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Ich möchte Ihnen heute das Buch der Bibel vorstellen, das mir seit langem das Liebste ist, das Johannesevangelium. Als Leser kenne und liebe ich es schon aus Jugendzeiten und in meinem Studium der Theologie hier in Tübingen habe ich seine besondere theologische Tiefe und die Kraft seiner Anrede schätzen gelernt. Und nun arbeite ich seit über 30 Jahren als Wissenschaftler über dieses Buch und es hat seine Faszination bis heute für mich nicht verloren. Ich kann wie einst Martin Luther sagen, dass Johannes das zarte Hauptevangelium ist und den anderen dreien weit höher zu heben. Warum? Das möchte ich Ihnen in zwei Vorträgen erklären. Dieser erste soll sich auf die Eigentümlichkeit dieses Evangeliums konzentrieren. Inwiefern ist es anders als die anderen? Und

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warum? Wo kommt es her? Wie kann man seine Entstehung erklären? Und warum sind die Fragen der Herkunft vielleicht doch nicht die allerwichtigsten für sein Verständnis? Im zweiten Vortrag soll es um seine Theologie gehen, seine Rede von Christus und von der Fleischwertung, was es über Gott sagt, über das Kreuz, den Glauben und die Welt. Doch nun zu diesem Buch. Schlagen wir es auf. Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort, dieses war im Anfang bei Gott. Mit diesen schlichten, kurzen Sätzen einer schönen, poethisch geformten Komposition beginnt einer der größten Texte der Weltliteratur. Das Evangelium nach Johannes, wie es in der Überschrift heißt. Die Worte klingen lapidar, uns sehr vertraut, doch umschließen sie das Ganze des Seins und des Denkens. Was ist der Anfang?

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Und was war im Anfang? Womit fängt alles Sein und Denken an? Und was ist das Wort oder wer ist das Wort? Griechisch der Logos, von dem hier die Rede ist. Wenige Verse danach heißt es, und das Wort der Logos wurde Fleisch und wohnte unter uns. Mit diesem Fleisch gewordenen Logos ist Jesus Christus gemeint, von dem dann im ganzen Evangelium erzählt wird. Doch wie soll man sich denken, dass dieser Logos Jesus Christus im Anfang war, vor dem All, vor der Schöpfung und wie kann man sich denken, dass dieses Wort, das Fleisch wurde, Gott war? Wie hängen dieser Logos, der Gott ist und der eine Gott der Bibel zusammen? Sind die zwei der gleiche oder ist der eine eigentlich zwei? Wie ist der Verhältnis zu denken? Und wie ist das Verhältnis von Gott und Welt zu

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denken? Und was hat das mit dem Kommen und Wirken Jesu Christi zu tun? Fragen über Fragen werfen diese Sätze am Anfang des Johannes-Evangeliums auf. Fragen über den Urgrund des christlichen Glaubens und über das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der Anfang dieses Evangeliums greift zunächst weiter zurück als alle anderen Evangelien. Markus setzt nach einer Überschrift und einem Schriftzitat gleich mit Johannes dem Täufer ein. Matthäus und Lukas erzählen zuvor noch Geschichten von der Geburt Jesu und bieten einen Stammbaum. Der geht bei Matthäus bis Abraham zurück und bei Lukas bis Adam. Aber Johannes greift noch viel weiter zurück auf die Weltschöpfung, ja auf den Urgrund vor der Schöpfung. Das alte Testament beginnt mit den Worten, im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. An diesem Anfang der Bibel klingt der Beginn des Johannes-Evangeliums an. Der griechische Text der Genesis, en archæ, im Anfang. Und wenn Johannes

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dann formuliert, was im Anfang war, bevor alles andere wurde, dann geht er sogar hinter den Anfang der Bibel zurück. Johannes will die Genesis überbieten. Johannes überbietet den Anfang des alten Testaments und die Anfänge der anderen Evangelien. Und am Schluss heißt es, die Welt können die Bücher nicht fassen, die wohl geschrieben werden müssten, wenn man alles über diesen Jesus schreiben würde. Johannes gehört in die Welt der Bücher. Es ist nicht eine einfache, schlichte Erzählung neben anderen. Es überbietet die anderen Evangelien. Es will geradezu das Buch der Bücher sein. Ja, Johannes ist Weltliteratur. Kein Geringerer als Goethe hat das wahrgenommen. Im Faust ringt er um die Wiedergabe dieser ersten Worte des Evangeliums. Geschrieben steht, im Anfang war das

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Wort. Hier stock ich schon. Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen. Ich muss es anders übersetzen. Und dann überlegt Goethe, wie man diesen Logos, dieses Wort, übersetzen kann. Wort, Sinn, Kraft, Tat. Das sind alles mögliche Wiedergaben des griechischen Wortes. Dahinter steht die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der faustische Mensch mit seiner Tatkraft, das alles durchdringende Denken oder eben, das kann Goethe dann letztlich nicht akzeptieren, Jesus Christus als das eine Wort, das gültige Wort Gottes. Ja, Johannes ist ein Text für Philosophen und Dichter. Und wer im Germanistikstudium Goethe verstehen will, muss Johannes kennen. Dieses Evangelium ist ein Text, der ungeheuer breit gewirkt hat in der Literatur, der Philosophie, der Kunst und in der Kirche. Es ist ein Text, der bis heute uns anspricht

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und mit Jesus Christus konfrontiert. Schon in der frühen Kirche hätte man die theologischen Lehren über die Gottheit Jesu Christi und die Trinität nicht formulieren können ohne dieses Evangelium. Gut 50 Jahre nachdem es abgefasst wurde, haben wir einen ersten Autor Heraklion, der das Johannes-Evangelium kommentiert. Der Kirchenvater Augustinus hat 124 Predigten über Johannes geschrieben. Mystiker und Mystikerinnen im Mittelalter haben mit diesem tiefen Evangelium besonders gelebt. Und Martin Luther hat es geliebt. Für ihn ist Johannes neben einigen Paulusbriefen und dem ersten Petrusbrief der rechte Kern und Mark unter allen Büchern die eiserne Ration, das Wichtigste im Neuen Testament, die wir uns als Christen vertraut machen sollen, wie das täglich brot. Warum gerade Johannes? Nun, für Luther ist es deshalb, weil darin nicht viele Werke und Taten

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und Wundertaten Jesu berichtet werden, sondern besonders viele Worte und Reden. Denn irgendwelche damals geschehenen Wundertaten würden uns heute gar nicht helfen. Wichtiger ist, dass die Verkündigung, das Wort von Jesus Christus, das Leben und Seligkeit gibt, hier ganz komprimiert vorkommt. Und davon findet Luther eben mehr bei Johannes als bei den anderen. Darum ist Johannes-Evangelium das eine zarte, rechte Hauptevangelium und den anderen dreien weit, weit höher zu heben. Spätere Ausleger und Denker haben Johannes aus anderen Gründen besonders geschätzt, weil darin in geistiger Weise vom ewigen Leben die Rede ist, vom Licht, vom Wasser, vom Geist, weil Jesus darin mehr philosophisch redet, die palästinische Jesusgeschichte auf eine allgemeinere Ebene gehoben wird. Jesus ist nicht nur der Messias der Juden, sondern der Retter der Welt. Gott will

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eigentlich nicht auf dem Berg der Samaritaner und auch nicht auf dem Zirun verehrt werden, sondern in Geist und Wahrheit. Das klang attraktiv für Philosophen und Theologen um 1800, für Fichte, Lessing, Schleiermacher und all die Johannisten. Denn mit diesem Jesusbild konnten sie etwas anfangen, während vieles andere problematisch erschien. Es ist bis heute so. Johannäische Tiefe fasziniert. Das Johannäische Christusbild spricht Hörer und Leser unmittelbar an. Es scheint nicht so viel Schutt geschichtlicher Details zwischen Johannes und uns Lesern zu liegen. Der palästinische Erdenstaub belastet nicht so sehr, wenn wir die Christusreden des Evangeliums lesen. Hier spricht Jesus offen und er spricht uns an. Er sagt die Wahrheit über sich und die Welt gleich von Anfang an und in einleuchtenden Metaphern. Hier gibt es kein Geheimnis um den Messias wie Markus, kein Gebot über ihn zu schweigen. Nein, in den Ich Bin-Worten präsentiert

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sich Jesus frontal in eindrücklicher Weise. Und es ist kein Wunder, dass diese Worte bis heute als Zuspruch oder als Konfirmationsspruch und Jahreslosung gerne gebraucht werden. Da verdichtet sich der Zuspruch Christi. Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme und sie folgen mir und ich kenne sie und ich gebe ihnen das ewige Leben. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich. Oder die klassische Zusammenfassung des Evangeliums in Johannes 3,16. So hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahin gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Oder die trostreichen Zusprüche. In der Welt habt ihr Angst, aber seid stark. Ich habe die Welt besiegt. Oder das letzte Wort Jesu am Kreuz, das bei Johannes eben nicht ein Schrei der

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Gottesferne und Verzweiflung ist wie bei Markus und Matthäus und nicht ein formel Sterbegebet wie bei Lukas, sondern der triumphierende Ruf. Es ist vollbracht, vollendet. Johannes spricht an, heute wie damals. Dieses Evangelium lässt uns als Hörer und Leserinnen nicht in der Zuschauerrolle. Es zieht in Bannen. Es spricht in unsere Gegenwart hinein und stellt uns Jesus Christus als gegenwärtig vor Augen. Schaut mich an. Ich bin es. Wie eine Ikone schaut Christus uns hier geradeaus in die Augen, wie mit einer Aura umgeben. Da kann es zur literarischen Begegnung mit Christus kommen, weil sein Anspruch Glauben fordernd und Glauben weckend deutlich wird. Das Johannes-Evangelium ist unmittelbare Anrede zum Glauben und zugleich ein Text, der in seiner Tiefe Welten umspannt.

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Ein Kollege aus Nordamerika hat es einmal in einem schönen Bild ausgedrückt. Johannes ist wie ein Wasser, in dem ein Elefant schwimmen und ein Kind warten kann. Beides zugänglich und doch unendlich tief. Doch führen wir uns nun genauer vor Augen, worin Johannes so anders ist, worin besteht die Eigentümlichkeit dieses Evangeliums. Da ist zunächst dieser beeindruckende Anfang, der Prolog mit seiner Rede vom Logos, dem Wort, das Fleisch wurde. Er ist wie ein Notenschlüssel am Anfang einer Partitur. Unter diesem Vorzeichen soll alles weitere gelesen werden, die ganze Jesu-Erzählung. Am Ende des Prologs wird in die Jesusgeschichte hinübergeleitet. Da heißt es, keiner hat Gott je gesehen. Aber der einzig Geborene, der Gott ist, der hat ihn uns kundgemacht. Das heißt,

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in der Geschichte Jesu, die jetzt erzählt wird, ereignet sich die Offenbarung des unsichtbaren Gottes. An dem, was hier erzählt wird, kann und soll erkannt werden, wie Gott in Wahrheit ist. Die Jesu-Erzählung des Evangeliums beginnt dann mit Johannes dem Täufer und erzählt, Jesu wirken bis Passion und Ostern. Insofern ist Johannes, wie die drei anderen, ein Evangelium, eine verkündigende Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu. Doch ist Johannes mehr als die anderen durch lange Reden Jesu und durch Dialoge mit einzelnen Personen geprägt. Manche Abschnitte, wie die Lazarusauferweckung oder der Prozess vor Pilatus, sind zugleich so klar in Szenen unterteilt, dramaturgisch gestaltet, dass man mit der Lektüre geradezu ein szenisches Theater vor Augen haben kann. Das Ganze ist literarisch und dramaturgisch sehr bewusst und sehr klar gestaltet. Im ersten Teil berichtet das Evangelium bis Kapitel 12 vom öffentlichen

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Wirken Jesu. Von Begegnungen mit Einzelnen, von Disputen mit Gegnern, Wunder werden erzählt und ausgedeutet. Das Größte die Auferweckung des Lazarus, der schon vier Tage tot und ein Verwesender ist. Und auf dieses größte Wunder hin beschließen die jüdischen Oberen seinen Tod. Jesus zieht sich zurück. Nach einer gewissen Zäsur beginnt dann mit Kapitel 13 der zweite Teil, der von seiner Passion und seinem Tod handelt. Fast das halbe Evangelium ist auf diese Thematik konzentriert. Zuerst wird die Fußwarschung erzählt, gefolgt von langen Reden im Horizont des letzten Mahls. Dann folgen der Passionsbericht und österliche Erscheinungen. Am Ende die Angabe des Zwecks der Abfassung. Das Evangelium ist geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus sei, der Sohn Gottes und als

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Glaubende Leben hat in ihm. Damit könnte das Evangelium enden, aber es kommt noch ein Kapitel mit einer weiteren österlichen Erscheinung am See und einem weiteren Buchschluss. Und die Forschung betrachtet dieses Kapitel gerne als Epilog oder auch als Nachtrag, obwohl wir keine Handschriften ohne dieses letzte Kapitel haben. Im ersten Teil ist dieses Evangelium geprägt von einem sich immer stärker zuspitzenden Konflikt mit zwischen Jesus und den Juden. Diese erscheinen hier merkwürdig einheitlich, gar nicht so in Gruppen von Pharisäern, Sadduzäern und anderen aufgeteilt wie in den anderen Evangelien. Im zweiten Teil läuft alles auf seinen Tod hin. Die Passion, die Kreuzigung, in der sein Weg und Wirken vollendet, vollbracht ist. Und dann folgen eben mehrere österliche Erscheinungen und Begegnungen. Und das, was da im Kontext von Ostern erkannt wird, der österliche

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Blick auf Jesus, überstrahlt sozusagen von hinten her das Ganze der Jesus-Erzählung, den ganzen irdischen Weg Jesu. Irgendwie ist er von Anfang an schon im Licht dieser österlichen Herrlichkeit gezeichnet, wie es im Prolog schon heißt, die Zeugen sagen, wir sahen seine Herrlichkeit. Das ist das eigene Colorit des Johannes-Evangeliums. Die ganze Geschichte Jesu wird von Anfang an in österliches Licht getaucht. Die Unterschiede zu den anderen Evangelien sind beachtlich, nicht nur im Arrangement, sondern auch schon im Stoff. Natürlich hat Johannes mit den Synoptikern einige Worte und Erzählungen gemein. Johannes den Täufer, die Speisung der 5000, den Seewandel Jesu, das Petrus-Bekennnis, die Salbung durch eine Frau, den Einzug in Jerusalem und dann natürlich

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die Passions- und Ostergeschichte und das leere Grab. Doch viele Erzählungen sind nur bei Johannes überliefert. Das Weinwunder bei der Hochzeit zu Kana, das Gespräch mit Nikodemus und das Gespräch mit der samaritanischen Frau, die Heilung eines Gelähmten am Teich Bethesda in Jerusalem, die Heilung eines Blindgeborenen, die Auferweckung des Lazarus, die Fußwaschung beim letzten Mal, die Erscheinung des Auferstandenen vor Maria Magdalena und die Erscheinung vor dem Ungläubigen Thomas und die letzte Erscheinung am See, wo Jesus den Jüngern das Osterfrühstück bereitet. Wie kommt Johannes zu diesen Erzählungen? Die anderen berichten sie nicht. Und warum lässt er vieles weg, was die anderen haben? Johannes erzählt keine Dämonen-Austreibungen, viele andere Wunder fehlen auch. Es gibt keine Gleichnisse Jesu. Viele der Worte und Streitgespräche fehlen, das Vaterunser, die Bergpredigt, die Einsetzung des Abendmahls. Warum fehlt das? Will Johannes mit

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seinem Evangelium einfach nur Stoff ergänzen, den die anderen nicht haben? Oder steht dahinter ein ganz anderes Konzept? Es ist ja auffällig, dass wir bei Johannes viel mehr Einzelgespräche Jesu haben mit Personen, die wir aus anderen Evangelien nicht kennen. Mit Nathanael im Kapitel 1, mit Nikodemus im Kapitel 3, mit der samaritanischen Frau, dann die Gespräche mit Maria und Martha, den Schwestern des Lazarus und der tief theologische Dialog mit dem völlig untheologischen Pilatus. Am Ende begegnet er Maria Magdalena alleine und Thomas alleine. Einzelbegegnungen sind wichtig. Und auffällig sind unter diesen Personen, die Jesus begegnen, auch viele Frauen. Mehr als in den anderen Evangelien, auch mehr als bei Lukas. Spiegelt das, so kann man fragen, ein Milieu,

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in dem Frauen eine größere gesellschaftliche Rolle spielten als im Judentum zur Zeit Palästinas? Weiß das mehr auf ein griechisches, mehr auf ein städtisches Milieu? Und noch eine brisante Frage ist, wie kommt Johannes zu diesen Dialogen? Viele davon sind ja so erzählt, dass es dabei gerade keine Zeugen gibt. Das Nachtgespräch mit Nikodemus, das Gespräch allein mit der samaritanischen Frau am Brunnen, das Gespräch allein mit Pilatus im hinteren Teil des Gebäudes. Die Konsequenz ist ganz klar, da konnten keine Jünger mithören und mitstennografieren. Wir haben es hier mit Literatur zu tun, nicht mit einer Aufzeichnung durch einen Augen- und Ohrenzeugen. Das können und müssen Leserinnen und Leser merken in der Antike wie heute. Ich habe immer wieder auch in Gemeinden solche Einführungen gemacht und wache Gemeindeglieder beachten, beobachten diese Dinge

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und stellen Fragen und man darf sich diesen Fragen eben nicht entziehen und die Gemeinde nicht vor solchen Beobachtungen schützen wollen, denn das ist sozusagen die Ehrlichkeit, die wir mit dem Text brauchen. Eigentümlich sind bei Johannes dann vor allem die großen Jesusreden. Gewiss, auch Matthäus hat ausgedehnte Redekompositionen wie die Bergpredigt oder die Endzeitrede, aber diese sind erkennbar vom Evangelisten aus kleineren Stücken zusammengestellt, die man meist doch gut voneinander abgrenzen kann. Bei Johannes sind die Reden zusammenhängend, meist in einem kreisen, spiraligen Denkweg und eben nicht in kleine Teile aufteilbar. In diesen Reden deutet Jesus seine Taten, die vorher erzählt wurden, aus. Im Kapitel 5, das Wunder der Heilung am Teich Bethesda, wird in einer langen Rede erklärt als durch die Auskunft, dass Jesus hier in der von ihm von Gott verliehenden Vollmacht

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handelt. Denn wenn er heilt, dann heilt Gott, dann schenkt Gott, schafft Gott Leben. Und so ist auch die Heilung Zeichen für das Leben Schaffende Wirken Gottes. Das Wunder der Speisung, der 5000, wird in einer langen Rede dahingehend gedeutet, dass das eigentliche Brot Jesus selbst ist. Und am Ende ist dann davon die Rede, dass man dieses Brot kauen und sein Blut trinken solle. Ein Hinweis doch wohl auf das spätere Abendmahl in der Gemeinde. Und in Kapitel 7 und 8 finden sich lange Streitgespräche mit den Juden und fast scheint es so, als ob Jesus kein Jude wäre. Sie wollen Jesus nach dem Leben trachten, er beschimpft sie in einer beklemmenden Schärfe als Kinder des Teufels. Ist das wirklich eine Kontroverse, die man sich im jüdischen Palestina zwischen dem Juden Jesus und seinen jüdischen Zeitgenossen vorstellen kann? Oder ist in diesem ziemlich homogenen Begriff die Juden

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schon eine polemische Außenperspektive wahrzunehmen? Ist das Ganze vielleicht eher wahrzunehmen im Spiegel einer späteren Zeit als Niederschlag von Kontroversen zwischen der werdenden Kirche und der Jesus und seiner Botschaft ablehnenden Synagoge? Diese Beobachtungen lassen uns fragen, wo kommt dieses Evangelium, wo kommt die Sprache dieses Evangeliums her? Ganz eigentümlich sind ja die Abschiedsreden Jesu vor seinem Tod. Beim letzten Mal kündigt er an, er werde weggehen und die Jünger werden darüber traurig. Und dann thematisiert Jesus in vier Kapiteln die Trauer der Jünger und spricht zugleich über das, was den Jüngern nach Ostern, der späteren Gemeinde, über diese Trauer hinweg helfen soll. Der Heilige Geist als Beistand, als Advokat seiner Gemeinde, der helfen soll,

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Jesus zu verstehen und von ihm Zeugnis zu geben. Irgendwie scheint sich hier die Situation der Jünger vor Ostern, die erzählt wird, die Jünger, die über seine Ankündigung trauern und die Situation der Jüngergemeinde nach Ostern zu überlagern. Die Gemeinde, die sich in der Welt allein gelassen und bedrängt fühlt. Die beiden Situationen scheinen wie ineinander geschoben. Wo redet Jesus zu den damaligen Jüngern und wo redet er zur späteren Gemeinde? Repräsentieren die Jünger hier vielleicht schon die Jünger der späteren Gemeinde und kommt hier im Munde Jesus etwas zur Sprache, was erst später in der Verkündigung richtig aktuell wurde? Jesus redet im Johannesevangelium auch in einem anderen Stil als in den zornobtischen Evangelien. Dort haben wir meist kurze Worte, Gesprächsszenen, Gleichnisse, hier hingegen lange Reden mit eindrücklichen Sprachbildern vom Brot des Lebens, von guten Hirten, vom wahren Weinstock. Und während

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man hinter manchen der Worte der synoptischen Evangelien noch sprachliche grammatikalische Charakteristika des Aramäischen, der Muttersprache Jesu, erahnen kann, ist das bei den Reden des Johannesevangeliums kaum mehr möglich. Jesus spricht ein korrektes, einfaches griechisch, kein Übersetzungsstil, sondern glattes, ursprünglich formuliertes, griechisches Ideon. Eine Beobachtung ist jetzt entscheidend. In diesem gleichen Stil redet im Johannesevangelium nicht nur Jesus, sondern auch Johannes der Täufer und andere Figuren. Auch die Erzählerstimme hat den gleichen Stil und der erste Johannesbrief formuliert ganz ähnlich. Daraus kann man letztlich nur den Schluss ziehen, dass die Sprache Jesu im Johannesevangelium die Sprache derer ist, in deren Kreis das Evangelium entstanden ist. Die Sprache des Evangelisten und seiner Gemeinde,

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nicht die Sprache des irdischen Jesus. Die ursprünglichen Worte, deren Gestalt wir aus der Überlieferung der anderen Evangelien vielleicht noch rekonstruieren können, müssen also einen Prozess der Übersetzung, ja der tieferen Transformation durchlaufen haben. Jesu Worte im Johannesevangelium sind also durchgehend in einer nachösterlichen Sprache formuliert und ausgestaltet. Und sie thematisieren, wie wir in den Abschiedsreden sehen, eben auch Probleme der nachösterlichen Zeit, die Trauer der Jünger in der Welt oder eben auch den Konflikt mit den Juden. Auch in den Details der Jesu Erzählung im Johannesevangelium finden wir große Unterschiede. Das fängt schon mit der Jüngerberufung in Johannes 1 an. Diese ereignet sich nach Johannes nicht am Segen Nezareth, wo Jesus diese Jünger, diese Fischer von ihren Netzen wegberuft. Von den

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Zwölf ist hier auch nicht die Rede. Nein, die Jüngerberufung erfolgt anderswo. Am Jordanlauf, dort wo Johannes der Täufer wirkt und sie wird auch ganz anders erzählt. Da sagt der Täufer zu zweien seiner Schüler, siehe, dieser ist es, von dem ich geredet habe, dieser ist das Lamm Gottes. Die zwei laufen Jesus hinterher, er dreht sich um und fragt sie, was sucht ihr? Und sie fragen ihn, Rabbi, wo wohnst du? Er lädt sie ein, kommt und seht und sie kommen und sehen und glauben und bleiben. Und dieses Schema wiederholt sich mehrfach. Einer berichtet einem anderen von Jesus, der folgt diesem Zeugnis, begegnet Jesus in Person, wird von ihm angesprochen und am Ende ist er ein Jünger. So ist es mit Petrus und dann mit Nathanael. Zum Glauben kommt man durch das Zeugnis anderer und

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dann durch eine Begegnung mit Jesus selbst. Und ist es nicht so bis heute? Da Jesus nicht mehr leiblich da ist, nicht mehr greifbar ist, können wir nur auf das Zeugnis anderer hin oder auf das Zeugnis der Schriften glauben und dann braucht es eine vertiefende Begegnung und Erfahrung. Wir können also versuchen zu überlegen, warum Johannes die Geschichte der ersten Jünger so anders erzählt. Vielleicht will er da ein Modell präsentieren, das auch in seiner Zeit nach Ostern für seine Gemeinde weiterhin praktikabel ist, diese Verhältnisse abbildet und bis heute von Wert ist. Auch die Wunder Jesu sind bei Johannes ganz anders ausgestaltet. Da treibt Jesus keine Dämonen aus, er hilft auch in der Regel nicht einfach aus einer Notlage, vielmehr demonstriert er seine Herrlichkeit, seine Vollmacht. Das erste Wunder, das betont als erstes erzählt wird, ist nicht wie

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in den anderen Evangelien der Exorzismus in Capernaum und die Heilung der Schwiegermutter des Petrus, nein das erste Wunder findet anderswo statt in dem sonst unbekannten Flecken Cana bei einer Hochzeit. Jesus wandelt Unmengen Wasser in Wein, sechs Hektoliter, das ist spektakulär. Diese Erzählung ist voll von symbolischen Zügen. Die Hochzeit ist im Alten Testament schon ein Bild der Endzeit und der Wein in Füllen natürlich auch und wenn Jesus Wasser in Wein wandelt, dann ist mit ihm die messianische Zeit angebrochen. Zudem wird das Fest auf den dritten Tag datiert und die Leserinnen und Leser des Evangeliums mussten dabei natürlich an die Ostergeschichte denken. Vor allem aber stocken wir, wenn die Mutter Jesu ihren Sohn wohlmeinend darauf hinweist,

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dass der Wein ausgeht. Irgendwas erwartet sie von ihm, auch wenn nicht klar ist was und er weist sie auffällig brüsk ab, was habe ich mit ihr zu schaffen, Frau. Das heißt, lass mich in Ruhe. Warum diese Schroffheit? Und dann sagt Jesus, meine Stunde ist noch nicht gekommen. Was ist da gemeint? Seine Stunde? Geht es darum, dass er jetzt noch keinen Wunder tun will? Das tut er ja dann doch gleich darauf. Erst später im Evangelium wird klar, dass die Stunde Jesu eigentlich etwas mit seinem Tod zu tun hat. Die Stunde Jesu ist noch nicht da, wenn die Juden ihn greifen wollen, aber noch nicht greifen können. Erst am Ende proklamiert er, die Stunde ist da, das Weizenkorn muss in die Erde fallen. So ist schon in dieser ersten Wundererzählung ein Hinweis auf Jesu Tod, auf Passion und auf Ostern gegeben. Und das ist ganz deutlich und immer wieder in den

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Wundergeschichten so. Alles was erzählt wird, ist auf dieses Geschehen hinausgerichtet und soll auch von daher verstanden werden. Von Passion und Ostern her sieht alle seine anderen Taten erst richtig verständlich. Irgendeine Luxusversorgung bei einem Dorffest in Galilea wäre bedeutungslos, aber Johannes gestaltet die Geschichte so aus, dass sie zum Zeichen wird, dass mit dem Messias Jesus die Endzeit angebrochen ist, dass durch ihn Heil und Leben vermittelt werden, dass die Reinigung durch Wasserrieden abgelöst ist, durch den Wein des Heils des Festes. Johannes will offenbar, dass die Jesusgeschichten alle zum Zeichen werden, dass sie etwas bedeuten und dass sie so die Leserschaft ansprechen und deswegen stellt er sie in den Horizont des ganzen Weges Jesu, eben auch von Passion und Ostern. Sie bilden alle das Ganze des Heils ab, das Jesus gebracht hat.

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Nach dem Weinwunder erzählt Johannes die Tempelreinigung, die wir auch aus den Synoptikern kennen. Aber hier zeigt sich noch einmal ein auffälliger Unterschied. Während diese Tempelreinigung bei Markus unmittelbar vor der Passion stattfindet, der provokative Akt, aufgrund dessen Jesus dann festgenommen und letztlich gekreuzigt wird, ist es bei Johannes am Anfang des Evangeliums erzählt. Was stimmt? Hat Jesus gleich zu Beginn seines Wirkens einen Akt im Tempel, der die Behörden so provozieren musste, gemacht? Hätte man ihn dann einfach laufen lassen oder gehört dieser Akt, wie bei Markus, tatsächlich ans Ende seines Wirkens? Nun zeigt Johannes durch ein Psalmzitat, mit dem er das Ganze kommentiert, der Eifer um dein Haus wird mich verzehren, sehr wohl, dass er weiß, dass die Tempelreinigung etwas mit dem Tod Jesu zu tun hat. Zudem bietet

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Johannes gleich darauf auch noch Jesu Tempelwort, reißt diesen Tempel ab und ich will ihn in drei Tagen wieder aufbauen und er erklärt, er redete aber vom Tempel seines Leibes. Das heißt, Johannes weiß, dass die Tempelreinigung ans Ende des Wirkens Jesu gehört und direkt mit seinem Tod zu tun hat. Und trotzdem präsentiert er diesen Akt am Anfang gleichsam programmatisch als Auftakt der Konflikte mit den Leuten in Jerusalem. Das ist eine wichtige Beobachtung, denn hier sehen wir, dass Johannes die historische Überlieferung, die er offenbar kennt, bewusst umarrangiert. Offenbar kommt es ihm einfach nicht nur darauf an zu zeigen, die Dinge so zu erzählen, wie sie ihm berichtet waren, wie sie die Tradition berichtet. Darf er das? Darf sich ein Evangelist solche Freiheiten herausnehmen oder ist das Verfälschung? Nun, er tut es offenbar. Er tut es wohl aus dramaturgischen Gründen und aus

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theologischen. Denn in diesem Evangelium ist Jesus von Anfang an in seiner Vollmacht aktiv und so beginnt der tödliche Konflikt mit dem Tempel auch schon ganz am Anfang. Jesus agiert im Haus seines Vaters als derjenige, der hier das Sagen hat, der Erbe, der Sohn. Der Konflikt, der sich später entfaltet, beginnt also schon hier am Anfang. Wenn Johannes also die Tempelreinigung vom Ende zum Anfang versetzt, dann hat das natürlich weitere Folgen für seine Geschichte. Denn die Tempelreinigung zu der Tempelreinigung muss Jesus ja in Jerusalem sein. Darum erzählt Johannes, dass Jesus schon hier zu einem Passafest nach Jerusalem pilgert, zwei Jahre vor dem Passa, an dem er dann später starb. Auch darin liegt ein wichtiger Unterschied zwischen den verschiedenen Evangelien. Während Jesus nach

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Markus nur einmal von Galilea nach Jerusalem geht, zu seinem Todespassa, fügt Johannes hier eine zusätzliche Wallfahrt ein und dann noch eine Reise zu einem anderen unbekannten Fest und dann noch eine Reise zum Laubhüttenfest. Ja, Jesus pendelt zwischen Galilea und Jerusalem sozusagen hin und her und er ist viel mehr in Jerusalem, viel mehr an dem Ort, wo seine Gegner ihr Zentrum haben, als in Galilea wirksam. Durch diese Festreisen lässt sich auch die Zeitdauer bestimmen, die Jesus aktiv ist. Drei Passafeste werden genannt. Das ergibt also einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren, etwas mehr als zwei Jahren. Während bei Markus nur ein Passafest erwähnt ist, das heißt, man kann die ganze Geschichte in einem Jahr unterbringen. Hat Jesus also nur ein Jahr gewirkt oder drei Jahre? Was ist historisch plausibler? Das lässt sich ganz schwer entscheiden. Auch der Rahmen des Markus kann ja konstruiert sein. Aber wenn die erste Passareise bei Johannes

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vor allem dadurch bedingt ist, dass er eine Überlieferung von hinten nach vorne versetzt, dass die Tempelreinigung sozusagen den ersten chronologischen Punkt markiert, dann ist klar, die Gestalt der johanneschen Chronologie ist durch ein literarisches Vorgehen begründet. Man kann nicht einfach sagen, Johannes korrigiert, weil er es besser weiß. Da ergeben sich ganz schwierige Fragen, wo sich die vier Evangelien widersprechen und nicht einfach dadurch harmonisieren lassen, dass man einfach sagt, Jesus habe halt den Tempel zweimal gereinigt. Manche Ausleger haben das versucht, um festzuhalten, dass jedes Evangelium irgendwie recht hat. Aber das wäre eben doch arg gezwungen und eigentlich nur bemüht, keinen Widerspruch zugestehen zu müssen. Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied in der Chronologie. An welchem Tag starb Jesus? Nach

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allen Evangelien an einem Freitag. Tag vor dem Sabbat, Karfreitag. Aber was ist das für ein Datum? Wie stand er zum Passafest, das am 15. des Monats Nisan gefeiert wurde? Bei Markus und den anderen feiert Jesus mit seinen Jüngern das letzte Mal als ein Passamal. Am Abend vor dem Passafest, am Abend des 14. Nisan. Bei Johannes ist es anders. Da sagen die jüdischen Oberen, die das Haus des Pilatus, das heidnische Haus, nicht betreten wollen, um sich nicht zu verunreinigen, denn am Abend wollen sie das Passafest noch feiern. Das heißt, das letzte Mal Jesus mit seinen Jüngern muss einen Tag vorher stattgefunden haben, am 13. Nisan, und kein Passamal gewesen sein. Und Jesus stirbt dann am 14. Nisan und zwar genau zu der Zeit, als die Passalämmer im Tempel geschlachtet

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werden, um dann am Abend in den Familien verzehrt zu werden. Chronologisch ist klar, die Evangelien unterscheiden sich hier um einen Tag. Den Freitag haben sie beide, aber es ist ein anderes Datum. Auch hier kann man fragen, was dürfte er zutreffen? Und wenn wir dann sehen, dass bei Johannes Jesus von Anfang an als das Lamm Gottes bezeichnet wird und dass auch nachher noch Bestimmungen für das Passalam auf ihn angewandt werden, ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen, wie es im Exodusbuch heißt, was nachher auf den Gekreuzigten angewandt wird, dann wird deutlich, Jesus stirbt als das wahre Passalam und so ist auch eher plausibel, dass das Johannes-Evangelium das Datum seines Todes auf diese Symbolik hin ausgerichtet hat. Der irdische Jesus hat, wie Markus berichtet, mit seinen Jüngern

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ein Passamal gefeiert und dabei wohl auch deutende Worte gesagt, dies ist mein Leib, dies ist mein Blut für euch. Und dann wurde er verhaftet und nach einem nächtlichen Prozess am Passafest wohl öffentlich zur Abschreckung gekreuzigt. Johannes verschiebt dies, verschiebt diese Aktionen um einen Tag nach vorne aus Gründen der theologischen Symbolik, um Jesus als Passalam zu präsentieren. Nun sind wir bei der Feststellung der Unterschiede zwischen Johannes und den anderen schon dahin gelangt, dass wir zu erklären versuchen, warum Johannes so anders erzählt, aus dramaturgischen Gründen und aus theologischen Gründen. Und an manchen Stellen muss man dann auch entscheiden, wer hat historisch eher recht. Da gibt es kein Sowohl-als-auch und es wäre unredlich, sich diesen Fragen aus Gründen der Pietät gegenüber dem Gotteswort einfach zu verschließen.

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Wenn wir das Wort ernst nehmen, dann müssen wir auch so genau hinschauen und diese Unterschiede zwischen den Evangelien richtig aufrichtig festhalten. Das sind kritische Fragen, aber denen muss man sich gerade stellen. Und wer es sich und anderen verbietet, herumeiert, um sich eine Entscheidung zu ersparen oder das Wort nicht zu kritisieren, der wäre gerade nicht bibeltreu. Wer so vorgeht, nimmt die Texte eben doch zu wenig ernst, nur um die eigene Weltanschauung zu stützen, die der Bibel nicht widersprechen darf. Johannäisch gesprochen wird die Inkarnation dabei nicht ernst genommen. Denn das biblische Wort ist eben doch ein menschliches, gestaltetes, literarisch ausgestaltetes Wort von Autoren, die ihren Stoff auswählen, ihre Erzählung gestalten, theologisch und dramaturgisch und ihre Botschaft haben. Und das gilt es ernst zu nehmen. Ich meine, der Evangelist gibt eine gute Begründung dafür. Er zeigt nämlich, dass er weiß, dass er die

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Jesusgeschichte nicht einfach so erzählt, wie sie allen Zeitgenossen vor Augen gestanden hätte. Er ist sich bewusst, dass er Passagen aus der älteren Tradition umstellt. Er ist sich bewusst bei der Tempelreinigung oder auch dem Beschluss des Hohen Rates über den Tod Jesu, dann ein Frust bereits nach der Lazaruserweckung fällt. Da verändert er die Gestalt der Passionsgeschichte aus dramaturgischen Gründen. Evangelist weiß auch, was er tut, wenn er die Wundergeschichten so symbolisch ausdeutet und so symbolisch gestaltet, dass diese Worte und diese Taten Jesu ganz auf das Ganze der Jesusgeschichte und seinen Weg und seine Passion und seine Auferstehung bezogen sind. Und Johannes verändert diese Jesusgeschichte nicht heimlich. Er legt sein Vorgehen offen. An zwei Stellen des

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Evangeliums heißt es nämlich, nach dem Kempelwort Jesu, dass die Juden missverstanden und beim Einzug in Jerusalem. Dies verstanden seine Jünger zuerst nicht, aber als er auferstanden war von den Toten, da erinnerten sie sich und verstanden seine Geschichte, seine Worte, die Schrift. Und der, der diese Erinnerung bewirkt hat, der ist nach dem Johannes-Evangelium der heilige Geist. Der Paraklet, von dem Jesus in den Abschiedsreden sagt, er werde die Jünger erinnern und lehren an alles das, was er gesagt habe. Mit diesen kleinen Erläuterungen macht Johannes deutlich, das Bild, was er vom Wirken Jesu zeichnet, ist nicht einfach das Bild der Zeitgenossen, sondern ein Bild, das sich der Erinnerung nach Ostern, letztlich der Wirkung

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durch den heiligen Geist verdankt, der sie erinnert hat, der sie das Ganze neu durchdenken und neu verstehen lehrte und damit auch die Schrift neu verstehen lehrte. So entstand das Bild der Geschichte Jesu, wie es Johannes zeichnet und das sich dann auch eben so von den anderen drei Evangelien unterscheidet. Johannes versteckt diese Einsicht nicht, er gibt nicht einfach vor, ich zeichne ein Bild des historischen Jesus, wie es jedem Zeitgenossen vor Augen gestanden hätte. Vielmehr ist klar und offen bekundet, was hier vor Augen geführt wird, ist Ergebnis eines längeren Prozesses des Verstehenlernens, des Lesens und Bedenkens der Schriften und der Belehrung durch den heiligen Geist. Insofern ist nach Johannäischer Überzeugung tatsächlich der heilige Geist der eigentliche Autor, der hinter diesem Evangelium steht. Aber nun müssen wir doch der Frage nachgehen,

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wo dieses Evangelium herkommt. Was sind seine Quellen? Wie alt ist es? Und was können wir über den Autor oder seine Entstehung sagen? Diese Johannäische Frage ist eine der schwierigsten historischen Fragen in der Erforschung des Ur-Christentums. Viele halten sie für unlösbar und sicheres werden wir am Ende nicht wissen. Vielleicht ist diese Frage eben auch nicht die allerwichtigste zum Verstehen des Evangeliums nach dem, was ich bisher versucht habe zu zeigen. Ich habe ja bislang bewusst Beobachtungen zum Text vorgetragen, damit wir sehen, was da passiert, wie der Autor vorgeht. In manchen konservativen Kreisen geht man den umgekehrten Weg. Man versucht, die Autorfrage zu klären und wenn man dann irgendwie die traditionelle Sicht verteidigt hat, dass der Autor des Evangeliums ein Jünger und Apostel, ein Augenzeuge des Wirkens Jesu war, dann ist alles weitere klar. Der Augenzeuge muss es ja besser wissen. Er ergänzt und korrigiert die

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anderen und hat historisch recht. Nur dann haben die anderen Unrecht. Wenn der irdische Jesus so gesprochen hätte wie im Johannesevangelium, dann hätte er nicht so gesprochen wie in den synoptischen Evangelien. In knappen Sprüchen, in Gleichnissen, in der erkennbaren arameischen Diktion. Und wenn er tatsächlich so gesprochen hat in dieser arameischen Diktion, in knappen Sprüchen und Gleichnissen und der Sprachform, die wir hinter dem Vater untersehen können, dann hat er nicht so gesprochen wie im Johannesevangelium. War die Tempelreinigung am Ende oder war sie am Anfang? Auch da muss man sich entscheiden. War das letzte Mal ein Passamal oder nicht? Diese Fragen erlauben eben kein Sowohl-als-auch, sondern fordern eine Entscheidung. Und diese ist meines Erachtens klar. Die anderen Evangelien sind näher am Jesus der Geschichte. Bei Johannes liegt eine Transformation vor. Und selbst wenn man festhalten wollte,

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dass der Autor des Evangeliums ein Augenzeuge war, der dann als 80-, 90-jähriger sich daran erinnert, so würde dieser, wenn er so viel später schreibt, sicherlich keine Tonbandaufzeichnung bringen, sondern wie jeder Erzähler auswählen, gewichten und deuten. Dass der Evangelist, ganz gleich wer es war, bewusst ausgewählt und gedeutet hat, sagt er am Ende von Kapitel 20. Noch viele andere Zeichen tat Jesus, die nicht in diesem Buch aufgeschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes und als Glaubende in seinem Namen leben habt. Das Evangelium hat also den Zweck, Glauben an Jesus als den Sohn Gottes zu vermitteln. Das meint wohl nicht eigentlich Basismission an völlig Unkundige, sondern zielt eher auf einen vertieften, gegründeten,

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richtig verstandenen Glauben. Und zu diesem Zweck hat der Autor seinen Stoff ausgewählt und seinen Text literarisch gestaltet. Doch wer war der Autor? Woher hat er sein Wissen? Nun, gegen Ende des zweiten Jahrhunderts, also fast 100 Jahre nach der Entstehung dieses Evangeliums, war man sich in der Kirche darüber weithin im Klaren. Das Evangelium wird dem Apostel Johannes, dem Sohn des Zebedäus, zugeschrieben, einem der Fischer, die Jesus da am Segenizerrat von den Netzen weg berufen hat. In diesem, diesen Jüngersamen im Evangelium präsent in dem Jünger, den Jesus liebte, der beim letzten Mal bei Jesus auf dem Ehrenplatz direkt neben ihm sich befindet. So die Kirchenväter Irenaeus, Clemens und andere. Aber was sagt das Evangelium selbst? Nichts, zumindest

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nichts Direktes. Der Text nennt seinen Autor nicht, er ist anonym. Der Titel Evangelium nach Johannes wurde wohl erst etwas später darüber geschrieben, als man Bücher in Gemeinden sammelte und in der Gemeindebibliothek sozusagen ein Rückenschild brauchte. Da hat man es Johannes zugeschrieben. Warum? Wie konnte man darauf kommen? Ganz am Ende des Johannes-Evangeliums im 21. Kapitel gibt es einen Hinweis auf einen, der dies geschrieben hat. Da ist die Rede von dem Jünger, den Jesus liebte. Dieser kommt nur bei Johannes vor, sonst nirgendwo. Er begegnet zum ersten Mal beim letzten Zusammensein, beim letzten Abendmahl, wo es heißt, dass er an der Brust des Herrn lag,

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am Ehrenplatz neben ihm. Und als Petrus sich nicht traut, Jesus zu fragen, wer der wäre, der ihn verraten würde, muss es dieser andere tun. Am Ostermorgen läuft dieser Jünger zusammen mit Petrus zum Grab Jesu, ist schneller als er dort und versteht auch vor Petrus, dass Jesus auferstanden ist. Dieser Jünger wird wohlgemerkt nur im Rahmen von Passion und Ostern erwähnt. Und da ist er immer mit Petrus zusammen und ist diesem immer eine Nasenlänge voraus. Irgendwie ist er der einzige, der Jesus nicht missversteht wie die anderen. Der einzige, der glaubt, der Erste, der richtig glaubt, ja, das Ideal eines Jüngers. In den anderen Evangelien haben wir keine solche Figur. Dort ist keiner von den Jüngern ideal, auch nicht Petrus. Nur im vierten Evangelium wird dem Petrus immer dieser andere vor die Nase gesetzt und Petrus damit auf die zweite Stelle geschoben.

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Ist das eine reale Figur oder ist das eine ideale, eine Schiffre dafür, dass man Jesus eben auch noch besser verstehen muss, als das Petrus und die anderen Jünger damals konnten? Dass dieses Evangelium sozusagen den Schlüssel hat zur richtigen Erkenntnis Jesu? Wer ist dieser Jünger? Eine Schiffre oder eine reale Person oder beides? Eine Auflösung begegnet am Ende in dem vielleicht nachträglich angefügten Schlusskapitel. Nachdem Petrus von Jesus, der Tod als Märtyrer, gewissagt wurde, deutet Petrus auf den anderen und sagt, und was ist mit diesem? Jesus sagt, wenn ich will, dass dieser bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? Und dann heißt es, dass bei den Brüdern, also in der Gemeinde, das Gerücht umging, dieser Jünger stirbt nicht. Und

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das wird dann gleich danach richtiggestellt. Nein, Jesus hatte nicht gesagt, dieser Jünger stirbt nicht, sondern nur, wenn ich will, dass dieser bleibt, bis ich komme. Wie lässt sich diese eigentümliche Korrektur der Meinung des Gerüchts unter den Gemeindegliedern verstehen? Das ist ja nicht gerade speichelhaft, wenn von ihnen gesagt wird, dass sie Jesu Wort einfach missdeuteten durch so ein eigenmächtiges Gerücht. Steht dahinter vielleicht, dass dieser Zeuge eben doch gestorben ist und dass man das Gerücht über ihn deshalb korrigieren musste? Vielleicht ist dieser Jünger also doch nicht einfach nur eine Symbolgestalt, sondern eine reale Gestalt, ein Traditionsträger, ein Alter, von dem man noch denken konnte, der bleibt bis zum jüngsten Tag, bis er dann irgendwann, um das Jahrhundert, eben doch gestorben ist. Von diesem Traditionsträger heißt es dann, das ist der Jünger, der dies geschrieben hat und sein Zeugnis ist wahr. Andere gestätigen also

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dieses Zeugnis, seine Autorschaft, aber vielleicht eben auch seinen Tod. Dieser Zeuge lässt sich freilich nur für die Ereignisse um Jesu Passion und Ostern reklamieren und nirgendwo steht etwas davon, dass er der Apostel Johannes sei. Wie konnten die Leser des Evangeliums und die späteren auf diese Annahme kommen? Es gibt wohl einen Schlüssel, der dies erklären kann. Am Anfang des Evangeliums, als die beiden Täuferjünger zu Jesus kommen und ihm nachlaufen, da wird nur von einem der Namen genannt, Andreas. Und der findet nachher seinen Bruder Petrus. Petrus ist also auch hier nicht der erste, sondern an die zweite Stelle gesetzt. Das ist konsistent. Der andere von den Zweien bleibt aber anonym. Wer ist dieser Anonyme? Jetzt kann das Rätselraten beginnen.

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Man kann versuchen, diese Lücke zu füllen aus der anderen Berufungserzählung im Markusevangelium. Dort beruft Jesus zwei Brüderpaare, Petrus und Andreas, Johannes und Jakobus. Darf man also in dieser Lücke im Johannes-Evangelium, Kapitel 1, einen aus diesen Vieren einfach einsetzen und weil Jakobus relativ bald zu Tode kam, dann eben Johannes? Man kann die Lücke so füllen, aber es steht nicht da. Wir können von hier aus verstehen, wie frühe Leser des Johannes-Evangeliums auf die Idee gekommen sind, dass dieser Jünger, den Jesus lebte, der ab Kapitel 13 auftritt, der gleiche sei wie dieser Unbekannte in Kapitel 1 und der Johannes aus dem Markusevangelium. Und im übrigen tauchen in der Apostelgeschichte natürlich Petrus und Johannes öfter zusammen auf. Aber wie gesagt,

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das ist nur durch Kombination aus den Daten von mehreren unterschiedlichen Werken möglich geworden. Durch eine solche kluge Kombinatorik wurde der Apostel Johannes zum vermeintlichen Jünger, den Jesus lebte, und damit zum Verfasser dieses anonymen Evangeliums. Wer es wirklich geschrieben hat, wissen wir nicht. Nun ja, eine Möglichkeit werde ich gleich noch andeuten. Aber für die Kirchenväter des zweiten, späten zweiten Jahrhunderts ist eben klar, dieser Johannes hat das Evangelium geschrieben. Irenaeus etwa schreibt in seinem Werk gegen die Heresien zuletzt, das heißt nach den anderen dreien, gab Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust gelegen hatte, das Evangelium heraus, als er sich im Ephesus in der Provinz Asja aufhielt. Die Meinung ist also, das Johannes-Evangelium ist das letzte der vier Evangelien, das jüngste. Und es ist in Kleinasien,

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der heutigen Türkei, in Ephesus entstanden, wo Johannes, der Jünger des Herrn, als alter Mann bis in die Zeit des Kaisers drei Jahren, also um das Jahr 100, gelebt haben soll. Damit wären wir so ungefähr 60 bis fast 70 Jahre nach der Passion und nach Ostern. Irenaeus beruft sich für dieses Wissen auf die Zeugen der Generation vor ihm, den Bischof Polycarp von Smyrna, dem heutigen Ismyr, der die Zeugen des Herrn noch gesehen habe. Nur sagt leider Polycarp in dem Brief, den wir von ihm erhalten haben, um 140, 150 vielleicht, gar nichts über eine Begegnung mit dem Apostel Johannes. Noch etwas früher, um 125, schrieb ein anderer Autor Papias von Hierapolis, das ist das heutige Pamukkale, die Kalks hinter Terrassen, die den Touristen so

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Spaß machen, 200 Kilometer östlich von Ephesus. Dieser Papias schrieb ein Werk über die Auslegung der Worte des Herrn. Leider haben wir davon nur wenige Bruchstücke erhalten. Aber der Papias betont, er sei in seiner Jugend, um Material zu sammeln, den Mündlichen, den Informationen vieler Zeugen über die alte Zeit nachgegangen. Er schreibt, wenn aber irgendwo jemand kam, der den Alten nachgefolgt war, erkundigte ich mich nach den Berichten der Alten, was Andreas und was Petrus oder was Philippus und was Thomas oder Jakobus und Johannes oder was Matthäus oder irgendein anderer der Jünger des Herrn gesagt haben und was auch Aristion und der alte Johannes, beide Jünger des Herrn, sagen. Hoppla, da haben wir offenbar zwei verschiedene Personen mit Namen Johannes, die beide als Jünger des Herrn, das heißt zunächst einmal, als Christen eingestuft werden.

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Der eine war in der Jugendzeit des Papias, sagen wir so ums Jahr 80, schon in der Vergangenheit, sodass man nur noch aus der zweiten oder dritten Hand von ihm etwas hören konnte. Und der andere war zu dieser Zeit offenbar noch am Leben, sodass Papias in Präsenz davon reden kann, was Aristion und Johannes, der Alte, Jünger des Herrn, sagen. Das heißt aber, der Johannes, von dem unser Papias in Kleinasien noch direkte Informationen bekommen hat, ist nicht der Apostel und Jesusjünger, direkte Jesusjünger aus dem Zwölferkreis, sondern ein anderer Jünger des Herrn, der Alte oder Presbyteros Johannes. Und interessanterweise weiß auch Papias noch von einer Überlieferung, dass der Johannes, der Apostel, von den Juden getötet worden sei. Gab es also irgendwann eine Verwechslung zwischen den beiden Johannesfiguren, zwischen dem alten Johannes,

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der in Kleinasien offenbar noch lebte, und dem Apostel, von dem wir nicht sicher wissen, ob er jemals aus Palästina herausgekommen und nach Ephesus gelangt war? Ist also jetzt letztlich der Alte Johannes, der Johannes, die Gestalt hinter dem Evangelium, nicht der Apostel, sondern ein anderer? Das Ganze könnte dadurch noch bestätigt werden, dass wir in unserem Neuen Testament, in den beiden kleinen Johannesbriefen, zweiten und dritten Johannesbrief, eine merkwürdige Absenderangabe haben. Der Alte, Presbyteros, ein Ehrentitel. Und diese Briefe wurden nachher auch mit einer Überschrift versehen, Johannes 2 und 3. Also war so ein Alter, wie der da bezeichnet wird oder sich selbst bezeichnet, offenbar eine Autorität, ein Traditionsträger im Kreis,

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in dem das Johannes-Evangelium entstanden ist. Aber auch diese Hypothese, die mein Tübinger Lehrer Martin Hengel stark gemacht hat, lässt sich nicht positiv belegen. Wer die Gestalt war, der das Evangelium geschrieben hat, das bleibt in einem Halbdunkel. Das bleibt nicht klar. Das Werk will uns offenbar auch nicht wegen eines prominenten Autors, nicht wegen eines besonders inspirierten Autors eine Autorität sein, beeindrucken, sondern durch das Zeugnis in der Sache, durch seine Erkenntnis Jesu Christi und durch den Heiligen Geist. Das ist seine wahre Autorität. Kommen wir noch einmal zurück zu der Aussage, dass die Jünger Jesu zunächst nichts verstanden, sondern sich erst nach Ostern erinnerten und begannen Jesu Taten, sein Geschick, seine Worte und das Zeugnis der Schrift besser zu verstehen. Dann ist der, auf den die Erinnerung und das Verstehen zurückgeführt wird,

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eben der eigentliche Autor des Evangeliums. Ich meine, das ist das Wichtige, der Heilige Geist, der hier als Lehrer präsentiert wird. So ist das Johannes-Evangelium eigentlich das Evangelium des Geistes. Es ist autoritativ und später kanonisch, nicht einfach deshalb, weil es von einem besonderen Apostel, von einem Augenzeugen her käme. Es ist keine formale, sondern eine sachliche Autorität. Christus wird hier in neuer Tiefe, in neuer Durchdringung vor Augen gestellt und dieses Christusbild, diese Erkenntnis verdankt sich dem Wirken, dem Lehren des Heiligen Geistes. Clemens von Alexandrien, auch einer der Väter am Ende des zweiten Jahrhunderts, hat es einmal so formuliert. Nachdem die anderen drei Evangelisten die leiblichen Dinge über Jesus aufgeschrieben

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haben, hat Johannes ein geistliches, ein geistiges Evangelium geschrieben. Eben eines, das in seiner Durchdringung, in seinem Verstehen über die anderen hinausgeht. Aber was war die Grundlage, die unser Johannes, wer auch immer es war, zur Verfügung hatte? Was waren seine Quellen? Wie konnte er an seine Informationen kommen? Nun, darüber haben die Forscher viel Tinte vergossen. Man vermutete Quellen hinter dem Prolog, hinter den Wundergeschichten, hinter den Reden, hinter der Passionsgeschichte. Und alle diese Hypothesen konnten sich nicht wirklich halten. Eine Quelle scheint mir aber sicher zu sein. Johannes kennt die alte Jesus-Tradition vermutlich aus dem Markusevangelium. Viele der Episoden aus Johannes lassen sich als deren Weiterdeutung lesen. Ich möchte das nur an einem Beispiel verdeutlichen. Gethsemane. Markus und die anderen, Matthäus und

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Lukas erzählen, dass Jesus vor seiner Passion betete im Garten, dass dieser Kelch, wenn Gott will, an ihm vorüber gehe, dass er vom Tod verschont werde. Da zittert Jesus vor dem Tod. Ganz menschlich würde er lieber ausweichen vor diesem Kreuzgeschehen. Menschlich verständlich, aber eigentlich fatal. Was wäre, wenn Jesus hier sich geweigert hätte, ans Kreuz zu gehen? Wäre dann der ganze Heilsplan gescheitert? Kein Wunder, dass Johannes diese Szene nicht berichtet. Hier ist Jesus ja ganz wissend und ganz souverän. Freiwillig geht er in den Tod. Er weiß, was geschehen muss. Er vollendet sein Werk in Einheit mit dem Vater. Und ein Ausbrechen, ein Verweigern vor dem Ziel ist nicht denkbar. Johannes bietet also keine Gethsemane-Erzählung, aber er kennt sie.

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Und was macht er? Er formuliert sie um. Johannes 12,27 sagt Jesus im Gebet zu Gott, jetzt ist meine Seele erschüttert. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde. Nein, denn darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen. Das ist wie eine Korrektur des Gethsemane-Gebetes. Jesus betet nicht um Errettung vor dem Tod, sondern besser darum, dass Gottes Name verherrlicht werde. Und später bei der Verhaftung, als er sich dem Kommando selbst ausliefert und in Petrus mit seinem Schwert auch noch zurückweist, sagt er, soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat? Wieder formuliert Jesus genau im Gegensatz zu dem, was im Markusevangelium von Gethsemane erzählt ist. Der Johannes-Evangelist kennt das

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Markusevangelium. Aber wenn es wahr ist, dass Jesus mit dem Vater eins ist, dass er nur seine Sendung vollenden will, dann kann er in Wahrheit nicht so gebetet haben, wie das bei Markus steht. Und so bietet Johannes eine Korrektur. Nein, so will ich nicht beten, sondern anders. Er trinkt den Todeskelch freiwillig und bewusst. Johannes kennt Markus. Von daher hat er das Gerüst der Jesusgeschichte und auch manche der Einzelerzählungen. Und ich glaube, man kann auch zeigen, dass der Evangelist damit gerechnet hat, dass manche seiner Leser dieses Evangelium in dieser Form kannten. Doch er verändert die Geschichte nicht willkürlich, sondern im Licht seiner eigenen vom Geist vermittelten Christus-Erkenntnis. Nicht weil er es historisch besser wüsste, weil er Augenzeuge wäre, aber weil er die bessere Theologie hat. Und dieser Anspruch spiegelt sich auch darin,

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dass der Lieblingsjünger, dem Petrus, dem Gewährsmann der älteren Jesustradition immer eine Nasenlänge voraus ist. Das Johannes-Evangelium setzt sich also mit der älteren Jesustradition auseinander und setzt sie voraus. Und dazu kommen natürlich weitere Traditionen, die in den Gemeinden um das vierte Evangelium herum gingen, dort geprägt waren. Diese kann man oft nur noch unpräzise vermuten, zum Beispiel, wenn sich manche Wendungen im Evangelium und im ersten Johannesbrief öfter finden. Oder wenn im ersten Johannesbrief auf eine Lehre oder einen Wissen der Adressaten Bezug genommen wird, dann lässt sich daraus vorsichtig erschließen, wie in diesen Gemeinden verkündigt und gelehrt wurde. Diese Sprache begegnet dann auch in der Formulierung der Jesusreden im Evangelium. Die Forschung redet in diesem Zusammenhang von der Johannäischen Schule. Damit ist an sich nicht viel gewonnen, denn das war kein Schulbetrieb in einem geläufigen

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Sinne, wie alte Philosophenschulen arbeiteten. Aber doch vielleicht ein gemeinsames Lesen und Durcharbeiten, Durchdenken der Schriften und der Jesusgeschichte und ihrer Konsequenzen. Da wurde gewiss diskutiert und theologisiert und vielleicht gab es da auch Dissens und Spannungen. In den Johannesbriefen hören wir davon. Dass diese Gemeinden in Kleinasien, vielleicht in der Großstadt Ephesus lebten, in der Zeit nach dem jüdischen Krieg, also nach dem Jahr 70 gegen Ende des ersten Jahrhunderts, das ist historisch durchaus plausibel. Im Evangelium spiegelt sich ja auch kein ländliches Milieu. Es ist eher ein städtisches, auch kein arme Leute-Milieu, eher gehoben. Die Menge Wein bei der Hochzeit, die Menge Parfum beim Begräbnis Jesu, ein königlicher Beamter, ein jüdischer Ratsherr, ein Jünger, der dem Hohen Priester bekannt war und

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auffällig die große Zahl von Frauen, mit denen Jesus im Gespräch kommt. Das alles lässt sich leichter im Umfeld einer hellenistischen Großstadt wie Ephesus vorstellen. Waren Sie schon einmal dort in Ephesus, im Antiken? Ich bin immer wieder, wenn ich dort bin, durch die luxuriösen, dekorierten Hanghäuser gegangen und habe mir vorgestellt, wie das wäre, wenn in diesen edlen Häusern damals schon über die Botschaft von Jesus Christus nachgedacht worden wäre. Nun, das ist natürlich Fantasie und Spekulation. Wie haben diese Gemeindekreise wohl ausgesehen? Wie waren sie strukturiert? Waren das Hausgemeinden? Waren es Freundeskreise, einem Verein vergleichbar? Auch da können wir nur noch vage Ideen bekommen. Immerhin zeigt sich im Johannesevangelium von den kirchlichen Ämtern, die anderswo zur gleichen Zeit schon weiter ausgebildet waren, von Bischöfen und Diakonen keine Spur. Aber eines ist im Blick auf dieses Evangelium noch wichtig und noch einmal

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zu bedenken. Diese heftige Polemik gegen die Juden. Bis dahin, dass Jesus in Johannes 8 seine jüdischen Zeitgenossen als Teufelskinder beschimpft. Eine solche Polemik ist im Munde des Juden Jesus zu seiner Zeit kaum denkbar, zumal er sich mit Pharisäern und Sadduzäern und nicht einfach mit den Juden auseinandergesetzt hatte. Alle seine Zeitgenossen waren ja Juden. Es scheint sich hier in diesen Worten doch ein Streit zu spiegeln, der auf die Zeit des Evangelisten, auf die Situation der Gemeinde zur Zeit des Evangeliums weist, zwischen jüngeren Jesu, der Gemeinde und jüngeren Moses, den Juden. Nicht in Palästina, wo ja alle, die Jesus begegneten, Juden waren, sondern vielleicht in Ephesus. Und andererseits sind doch im Johannes-Evangelium auf Schritt und Dritt Anspielungen

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auf das alte Testament zu erkennen. Da beruft man sich auf die Schriften, deutet sie auf Christus und andere bestreiten diese Deutung. Da zeigt sich das gegenüber von jüngeren Moses, der Synagoge, und jüngeren Jesu. Und zugleich sind sich die beiden noch so nah, dass die Auseinandersetzung schmerzhaft und traumatisch wird. Ein paar Stellen reden in einem sonst gar nicht belegten griechischen Wort, aposynagogos, von einem Ausschluss, einem Ausgeschlossenwerden aus der Synagoge. Jesus Nachfolger, jüdische Jesus Nachfolger sind offenbar aus diesem Kreis verdrennt, ausgeschlossen, hinausgeworfen worden, aus welchen Gründen auch immer. Und das muss ihnen sozial und natürlich auch im Blick auf ihre ganze Lebensführung zugesetzt haben. Lässt sich so die Polemik erklären? Vielleicht, auch wenn wir heute mit diesen Worten und mit dieser Polemik nach einer

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langen Geschichte christlicher Judenfeindschaft große Probleme haben. Andererseits ist in den Abschiedsreden des Johannes-Evangeliums, in denen gerade die Situation der Jüngergemeinde noch einmal besonders zur Sprache kommt, erstaunlich wenig von den Juden die Rede, viel mehr von der Welt, die die Jünger hasst. In diesen Reden tröstet und stärkt Jesus ja nicht so seine irdischen Jünger, sondern die späteren, sei stark, ich habe die Welt überwunden. Da ist vom Unglauben die Rede, nicht speziell von jüdischer Zurückweisung, sondern allgemein, dass sie nicht glauben. Die Jünger fühlen sich allein gelassen in dieser Welt. Jesus ist nicht mehr da, er ist unsichtbar und die Gemeindeglieder sind dem Spott ausgeliefert. Wo ist denn dein Gott? Zeig ihn uns. Ja, und in der Abwesenheit Jesu, die Abwesenheit Jesu setzt dem eigenen Glauben zu. Da ist Anfechtung, Bedrängnis.

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Wenn man das liest, kann man von dieser Not etwas spüren und es ist gewiss eine Not, die Christen nicht nur damals, sondern auch in späteren Zeiten bis heute immer wieder befällt. Mir scheint, dass die Johannes-Evangelium spricht in diese Situation hinein. In die Bedrängnis der Jünger, da will es ihnen Trost und Stärkung geben. Sie sollen die Jesusgeschichte neu durchdenken und durcharbeiten und im Blick auf den Herrn, auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn, ihren eigenen Weg neu verstehen. Sie sollen auf den Herrn blicken, der die Dunkelheit der Welt, die Finsternis nicht gescheut hat, aber sie eben besiegt hat. Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht ergreifen, unterdrücken können, so kann man das übersetzen. So heißt es schon ganz am Anfang des Evangeliums und am Ende der Abschiedsreden sagt Jesus den Jüngern zu, ich habe die Welt besiegt. Wenn die Jesusgeschichte so im Licht von Osten präsentiert

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wird, dient sie zur Verstärkung der verunsicherten und angefochten Jünger. Durch eine bessere Theologie, durch ein besseres und klareres Bild dessen, wer Jesus Christus ist und was sein Tun bedeutet, sollten sie zu einem neuen, vertieften Glauben kommen, Mut fassen und diese Botschaft weitertragen. Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Das ist der Auftrag, mit dem die österliche Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen schließt. Und auch wenn wir die Adressaten des Evangeliums und ihre Situation nur noch bruchstückhaft rekonstruieren können, so ist doch dieses Schlusswort eines, mit dem das Johannes-Evangelium, die Kirche, weit über die ersten Adressaten hinaus, immer wieder neu an ihre Aufgabe und ihre Grundlage erinnert. Es ist eben nicht nur Weltliteratur, sondern zugleich

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ein Werk der Verkündigung bis auf den heutigen Tag, das Evangelium des Geistes.

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Das Johannes Evangelium – Teil 1 | 11.6.1

Worthaus Pop-Up – Tübingen: 23. Januar 2021 von Prof. Dr. Jörg Frey

Philosophen und Dichter waren von ihm fasziniert, Germanistikstudierende sollten es kennen, und Christen finden in ihm vor allem Vertrautheit und Trost. Kaum ein Buch in der Bibel konfrontiert uns derart mit Jesus Christus wie das Evangelium des Johannes. Jörg Frey beschäftigt sich seit 30 Jahren als Wissenschaftler mit diesem, seinem Lieblingsbuch in der Bibel. Dieses Evangelium ist zugänglich für jeden und doch unendlich tief. Diese Tiefe lotet Frey in gleich zwei Vorträgen aus. Wer war dieser Johannes, der das Evangelium geschrieben haben soll? Woher weiß er von so persönlichen Gesprächen zwischen Jesus und der Frau am Brunnen oder Jesus und Pilatus? Und warum lässt er Geschichten aus, die in den anderen Evangelien überliefert sind? Die ernüchternde Antwort vornweg: Das Johannesevangelium ist kein historisches Zeugnis, sagt Frey, sondern Literatur. Was bedeutet das für uns, für Christen und Nicht-Christen? Welche Autorität hat dieser Text dann noch? Frey versöhnt uns damit, dass Johannes hier keine historischen Tatsachen schildert. Er erklärt, warum der Text dennoch wahr ist und ein Weg, um Christus neu und anders kennenzulernen. Und wir lernen, was Bibeltreue wirklich bedeutet: Nämlich nicht schönreden und bedingungslos nicken, sondern auch kritische Fragen stellen. Denn erst die führen zur Erkenntnis.

Dieser Vortrag gehört zur Reihe »Vorworte: Einführungsvorträge zu jedem biblischen Buch«.