Wer sich einmal in die jüngere deutsche Geschichte vertieft oder auch mit dem heutigen Justizsystem zu tun hatte, weiß: Geltendes Recht und Gerechtigkeit sind nicht das Gleiche. Das Recht ist ein Regelsystem, das Gerechtigkeit zwar herstellen soll. Es kann dabei aber völlig ungerecht sein, Schwache schwächen, Reiche bereichern, Ausgegrenzte noch weiter ausgrenzen. Geltendes Recht ermöglichte die Shoa, den Sklavenhandel, die Inquisition. Und wenn geltendes Recht ungerecht ist, dann ist es notwendig, gegen dieses Recht zu verstoßen, Widerstand zu leisten. Um wahre Gerechtigkeit herzustellen. Was aber ist wahre Gerechtigkeit? Davon hat jede Kultur ihr eigenes Verständnis, erklärt Siegfried Zimmer. Das europäische Verständnis von Gerechtigkeit gründet auf der griechischen und römischen Vorstellung der Justitia, jener Frau mit verbunden Augen, mit Waage und Schwert in der Hand. Ohne Ansehen der Person wägt sie Tatsachen ab und straft entsprechend. Ohne Strafe, keine Gerechtigkeit. Richtig? Falsch. Jedenfalls nach biblischem Verständnis. Denn die Gerechtigkeit des christlichen Gottes sieht ganz anders aus. Vor ihr muss niemand zittern. Sie hat nichts mit Strafe zu tun. Im Gegenteil, sie versöhnt, baut Brücken zwischen Menschen und holt Ausgegrenzte zurück in die Gemeinschaft. Aber kann das gehen? Gerechtigkeit ohne Strafe? Und wie passt der Tod Jesu dazu, scheint er doch wie die ultimative Strafe für alle Sünden der Menschen zu sein? Zimmers Vortrag öffnet einen ganz neuen Blick auf dieses Thema – und macht all jenen Hoffnung, die sich nach Gerechtigkeit sehnen oder – auch das gibt es ja – Gottes Gerechtigkeit fürchten.

Wenn Jesus von sich sagt, niemand komme in den Himmel, der nicht an ihn glaubt – haben dann all die Muslime, Hindus, Atheisten oder Anhänger von Naturreligionen keine Chance auf ein Leben nach dem Tod? Denn an dieses Leben bei Gott, ein glückliches, erfüllendes Leben im Himmel, daran glauben Christen ja und das wünschen sie in der Regel auch ihren Mitmenschen. Was aber, wenn diese Mitmenschen etwas anderes glauben? Wenn sie gar nicht an irgendeinen Gott glauben wollen? Oder wenn sie – wie manches Naturvolk – noch nie von Jesus gehört haben? Klaus von Stosch, Professor für systematische Theologie an der Universität Paderborn, wagt sich an die Klärung dieser Fragen. Fragen, die sich auch Christen sicherlich irgendwann stellen: Was wäre eigentlich aus mir geworden, wenn ich nicht in eine christliche Familie hingeboren worden wäre? Wenn ich nie vom Christentum, von Jesus, gehört hätte? Kurz und prägnant erklärt von Stosch jene Theorien, mit denen Theologen bisher versucht haben, das Dilemma zu lösen. Und kommt schließlich zu einem überraschenden Fazit: Vielleicht bergen auch andere Religionen Geheimnisse, die den christlichen Glauben bereichern können?

Sie ist eines der größten Rätsel des Christentums und gleichzeitig das, was den christlichen Glauben im Inneren ausmacht: die Dreieinigkeit. Doch oft verstehen Christen selbst nicht so genau, was es mit dem dreifaltigen Gott auf sich hat. Noch schwerer tun sich im christlichen Glauben nicht Verwurzelte mit der Trinität. Woran glauben die Jesus-Anhänger denn nun? An einen Gott? An drei Götter? An einen Gott mit drei Persönlichkeiten? Der Theologe Prof. Dr. Klaus von Stosch, Professor für systematische Theologie, wagt sich an den Kern des Christentums. Er zerlegt die Trinität in ihre Bestandteile: Den Sohn, der das Wort nicht nur verkündet, sondern selbst Wort Gottes ist. Den Geist, der in der Seele des Menschen wirkt. Und den Vater, der alles umfasst. Klingt nach drei Personen? Das sind sie nicht. Drei und doch eins – wie das sein kann, dazu liefert von Stosch passenderweise drei Theorien. Einfach und anschaulich erklärt, damit jeder versteht, woran Christen eigentlich glauben.

Der Vortrag lässt sich am einfachsten als eine Art Prostatakrebsvorsorge-Untersuchung für den christlichen Glauben beschreiben. Vor dieser – auch gerne als »große Hafenrundfahrt« bezeichneten – Untersuchung haben viele Männer Scheu. Dabei tut sie nicht wirklich weh, ist aber unangenehm. Je nach Empfinden sogar sehr! Außerdem fürchten sich viele Männer vor Schmerzen, aber auch vor Schäden, die diese Untersuchung verursachen kann. Allerdings kann man nach Abschluss der Untersuchung die »Dinge« klarer einschätzen und muss nicht im Vagen verbleiben. Ganz ähnlich wird es der konservativen Christenheit mit diesem Vortrag gehen. Einige sensible Stellen wie das angemessene Verständnis der biblischen Botschaft, die Übertragbarkeit von biblischen Aussagen auf die Lebenswelt des 21. Jahrhunderts, die Tatsache, dass biblische Gestalten nicht alles das gewusst haben, was der heutige Mensch weiß, werden gestreift und dabei gezeigt, dass ein konservatives Schwarz-Weiß-Denken weder hilfreich noch intelligent ist. Aber dafür bietet Siegfried Zimmer in diesem Vortrag viele gesunde Erkenntnisse an – ohne auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen. Er weiß auch, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, dass der Modernisierungsprozess auch ambivalent ist und dass ein Überlegenheitsgefühl des modernen Menschen gegenüber Menschen vorheriger Epochen de­plat­ziert ist. Doch statt auf die Herausforderung der Moderne mit Weltflucht in religiöse Schneckenhäuser zu reagieren, hat Zimmer ein anderes Rezept für die Christenheit: Es gilt die Beschleunigung des historischen Wandels nicht zu bewerten, sondern zu bewältigen!
Damit erweist sich dieser einundsechzigste Worthaus-Vortrag auf eine überraschende Weise als absoluter Basis-Vortrag. Hier wird thematisiert, warum Worthaus entstanden ist. Mit dem Kampf Zimmers um ein angemessenes Verständnis der Moderne wird deutlich, warum der christliche Glaube heute zwingend eine Bildungskultur benötigt, um seine biblische Botschaft in das Hier und Jetzt zu tragen. Denn eine 1:1-Übertragung biblischer Texte in die Gegenwart greift nicht nur zu kurz, sie ist nicht nur zu leichtfertig, sie stellt ganz klar einen gravierenden Missbrauch dar. Stattdessen muss genau berücksichtigt werden, in welcher Zeit, in welcher Kultur und mit welcher Intention ein Text ursprünglich entstanden ist. Alles andere führt in Sackgassen und mitunter zu schweren Missverständnissen.

Siegfried Zimmer widmet sich in diesem Vortrag einer eigenartigen und einzigartigen Gestalt des Neuen Testaments. Der Lebensstil und die Botschaft Johannes des Täufers passen nicht so Recht in die damalige theologische Landschaft. Und auch für den heutigen Betrachter wirkt die Szenerie reichlich bizarr und trägt Züge einer Freakshow.
Interessanterweise verbindet sich der Mann aus Nazareth auf bemerkenswerte Weise mit diesem Sonderling und Zimmer zeigt auf, welche Rolle dieser Mann für den christlichen Glauben spielt. Der Vortag ist – wie üblich – gespickt mit geschichtlichen, gesellschaftlichen und geographischen Details, die einen soliden Rahmen für die eigentliche Botschaft dieses Rufers aus der Wüste geben: Das Gericht kommt – und zwar für alle. Keine Abstammung, kirchliche Tradition oder sonst wie gearteten religiösen Pfunde taugen bei Johannes etwas. Es gibt auch keinen Armen- oder Unterschichtsbonus – alle sind fällig und stehen erstmal, im eigentlichen und übertragenen Sinne, auf der falschen Seite (des Flusses) – das rettende Ufer ist drüben. Das war damals und ist wohl auch heute noch eine erschütternde Botschaft, wenn man sie hört und an sich heranlässt. Aber es gibt Hoffnung!
Der Weg zur Vergebung steht offen – und zwar auch allen. Hier wird nicht diskriminiert und es gibt keine Vorbedingungen. Das Bild der Taufe erklärt auf hervorragende Weise und zugleich auf körperlich erlebbare, emotional spürbare aber auch intellektuell valide Art worum es geht – Umkehr, Rettung, Neuanfang, Leben. Phänomenal.

Marco Frenschkowski zeigt bei seinem zweiten Worthaus-Vortrag sein »zweites Gesicht«. Während der erste eher schwierig verständlich war, präsentiert er hier die Zusammenhänge der frühchristlichen Prophetie in einer einfacheren Sprache. Und das tut dem Vortrag sehr gut!
In der Zeit nach Paulus hat sich Prophetie als selbstverständliches und geordnetes Element in den christlichen Gottesdiensten etabliert. Es entwickelt sich ein mündiger Umgang mit den Geistesgaben. Marco Frenschkowski beschreibt Prophetie als solides, hinterfragbares und geerdetes Element im Leben der ersten Christen. Das klingt so gar nicht nach sensationsgierigem, abgehobenem, charismatischem Holy-Spirit-Hype, der seit dem 20. Jahrhundert in Teilen der Christenheit en vogue ist.
Im zweiten Teil schwenkt Frenschkowski zur Mutter aller prophetischen Bücher: Der Offenbarung des Johannes, dem »Buch mit sieben Siegeln«. Bei dessen Lektüre dürften sich viele Leser gefragt haben, welches Kraut der Autor denn geraucht haben mag, um solche merkwürdigen Bilder zu beschreiben, aber noch viel mehr natürlich, was das alles zu bedeuten hat. Marco Frenschkowski überrascht hier mit der Aussage, dass die Offenbarung doch eigentlich ziemlich einfach zu verstehen sei und liefert tatsächlich eine Reihe von spannenden Auslegungshilfen. Und er geht der nicht ganz unwichtigen Frage nach, was denn die ersten Adressaten dieser Texte unter der wirren Bilderflut verstanden haben mögen.
Man bekommt Lust, sich diesem Buch mal etwas anders zu nähern. Ist es am Ende tatsächlich nicht so verkehrt, mit Worten unbeschreibliche Dinge mal ganz anders auszudrücken und sich als Zuhörer auf diese Bildsprache einzulassen? Dann erschließt sich das letzte Buch der Bibel vielleicht ja doch ein bisschen. Die Chancen stehen nach diesem Vortrag jedenfalls gut!

Die »lange Geschichte«, die mit dem Vortrag »Die Visionen des Amos – ein Meilenstein in der Geschichte der Prophetie« begonnen hat, setzt Siegfried Zimmer mit diesem Vortrag mit viel Engagement fort. Natürlich geht es in den Gerichtsworten aus dem Amosbuch weiter um das etwas abstrakt klingende »Gericht«. Aber Zimmer schafft es nicht nur diese alten Worte für das Hier und Jetzt verständlich zu machen. Er eröffnet auch ungewohnte Perspektiven auf die Amos-Verse, indem er sie in aktuelle Bezüge setzt und aus dem klassisch religiösen Kontext herauslöst.
So nähert er sich den Gerichtsworten über ein Gedicht von Nelly Sachs, in dem Propheten als »Einbrecher« verstanden werden. Sie brechen die verstopften Gehörgänge der Menschen auf mit »Sturmschwingen der Ewigkeit«.
Ausgehend von diesem lyrischen Zugang verdeutlicht Zimmer die enorme – und leider oft ausgeblendete – politische Dimension der Gerichtsworte des Amos. Sie klagen die gesellschaftlichen Eliten an, die kleine superreiche Oberschicht, die auf dem Rücken der armen Bevölkerungsmehrheit ihr Luxus-Leben frönt und jedes Gefühl für Anstand verloren hat. Sie konfrontieren die »High Society« mit einem Gott, der sie für ihren Lebensstil Verantwortung ziehen wird und sich eindeutig auf der Seite der Unterdrückten und Armen positioniert. Und es spricht nicht nur vieles, sondern alles dafür, dass sich an dieser Positionierung Gottes bis heute nichts geändert hat und auch nie ändern wird: Seine uneingeschränkte Solidarität gilt den Ausgegrenzten, den Chancenlosen, den Ohnmächtigen, den Entrechteten, den Ausgenutzten.

Wie entsteht das Prophetische? Warum steht es in einem engem Zusammenhang mit dem Aufkommen des Königtums in Israel? Siegfried Zimmer zeigt auf, dass das Prophetische einen konkreten Bezug zum politischen und gesellschaftlichen Geschehen hat. Dabei versteht er es gewohnt fesselnd historische Zusammenhänge nachvollziehbar zu skizzieren. Das Prophetische entwickelt sich als Gegenreaktion zu einer zentralistischen Machtkonzentration, zur Monarchie, zur Oberschicht am Königshof mit ihren Spitzenbeamten, Großgrundbesitzern und Führungskräften in Wirtschaft und Religion, zu dem Auseinanderdriften der israelitischen Gesellschaft. Hier treten Propheten als Mahner gegenüber dem Absolutistischen auf. Sie sind Königskritiker und Systemkritiker.
So kann das Fazit des Vortrags in Analogie zu dem Ausspruch: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten« lauten: »Wer Könige bestellt, bekommt Propheten geliefert.«

Das ist typisch Zimmer: Ehe er den Titel seines Vortrages auch nur ansatzweise ins Visier nimmt, bekommt man erstmal eine weite Einleitung, die das Thema ganz grundsätzlich einordnet. »Kennst du eine – kennst du alle.« würde Zimmer in Bezug auf Religionen wohl nicht unterschreiben – eher das Gegenteil. Wer ihn kennt weiß, dass man eine Religion nur im Kontrast zu anderen Glaubenslehren verstehen kann. Zunächst werden also die Religionen der Welt systematisch eingeteilt, auch wenn das vordergründlich erstmal nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun hat. Auch das Judentum bekommt – sozusagen als großer Bruder des Christentums – eine Menge Redezeit gewidmet. Das große Charakteristikum der monotheistischen Religionen lässt sich mit dem Wort »KONFRONTATION« beschreiben, Konfrontation mit dem Willen Gottes. Das muss man sich erstmal auf der auditiven Zunge zergehen lassen. Gott kennzeichnet sich durch seinen Mitteilungswillen aus. Er will, dass der Mensch ihn kennt. Das ist eine bemerkenswerte Aussage, die das Leben auf den Kopf stellen kann. Nur was steckt hinter diesem mitteilungsfreudigen Wesen? Und was hat es sagen? Dieser Vortrag beantwortet diese Fragen nicht umfassend, aber man kann ihn als Fenster verstehen, durch das frische Luft hereinströmt – oder als eine Tür, durch die man hindurchgeht.

Obwohl die Geburtsgeschichte von Jesus aus Nazareth die wahrscheinlich berühmteste Geschichte des zweiten, neueren Teils der Bibel ist. Und obwohl diese Geschichte seit Jahrhunderten jedes Jahr in allen christlichen Kirchen der Welt gelesen wird, wird sie seltsamerweise nie bis zum Ende gelesen. Der letzte Vers wird immer weggelassen!
Warum das so ist und warum das Weglassen des Endes alles andere als eine akademische Randnotiz ist, erklärt Siegfried Zimmer mit Nachdruck und Verve. Dabei zeigt er nicht nur wie literarisch formvollendet diese Geburtsgeschichte gestaltet ist, wenn man sie vollständig liest. Er entlarvt auch die »zuckersüße Weihnacht« mit dem Kindlein in der Krippe als ein heimeliges, kleinbürgerliches Produkt der Neuzeit und öffnet den Blick für eine neue, ungeahnte Dimension dieser altbekannten Geschichte: Auf einmal geht es um die Verlierer der Weltpolitik und eine Gegenkraft, eine Hoffnung, die dem Angesicht einer brutalen Wirklichkeit standhält. Nicht weil sie wegschaut, sondern weil jemand genau hinschaut.

Die Bibel kann auch politisch! Siegfried Zimmer beweist: Die Heilige Schrift enthält Untergrund- und Widerstandsliteratur, sie ist nicht auf Linie mit den Mächtigen ihrer Zeit. Was eine Fabel, in diesem Fall eine konstruierte Unterhaltung zwischen Bäumen, mit dem Urteil über ein politisches System zu tun hat, zeigt Siegfried Zimmer anhand eines weitgehend unbekannten Bibeltextes.
Eines ist dabei sicher: Den Mächtigen der Welt, den Investmentbankern, Konzernchefs, den Reichen, Starken und Unterdrückern unserer Zeit geht es mächtig an den Kragen.

Der Teufel, Satan, Beelzebub – was hat man nicht schon alles von ihm gehört. Er ist der angebliche Gegenspieler Gottes, der sogenannte gefallene Engel, das personifizierte Böse. »Glaubst du an den Teufel?« – diese Frage ist für viele Christen erstaunlich wichtig. Siegfried Zimmer nicht. Er schaut genau auf die biblischen Texte und erteilt vielen Gedankengebäuden rund um den Fürst der Finsternis mit teils deftigen Worten – Freakstockzeit eben – eine Absage. Dabei rückt er so manches höllisch schiefe Bild himmlisch gerade. Frei nach dem Motto: Wasser auf das Höllenfeuer!

Anmerkung: Der Vortragsstil spiegelt die ungezwungene Atmosphäre des Freakstock-Festivals wider. Siegfried Zimmer stellt sich auf sein Publikum ein, indem er wesentlich salopper und deftiger formuliert als gewöhnlich.