58:03
Und von diesen Prozenten, da lebt eure Beziehung. Aber also werdet nicht neurotisch. Das sind drei oder fünf Prozent. Alle anderen Prozent unterliegen der Tausch- und Erwerbsgesellschaft. Sechstens... Deswegen hat mein Lieblingsphilosoph Ernst Bloch gesagt, Leute, das privatistische, elitäre Klicken und Paarglück der Liebenden und der tollen Freunde kann nicht die Antwort auf die Sinnfrage sein. Gönnen wir den verliebten Paaren den tollen Klicken, wir sind da nicht kleinlich, wir gönnen euch alle, ist ja gut, ist ja gut, ihr gönnt euch, keine Sorgen. Ich gönne euch eure Freundschaft, euer Glick. Werdet glücklich, habt eine gute Ehe, findet wunderschöne Freunde. Ich gönne es euch von Herzen. Ich selber bin da auch relativ gut weggekommen. Aber macht euch nichts vor, das ist privatistisch. Das ist Klickenhorizont. Das kann doch nicht die Antwort auf die Sinnfrage sein.

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Deswegen sagt Ernst Bloch in einem seiner Meisterwerke, Prinzip Hoffnung, er sagt, Leute, wir müssen tiefer ansetzen. Wir müssen uns um eine Gesellschaft bemühen, wo wieder die Person des Menschen im Vordergrund steht und nicht seine Funktion. Ich habe Ernst Bloch noch in Tübingen mitgekriegt, gell? Ich sag euch, vier Stunden Ernst Bloch lernst du mehr wie sechs Semester PH Ludwigsburg. Also, der Mann, der... Das war schon ein Besonderer. Der hat ein Buch geschrieben, Prinzip Hoffnung. Ich möchte es euch nicht unbedingt empfehlen. Es hat 1300 Seiten, sind drei Bände. Ich sage euch, es liest sich schwer. Aber es ist ein geniales Buch. Jetzt möchte ich euch nur sagen, den letzten Satz. Aus 1300 Seiten. Da könnt ihr sicher sein, dass Ernst Bloch seine Worte wägt und dass er genau überlegt, wie er 1300 Seiten beendet.

60:03
1300 Seiten. Er hat in diesem Buch zu erforschen versucht, wir müssen wieder eine Gesellschaft aufbauen. Wenigstens versuchen. Wir müssen die Chancen ausloten. Wir dürfen uns nicht deprimieren und sagen, das ist ja idealistisch und so weiter. Nein, nein, das ist human. Wir sind als Menschen verpflichtet, diese Chancen auszuloten. Können wir die Gesellschaft so tiefgreifend ändern, dass wieder die einmalige Person im Vordergrund steht und nicht mehr die Funktion? Da hat er gesagt, da müssen wir die Entfremdung der Menschen überwinden. Wir müssen reale Demokratie aufbauen usw. Das lasse ich jetzt alles weg. Und jetzt am Ende sagt er, nehmen wir mal an, es würde uns gelingen. Bloch wusste schon, dass das eine Utopie ist. Das wusste er natürlich. Aber er sagte, es ist eine wertvolle Utopie. Besser, als faul und träge in deiner Gartenzwerg-Idylle

61:03
rumzuamüsieren. Lieber schreibe ich so Utopie. Wir amüsieren ja uns heute zu Tode. Die Menschen wollen sich nicht mehr engagieren, sie wollen sich amüsieren. Da ist man aber der Ernst Bloch lieber. Also, er sagt, sollte es uns gelingen, und jetzt kommt der letzte Satz, dann erscheint in der Welt etwas, was uns allen in die Kindheit scheint und wohin noch niemand war, Heimat. Das ist der letzte Satz. Ich sage ihn noch mal. Also, haben wir alle diese Dinge wirklich mit politischem Kampf und Anstrengung und besserer Schulbildung, also irgendwie, man kann natürlich fragen, wann kommt der St. Nimmerleinstag, aber egal, sollten wir es erreichen. Dann erscheint in der Welt etwas, das uns allen in die Kindheit scheint

62:03
und worin noch niemand war, Heimat. Heimat ist das letzte Wort von 1300 Seiten. Damit legt Ernst Bloch, der Jude Ernst Bloch, legt ein Bekenntnis ab. Mehr als Heimat gibt es nicht. Der Mensch sucht Heimat. Weil er das schon mal erlebt hat, weil er schon mal erlebt hat, dass es Heimat gibt, sucht er von da aus Heimat. Nicht infantil, es geht nicht um Rückkehr. Die Wir Großen wollen, dass das, was wir in der frühen Kindheit erlebt haben, auf unserem Erwachsenenniveau wieder kommt. Denn wenn wir alle Schäden der Gesellschaft überwunden haben werden, wir dürfen fragen, wann wird es sein, aber ich liebe die, die sich darum bemühen, und nicht die faulen Säcke, die sagen, es kommt sowieso nie.

63:03
Aber was wird sein, falls es uns gelänge, über das Glück der frühen Kindheit kommen wir nicht hinaus, sondern wir werden uns daran erinnert fühlen. Denn Bloch verbindet das Wort Heimat, unerwartetes, emotionales Wort bei einem marxistischen Sozialkritiker. Sehr unerwartet. Er verbindet dieses Wort Heimat mit einem anderen schlichten, emotionalen Wort, mit dem Wort Kindheit. Er verbindet das, worin noch niemand war, mit dem, worin wir alle schon waren. Bloch erkennt die politische Bedeutung der Kindheit. Bloch erkennt, bevor uns der Kapitalismus völlig kaputt macht, bevor uns die Geldgier und die Karriere sucht und die Anerkennung sucht, wir leben ja in einer Religion des Erfolges, der Erfolg wird religiös verehrt, gell? Bevor uns der Kapitalismus vollends korrumpiert,

64:04
haben wir in der Kindheit bereits die Wiederlegung des Kapitalismus erlebt. In der Kindheit ist der Kapitalismus schon widerlegt. Denn in der Kindheit haben wir was anderes verschmeckt. Ich bin wichtig, einfach, weil ich da bin. Und ich sag euch, dort ist Heimat. Heimat ist dort, wo ich wichtig bin, einfach, weil ich da bin. Bis hierhin bin ich mit meinem großen Lehrmeister Ernst Bloch völlig einig, gell? Er kann jetzt leider mit mir nicht reden, er ist längere Zeit tot. Aber trotzdem will ich mal kurz mit ihm reden. Ich möchte ihm sagen, lieber Ernst, ich glaube, dass du in gewisser Weise die Antwort auf die Sinnfrage in gewisser Weise gefunden hast, dass sie völlig richtig ist. Aber ich hab einen Einwand, einen Einwand, bei allem Respekt. Nicht nur Respekt, bei aller Achtung, bei aller Dankbarkeit dir gegenüber hab ich einen Einwand. Nämlich, du willst Heimat eigentlich immer noch erwerben.

65:08
Durch politischen Kampf. Bist du da nicht immer noch in der Erwerbsgesellschaft? Du willst eben jetzt Heimat erwerben. Aber lieber Ernst, wie wäre das, wenn auch die Methode, mit der man dieses Ziel erreicht, sich auch an der Kindheit orientieren müsste? Also, wenn Kindheit noch wichtiger ist, wie du es schon erkannt hast. Nämlich, Heimat kann man gar nicht erwerben, wenn sie wirklich Heimat sein soll. Heimat ist nicht nur Heimat, sondern auch Heimat, die auch Heimat sein soll. Heimat kriegt man geschenkt oder gar nicht. Also, du bist eigentlich immer noch ein bisschen in der Erwerbsgesellschaft. Aber Heimat kann man nicht erwerben. Und jetzt bin ich im siebten Baustein der Jude Jesus aus Nazareth. Der war sehr ähnlich wie Ernst Bloch.

66:01
Denn auch der Jude Jesus aus Nazareth hat ein klares Empfinden gehabt, das privatistische Glück der Ehepaare, der Klicken, der Glanz, der Sippe, gell? Fetterless-Wirtschaft. Für die eigene Familie kämpft man, gell? Auch der Rest der Menschheit ist einem zömmlich. Hauptsache, das eigene Fleisch und Blut. Also, diese Liebe kann ganz schön verquickt sein mit knallartem Egoismus. Lieb zur eigenen Familie und der Rest der Welt. Nein, nicht das privatistische Glück der Liebenden und der Freunde. So schön es ist, ich will es ja nicht matig machen, aber es ist notwendig, wir brauchen das. Es ist tragisch, wenn manche davon zu wenig mitbekommen. Nein, Jesus von Nazareth hat gesagt, wir müssen... Nein, nicht wir müssen. Jesus von Nazareth hat gesagt, es ist eine neue Gesellschaft notwendig, das Reich Gottes. Es ist ein sehr ähnlicher Ansatz. Es bedarf einer so tiefen Veränderung der Gesellschaft, dass der Mensch wieder in seiner Person gilt.

67:03
Und Jesus, wie Ernst Bloch sagt, die Kindheit ist der Schlüssel. Ernst Bloch als Jude hat ein Empfinden, die Kindheit ist wie ein Kompass. Die Kindheit ist wie ein Leuchtturm. Wir Erwachsene brauchen diesen Leuchtturm, um den Hafen zu finden. Also, die Kindheit ist ein Schlüssel, ein Kompass. Das sagt Jesus auch. Er sagt, wenn ihr nicht wertet wie die Kinder und wenn ihr das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, und in der Kindheit waren wir alle, das ist eine Antwort, die uns allen gilt. Wie kommt Jesus drauf? Denn er hat eine Heimaterfahrung gemacht, eine Abba-Erfahrung. Er redet Gott als Erster mit einem heimatlichen Ausdruck an, mit einem Zärtlichkeitswort Abba. Abba ist das Zärtlichkeitswort für Vater. Abba-Erfahrung ist eine Heimaterfahrung. Jesus kommt bereits von einer Heimaterfahrung her.

68:03
Und das hat es ihm ermöglicht, mit Menschen und Jüngern so zusammenzuleben, dass die Jünger gesagt haben, dieser junge Mann aus Nazareth stellt keine Kosten-Nutzen-Rechnungen an. Bei ihm gilt das Gesetz der Beurteilung nicht mehr. Christus ist das Ende des Gesetzes. Das haben die Leute gespürt. Das ist keine Theorie. Die Leute sind Monate mit dem Typ unterwegs gewesen und haben gesagt, der Mann hat eine Heimaterfahrung, die es ihm ermöglicht, die Kosten-Nutzen-Rechnungen zu durchbrechen. In seiner Umgebung hörst du das große, endgültige Ja. Letzter Gedanke. Jesus nennt auch eine Form der Liebe als Antwort auf die Sinnerfahrung. Und er sagt, ja, die elterliche Liebe hat eine gewisse Analogie.

69:01
Die Kindheit ist ein Vorgeschmack. Die Kindheit lässt uns ahnen, wie es bei Gott sein wird. Die Kindheit ist der beste Vorgeschmack. Und eine gute Liebesbeziehung ist auch ein Vorgeschmack. Aber das Leben mit Gott ist nicht die Wiederholung der Kindheit und nicht die Wiederholung einer guten Ehe. Sondern Jesus sagt, wenn ihr, er meint Eltern, alle Eltern dieser Welt, wenn ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr mein Vater im Himmel. Also Jesus sagt damit, die elterliche Liebe ist schon okay, aber die ist ziemlich begrenzt. Weil es ist gegenseitig, Kinder sind auch schön, wenn du Kinder hast. Viele Frauen möchten dringend Kinder, die klauen sogar Babys in Krankenhäusern, weil sie ein Kind wollen. Kind gestattet dir, deine mütterliche Rolle zu befriedigen. Und deine väterliche Figur erfüllt ja auch Bedürfnisse von uns.

70:02
Also Säuglinge sind zwar nicht qualifiziert, aber sie sind auch nicht unsere Feinde. Aber wenn die Säuglinge größer werden, schwul werden, die gegenteilige Partei wählen, mit dem Afrikaner als Freund heimkommen, wenn sie Papa und Mama mal schwer kritisieren wegen ihrem spießbürgerlichen, egoistischen Lebensstil, dann sage ich euch, da knirscht es im Gehirn der Eltern. Da kann die Eltern... Wie viele 14-Jährige hauen ab? Und wie viele 16-Jährige? Also die elterliche Liebe ist okay, aber sie unterliegt ganz schönen Grenzen. Und sie kann ganz schön umkippen, dann wirst du halt enterbt. Und auch die Liebe zwischen Mann und Frau, wenn du mich liebst, liebe ich dich, das ist doch schön, das ist eine schöne Gegenseitigkeit, gell? Aber Jesu Antwort ist folgende. Der Abba, der zärtliche Grund allen Lebens, aus dem du kommst, aus dem alles Leben kommt, der liebt seine Feinde.

71:04
Der liebt seine Feinde. Und die Feindesliebe, die hebt alle Kosten-Nutzen-Rechnungen auf. Wenn du zu Gott findest, findest du eine Liebe, die dich auch liebt, wenn du ein Feind Gottes bist. Wir sind alle jeden Tag ein Feind Gottes. Ich auch natürlich. Denn ich nehme Gott an keinem Tag so ernst. Ich bin an keinem Tag so voller Vertrauen zu ihm. Ich würdige den Schöpfer Himmels und der Erden an keinem Tag adäquat. Aber das macht ihn nicht bitter. Die Liebe derer, die sich scheiden lassen und auseinandergehen, da sagt man sich, die haben sich doch 16 Jahre geliebt. Die haben sich doch acht Jahre geliebt. Und jetzt Schlammschlachten. Die Liebe der Menschen, die Liebe der Ehepaare, die Liebe der Freunde, der Klicken. Ich sag euch, ich kenn Klicken, die umgeschlagen sind. Musikgruppen, die sich nur noch prügeln, sind doch sechs Jahre öffentlich aufgetreten. Die Freundschaft und die Liebe der Menschen

72:02
kann ganz schön umschlagen in Schlammschlachten. Aber die Liebe Gottes nicht. Der Abba liebt seine Feinde. Und das ist die Antwort auf die Sinnfrage. Das hebt nämlich die Angst auf. Deswegen hebt die menschliche Liebe und die Klickenliebe unsere Angst noch nicht vollständig auf. Denn sie hat ihre Markt- und Tauschgesetze. Und die können mal zuschlagen. Dann bist du in der Heimat, wenn du eine Liebe gefunden hast, die dich mit Feindesliebe liebt. Und das ist die Botschaft von Jesus aus Nazareth. Dein Schöpfer liebt dich mit dieser Liebe. Und der Heilige Geist ist die Kraft, die dich dazu bringt, dass du dich darauf verlässt. Leg dich dieser Liebe in die Arme. Kannst dich tragen lassen.

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Es ist eine Liebe über Bitten und Verstehen. SWR 2020

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Die Sinnfrage als Leitfrage des modernen Menschen | 1.5.1

Worthaus 1 – Weimar: 10. April 2011 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer

Worthaus 1 war für alle Beteiligten sehr anstrengend und bereichernd. Siegfried Zimmer ist an seine Limits als Vortragender gegangen. Welcher ernsthafte 50plus-Wissenschaftler hält schon vier Tage am Stück durchschnittlich drei Vorträge pro Tag und lässt sich dann noch auf intensive Diskussionsrunden ein? Und diese enorme Frequenz ging auch an der Worthaus-Teilnehmerschaft nicht spurlos vorüber. Umso beachtlicher ist es, dass am letzten Tag in Weimar noch zwei abschliessende Vorträge möglich waren, die den Blick noch einmal etwas weiteten. Denn während an den anderen Tagen die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Juden Jesus aus Nazareth im Mittelpunkt stand, schlägt der erste Teil des Epilogs anhand von sozialwissenschaftlichen Grunderkenntnissen und philosophischen Überlegungen eine Brücke zu den Lebensfragen des modernen Menschen. So schließt sich der Kreis während die verchromtem Füllhalter-Metallclips aus der Brusttasche des Professorenhemds hervorblitzen.