Themenbereich: Aspekte des christlichen Glaubens
Machen wir uns nichts vor: Wir alle urteilen über andere. Wir lästern über Kollegen, beschweren uns über die unfreundliche Kassiererin im Supermarkt, glauben, die eigenen Kinder seien besser erzogen als die Nachbarskinder. Gleichzeitig sind wir alle abhängig von der Meinung anderer. In unserer Leistungsgesellschaft ist die Meinung der Kollegen und Chefs nahezu überlebenswichtig. Hält der Chef uns für nützlich, behalten wir den Job. Lästern die Kollegen und halten uns für unfähig, dann beantragen wir bald Arbeitslosengeld. Wen andere Menschen für unnütz halten, schlecht bewerten und verurteilen, der hat keinen Platz in der Gesellschaft. Was andere von uns halten kann uns aufbauen oder zerstören. Martin Luther aber ging es immer darum, was Gott von einem Menschen hält. Diese Frage bestimmte sein Leben, denn die Meinung Gottes war im damaligen Verständnis noch lebensspendender oder zerstörender als die Meinung der Menschen. Wen Gott schlecht findet, der kommt in die Hölle. Glaubte man. Bis Luther durch seine Rechtfertigungslehre mit diesem Glauben aufräumte. Was so sperrig klingt, bringt Siegfried Zimmer auf einen einfachen Satz, den er dann leicht verständlich in seine Einzelteile zerlegt. Und danach ist endlich klar, was diese „Rechtfertigung“ eigentlich bedeutet. Warum Gott jeden Gläubigen für gerecht erklärt, egal welche Sünden und Verbrechen, er begangen hat. Wie wir uns frei machen von dem Urteil anderer. Und wie Christen lernen, andere nicht zu verurteilen.
Es war einmal eine Zeit, lange vor der Erfindung von Radio, Fernsehen und Smartphone, da versammelten sich Familien abends in der Stube, und irgendjemand erzählte eine Geschichte. Solche Szenen kennt man heute fast nur noch von Adventskalendern oder aus Heimatbüchern. Dabei ist ein ruhiger Abend mit Familie oder Freunden doch in unserer hektischen Zeit oft schöner als jedes Weihnachtsgeschenk. Erst recht im Advent. Wer nicht selbst erzählen mag, schaltet diese Folge von Worthaus ein. Denn dieses Mal hält Siegfried Zimmer keinen Vortrag, er erzählt die Geschichte von Zlateh, der Geiß. Geschrieben hat sie Isaac Bashevis Singer, geboren 1904 in Polen, 1978 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Doch all Ehrungen sind unwichtig, wenn Zimmer zu erzählen beginnt. Dann geht es nur noch um die Geschichte, um Stimme und Klang. Mal wird Zimmer beim Erzählen lauter, dann flüstert er fast, und spricht gleich darauf schnell wie im Galopp. Und plötzlich meckert er wie eine Ziege. Mit allen Klängen, die die menschliche Stimme hergibt, erzählt Zimmer von dem Pelzhändler Ruben, der seine einzige Geiß verkaufen muss, von dem tödlichen Schneesturm, in dem sich die Geiß und Rubens Sohn auf dem Weg zum Markt verlaufen, von dem einfachen Wunder, das beide rettet. Und von der Magie eines einzigen Wortes. Das nicht einmal menschlich ist.
Eigentlich wollte Martin Luther nur eine Debatte anstoßen über die verheerende Wirkung des Ablasshandels auf das „arme, einfältige, grobe Volk“. Das nämlich erliege durch den Ablasshandel nämlich dem fatalen Irrtum, so glaubte Luther, dass nur der Kauf eines Ablassbriefes der Seele den Weg in den Himmel ebnen würde. Doch als Luther 1518 nach Heidelberg gerufen wurde, um seine Thesen zum Ablasshandel zu verteidigen, stellt er weitere neue Thesen auf – Lehren, die die Reformation noch mehr anheizen und die Kirche der damaligen Zeit auf den Kopf stellen sollte. Der Heidelberger Theologe Prof. Dr. Dr. Michael Welker seziert diese 28 Thesen, die Luther in seiner Heidelberger Disputation aufgestellt hat. Er erklärt, warum Gott nicht in seiner Herrlichkeit erkannt werden kann, sondern in Verzweiflung und Leid Christi. Und vor allem setzt er sich dabei immer wieder mit einer der größten Fragen der Christenheit auseinander: der Theodizeefrage. Wie kann Gott Leid und Not in der Welt zulassen? Wie passt die Allmacht und Liebe Gottes zur Verzweiflung unzähliger Menschen? Wie kann Leid gar nötig sein, um Gott zu erkennen? Es ist kein einfacher Vortrag. Es ist ein theologischer. Und es lohnt sich, gut zuzuhören.
Nun wird es vielseitig und international – aber richtig. Michael Welker reist einmal quer durch Europa, durch 48 Städte, von Spanien bis Finnland, von denen aus die Reformation Kirche und Kontinent verändert hat. Die meisten Menschen verbinden die Reformation mit Martin Luthers Kampf gegen den Ablasshandel, mit der Entstehung der evangelischen Kirche und einem veränderten Gottesbild. Doch die Reformation brachte noch viel mehr. Sie machte die Christen zu mündigen Gläubigen, die die Bibel selbst lesen und für sich interpretieren konnten. Sie revolutionierte die Bildung, stellte kirchliche Ordnungen infrage, sie brachte sogar einige Reformatorinnen hervor, die für Frauenrechte eintraten. In 13 knappen Punkten wirft Welker mehrere solcher Schlaglichter auf die Reformation und zeigt, dass Martin Luther nicht nur die Kirche, sondern die halbe Welt verändert hat.
Nachdem Siegfried Zimmer in seinem Vortrag »Luthers reformatorischer Durchbruch« beschrieben hat, mit welcher Entdeckung Martin Luther die Welt verändert hatte, ist dieser Vortrag etwas theologischer. Also hingehört: Zimmer beschäftigt sich in diesem Vortrag mit dem Wortverständnis Luthers. Christen wissen: Mit dem Wort Gottes ist in der Regel die Bibel gemeint. Nicht aber bei Luther. Er meint mit dem damit einen ganz bestimmten Teil der Bibel, eine Zusage Gottes, die das Verhältnis des Menschen zu Gott bestimmt. Und die Gottes Liebe für den Menschen erst erlebbar macht. Es ist ein Versprechen, mit dem Gott den Menschen gewinnt. Das Schönste, was die Sprache zu bieten hat. Oder, wie Zimmer es sagt: »Das Wort Gottes ist der Weg, auf dem die Liebe Gottes zu uns kommt.« Und das galt für die Zeitgenossen Martin Luthers ebenso wie es für die Menschen im unübersichtlichem 21. Jahrhundert gilt.
Es ist ein großes Jubiläum: Vor fast 500 Jahren nagelte Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Deswegen sieht man den bekannten Reformator im Jahr 2017 immer wieder auf Plakaten, in Magazinen und Fernsehsendungen. Doch was ist eigentlich so besonders an diesem Mann aus dem späten Mittelalter? Womit hat er die moderne Welt so verändert? Was für eine Entdeckung hat er gemacht, die ihn beinahe auf den Scheiterhaufen brachte, die Kirche, Familien und ganze Nationen entzweite, die Gläubige zum Zweifeln brachte und einen jahrzehntelangen Krieg auslöste? »Wie wenn die Tür zum Paradies aufgegangen ist, ich fühlte mich wie neugeborenen.« So beschreibt Luther sein Aha-Erlebnis. Es ist keine neue Erkenntnis, schon andere Kirchenväter hatten sie niedergeschrieben. Doch Luther denkt diese Erkenntnis weiter und entdeckt im Wort Gottes ein fast unglaubliches Versprechen. Es befreit ihn von einer Last, die er Zeit seines Lebens mit sich herumgetragen hat. Seine Erkenntnisse und damals nie gehörten Thesen stecken voller Überraschungen – und sind zu vielschichtig, um sie in einem Vortrag abzuhandeln. Deswegen widmet Worthaus eine ganze Vortragsreihe der Reformation. Zum Auftakt erklärt Siegfried Zimmer, welche Entdeckung Martin Luther vor 500 Jahren gemacht hat. Was die lutherische und die katholische Lehre gemeinsam haben. Und warum ausgerechnet 2017 das Jubiläum der Reformation gefeiert wird.
Wenigstens einen Tag die Woche frei haben, das ist fast auf der ganzen Welt selbstverständlich, egal ob im abendländisch-christlichen Europa, im buddhistisch-hinduistischen Südostasien oder in muslimischen Ländern. Doch nur im Judentum und Christentum ist dieser eine freie Tag in der Woche in den heiligen Schriften verankert. Die Israeliten waren die Ersten, die jeden siebten Tag die Arbeit niederlegen sollten, nicht einmal Sklaven und Tiere arbeiten lassen durften. Was für eine Revolution in einer Zeit, in der die Armen fast ohne Pause arbeiteten und die Reichen andere für sich arbeiten ließen. Dieser freie Tag in der Woche, der Schabbat, ist eine Erfindung, die Menschen befreit. Und er ist nichts, was sich ignorieren ließe. Kein Gebot im Alten Testament wird so häufig erwähnt wie das Gebot, den Schabbat zu heiligen. Und wie soll das gehen, dieses „heiligen“? Jeden Sonntag in die Kirche rennen, auch wenn es einen anödet? Siegfried Zimmer gibt Entwarnung. Der Schabbat ist für den Menschen da, für Ruhe und Erholung. Aber viel mehr noch ist er ein Kampfmittel gegen das herrschende System. Es zeigt: Religion ist keine Privatsache. Gott mischt sich in alle Angelegenheiten des Lebens ein. Und das ist gut so. Das befreit.
Da atmen nicht nur seine muslimischen Studenten auf, wenn Siegfried Zimmer verkündet: „Ihr dürft die Lehre von der Trinität komisch finden!“ Es ist schließlich eine Lehre, die in der Bibel gar nicht erwähnt ist, die erst im dritten Jahrhundert nach Christus entwickelt wurde, eine Lehre, die selbst die meisten Christen nicht begreifen. Und die deswegen dem Dialog mit anderen Religionen oft im Weg steht. Doch heute, da immer mehr Muslime in Deutschland leben und der Austausch mit anderen Religionen immer bedeutender wird, ist es umso wichtiger, diese Lehre zu verstehen, die das Christentum so stark vom Islam und dem Judentum unterscheidet. Zimmer nimmt es mit diesem schwierigen Thema auf und berichtet begeistert von seinen Gesprächen mit muslimischen Studenten an Universitäten in der Türkei und Marokko. Denn dabei wird klar: Die Dreieinigkeit muss Christen und Muslime nicht trennen. Sie lässt sich verstehen, selbst für jene, die sie ablehnen. Lebendig erklärt Zimmer, warum die Dreieinigkeit so einmalig und universell ist. so neu und doch uralt, wo sie in der Bibel schon angekündigt wird, warum sie ohne den Tod Jesu nicht möglich wäre und wie sie das gesamte Denken der Christen über Gott verändert hat.
Wer sich einmal in die jüngere deutsche Geschichte vertieft oder auch mit dem heutigen Justizsystem zu tun hatte, weiß: Geltendes Recht und Gerechtigkeit sind nicht das Gleiche. Das Recht ist ein Regelsystem, das Gerechtigkeit zwar herstellen soll. Es kann dabei aber völlig ungerecht sein, Schwache schwächen, Reiche bereichern, Ausgegrenzte noch weiter ausgrenzen. Geltendes Recht ermöglichte die Shoa, den Sklavenhandel, die Inquisition. Und wenn geltendes Recht ungerecht ist, dann ist es notwendig, gegen dieses Recht zu verstoßen, Widerstand zu leisten. Um wahre Gerechtigkeit herzustellen. Was aber ist wahre Gerechtigkeit? Davon hat jede Kultur ihr eigenes Verständnis, erklärt Siegfried Zimmer. Das europäische Verständnis von Gerechtigkeit gründet auf der griechischen und römischen Vorstellung der Justitia, jener Frau mit verbunden Augen, mit Waage und Schwert in der Hand. Ohne Ansehen der Person wägt sie Tatsachen ab und straft entsprechend. Ohne Strafe, keine Gerechtigkeit. Richtig? Falsch. Jedenfalls nach biblischem Verständnis. Denn die Gerechtigkeit des christlichen Gottes sieht ganz anders aus. Vor ihr muss niemand zittern. Sie hat nichts mit Strafe zu tun. Im Gegenteil, sie versöhnt, baut Brücken zwischen Menschen und holt Ausgegrenzte zurück in die Gemeinschaft. Aber kann das gehen? Gerechtigkeit ohne Strafe? Und wie passt der Tod Jesu dazu, scheint er doch wie die ultimative Strafe für alle Sünden der Menschen zu sein? Zimmers Vortrag öffnet einen ganz neuen Blick auf dieses Thema – und macht all jenen Hoffnung, die sich nach Gerechtigkeit sehnen oder – auch das gibt es ja – Gottes Gerechtigkeit fürchten.
Wenn Jesus von sich sagt, niemand komme in den Himmel, der nicht an ihn glaubt – haben dann all die Muslime, Hindus, Atheisten oder Anhänger von Naturreligionen keine Chance auf ein Leben nach dem Tod? Denn an dieses Leben bei Gott, ein glückliches, erfüllendes Leben im Himmel, daran glauben Christen ja und das wünschen sie in der Regel auch ihren Mitmenschen. Was aber, wenn diese Mitmenschen etwas anderes glauben? Wenn sie gar nicht an irgendeinen Gott glauben wollen? Oder wenn sie – wie manches Naturvolk – noch nie von Jesus gehört haben? Klaus von Stosch, Professor für systematische Theologie an der Universität Paderborn, wagt sich an die Klärung dieser Fragen. Fragen, die sich auch Christen sicherlich irgendwann stellen: Was wäre eigentlich aus mir geworden, wenn ich nicht in eine christliche Familie hingeboren worden wäre? Wenn ich nie vom Christentum, von Jesus, gehört hätte? Kurz und prägnant erklärt von Stosch jene Theorien, mit denen Theologen bisher versucht haben, das Dilemma zu lösen. Und kommt schließlich zu einem überraschenden Fazit: Vielleicht bergen auch andere Religionen Geheimnisse, die den christlichen Glauben bereichern können?
Sie ist eines der größten Rätsel des Christentums und gleichzeitig das, was den christlichen Glauben im Inneren ausmacht: die Dreieinigkeit. Doch oft verstehen Christen selbst nicht so genau, was es mit dem dreifaltigen Gott auf sich hat. Noch schwerer tun sich im christlichen Glauben nicht Verwurzelte mit der Trinität. Woran glauben die Jesus-Anhänger denn nun? An einen Gott? An drei Götter? An einen Gott mit drei Persönlichkeiten? Der Theologe Prof. Dr. Klaus von Stosch, Professor für systematische Theologie, wagt sich an den Kern des Christentums. Er zerlegt die Trinität in ihre Bestandteile: Den Sohn, der das Wort nicht nur verkündet, sondern selbst Wort Gottes ist. Den Geist, der in der Seele des Menschen wirkt. Und den Vater, der alles umfasst. Klingt nach drei Personen? Das sind sie nicht. Drei und doch eins – wie das sein kann, dazu liefert von Stosch passenderweise drei Theorien. Einfach und anschaulich erklärt, damit jeder versteht, woran Christen eigentlich glauben.
Der Vortrag lässt sich am einfachsten als eine Art Prostatakrebsvorsorge-Untersuchung für den christlichen Glauben beschreiben. Vor dieser – auch gerne als »große Hafenrundfahrt« bezeichneten – Untersuchung haben viele Männer Scheu. Dabei tut sie nicht wirklich weh, ist aber unangenehm. Je nach Empfinden sogar sehr! Außerdem fürchten sich viele Männer vor Schmerzen, aber auch vor Schäden, die diese Untersuchung verursachen kann. Allerdings kann man nach Abschluss der Untersuchung die »Dinge« klarer einschätzen und muss nicht im Vagen verbleiben. Ganz ähnlich wird es der konservativen Christenheit mit diesem Vortrag gehen. Einige sensible Stellen wie das angemessene Verständnis der biblischen Botschaft, die Übertragbarkeit von biblischen Aussagen auf die Lebenswelt des 21. Jahrhunderts, die Tatsache, dass biblische Gestalten nicht alles das gewusst haben, was der heutige Mensch weiß, werden gestreift und dabei gezeigt, dass ein konservatives Schwarz-Weiß-Denken weder hilfreich noch intelligent ist. Aber dafür bietet Siegfried Zimmer in diesem Vortrag viele gesunde Erkenntnisse an – ohne auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen. Er weiß auch, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, dass der Modernisierungsprozess auch ambivalent ist und dass ein Überlegenheitsgefühl des modernen Menschen gegenüber Menschen vorheriger Epochen deplatziert ist. Doch statt auf die Herausforderung der Moderne mit Weltflucht in religiöse Schneckenhäuser zu reagieren, hat Zimmer ein anderes Rezept für die Christenheit: Es gilt die Beschleunigung des historischen Wandels nicht zu bewerten, sondern zu bewältigen!
Damit erweist sich dieser einundsechzigste Worthaus-Vortrag auf eine überraschende Weise als absoluter Basis-Vortrag. Hier wird thematisiert, warum Worthaus entstanden ist. Mit dem Kampf Zimmers um ein angemessenes Verständnis der Moderne wird deutlich, warum der christliche Glaube heute zwingend eine Bildungskultur benötigt, um seine biblische Botschaft in das Hier und Jetzt zu tragen. Denn eine 1:1-Übertragung biblischer Texte in die Gegenwart greift nicht nur zu kurz, sie ist nicht nur zu leichtfertig, sie stellt ganz klar einen gravierenden Missbrauch dar. Stattdessen muss genau berücksichtigt werden, in welcher Zeit, in welcher Kultur und mit welcher Intention ein Text ursprünglich entstanden ist. Alles andere führt in Sackgassen und mitunter zu schweren Missverständnissen.