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Das Neue Testament, der zweite Teil unserer christlichen Bibel, ursprünglich in griechischer Sprache verfasst, wurde die ersten anderthalb Jahrtausende seiner Überlieferung nur handschriftlich überliefert. Das stellt uns nun vor das Problem der Textkritik, das heißt die Frage, welcher Text dieser gesamten Überlieferung am Anfang zugrunde gelegen hat. Auf der Suche nach dem, was man früher Urtext nannte, den ältesten Text, den wir erreichen können, darf dabei nicht außer Acht bleiben, dass der Text des Neuen Testaments, den wir rekonstruieren wollen, eine Geschichte hatte, die von dem ersten Exemplar einer Stift, sei es eines Paulusbriefes oder eines Evangeliums,

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letztlich hin bis in unsere Zeit führt, in der wir in verschiedensten Sammlungen in der ganzen Welt verteilt 5700 Handschriften des Neuen Testaments auf Griechisch bis heute besitzen. Diese Handschriften wurden im Anfang, seit den 60er Jahren dieses Jahrhunderts von Kurt Ahland und seinem Team fotografiert in der ganzen Welt. Sie haben so Handschriftenreisen gemacht in die ganze Welt, in verschiedene Bibliotheken und Klöster und haben dort die Handschriften fotografiert, sodass wir jetzt im Münster im Institut für neuteiländische Textforschung, dessen Direktor ich die Ehre habe zu sein, tatsächlich die vollständigste Sammlung von Handschriften des Neuen Testaments haben wir auswerten können. Der Text des Neuen Testaments ist sozusagen vom ersten oder zweiten Jahrhundert bis ins 16. Jahrhundert handschriftlich überliefert worden. Von Abschrift zu Abschrift, schrittweise und fast unmerklich hat er dabei seinen

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Charakter geändert. Diese Textgeschichte, die Überlieferungsgeschichte in einem anderthalb Jahrtausenden langen Traditionsprozess, dem wir die Kenntnis des Neuen Testaments überhaupt erst verdanken, ist tatsächlich verwoben mit der Theologiegeschichte dieser Jahrtausende. Die Schreiber, die diese Texte tradiert haben, abgeschrieben haben, waren Zeitgenossen, kirchengeschichtlicher Vorgänge und Entwicklungen. Sie waren als freie christliche Schreiber der Frühzeit irgendwie in christliche Gemeinden eingebunden, für die sie geschrieben haben, oder standen ihnen nahe, oder haben als nicht-christliche Lohnschreiber, das dürfte es auch gegeben haben, Texte abgeschrieben, die sie nicht verstanden haben. Und es gab natürlich auch Leute,

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die einfach für die Privatbereich Handstiften abgeschrieben haben, um eine Bibel zu Hause zu haben. Das hat natürlich immer dazu geführt, dass Fehler sich einschlichen. Im Laufe der Zeit haben sich diese Fehler natürlich dann summiert und den Text verändert. Mönche haben im Kloster das Abschreiben von Handstiften als fromme Übung, als karikäthische Übung angesehen und haben im Rahmen ihres strengen Klosteralltags die Bibel abgeschrieben. Aber auch wissenschaftliche Theologen der frühen Zeit haben mithilfe ihrer Assistenten Bibelhandstiften abschreiben lassen, damit sie sie wissenschaftlich untersuchen konnten. Es gab christliche Schulen, die dringend Bibelhandstiften brauchten, um zu unterrichten. Wie gesagt, diese gesamte Überlieferung ist nicht im luftleeren Raum geschehen, sondern innerhalb der Geschichte der Kirche. Sie hat verschiedene Vorstellungsverhältnisse

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durchquert und dabei immer tatsächlich auch Einflüsse aufgenommen. Denn es macht durchaus einen Unterschied, ob ich im stillen Kämmerlein privat einen ganz interessanten Text eines heiligen Mannes, eines großen Theologen, abschreibe und ihn dann zur eigenen Erbauung zur Hand nehme, oder ob ich einen solchen Lesetext für den Gottesdienst schreibe, im Bewusstsein eine heilige Schrift zu transkribieren, abzuschreiben, die dann im Gottesdienst verlesen wird. Man wird wahrscheinlich davon ausgehen, dass das mit größerer Scheu passiert, als wenn ich eine Privatabschrift mache. Wie gesagt, das Neue Testament ist in der Zeit seiner handschriftlichen Überlieferung durch die Hände vieler Menschen gegangen, die jeweils verschieden gestrickt waren, verschieden dachten und verschieden gehandelt haben. Wie gesagt, schon früh hat auch die Wissenschaft in den Text eingegriffen, die Wissenschaft der damaligen Zeit. Man wusste

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ja sehr früh, dass der Abschreibprozess Veränderungen herbeiführt. Also wusste man auch, dass die Handschriften nicht alle fehlerfrei waren. Also haben sich Theologen, die mit der Bibel argumentieren wollten, gemötigt gesehen, ihren Text zu sichern und die Handschriften verglichen und dann entschieden, welche Lesart, welche Form des Textes wohl die ursprüngliche gewesen ist. Dabei hat man den Text auch selbst wieder verändert, teilweise ohne es zu wollen. Man kann ja, wenn man meint, einen Fehler in der Handschrift zu finden, den man verbessert, ihn verschlimmbessern, indem ich etwas schreibe, was ursprünglich nicht dastand, was vielleicht schön und sinnvoll scheint, aber eigentlich eine Veränderung ist. Und es hat wirklich schon in der frühen Zeit wirkliche textkritische Arbeit gegeben. So erfahren wir von einer Schule in Rom am Ende des zweiten Jahrhunderts, die ein gewisser Theodot in Rom gegründet hat. Und das waren hochgebildete Leute, die die Werke der Philosophen lasen und teilweise mit der christlichen Botschaft

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verbinden wollten. Und über diese Leute erfahren wir, dass sie Textkritik in einer Weise gemacht haben, die den meisten ihrer Zeitgenossen nicht gefallen haben. Sie haben nicht den Text verbessert. Sie haben gemeint, hier ist was falsch, das kann Paulus so nicht geschrieben haben und dann haben sie es korrigiert. Und das muss so schlimm gewesen sein, dass es sehr, sehr viele Handschriften in der Schule gab, die nicht übereinstimmten und die haben sogar den Namen der Lehrer drüber gehabt. Da hieß es dann, dieser Handschrift ist von Asclepios korrigiert worden, diese Handschrift ist von einem anderen korrigiert worden. Und das kritisiert dann ein heute unbekannter Kirchenschriftsteller und sagt, das ist ja barbarisch, was die machen. Die machen ja den Bibeltext, der vom heiligen Geist inspiriert ist, einfach zu ihrem eigenen, sie ändern, wie sie wollen. So was gab es auch. In dieser Vorlesung möchte ich nun eine allgemeine, hoffentlich allgemein verständliche Einführung in die neutestaminierte Textkritik geben. Die Fache sucht herauszufinden, was tatsächlich der älteste

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Text ist. Denn die Aufgabe der Textkritik ist nach klassischer Definition, den Urtext zu rekonstruieren. Eines der wichtigsten Probleme der Textkritik wäre doch gelöst, könnte man meinen, beziehungsweise das zentrale Grundproblem der Textkritik wäre gelöst, gäbe es gar nicht, wenn wir die Autografen, also die Original-Handschriften der Autoren noch hätten. Also wenn wir einen Paulusbrief mit der Handstift des Paulus hätten, dann bräuchten wir uns keine Gedanken zu machen, was der ursprüngliche Text des Paulus gewesen ist. Oder wenn wir wüssten, wie der Text ausgesehen hat, das Original noch wissen, das sozusagen als Evangelium des Matthäus dann heute uns bekannt ist. Aber das ist leider mit Sicherheit nicht der Fall. Das Original hieß des Briefes, den Paulus etwa an die Christen in Rom schickte, das Exemplar, das die Evangelien zur Veröffentlichung ihres Berichts über das Leben Jesu in die Öffentlichkeit gaben, sind

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längst vergangen, sind alle längst verloren gegangen, verbrannt, vermodert oder zu Staub zerfallen. Was wir besitzen, sind die Abschriften von Abschriften von Abschriften von Abschriften, mit denen sozusagen unsere Überlieferung begonnen hat. Wir haben sehr frühe Handschriften, aber das sind alles mit Sicherheit nicht Originale, sondern Abschriften von Abschriften von Abschriften. Wie jede lebendige Überlieferung ist auch die handschriftliche Überlieferung des Neuen Testaments eine bewegte und durch und durch langsam verändernde Wiedergabe des Urtextes oder des Altentextes gewesen. So kommt es, dass keine zwei Handschriften des Neuen Testaments von diesem 5700 wirklich Wort für Wort miteinander übereinstimmen. Unbewusste Veränderungen, die Abschreibfehler, überlegte und gewollte Verbesserungen, vermeintliche Fehler wurden

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beseitigt, meinte man, die trugen dazu bei, dass der abgeschriebene Text im Laufe der Jahrhunderte, wie gesagt, seinen Charakter unmerklich änderte. Nun könnte man natürlich der Meinung sein, ein probates Mittel zur Lösung dieses Urtextproblems wäre einfach die ältesten Handschriften, die wir haben, heranzuziehen und die späteren, unterher ursprungsfernen Handschriften einfach wegzulassen, weil sie ja nur weitere Fehler produziert haben und deswegen nicht nötig seien. Folgende Überlegungen zeigen allerdings, dass diese Bevorzugung der ältesten Zeugen kein erfolgschonbrechender Weg ist. Wir besitzen wenige sehr alte Handschriften, beziehungsweise keine Handschriften des Neuen Testaments, die alt genug und vollständig genug wären, alle anderen Handschriften des Neuen Testaments zu ersetzen. Die ältesten Handschriften sind Fragmente. Das Älteste aus dem zweiten Jahrhundert ist mal neun Zentimeter, mal sechs Zentimeter groß und enthält insgesamt 14 unvollständige Zeilen aus dem Johannesevangelium

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und Vorder- und Rückseite. Aus dem dritten Jahrhundert besitzen wir Handschriften, die schon ein oder zwei Evangelien enthalten und einige fast vollständige Briefe des Paulus. Aber die ersten Handschriften, die das gesamte Neue Testament überliefern, stammen erst aus der Mitte des vierten Jahrhunderts, als das Christentum unter dem ersten christlichen Kaiser einen großen Aufschwung nahm. Wir besitzen also aus der Frühzeit nur einen verschwindend kleinen Teil dessen, was einmal existiert hat. Darüber hinaus zeigt sich gerade in den frühen Zeugen die größte Unterschiedlichkeit, die größte Verschiedenheit voneinander. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich tatsächlich so etwas wie ein fester Text. Die Mehrheit der Varianten, also die Mehrheit der Abweichungen, der großen Abweichungen der Texte voneinander ist sozusagen gerade in

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frühesten Handschriften zu finden. Denn in der späteren Zeit war die Disziplin der Schreiber und das Bewusstsein über die Heiligkeit des abzuschreibenden Textes so groß, dass es nicht mehr so viel passiert ist. Am Anfang passiert das meiste in unserer Überlieferung. Allerdings sahen sich diese Schreiber im Laufe der Zeit, nachdem also diese ganzen Varianten einmal entstanden waren, immer wieder damit konfrontiert, dass wenn sie zwei Handschriften verglichen, entscheiden zu müssen, welcher Text wohl der richtige ist. Manche gingen sogar so weit, das sieht man ganz oft in Handschriften, dass eine Handschrift zwei Vorlagen hatte. Da steht also, der Herr hat gesagt und Jesus hat gesagt, gibt es überliefert. Und was macht dann die Handschrift, die von dem abhängig ist? Der Herr Jesus hat überliefert. Man weigert sich zu entscheiden und baut sozusagen beide Leser an zusammen. Was nennt man Konflation? Beide Leser an fließen zusammen. Also der älteste

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Text ist durchaus nicht in einer Handschrift enthalten, sondern er ist tatsächlich über viele Handschriften verstreut. Wenn also nicht davon ausgegangen werden kann, dass die ältesten Handschriften als solche die besten Zeugen für den Urtext sind, der mit keiner Handschrift, die existiert, identisch ist, dann kann man nur auf der Basis der gesamten Überlieferung tatsächlich Textkritik betreiben. Wir wollen also den Urtext vor den ältesten Text rekonstruieren. Diese klassische Aufgabenstellung, die ich gerade definiert hatte, bietet aber auch einige Probleme. Was ist der älteste Text? Welcher Stuf für die Überlieferung kommen wir nahe, wenn wir den ältesten Text tatsächlich rekonstruieren aus den verschiedenen Handschriften, die wir haben?

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Zumeist wird man unter Urtext wohl den Autorentext verstehen, also etwa den Text des Römerbriefs, den Paulus seinem Sekretär in die Feder diktierte, der dann ins Rheine geschrieben wurde und dann nach Rom versendet worden ist. Wahrscheinlich hat es schon von diesem Brief des Paulus an die Römer zwei Exemplare gegeben. Ein Exemplar, das Paulus behalten hat, und eines, das nach Rom gegangen ist. Wer weiß, wie Abschreiben oder Schreiben funktioniert, kann damals schon diese beiden Briefe kleine, wenn auch nicht besonders bedeutende vielleicht, aber kleine Unterschiede gehabt haben. Welcher dieser beiden Exemplare ist die Grundlage der Überlieferung geworden? Von welcher stammen alle anderen uns heute noch bekannten Abschriften ab? Schon das wissen wir nicht. Wir können nicht einmal sicher sein, dass es eines dieser direkt

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auf Paulus zurückgegebenen Exemplare war, die sozusagen die Grundlage unseres Römerbriefs ist. Denn zwischen dem Römerbrief als Einzeldokument, also dem Brief, den Paulus tatsächlich weggeschickt hat, und unseren Handschriften, die den Römerbrief enthalten, liegt aller Wahrscheinlichkeit noch ein Zwischengebiet, eine Sammlung. Denn alle unsere Handschriften des Neuen Testamenten deuten darauf hin, dass sie Teil einer Sammlung von Paulusbriefen waren. Und wer weiß, wie Sammlungen funktionieren, kann sich natürlich denken, dass wenn Schriften gesammelt werden, werden sie redigiert. Man macht eine Sammlung, man schreibt Überschriften drüber über die einzelnen Briefe, aber man passt sie auch vielleicht einander an. Das heißt, es ist durchaus denkbar, dass der Römerbrief, wie wir ihn haben, tatsächlich für die Sammlung, in der er dann später verbreitet worden ist, tatsächlich schon leicht bearbeitet worden ist. Nach allem, was wir wissen, setzen nämlich, wie gesagt, alle unsere Handschriften von Paulusbriefsammlungen in gewisser Weise voraus.

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Ähnliches gilt natürlich auch für die Evangelien, die ursprünglich ebenfalls einzeln umgelaufen sein dürfen und dann irgendwann zu einer Vier-Evangelien-Sammlung zusammengestellt worden sind. Daher ergibt sich die nicht von der Hand zuweisende Frage, wie weit wir mit uns zur Verfügung stehenden Mitteln tatsächlich zurückkommen. Auf den Schreibtisch des Paulus oder in die Schreibschuhe einer Kirche im zweiten Jahrhundert. Wir kommen jedenfalls nur so weit zurück, wie uns die Überlieferung, also die Handschriften, die wir haben und die anderen Texten, die anderen Zeugen, für die ich noch gleich reden möchte, bringen. Wir können nur den Text erschließen, der sich als Quelle aller überlieferten Zeugen tatsächlich rekonstruieren lässt. Dieser Text, den nennen wir dann nicht mehr Urtext, sondern wir nennen ihn den Ausgangstext der

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Überlieferung, also weil er der Punkt ist, wo die gesamte Überlieferung herkommt, wo sozusagen alle Fäden der Überlieferung zusammenlaufen in diesem ursprünglichen Ausgang dieser Überlieferung. Dieser Ausgangstext kann, muss aber nicht mit dem Urtext, dem Text des Autors in allen Einzelheiten identisch sein. Also ich möchte Sie jetzt kurz in die Arbeit, wie wir tatsächlich diesen Ausgangstext rekonstruieren, einführen. Dazu muss ich zunächst das Material vorstellen, mit dem wir arbeiten. Wie gesagt, wir haben bis heute bekannt über 2700 Handschriften von kleinen Fragmenten bis zu Vollhandschriften überliefert. Dazu nehmen wir erst mal jetzt die Handschriften uns vor. Die neuestätigen Handschriften werden normalerweise eingeteilt in vier Gruppen, in die Papyri, die sogenannten Majuskeln, dann die Minuskeln und dann die Lektionare. Diese Gliederung ist

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teilweise sehr problematisch, weil einmal Papyrus ist der Bestreibstoff und das andere sind tatsächlich die Formen der Buchstaben. Majuskel sind Großbuchstaben, Minuskel sind Kleinbuchstaben. Die Einteilung ist etwas inkonsequent, denn alle alten Papyri sind Majuskeln, sind in Großbuchstaben geschrieben. Aber die Papyri sind erst spät in der Forschung entdeckt worden und tatsächlich in der Forschung auch in ihrer Bedeutung erkannt worden. Da wollte man diese Kategorien neu schaffen und hat eine neue Kategorie, die schon quer zu der eigentlichen Einteilung liegt. Aber wir müssen mit dieser Gliederung weiter arbeiten, denn auch die Papyri haben eine besondere Bedeutung, weil sie sind die ältesten Zeugen, die wir im Neuen Testament noch haben. Also beginnen wir mit den Papyri. Wie gesagt, die ältesten Überlieferungsträger. Dass man diese Handschriften zusammenfasst, hat den Grund, dass sie wie die meisten Texte der damaligen Zeit auf Papyrus geschrieben sind. Papyrus wurde

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hauptsächlich, aber nicht nur in Ägypten, wo im Nildata die optimalen Bedingungen dafür herrschten, angebaut und tatsächlich dann für die Papyrusherstellung, also unser Papierersatz, tatsächlich fabrikmäßig hergestellt. Also man muss sagen, in Ägypten wurde tatsächlich für das ganze römische Reich Papyrus hergestellt, mit dem sozusagen die Literatur dann verfasst wurde, auf die sie niedergeschrieben wurde. Wie gesagt, es hat eine regelrechte fabrikmäßige Produktion in Ägypten gegeben. Das ging so, die dicken Stängel der Papyruspflanze, die bis sechs Meter hoch werden konnten, ziemlich groß, wurden in Stücke geschnitten, geschlitten und dann in Längsrichtung mit scharfen Messern in sozusagen kleine Scheiben geschnitten. Also die Inhalte sind eine weiche, weiße Masse. Die wurden dann in Scheiben geschnitten, die wurden dann einerseits in Längsrichtung nebeneinandergelegt, dann dazu im rechten Winkel wurde eine neue Schicht aufgelegt

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und dann wurden sie tatsächlich gepresst mit Wasser- und Presswerkzeugen so stark zusammengepresst, dass tatsächlich aus diesen beiden Lagen, die aufeinandergelegt worden waren, tatsächlich ein fester Stoff wurde, der Papyrus. Nach dem Trocknen wurden dann diese Papyrusblätter noch zurechtgeschnitten und meist in der Antike war das üblich zu Rollen verarbeitet, indem man sozusagen ein Papyrusblatt ans nächste klebte, um dann tatsächlich auf diesen Papyrusblättern oder Papyrusrollen dann Texte aufzuschreiben. Erst mit dem Christentum setzt sich unser Buch durch. In der ganzen Antike schrieb man auf Rollen. Die Christen schrieben von vornherein in Bücherform im Kodex. Warum? Man kann es sich vielleicht vorstellen, weil Sie wissen, vielleicht das Christentum neigt dazu, mit der Bibel zu arbeiten und zu zitieren, hin und zurück zu verweisen. Das Alttestament wird zitiert, um neuntestamentliche Texte zu begründen und aus Neuntestament zitiert ist das Alttestament und wenn man jetzt argumentiert, muss man blättern.

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Und das ist für das Christentum sehr wichtig. Der Umgang mit der Bibel war einer, dass man hinten nach vorne lesen muss. Man muss das Alttestament mit dem Neuen vergleichen. In der Rolle ist das schwierig. Versuchen Sie mal in der Rolle, wenn Sie ein Jesaja-Buch in einer Rolle haben, versuchen Sie dann mal im Jesaja-Buch den Anfang zu finden. Dann müssen Sie ganz zurückrollen. In einem Kodex, einem Buch geht das hin und her. Ganz schnell. Und deshalb haben sie Christen relativ früh sozusagen für ihre Praxis der Bibelauslegung tatsächlich die Buchform benutzt. Wie gesagt, diese Blätter wurden dann sozusagen für christliche Texte tatsächlich dann zusammen in Buchform gebunden und dann wurden sie beschrieben. Und da jetzt, wie ich gesagt habe, die Papyri so entstanden sind, dass man sozusagen eine Lage horizontal, einige vertikal hatte, hatten nun in den Büchern, Vorder- und Rückseite einer Seite zwei verschiedene Arten von Seiten.

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Denn einmal konnte man mit der Faserrichtung schreiben, das war schöner, und mit der Rückseite musste man gegen die Faserrichtung schreiben. Das gab es in der Rolle nicht. In der Rolle war, steht man nur innen. Das heißt, man hatte immer die gleiche Schreibgrundlage. Das war ein kleiner Nachteil, aber den nahm man dann doch in Kauf, weil man dann tatsächlich die Bibeln für den christlichen Gebrauch viel besser nutzen konnte. Der Schrifttyp dieser frühen Papyri ist diese Majuskelschrift. Das heißt, das muss man sich auch vorstellen, es gab keine Worttrennung zwischen den Worten. Alles wurde in Großbuchstaben geschrieben und es gab keine Trennung zwischen den Worten. Man hat also tatsächlich den ganzen Text durchlaufend in Großbuchstaben geschrieben. Natürlich ist das eine Fehlerquelle. Es kann leicht passieren, dass man da springt und was übersieht. Also man nennt das Majuskeln, Großbuchstabenschrift. Typisch ist, wie gesagt,

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dafür auch, dass diese Schrift nicht wirklich gut zu lesen ist. Man muss eigentlich diese Schrift eigentlich präparieren, wenn man sie laut vorlesen will. Man muss vielleicht die kleinen Zeichen machen, wo hört ein Wort auf, wo fängt ein Wort an, wo ist ein Satzzeichen und so. Das gab es ja in dem Papyri mit Majuskelschrift alles erstmal nicht. Da steht einfach nur, wenn man so will, eine lange Reihe von Buchstaben in verschiedenen Kolumnen untereinander, also sehr schwer zu lesen. Interessant ist nun, wie kommt es, dass es bis ins 8. Jahrhundert Papyri gegeben hat im Christentum? Warum haben wir nur noch so wenig und fragmentarische Papyri? Ganz einfach, Papyrus ist extrem anfällig. Papyrus trocknet einer der Zeit aus, wird brüchig und Papyrus ist sozusagen wirklich auch sehr feuchtigkeitsgefährdet. Deswegen haben wir das Problem, dass fast alle unserer Papyri aus Ägypten stammen. Warum? Im Wüstensand von Ägypten können sich die Papyri halten. Bei uns,

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wo auch Papyri benutzt worden sind sicherlich, sind sie vermodert. Wenn sie nicht in der Bibliothek aufgebaut waren, sondern irgendwo verbuddelt worden sind, sind sie in kürzester Zeit verrottet. Im Wüstensand in Ägypten haben sie sich tatsächlich erhalten. Wie gut sie sich erhalten haben, kann man einem schönen Beispiel sehen. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine große Ausgrabung in Ägypten. In Oxyrhynchus, eine kleine Stadt in Ägypten, hat man bei der Ausgrabung eine Müllkippe gefunden. Eine Müllkippe dieser Stadt. Was fand man dort? Tausende und Abertausende von Handschriften, Papyrushandschriften, die man weggeworfen hat. Unter diesen Abertausenden oder auch zigtausenden von Papyrushandschriften sehr, sehr viele Bibelhandschriften. Das heißt, die Leute haben die Bibel, wenn sie nicht mehr benutzen konnten, weil sie fehlerhaft waren, einfach auf den Müll geschmissen. Diese Papyri von Oxyrhynchus hat man damals wirklich mit einem

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Schubkarren weggefahren und tatsächlich nach Europa geschafft. Dort werden sie bis heute noch ausgewerdet. Es sind so viele Handschriften, dass seit über 100 Jahre später noch immer neue Papyrushandschriften aus diesem Fund herausgegeben werden, gefunden werden in diesem Wust von Müll, wenn man so will, Papyrusmüll. Also deutlich zu sagen, die Handschriften sind tatsächlich en masse da gewesen damals, aber wir haben nur noch kleine Fragmente, viele, viele Fragmente, aber eben deshalb, weil tatsächlich außerhalb Ägyptens sich der Papyrus nicht hält. Jetzt kommen wir zu einer zweiten Gruppe von Handschriften. Das sind die sogenannten Majusken, falls in Großbuchstaben beschrieben werden, aber sie entscheiden sich vom Papyrus nicht durch die Schreibart, sondern durch das Material, denn sie wurden auf dem sehr viel teureren, aber auch für unsere Beheiten gerade viel

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besseren, weil haltbaren, Pergament aus Haut, aus Tierhaut hergestellt und tatsächlich dann überliefert und konnten deshalb bei uns tatsächlich länger halten als Papyri, die eben auch zerbröselten, wenn man nicht aufpasste. Aber diese großen Handschriften, diese sogar Pergament Handschriften, kamen, soweit sich erkennen lässt, erst nach dem Übertritt des Kaisers Konstantin zum Christentum verreiter zum Einsatz. Unter den Majusken befinden sich die ältesten volle Handschriften des Neuen Testament, aus dem vierten Jahrhundert, so der berühmte Codex Vaticanus, weil er heute im Vatikan liegt, oder der von Konstantin von Tischendorf im Jahre 1844 im griechischen Katharinenkloster auf dem Sinai entdeckte Codex Sinaiticus. Diese alten Majusken sind wirklich großartige Prachthandschriften. Also man sieht, da steckt sehr viel Geld, sehr viel Mühe und Arbeit

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drin. Um eine einzige Handschrift von dieser Art herzustellen, die das Alte und Neue Testament auf griechisch enthielt, musste tatsächlich für eine einzige Handschrift eine ganze Herde von Schafen über 70 Schafe mussten dran glauben. Also diese Handschriften waren extrem wertvoll und daher wurden sie auch nur tatsächlich erst später, wo das Christentum sich sozusagen ausbreitete und höhere Gesellschaftsschichten erreichte, verwendet. Dann gibt es eine weitere Art von Handschrift, die die Mehrheit der Handschriften ausmacht, die wir heute noch wissen, denn sogar in Minmuskeln, also die kleinen Buchstaben-Handschriften, die benutzt man erst ab dem 9. Jahrhundert für das Neue Testament. Diese Schriftform entstand aller Wahrscheinlichkeit noch im Laufe des 7. Jahrhunderts nach Christi Geburt. Diese neue Schrift ist dadurch charakterisiert, dass sie in kleinen Buchstaben geschrieben wird und dass sie die einzelnen Buchstaben miteinander verbindet, also wie eine Schreibschrift und daher bei weitem leichter und schneller zu schreiben ist. Deswegen nennt man sie

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eine Kursive und tatsächlich passt mehr Text auf eine Seite dieser kleinen Schrift als auf einen Majuskeltext. Diese Schrift wurde dann tatsächlich, weil sie leichter lesbar war, weil sie auch mit Akzenten und Atemzeichen und Aussprachehilfen versehen war, tatsächlich dann sehr schnell hat sich durchgesetzt. Die Durchsetzung dieser Minuskelstift fällt auch gleichzeitig zusammen mit einer sehr wichtigen Epoche der byzantinischen, also der griechischen Geistegeschichte, dem sogenannten ersten Humanismus, einer Renaissance, wenn man so will, im griechischen Reich, in der sozusagen das antike Erbe wiederentdeckt wurde und tatsächlich dann das klassische Erbe gerettet werden musste. Die Handschriften, das hatte auch im griechischen Teil des Römischen Reiches einen

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kulturellen Niedergang gegeben und jetzt in der Zeit um 600 bis 850 merkte man, sehr viele von den alten Handschriften drohten zu zerfallen und dann musste man sie retten. Was tat man? Man schrieb jetzt alle möglichen Handschriften, die man kriegen konnte, es gab bedeutende Gestalten, die das gemacht haben, ein Fozius, der hat dann gesagt, wir müssen diese Handschriften retten, wir müssen sie abschreiben, das war die einzige Möglichkeit, Texte zu retten und man hat sie dann in der neuen Schrift umgeschrieben. Und das heißt, da entsteht jetzt die Masse auch unserer Neutestamentlichen Handschriften und diese Umschrift passierte natürlich nicht von vielen Firmenschen immer unabhängig voneinander, sondern an einigen zentralen Orten wurde das gemacht, sodass das ein Nadelöhr ist für die gesamte antike Literatur. Viele Schriften, die die Griechen im 8. und 9. Jahrhundert nicht umgeschrieben haben in die neue Schrift, sind endgültig verloren. Die Griechen haben in der Zeit sozusagen einen Großteil der griechischen Literatur gerettet und

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damit auch tatsächlich dann den Text des Neuen Testament sehr stark vereinheitlicht. Der Text, der da abgeschrieben worden ist, in einigen Zentren hat sich natürlich dann rasant verbreitet in der Neuen Schrift. Bald konnte man die alten Schriften nicht mehr lesen, sodass die Mancuskelen in Vergessenheit gerieten. Und dadurch hat sich der Text auch sehr stark vereinheitlicht. Schließlich gibt es noch die so genannten Lektionare, habe ich genannt. Lektionare sind Handschriften, die tatsächlich nicht den Bibeltext enthalten, wie wir ihn kennen, also Matthäus Evangelium, dann Markus Evangelium, so wie sie geschrieben sind, sondern als Lesetexte, die im Gottesdienst verlesen wurden. Das heißt, da wurde dann ein Text aus dem Markus Evangelium genommen und der nächste Text war aus dem Lukas Evangelium, so wie man im Gottesdienst lesen wollte. Diese Texte muss man aber auch heranziehen, weil sie tatsächlich auch, auch wenn es auseinander gestückelt ist, das ganze Neue Testament auch eben enthalten. Wie gesagt, das sind die Texte,

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die wir in handschriftlicher Überlieferung noch besitzen. Aber es gibt noch andere wichtige Zeugen und das sind die Übersetzungen. Sehr früh wurde das Neue Testament aus dem Griechischen in andere antike Sprachen übersetzt. Diese Übersetzungen wurden nötig, weil das Christentum sich schnell im damaligen Römischen Reich ausbreite, aber recht bald auch über die Grenzen des Römischen Waldes hinaus Anhänger erfand. Die drei ältesten Übersetzungen sind die in die lateinische, in die koptische und in die syrische Sprache. Denn obwohl in allen Religionen, in denen diese Sprache Volkssprache waren, die erste Phase des Christentums griechisch sprechende Christen gewesen sein dürften, entwickelte sich sehr schnell eine Volkssprache, die dann nicht mehr griechisch war und deswegen musste man tatsächlich dann die Texte in diese Volkssprache übersetzen. Zum Beispiel, während zum Beispiel Paulus seinen Römerbrief nach Rom, nach Rom in der Hauptstadt,

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noch griechisch schreiben konnte, weil ganz klar war, in Rom war die Weltsprache im großen Römischen Reich, war die Weltsprache, die Sprache, die eigentlich jeder halbwegs gebildete Sprache, wie heute Englisch, war griechisch. So dass Paulus seinen Römerbrief an die Römer noch griechisch schreiben konnte. Aber um das Jahr 180 n. Chr. wandelt sich das im Römischen Reich. Griechisch wird nicht mehr überall verstanden, sondern die lateinische Sprache wird immer wichtiger als Verwaltungs- aber auch als ganz normale Volkssprache. Während früher Schriften tatsächlich in Griechisch geschrieben wurden, ab 180 sieht man, in Rom wird plötzlich nur noch Latein geschrieben. Dazu brauchten aber dann die Christen in Rom eine Bibel in lateinischer Sprache, die dann auch sehr bald übersetzt wurde. So Ende des zweiten Jahrhunderts entsteht tatsächlich,

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oder Anfang des dritten, man kann es nicht ganz genau sagen, entstehen die Übersetzungen ins Lateinische. Und das hat natürlich große Bedeutung. Wenn ich nämlich einen Text von einer in eine andere Sprache übersetze, ändert sich durch die Übersetzung in einer anderen Sprache natürlich auch die Aussage teilweise. Beziehungsweise Sprachen können gewisse Dinge, die andere Sprachen nicht können. Ein ganz einfaches Beispiel ist, wenn man im Lateinischen, wenn man als Textkritiker sehr bedeutend ist, ob ein Artikel steht oder nicht, ob es der Christus heißt oder Christus heißt. Das Lateinische kennt keinen Artikel, kann man also nicht herausfinden, ob es der Christus oder Christus hieß. Andererseits gibt es tatsächlich dann auch noch Revisionen. Erst wurde der Text frei übersetzt, sehr wild, sehr unterschiedlich. Dann, Ende des vierten Jahrhunderts, wird der Text dann religiert von Hieronymus, der versuchte, ein besseres Latein daraus zu machen. Denn die Christen wurden, die lateinischen Christen wurden von ihren gebildeten Zeiten sehr oft auf den Arm

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genommen für ihr sehr schlechtes Latein, das die Bibel hatte. Hieronymus hat das dann tatsächlich etwas gebessert, sodass tatsächlich die lateinische Bibel halbwegs satisfaktionsfähig wurde. Andererseits gibt es auch dann in Ägypten, die Christen in Ägypten, viele auf dem Land verstanden kein Griechisch mehr. Und das Koptische ist sozusagen eine spätägyptische Sprache und in die wird dann tatsächlich auch sehr bald die Bibel übersetzt, weil die Bevölkerung in Ägypten keinen Griechisch mehr konnte. Das Gleiche gilt für die syrische Kirche. Da sprach man bald auch kein Griechisch mehr und deshalb musste die Bibel ins Syrische übersetzt werden. Diese drei Übersetzungen sind die wichtigsten Übersetzungen für die Textkritik, denn sie sind sehr alt und sie gehen auf griechische Originale zurück, die heute längst verloren sind. Sie repräsentieren daher einen alten Text, der aber auch ungefähr räumlich einzuordnet ist, wo im Reich tatsächlich

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dieser Text verbreitet war. Allerdings muss man mit diesen Übersetzungen sehr unsichtig umgehen, wenn man sie für die Textkritik auswerten will. Wie gesagt, es gibt Texte, die kann man tatsächlich ins Lateinische nicht übersetzen, ob es sozusagen, wie gesagt, Johannes ein Prophet war oder der Prophet war, Johannes 1,21. Das kann der lateinische Übersetzer nicht ausdrücken. Es gibt noch andere Übersetzungen, zum Beispiel ins gotische. Wulfila, der Gotenbischof Mitte des vierten Jahrhunderts, hat eine eigene Übersetzung und dazu tatsächlich eine eigene Schriftsprache erst erfunden für die Germanen, für die Goten und dann tatsächlich die Bibel aus dem Griechischen ins Gotische übersetzt. Also ist auch hier die Übersetzung ein sehr, sehr wichtiger Text, denn sie zeigt, wie hat der Text Mitte des vierten Jahrhunderts in Konstantinopel, wo er seinen griechischen Bibeltext her hatte für die Gotenmission, wie hat der Text da ausgesehen. Aber man muss tatsächlich sehr, sehr vorsichtig sein bei der Übersetzung, der Rückübersetzung

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dieser Texte ins Griechische. So kennt zum Beispiel das Gotische kein Futur. Also was kann man, man kann also Futur nicht ausdrücken, Unterschiede für Futur und Gegenwart kann man nicht ausdrücken, muss man also wissen, damit man keine Fehler macht, wenn man wissen will, was hat da im Griechischen gestanden. Also man muss tatsächlich sehr, sehr vorsichtig umgehen mit diesen Übersetzungen. Ein Beispiel lassen Sie mich nennen, da wird ein Text plötzlich herätisch, wegen der Übersetzung. In Matthäus 1,16 lesen wir, die besten Handschriften lesen da, Josef, das ist die Genealogie, also die Ahnenreihe Jesu, und dann heißt Jakob aber zeugte Josef, den Mann der Maria, aus der Jesus gezeugt wurde, der Christus genannt wird. Einige Handschriften lesen aber dann wie folgt, Jesus aber zeugte Josef, mit dem verlobt die Jungfrau Maria Jesus Gebarr, der Christus genannt wird. Diese Variante lässt sich sehr gut erklären, weil der Abschreiber

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will offenbar betonen, dass Maria eine Jungfrau ist und deshalb nicht einfach als Frau des Josef bezeichnet werden kann, sondern als Jungfrau, die mit Josef verlobt war. Diese Variante im Griechischen ist eigentlich ganz unproblematisch, aber man kann sie falsch verstehen. Wenn das Griechische so dasteht, könnte man etwa so überhitsen, Jakob aber erzeugte Josef, mit dem Maria verlobt war, erzeugte Jesus, der Christus genannt wird. Und genau diesen Fehler, Übersetzungsfehler, hat eine syrische Übersetzung gemacht. Dort heißt es nämlich, Jakob erzeugte Josef, Josef, mit dem die Jungfrau Maria verlobt war, Josef zeugte Jesus, der Christus genannt wird. Also hier haben wir tatsächlich einen Text, in dem Josef der Vater Jesu ist. Nun kann man sagen, das war ein alter Text, der redischer Text schon früh im Griechischen Neuen Testament überliefert. Nein, es ist einfach

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ein Übersetzungsfehler. Denn im Text heißt es sowohl Zeugen als auch Gebärend das gleiche griechische Wort. Das ist sehr nahelag, ein Übersetzer, der nicht aufpasst und einfach so im Duktus weiter übersetzt, wie er vorher in der Reihe der Gezeugungen sozusagen weitergeht. Es ist ja automatisch ein Fehler gemacht. Dieser Text hat so im Griechischen nie existiert, obwohl er in einer syrischen Übersetzung steht. Also man muss bei den Übersetzungen sehr vorsichtig sein, damit man nicht auf falsche Fährten gelangt wird. Dann gibt es eine weitere Zeugengruppe, die wir kennen müssen. Das sind die Kirchenväterzitate. Das Neue Testament wurde ja nicht nur abgeschrieben und früh in verschiedene Sprachen übersetzt. Es wurde auch als Heilige Schrift ausgiebig zitiert. Die verschiedensten christlichen Gruppen, Rechtläubige, Heretiker beriefen sich neben dem sogenannten Alten Testament seit der Entstehung des christlichen Kanons immer wieder seit dem zweiten Jahrhundert auf das Neue Testament als eine Offenbarungsurkunde. Da ergriffen sie in ihren Argumentationen zunehmend auch auf

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den neuen testamentlichen Schriften zurück, zitierten sie je nach Gelegenheit für ihre eigenen Argumente. Das heißt aber, damit können wir herausfinden, welchen Text ein gewisser Kirchenvater zu einer gewissen Zeit hatten. Denn während die meisten Handschriften uns nicht sagen, wo und wann sie genau geschrieben sind, können wir bei den Kirchenschriftstellern der frühen Zeit sehr oft genau sagen, wo und wann dieser Kirchenschriftsteller gelebt und gewerkt hat, also wann welcher Text zu datieren ist. Origenis, der von 185 bis 254 gelebt hat, einer der bedeutendsten Theologen und Bibelausfläger der Alten Kirche, lebte etwa von 185 bis 230 nach Christus in Alexandrien, siedelte dann von seinem Bischof vertrieben nach Caesarea in Palastina über. Da wir aus dem Werk des Origenis enorm viele Zitate aus fast allen Schriften des Neuen Testaments besitzen und er auch oft, weil er sehr textisch interessiert war, Bemerkungen macht über

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Texte, die er in Handschriften liest, Varianten, so eine Handschrift hat das, die andere hat das, können wir tatsächlich die Textform des Origenis, die er in Alexandrien hatte und die er in Caesarea benutzte, vielleicht rekonstruieren. Das heißt, wir können Informationen über Varianten, zu welcher Zeit sie existiert haben, finden. Aber dazu muss man das in den Werken der Kirchenpfleger verborgen gut finden und erheben und dann auswerten. Das heißt, man muss alle Schriften der Kirchenpfleger, der frühen Kirchenpfleger durchsehen auf Bibelzitate, die dann rausschreiben und dann auswerten. Das wird im Institut für neutrisame Textforschung seit vielen, vielen Jahren getan und ist eine wichtige Quelle für die Textkritik. Aber man muss auch dort tatsächlich aufpassen. Viele Kirchenpfleger zitieren ihre Bibel, die sie auswendig kennen, aus dem Kopf. Dabei kann es passieren, dass der Text sich ändert. Oder der gleiche Autor kennt verschiedene Handschriften, verschiedene Varianten.

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Origenis zitiert oft ganz verschiedene Textformen nebeneinander. Außerdem muss man auch daran denken, dass Kirchenpfleger verschieden zitieren. Einige zitieren wörtlicher, einige zitieren tatsächlich sehr, sehr frei. Alles das muss man auswerten. Dazu braucht man Spezialisten, die die Werke der Kirchenpfleger kennen und sagen können, dieses Zitat ist tatsächlich wirklich wohl auf ein griechisches Original zurückzuführen. Hier hat er auch nicht ungenau zitiert, sondern das ist tatsächlich wohl seine Vorlage gewesen. Soweit sind das tatsächlich die Materialien, mit denen wir arbeiten. Ohne diese Materialien geht es nicht. Wir brauchen tatsächlich, um Text zurück zu konstruieren, wer der Älteste ist, brauchen wir alle diese Quellen. Nun, wir müssen diese Quellen zugrunde legen. Aber wie geht man nun mit diesen Quellen um? Wie finde ich tatsächlich die wichtigen Varianten und wie werte ich die Unterschiede aus? Wir wissen relativ viel über die Kirchenväter,

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aber wie gesagt nicht sehr viel über die Handschriften, wo sie herkommen. Wenn wir uns jetzt also angucken wollen, wie die Handschriften, wie die Texte sich entwickelt haben, brauchen wir Regeln, um zu entscheiden, wie entwickeln sich Texte. Welcher Text ist der Älteste und welcher der Jüngere? Zum Beispiel sehen wir einmal an, es gibt ganz verschiedene, wenn man jetzt herausfinden will, welcher Text ist ursprünglich, wenn ich verschiedene Varianten habe, dann muss ich gewisse Regeln anwenden, wie gesagt haben. Nehmen wir mal ein ganz banales Beispiel, eine ganz banale Fehlerquelle. Wir lesen zum Beispiel im Markusevangelium 1, im ersten Kapitel, im sechsten Vers, Johannes aber trug ein Gewand aus Kamellhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden und aß Heuschrecken und wilden Honig und Predigte. So lässt es tatsächlich, lesen es fast alle Handschriften, nur eine ganz alte und sehr wichtige Handschrift lässt einfach die Worte über Johannes und trug einen ledernen Gürtel um

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seine Lenden aus. Das ist eine ganz wichtige Handschrift, eine ganz bedeutende Handschrift, die lässt diesen Text aus. Die Auslassung ist nun sicherlich nicht der Urtext, aber warum hat diese Handschrift diesen Text ausgelassen? Hatte der Schreiber etwas gegen die Aussage, dass Jesus, dass er Johannes einen ledernen Gürtel getragen hat? Wohl kaum, denn die Auslassung lässt sich durch einen mechanischen Fehler ganz einfach erklären. Er hat den Satz ja vorgelesen, Johannes trug ein Gewand aus Kamellhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden und aß Heuschrecken und wilden Honig und Predigte. Immer wieder und, und, und. Und was passiert? Der Schreiber beim Abschreiben ist von einem und zum nächsten und gesprungen und hat einfach einen Halbsatz ausgelassen. Die einfachste Erklärung. Und das passiert immer wieder. Das ist eine der Regeln, die man verändern kann, der Augensprung. Es passiert in Handschriften sehr

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leicht, besonders in der Majuskelschrift, wo ja sozusagen alles zusammen geschrieben ist, dass man von einem und zum nächsten springt und schon ist ein Vers weg. Wenn man das weiß, muss man sich keine großen Gedanken mehr machen, was der Schreiber sich dabei gedacht hat, das wegzulassen, sondern man weiß, es ist einfach ausgelassen, weil er gesprungen ist von einem und zum nächsten. Es gibt natürlich auch Hörfehler. Wenn zwei verschiedene Worte in der späteren Aussprache gleich klangen, können sie leichter verwechselt werden. Ich nenne ein Beispiel. So wird im späteren Griechisch, dass die Schreibersprache im Gegensatz zum klassischen Griechisch, der laut EI, also EI, wie I ausgesprochen. Nun scheint in frühen Handschriften Paulus ziemlich Unsinn beschrieben zu haben. Wenn man nämlich ernst nimmt, was da steht, wortwörtlich, hätte Paulus gesagt, der Tod ist verschlungen in den Streit. Neikos, Eikos. Wo ist dein Streittod? Wo ist dein Stachel? Das ist Unsinn. Natürlich muss der Sinn heißen, der Tod ist verschlungen in den Sieg. Neikos.

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Wo ist dein Sieg? Neikos, Tod. Wo ist dein Stachel? Hier wurde sozusagen das gleichklingende Wort aus versehen tatsächlich anders verstanden. Nur weil I und EI gleich klingen. Solche Fehler passieren immer wieder. Aber neben der Masse von zufälligen Schreib- und Hörfehlern gibt es auch einige Unterschiede, in denen sich derjenige, der abgeschrieben hat, nicht einfach unbewusst vertan hat, sondern mit bestem Wissen und Gewissen vermeintliche Fehler beseitigen wollte, dabei den Text aber verändert hat. Denn wer wusste besser als ein Mensch, der selbst immer wieder Handschriften kopierte, wie leicht Fehler sich einschleichen. Und deshalb konnte er der Meinung sein, er müsste den Text verbessern. Das mussten aber nicht nur Schreiber sein, die Verbesserungen einfügen. Sehr oft waren es auch Leser, die die Handschrift benutzten. Sieht man oft in Handschriften am Rand, Korrekturen von

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einer anderen Hand. Da hat jemand gemeint, er muss den Text verbessern. Und der nächste Schreiber, der das abgeschrieben hat, hat dann diese Verbesserung übernommen. Und je besser und schöner und angemessener diese Verbesserung erschien, desto mehr wurde sie abgeschrieben. Das heißt, sie setzt sich durch, ohne dass jemand zwingt, dass sie sich durchsetzt. Dann wird ein Schreiber, der war dazwischen einer schöneren und einer etwas krummen Lesart, wählt die schönere. Und so entsteht ganz von selbst im Laufe der Überlieferung immer ein immer schönerer Text. Aber nun gucken wir uns mal an, was sozusagen solch ein Schreiber macht, wenn er meint, ein Text wäre nicht sinnvoll. Sie lesen bei Paulus im ersten Korintherbrief, lasst uns nicht Christus versuchen, wie etliche von ihnen taten und wurden von den Schlangen umgebracht. So lesen jedenfalls die besten und auch die meisten Handschriften. Einige aber, darunter ebenfalls sehr alte Handschriften, lesen dagegen, lasst uns nicht den Herrn versuchen, also nicht Christus, lasst uns

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nicht den Herrn versuchen, wie etliche von ihnen taten und wurden von den Schlangen umgebracht. Einige wenige Zeugen bieten auf den Text, lasst uns Gott nicht versuchen. Hier ist meines Erachtens ganz klar ersichtlich, woran der Schreiber ursprünglich Anstoß genommen hat. Die Geschichte, auf die Paulus sich hier bezieht, steht im vierten Buch Mose und schildert, wie das Volk Israel in der Wüste gegen Gott meutert und Gott sie daher mit einer tödlichen Schlangenplage bestraft. Also Gott ist es, der das Volk Israel bestraft. Allerdings hatte Paulus im Korintherbrief vorher davon gesprochen, dass Christus der Fels war, der in der Wüste wanderte. Also für Paulus selber ist kein Problem, dass Christus es ist, der sozusagen das Volk bestraft hat im Alten Testament. Aber der Schreiber hat erst mal Anstoß genommen und hat dann Christus durch Gott oder beziehungsweise ein anderer durch den Herrn ersetzt. Also hier hat jemand gemeint, man

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muss den Text verständlicher machen, besser machen, weil er meint, das sind Fehler. Es gibt aber auch wenige Stellen, an denen theologische Absichten den Schreiber zu einer neuen Lesart geführt haben, der den Text dann bewusst geändert hat, aber weil er theologisch Anstoß genommen hat. In Matthäus 24,36 sagt Jesus seinen Jüngern in Bezug auf das Kommen des jüngsten Tages in der Mehrheit der Handschriften folgendes. Von dem Tage und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, sondern allein der Vater. Der Text ist völlig unanstößig, jedenfalls lässt sich der darin steckende Anstoß nicht sofort erkennen. Eine Minderheit von sehr alten Handschriften aber und andere ältere Kirchenväter und Übersetzungen bieten nun einen Text, in der in der Mehrheit der Handschriften sozusagen unanstößig ist, in einer sehr anstößigen Form. Von dem Tage und der

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Stunde weiß niemand, weder die Engel im Himmel noch der Sohn, sondern allein der Vater. Dieser Text sagt hier eindeutig, dass auch der Sohn Gottes, Christus, nicht weiß, wann das Weltende kommen wird. Eine Aussage, die die späteren Theologen und Gläubigen, die selbstverständlich von der Gottheit und Allwissenheit Jesu Christi ausgingen, ein enormes Ärgernis dargestellt haben muss. So behauptet ihn auch der lateinische Kirchenvater Ambrosius Ende des vierten Jahrhunderts, dass die heretischen Arianer, die den Sohn hier eingeführt hätten, um die Lehre in die Bibel einzutragen, der Sohn wäre unwissend wie die anderen Geschöpfe und daher ein Geschöpf. Also, er sagt, das haben die Heretiker eingeführt. Textkritische Überlegung zeigt aber nun, dass es wahrscheinlich genau umgekehrt gewesen ist. Nicht die Heretiker haben die Unwissenheit des Sohnes hier nachträglich reingeschrieben, sondern rechtgolbige Leser oder Schreiber haben Anstoß an der Erwähnung des Sohnes

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genommen und ihn deshalb ausgelassen. Die handschriftliche Überlieberung jedenfalls zeigt, dass die anstoßerregende Lesart die ältere und besser Bezeugte ist. Das kann man auch in einer anderen Hand, einer sehr alten Handschrift, die ich schon genannt habe, deutlich sehen, was da passiert ist. Da ist nämlich der Codex Sinaiticus. Der hat zunächst den längeren Text mit der Sohne, weiß es auch nicht, abgeschrieben. Dann hat ein späterer Korrektor das durchgestrichen oder ausradiert und wiederum ein noch späterer Schreiber hat es wieder reingesetzt. Man sieht also durchaus, dass hier in der Textentwicklung es hin und her gegangen ist teilweise. Der letzte Schreiber hat man schon in einer anderen Handschrift gekannt, in der das drinsteht, und hat es dann reingesetzt. Aber man sieht deutlich, wie hier der Anstoß am Text genommen wird. Der Sohn Gottes kann doch nicht unwissend sein in Bezug auf den jüngsten Tag und deswegen wurde es geändert. Aber man wirft es den Heretikern vor, sie hätten es geändert in ihre Richtung. Aber man sieht tatsächlich nicht unbedingt, es sind immer die Heretiker, die tatsächlich den Bibeltext verfälscht haben bzw. korrigiert haben. Nun sind

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solche Varianten, die eine Tendenz bei den Abschreibenden erkennen lassen, in der Textkredite recht einfach zu entscheiden. Die Kriterien, mit denen wir das tun, nennen wir die Suche an inneren Kriterien, weil sie sozusagen innerhalb des Abschreibprozesses sich erklären lassen. Also welche Lesart lässt sich im Abschreibprozess oder tatsächlich eher aus welcher abbleiben. Das sind meine inneren Kriterien. Da habe ich einige genannt, jetzt eines orthodoxer, das heißt, man kann erklären, warum ein Schreiber sozusagen ein Wort auslässt, weil es ihm anschlüssig ist. Man kann nicht erklären, warum er es reingefügt haben sollte und solche Dinge. Das sind sozusagen die inneren Kriterien. Aber diese inneren Kriterien reichen oft nicht aus, um zu entscheiden, welche Lesart im Text die ursprünglichere ist. Wir haben schon en passant ein anderes Entscheidungsmittel genannt. Es ist die sogenannte äußere Bezeugung. Welche Handstiften, Übersetzungen und Kirchen Schriftsteller bezeugen eine gewisse Variante? Sind es normalerweise die früheren oder die

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späteren? Sind es Handschriften, die sich sonst als zuverlässiger weisen oder eher unzuverlässige? Das heißt, man muss herausfinden, welchen Wert hat ein gewisser Zeuge, um seine Varianten beurteilen zu können. Man muss also den Textwert, wenn man so will, eines Zeugen beurteilen. Nun gibt es in der Arbeit einer Textkritik der letzten Jahrhunderte schon sehr viele Erfahrungen, die zeigen, welche Zeugen normalerweise von großem Wert sind. Diese Erfahrung beruht auf der Beobachtung, dass bestimmte Textformen, die nach inneren Kriterien ursprünglicher sind, oft von einer ganz kleinen Gruppe von Handschriften geboten werden. Also wenn wir sagen können, diese Texte sind ursprünglich und dann sind es diese Handschriften, die diese ursprünglichen Texte bewahrt haben, dann kann man sagen, diese Handschriften sind gute Zeugen. Ich will nur zwei spektakuläre Beispiele nennen, die sich auch in der Lutherübersetzung und Revision niedergeschlagen haben.

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So ist es nach inneren Theorien nicht von der Hand zu weisen, dass das Herrengebet im Lukasevangelium ursprünglich erheblich kürzer war als die Fassung, die wir als Vaterunser im Matthäus-Evangelium kennen. Bei Lukas gibt es nämlich gar kein Vaterunser, sondern es heißt nur Vater am Anfang. Dann darüber hinaus fallen zwei Bitten aus. Die Bitte, dein Wille geschehe wie im Himmel und auf Erden, fällt weg und auch, sondern erlöse uns von den Bösen, fehlt gegenüber dem Matthäus-Evangelium in den ältesten und besten Handschriften des Lukasevangeliums. Es ist nach inneren Kriterien klar, dass der kürzere Text der ursprüngliche sein muss. Es gibt keinen Grund anzunehmen, warum jemand ein längeres Vaterunser tatsächlich so verstümmeln sollte. Es gibt auch keine äußeren Dinge, wo man sagt, Augensprung, was vergessen.

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Es ist ganz klar, der kürzeste Text bei Lukas ist bei Lukas der ursprüngliche, der dann nachträglich an die Matthäus-Variante, an die Matthäus-Parallelität angeglichen worden ist. Wenn das Vaterunser wie es Matthäus hat, kannten alle. So dass es sehr leicht zu erklären ist, warum der längere Text entsteht. Aber kaum zu erklären ist, wie soll der kürzere entstanden sein, wenn er nicht ursprünglich im Lukasevangelium gestanden hat. Wenn wir jetzt sehen, welche Handschriften haben tatsächlich diesen kürzeren Text, dann sind es bestimmte Papyri, Papier 75 zum Beispiel und der Codex Vaticanus und einige andere ganz wenige. Das heißt, hier sehen wir, an dieser Stelle haben wir einen ganz dünn bezeugten Ausgangstext, aber es gibt Handschriften, die diesen haben und die haben deswegen einen großen Wert. Andererseits zum Beispiel, ein anderes berühmtes Beispiel, Luther hat natürlich selbstverständlich, wenn wir die ursprüngliche Luther Übersetzung lesen, hat er das lange Vaterunser auch bei Lukas. Heute in der Revision, Luther-Revision, werden Sie natürlich den kurzen Text lesen, weil

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textkritisch eindeutig klar ist, dass der kurze Text bei Lukas ursprünglich ist. Ein anderes Beispiel ist das Ende des Markusevangeliums. Das Markusevangelium hat ein Ende, das sozusagen ganz deutlich später zugefügt worden ist. Die ältesten Handschriften, es gibt Handschriften, die enden das Markusevangelium mit 16,8. Also die Frauen am Grab, die Engel erzählen den Frauen, dass sie aus Auferstanden sind und dann gehen die Frauen weg vom Grab, sind erschüttert und erschrocken und sagen niemandem etwas, denn sie fürchten in sich. So hört es wahrscheinlich. Und dann kommt in der Mehrheit der Handschriften ein Schluss, in dem alles das nachgetragen wird, was man erwartet. Und aber dieser Schluss, wo die Frauen zu den Jüngern gehen, wo Jesus den Jüngern erscheint, wo er die Jünger aussendet, alles das ist zusammengestoppelt auf den anderen Evangelium, aber deutlich sekundär. Und wieder sind es ganz wenige Handschriften, alte Handschriften, die diesen kurzen ursprünglichen

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Markustext erhalten. Und wenn man jetzt sieht, dann kann man sagen, diese Handschriften, die an den Stellen, wo wir sicher sein können, dass der alte Text so und so aussieht, da können wir sagen, wenn die Handschriften, die diesen Text immer wieder haben, dann sind das gute Handschriften, Handschriften, die zuverlässig sind. Erst wenn innere Kriterien und äußere Kriterien sozusagen zueinander in Beziehung gesetzt werden, kann man viele Texte entscheiden. Das heißt, man muss sagen, stimmt die Bezeugung, ist der Text gut bezeugt, in alten und guten Zeugen, und lässt sich sozusagen erklären, wie die Variante entstanden ist. A aus B oder B aus A. Aber sehr oft geschieht es, wie gesagt, dass die ältesten und besten Zeugen nicht übereinstimmen, sondern verschiedene Lesarten bezeugen. Und dann muss man herausfinden, welches der echte Text ist. Aber dann hilft einem weder die Bezeugung im klassischen Sinne noch sozusagen die inneren Kriterien.

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Dann, wie finde ich jetzt tatsächlich heraus, welches der Urtext ist oder der Ausgangstext an diese Überlieferung? Ich muss tatsächlich, ich habe ja gesagt, es reicht nicht, einige Handschriften anzusehen. Man muss die gesamte Überlieferung dann ansehen, um herauszufinden, welche Tendenzen gibt es in der Gesamtüberlieferung, um herauszufinden, welche Richtung hat die Textentwicklung, also wie die Evolution tatsächlich, welche Richtung hat die Evolution des Textes genommen. Wie kann man das bewerkstelligen? Eigentlich müssen wir, wie gesagt, alle Handschriften, alle Zeugen vollständig an allen Stellen ansehen. Das können wir aber nicht. Das wäre nach menschlichem Ermessen in einer überschaubarer Zeit gar nicht machbar. Was müssen wir machen, wenn wir wirklich wissen wollen, wir müssen alle Handschriften auswerten, aber wir haben nicht die Zeit, alle von vorne bis hinten auszuwerten. Was macht man? Man macht Probebohrungen sozusagen. Im Institut für Neu-Testamatextforschung hat man das über viele Jahre getan. Kurt Ahland hat sozusagen über das ganze Neue Testament ein Raster von Teststellen

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gesetzt und dabei ist ihm zur Hilfe gekommen, dass man aus der Erfahrung der Vergangenheit schon wusste, wo sich der Mehrheitstext, der Text der Mehrheit der Handschriften charakteristisch von den älteren Texten unterscheidet. Also macht man ein Teststellensystem und guckt alle Handschriften an diesen Teststellen an. Denn wie gesagt, seit dem 9. Jahrhundert setzt sich nach der Umstift der Handschriften in die Minuskel immer stärker ein Text durch, der sogenannte Mehrheitstext oder der byzantinische Reichstext, die sich der tatsächlich in allen Handschriften sehr ähnlich überliefert ist. Dieser Standardtext hat sich im Laufe der Zeit durchgesetzt, ohne, das habe ich schon gesagt, aber wir müssen auch wiederholen, ohne dass er von irgendeiner zentralen Stelle durchgedrückt worden wäre. Er hat sich sozusagen von selbst durchgesetzt. Man muss sich das vorstellen, wie gesagt, wenn ein Schreiber in seiner Textvorlage verschiedene

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Varianten hat, wird er immer die glattere nehmen, die schönere nehmen. Und dadurch, wenn das alle Schreiber machen, die Tendenz, entsteht auf Dauer immer ein Text, der immer, immer ähnlicher wird. So, nun muss ich aber tatsächlich, da die Mehrheit der Handschriften sich sehr, sehr ähnlich ist, muss ich diese Mehrheit der Handschriften eigentlich gar nicht mehr an allen Stellen angucken. Ich muss nur herausfinden, welche sind diese Handschriften. Also welche Handschriften sind die, die einander so ähnlich sind, dass ich nur zehn Handschriften von denen brauche, um den ganzen Text zu rekonstruieren, dieser Gruppe. Und das macht man, indem man Probebohrungen macht, Text und Textwert. Nennt man das, da hat tatsächlich man über ein Evangelium Teststellen gesetzt, hat geguckt, wie oft stimmen diese Handschriften mit dem Mehrheitstext überein an diesen Teststellen. Und wenn Sie mehr als 90 Prozent mit dem Mehrheitstext übereinstimmen, weiß man, das sind Mehrheitstexthandschriften, die ähneln einander wie ein Ei dem anderen. Die brauchen wir nicht mehr weiter angucken. Wir müssen nur die angucken noch, die tatsächlich von diesem Mehrheitstext charakteristisch abweichen. Nun ist gerade für das Markusevangelium die große Ausgabe des Klinischen Neuen Testament,

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die bei meinem Institut hergestellt wird, erschienen. Ich möchte deshalb die Vorgehensweise anhand des Markusevangeliums kurz erläutern. Es gibt heute noch 1754 erhaltene und zugängliche Handschriften des Markusevangeliums im griechischen Original, die alle voneinander relativ mehr oder weniger abweichen. Nun hat man in einem riesigen Werk Text und Textwert des Markusevangeliums an 196 Stellen alle Handschriften, die es gibt, angesehen und dann alle Handschriften anhand dieser Teststellen verglichen. Und dann diejenigen ausgeschieden, die reiner Mehrheitstext sind, die ich also nicht mehr voll angucken muss, weil ich weiß, die sehen alle gleich aus. Es bleiben dann von diesen 1.700 Handschriften, bleiben schließlich 174 Handschriften übrig, die anderen und besseren und älteren Text haben, die man aber dann jetzt auch ganz und

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gar auswerten muss. Das heißt, man braucht jetzt nicht mehr 1.700 Handschriften, sondern nur noch 174, die man aber dann ganz ansehen muss. Wie macht man das? Die Handschriften werden heute digital abgeschrieben. Man schreibt also den Text ab, der Handschrift, den man genau weiß, jeder Handschrift muss abgeschrieben werden, und zwar zweimal unabhängig voneinander. Also eine Person schreibt den Text ab, wörtlich, das ganze Markusevangelium. Eine andere Person unabhängig, die nicht weiß, was die andere gemacht hat, schreibt den noch mal ab, der vom Computer vergleicht dann diese beiden Abschriften miteinander und sagt, wo die Unterschiede liegen. Eine dritte Person, eine für logisch geschulte Person, geht dann noch mal an die Handschrift und guckt, was richtig ist. Sodass wir dann tatsächlich für jede Handschrift des Markusevangeliums, die ausgewertet werden müssen, tatsächlich ein Transkript, also eine computerlesbare Abschrift des Textes haben. Wenn man jetzt den Computer dransetzt und alle Handschriften miteinander vergleicht,

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wird er auswerfen, wo die Handschriften Unterschiede haben. Und diese Stellen, wo überhaupt eine Handschrift an eine andere abweicht, nennen wir variierte Stellen, und die müssen wir dann entscheiden. Also, im gesamten Markusevangelium gibt es 5620 Stellen, wo der Text abweicht voneinander. Wenn man nun die Stellen zählt, an denen zwei Handschriften, an denen variierte Stellen, an denen beide Handschriften Text haben, dann haben wir Lücken. Jede Handschrift hat so und so viele gemeinsame Stellen, wo sie abweicht, wo es überhaupt Stellen gibt, wo etwas passieren kann. Wenn ich jetzt also diese Handschriften miteinander vergleiche, dann kann ich Prozentzahlen feststellen, wie oft, wie viel Prozent Verwandtschaft hat Handschrift A mit B. Das kann ich für jede Handschrift wie jeder machen, nicht? Zum Beispiel alte Handschriften, ich hatte zwei Handschriften genannt, der Codex San Etikus und der Codex Vaticanus. Die haben insgesamt 4923 Stellen, wo es Varianten gibt, gemeinsam von 5450 Stellen, wo sie beide

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Text haben. Das heißt, die stimmen an 90,33 Prozent der Stellen miteinander überein. Das heißt, sie sind relativ nah verwandt. Die reinen Mehrheitstex Handschriften, man sieht, wie ähnlich die sind, die wirklich nah verwandten Mehrheitstex Handschriften, stimmen an 99 Prozent ihrer Stellen überein. Also man sieht, der ältere Text hat nicht so viele nahe Verwandte, weil die meisten Handschriften verloren sind. Bei den Mehrheitstex haben wir immer sehr nahe Verwandte, die noch existieren, sodass die Handschriften teilweise 99 Prozent übereinstimmen. Aber ich kann jetzt feststellen, welche Handschriften gehören zusammen, welche Handschriften bilden Familien und sind sozusagen nah verwandt. Wenn wir jetzt alle Handschriften mit allen anderen vergleichen, so stellen wir dabei fest, dass die Überlieferung sehr kohärent ist, wie wir das nennen. Das heißt, jede Handschrift hat sehr nah verwandte Zeugen.

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Das heißt, zwischen den Handschriften gibt es nur ganz kleine Veränderungen, relativ wenig kleine Veränderungen. Das heißt, die Überlieferung bleibt sehr dicht beieinander. Wenn ich Handschrift angucke, die weit auseinander sind, dann ist der Unterschied schon groß. Aber jede Handschrift hat sehr, sehr nah verwandt. Das bedeutet, die Schritte zwischen den Handschriften, wo sich die Texte geändert haben, sind relativ klein. Das nennen wir Kohärenz. Die Überlieferung ist ein Kontinuum. Es gibt keine Brüche, keine radikalen Schnitte. Da hat nicht jemand hingehengen und sagt, man hat alles radikal anders gemacht. Der Text ist langsam sozusagen unwillkürlich gewachsen und hat sich verändert. Die Überlieferung ist also ein Kontinuum. Dieses Kontinuum nennen wir Kohärenz. Wir nennen das Kohärenz der Überlieferung. Das heißt, es hängt alles sehr dicht beieinander. Deswegen nennen wir das Kohärenz. Auf dieser Kohärenz bedroht nun eine neue Methode, die im Institut für erneutesame Textforschung von Gerd Nink über Jahrzehnte entwickelt worden ist und mit der wir tatsächlich

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arbeiten, nämlich die sogenannte Kohärenz-basierte genealogische Methode. Die ermöglicht uns, Textentscheidungen auf neuer wissenschaftlicher Basis zu geben. Die prozentuale Übereinstimmung zwischen zwei Handschriften erlaubt uns ja erstmal nur festzustellen, dass diese beiden Handschriften miteinander verwandt sind. Aber sie sagt uns nicht, welche ist die Mutterhandschrift und welche ist die Tochterhandschrift. Welche ist sozusagen älter und welche jünger. Um das herauszufinden, müssen wir jetzt nur einen zweiten Schritt gehen. Wir müssen die Handschriften nicht nur mit ihren Übereinstimmungen vergleichen, sondern wir wollen ja wissen, kommt A aus B oder B aus A. Dazu müssen wir tatsächlich auch sogenannte genealogische Daten, also wie in der Genealogie, welche Handschrift hat mehr ältere Lesarten gegenüber der anderen, die jüngere hat. Das heißt, wenn wir zum Beispiel hingehen, gehen wir von Handschrift A und B aus, die Hände, sagen wir mal, an 90 Prozent der Stellen überein, sind also nächste Verwandte. Wenn wir aber auf die Stellen sehen, an denen sie nicht übereinstimmen, jene Stellen, an

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denen es sozusagen eine Veränderung in die eine oder andere Richtung gegeben haben muss, so können wir dann die Richtung der Textentwicklung zwischen diesen beiden Zeugen feststellen. Dazu greifen wir auf die Entscheidungen zurück, die wir vorher schon mit inneren und äußeren Kriterien gefällt haben und wo wir sicher Entscheidungen fällen können. Die anderen haben wir noch offen gelassen. Nun hat sich beispielsweise eine Handschrift gezeigt, dass es bei einer Handschrift 527 Stellen gibt, an denen sie sich unterschreiben. Die Handschrift A hat dann 329 mal die ältere Leser hat gegenüber der Handschrift B. Allerdings zeigt sich auch, dass es wiederum 139 Fälle gibt, wo es genau andersrum ist. Wie kommt das? Also wir haben zwei Handschriften, die nahe verwandt sind. Die eine Handschrift hat sehr viel älteren Text, also an 329 Stellen den älteren Text, aber an 139 Stellen hast du den jüngeren. Wie kann das passieren? Das kann passieren, weil wir mit Konfirmationen zurecht haben.

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Das heißt, Handschriften wurden nicht nur von einer von der anderen abgeschrieben, sondern ein Schreiber hat hin und wieder mal mit einem Schreiber Handschrift vergleichen. Die Handschriften des Neuen Desamenses waren verbreiteter als andere Handschriften wie Platon Handschriften, da gab es wenig, da konnte man keine Fehler ausmerzen. Aber wenn jetzt jemand zwei Handschriften benutzt oder vergleicht, dann passiert es, dass er vielleicht eine Handschrift abschreibt, die älteren Text hat. Er schreibt eine neue, macht neue Fehler, aber er vergleicht mit einer anderen Handschrift, die älter ist. Und plötzlich hat er ältere wie jüngere Zeugen. Er hat dann tatsächlich so etwas, es entsteht eine Mischung aus älteren und jüngeren Zeugen. Und dadurch gibt es eben nicht fast jede Handschrift, so wie wir jüngere als ältere gegenüber anderen Handschriften an Leser haben. Wir müssen aber jetzt nicht einzeln rekonstruieren, wie oft die Handschrift die andere Richtung ist. Es reicht für uns festzustellen, welche Texte sind eher älter als jüngere.

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Wenn wir das tun, können wir alle Handschriften mit ihren, nennen das potenziellen Vorfahren, verbinden. Die Handschrift hat sehr nahe verwandte Zeugen, die mehr alten Text haben als jüngeren Text. Und diese nennen wir dann sozusagen die Vorfahren. Und wenn wir jetzt diese Vorfahren miteinander verbinden, und zwar alle miteinander durchgerechnet, dann finden wir tatsächlich so einen Stammbaum von Handschriften. Also wie hat der Text sich vom Ausgangstext, vom älteren Text entwickelt bis hin bis zu den letzten Ästelungen. Und wenn wir das jetzt haben und wir also wissen, wie die Texte sich zueinander im wesentlichen Verhalten, dann können wir tatsächlich auch mit Hilfe dieser Textflusses, der im Allgemeinen zwischen die Handschriften besteht, also mit dem, was man so will, das Gesamtbild der Überlieferung, dann können wir auch Einzeltexte entscheiden, die wir vorher nicht entscheiden konnten. Ich möchte mal ein Beispiel nennen, Mark 11,32. Hier überlegen die hohe Priester und Stiftgelehrten, was sie Jesus auf seine Frage, ob der Johannes

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Tauch vom Himmel oder vom Menschen kommt, antworten sollen. Sie würden eigentlich sagen, vom Menschen kommt sie, weil Jesus sie damit aufs Glatteis führen will. Aber das trauen sie sich nicht. Warum nicht? Sie trauen sich nicht, die Meinung zu sagen, aus Angst vor dem Volk. Oder sie fürchteten sich vor der Menge, also vor dem Volk oder vor der Menge. Man kann so zeigen, dass es sehr schwer ist, zu entscheiden, was das Ursprüngliche ist. Bis jetzt war man der Meinung, dass sie fürchten sich vor der Menge, die ursprünglich ist, weil die ältesten Handschriften sie bezeugen. Wenn ich nun aber den vorherrschenden Textfluss der Handschriften zu dieser Stelle miteinander vergleiche, also der Leser vor der Menge fürchteten sie sich, dann ergibt sich ein wunderliches Bild. Ich sehe in dem Textfluss, das müssen Sie sich ein bisschen vorstellen, ein Textflussdiagramm. Ich sehe teilweise im Textflussdiagramm sehr oft Handschriften, die beisammen bleiben. Ich habe hier Handschrift 1, 2, 3, 4, 5. Die sind alle zusammen und jede für diese Handschriften in diesem Block ist sozusagen

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mit ihrem dreckigen Vorfahren verbunden, der die gleiche Lesart hat. Schön kohärent, hier ist nichts passiert. Nun gibt es aber für diese Lesart daneben sechs Stellen, wo die Handschrift, die vor der Menge liest, Vorfahren hat, die alle die andere Lesart lesen. Das heißt, ich kann hier sagen, es gibt in der Überlieferung eine Tendenz von der einen Lesart zur anderen. Damit kann ich jetzt entscheiden. Die andere Bezeugung ist kohärent, das heißt, da ist nichts passiert. Also wenn ich alle Handschriften vergleiche und feststelle, wie sie sich normalerweise zueinander verhalten, kann ich auf den Einzelfall zurückschließen und sagen, der Urtext und der Ausgangstext muss hier tatsächlich gewesen sein. Vor dem Volk haben die sich gefürchtet. Deswegen haben wir in der großen Ausgabe, gegenüber den bisherigen Ausgaben, tatsächlich den Text geändert. Das heißt, im Marcus-Energium steht jetzt, Sie haben Angst vor dem Volk.

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Das ist natürlich ein kleiner, aber exegetisch nicht unwichtiger, Entscheid. Die können wir aber nur mit dieser neuen Methode fällen. Gut, wenn wir nun auf die gesamte heute erhaltene Überlieferung zurückblicken und wir sind, das muss man wirklich sagen, wir sind heute, dank der Arbeit des Instituts für Heutige Textforschung, die erste Generation in der Kirchengeschichte überhaupt, die das kann. Wenn wir also auf die gesamte Überlieferung zurückblicken, also alle relevanten Varianten kennen, die kannte vorher keiner. Kein Kirchenpfarrer in der alten Zeit kannte so viele Varianten, wie wir kennen. Wir kennen durch unsere Methode der Auswertung durch Text und Textwert, also Probebuchung, dann alle Handschriften voll auswerten. Wir kennen alle Varianten, die relevant sind. Wir kennen sie alle. Das heißt, wenn wir heute Urteile fällen über die textliche Entwicklung, dann tun wir das zum ersten Mal in der Geschichte auf der Basis des gesamten bekannten Materials. Und wenn wir das tun, stellen wir zweierlei fest, der Text ändert sich an vielen und einigen Stellen.

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Aber wenn ich jetzt tatsächlich hingehe und vergleiche, die ältesten Texte, die wir haben, der Ausgangstext mit der spätesten Form des Textes, des Neuen Testaments, dem Mehrheitstext, dann finde ich raus, dass es zwar Unterschiede gibt, aber die Unterschiede sind keine, dass ein grundsätzlich anderes neues Testament herauskommt. Selbst die älteste und die neueste Tradition des Neuen Testaments bezeugt das gleiche Evangelium. Teilweise in anderen Worten, aber was es nicht gibt, ist, wir können nicht behaupten, was manchmal gesagt wird, der Text des Neuen Testaments wäre schlecht überliefert. Wir können einige Stellen nicht entscheiden, ob Leser A oder B die richtige ist, aber wir kennen beide. Und wir können dann auch sagen, dort, wo wir nicht entscheiden können, ist der Unterschied im Sinn sehr gering. Dort, wo wir ganz deutlich entscheiden können, macht der Unterschied eben nicht den Unterschied aus zwischen Evangelium und Nicht-Evangelium oder zwischen einer Lehre oder Irrlehre, sondern tatsächlich die gesamte Überlieferung ist sehr treu. Aber auch die späteste, auch wenn ich zufällig die späteste Form des Neuen Testaments aufgreife,

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habe ich kein anderes Evangelium, keine andere Theologie, ich habe einen anderen Text. Aber dieser Text ist tatsächlich theologisch nicht anders als der älteste Text und der jüngste Text. Die unterscheiden sich im Wesentlichen im Wortwahl an einigen Stellen auch theologisch, aber das gesamte Neue Testament ist tatsächlich sehr gut überliefert. Und das kann man deswegen heute sagen, weil wir eigentlich alle Varianten, die relevant sind, kennen. Ich hoffe, ich habe Ihnen damit einen kleinen Einblick in das komplizierte Gebiet der neuesten Textkritik geben können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

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Was steht geschrieben? Eine Einführung in die Entstehung und Überlieferung des neudtestamentlichen Textes | 11.10.1

Worthaus Pop-Up – Tübingen: 26. Juli 2021 von Prof. Dr. Holger Strutwolf

Über Jahrhunderte wurden uns die Schriften des Neuen Testaments als Handschriften weitergegeben. Allein 5700 sind es, die auf Altgriechisch erhalten sind. Schrittweise und fast unmerklich hat sich bei jeder neuen Abschrift der Charakter der Erzählungen und Briefe verändert, erklärt der evangelische Kirchenhistoriker Holger Strutwolf. Jede dieser winzigen Veränderungen sind geprägt von der Theologie, den Ängsten und Einstellungen jener Zeit, in der die Schrift abgeschrieben wurde. Auch Fehler wurden auf diese Weise weitergegeben, haben sich summiert.
Was bedeutet das nun für uns? Für alle Christen, die ihren Glauben und ihr Leben auf dem Neuen Testament gründen? Lässt sich wenigstens herausfinden, wie das Original lautet?
Holger Strutwolf erläutert, wie die neutestamentliche Textkritik versucht, den Urtext zu rekonstruieren, und wie Historiker und Theologen Texte vergleichen, Fehler entdecken und persönliche Einflüsse der längst verstorbenen Schreiber aufdecken. Und er erklärt, wie groß die Unterschiede zwischen den verschiedenen Varianten eines Textes wirklich sind – und ob Gläubige dem Neuen Testament noch vertrauen können.