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Ich möchte heute zu Ihnen reden über die Entstehung des Kanons von Glegenheitsschreiben zum Neu-Testament in Kanon oder zur Heiligen Schrift. Das Neue Testament besteht aus vier Evangelien, der Apostelgeschichte, den Briefen des Apostels Paulus, dem Jakobusbrief, zwei Briefen des Petrus, drei Briefen des Johannes und einen Brief des Judas, dem Hebräerbrief und der Apokalypse des Johannes. Alle diese Schriften sind von Aposteln oder Apostelschülern verfasst, die vom Heiligen Geist inspiriert waren und daher das, was ihnen offenbart worden ist, korrekt und unfallfälsch niedergeschrieben haben. Die Autorität der Schrift beruht also darauf, dass sie letztlich direkt von Gott, dem Heiligen Geist, stammen und daher unfählbar und irrtumslos sind.

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Sie waren nämlich verbal inspiriert, also dem Wortlaut nach vom Gott, den Apostel, eingegeben. Das Gleiche gilt auch für die Schriften des Alten Testaments, nur dass diese den Propheten und dem Mose eingegeben worden sind. Die Kirche kann diese Autorität nur bezeugen, aber sie begründet sie nicht. So einfach war das einmal mit dem Kanon des Neuen Testaments. Die lutherisch-orthodoxen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts, also die Schüler und Enkelschüler Martin Luthers, haben diese Lehre begründet und damit gegen die katholische Vorstellung von der Bibel als einem Werk der Kirche polemisiert und zu kämpfen gesucht. Als in sich abgeschlossenes Wort Gottes ruht die Heilige Schrift in sich selbst, bezeugt sich selbst und bedarf keiner menschlichen oder kirchlichen Bestätigung. Man meinte damit, die Autorität der Bibel und besonders des Neuen Testaments sicher zu stellen und ein für alle Mal verteidigt zu haben.

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In Wirklichkeit hatte man die Autorität der Bibel damit eher, wie sich in späteren Jahrhunderten zeigen sollte, beschädigt und angreifbar gemacht. Diese Vorstellung erlebte nämlich im Zeitalter der Aufklärung ihr endgültiges Desaster, den sie sich als historisch vollkommen unhaltbar. Zum einen hatte man, um den eindeutigen Wortlaut zum Beispiel des Alten Testaments ganz und gar festzustellen, behaupten müssen, dass auch die Vokalzeichen im hebräischen Text, nämlich im hebräischen Text werden sozusagen die Konsonanten geschrieben und dann werden Vokalzeichen angebracht, um die Aussprache und auch den Sinn des Alten Testaments eindeutig klar zu machen. Man musste also behaupten, dass diese Vokalzeichen auch inspiriert seien. Als man aber nun feststellte, dass diese erst im Mittelalter aufgekommen waren, hatte man ein riesiges Problem mit der verbalen Inspiration. Spätestens nachdem man sich das herausgestellt hatte, war die schöne Theorie für das Alte

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Testament erschüttert. Und als nach der Erfindung des Buchdrucks und des ersten gedruckten Neuen Testaments durch Erasmus von Rotterdam viele weitere Ausgaben des Textes folgten, die zeigten, dass der Text des Neuen Testaments auf Griechisch keineswegs so einheitlich überliefert worden war, wie man gedacht hatte, wurde diese Theorie auch für das Neue Testament erschüttert. Welchen Text des Neuen Testaments sollte man als inspiriert ansehen? Da man je länger den Text erforschte, desto stärker erkannte, dass es sehr viele Abschriften und Handschriften gab, die andere Texte boten, fragte man sich, welchen Text hat Gott nun inspiriert? Darüber hinaus fand die historische Forschung heraus, dass der Kanon der Bibel des Alten wie des Neuen Testaments in der Kirchengeschichte keineswegs von Anfang an da war. Die Bibel ist eben nicht vom Himmel gefallen.

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Sie ist nicht als festumrischende Schrift in die Geschichte eingetreten, sondern sie hat sich entwickelt. Am Anfang war das Wort, nicht der Kanon und nicht die Heilige Schrift. Zuerst wurde die christliche Botschaft mündlich überliefert, wurde dann nach und nach in verschiedenen Werken fixiert, schließlich wurden diese Werke gesammelt, unter langen Diskussionen und Auseinandersetzungen, dann zu unserer Bibel zusammengeführt. Die Bibel als einen monolithischen Block, der von Anfang an der Geschichte des Christentums da stand und fest stand und fest geblieben ist, diesen Block, diese Bibel hat es nie so gegeben. Die Bibel hat nicht nur Geschichte gemacht, sondern sie hat auch eine Geschichte gehabt. Wie diese Geschichte ausgesehen hat, möchte ich heute in dieser Vorlesung, soweit es möglich ist, als Historiker, also möglichst viel Skepsis nachzeichnen.

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Es gibt ja dann noch die Frage, was bedeutet das aber für unseren Glauben? Es gibt ja nicht wenige Gläubigen, die meinen, wenn die Bibel als absolut unhinterfragbares Fundament angezweifelt würde, fiele auch der darauf aufbauende christliche Glaube hinfort. Ich glaube, dass das nicht der Fall ist. Aber kommen wir zunächst zu dem, was historische Forschung über den Ursprung und die Geschichte unseres Kanons herausfinden kann und was nicht. Nach allem, was wir wissen, sind die ältesten Schriften des Neuen Testaments die Briefe des Apostels Paulus. Sie sind auch die einzigen Werke des Neuen Testaments, die selbst im Neuen Testament als Schriften von anderen Schriften erwähnt werden. Im zweiten Petrusbrief heißt es, dass unser lieber Bruder Paulus an die angeredete Gemeinde geschrieben habe und dass er in seinen Briefen, allen seinen Briefen, in denen einige Dinge schwer zu verstehen seien, dass das dazu geführt habe, dass viele Unwissende sie leichtfertig

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verdrehen. Nun ist der zweite Petrusbrief in seiner Herkunft von Petrus sehr umstritten und wahrscheinlich erst später entstanden als zu Petrus' Lebzeiten. Aber es ist deutlich, dass in diesem Brief, der tatsächlich Ende des ersten Jahrhunderts entstanden sein könnte, in diesem Brief aber schon tatsächlich Paulus als Sammlung vorgelegen hat. Auch im sogenannten ersten Clemensbrief, einem Brief, der ungefähr Ende des ersten Jahrhunderts entstanden ist, wird tatsächlich Paulus erwähnt und zwar als Autor von Briefen. Also Paulus ist tatsächlich der einzige Autor des Neuen Testaments, der im Neuen Testament selber als Autor vorkommt und dann auch in einer sehr, sehr frühen christlichen Schrift als solcher erwähnt wird. Nun kann man aus den Paulusbriefen selber erschließen, dass sie zwischen 53 n. Chr.

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und 58 n. Chr. geschrieben worden sind. Wenn man diese Briefe nun des Paulus, angefangen beim ersten Brief, den er geschrieben hat, den ersten Thessalonicherbrief, das älteste Stück Literatur im Neuen Testament überhaupt ist, bis zum Römerbrief, der am Ende der Wirksamkeit des Paulus steht, liest, so ist deutlich, dass Paulus sie nicht als heilige Stiften geschrieben hat. Sie erheben nicht den Anspruch, Offenbarungsstiften zu sein. Sie sind vielmehr Gelegenheitsschreiben, in denen der Gemeindegründer Paulus aus konkreten Anlässen an verschiedene Gemeinden schreibt, um Kontakt mit ihnen zu halten, in Konflikte innerhalb der Gemeinde einzugreifen und dringende Probleme zu lösen. So ist der erste Korintherbrief von Paulus geschrieben, um die Gemeinde, die von Spaltungen und Streitigkeiten geprägt ist, wieder zusammenzuführen.

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Verschiedene Gruppen in der Gemeinde beriefen sich auf verschiedene Gewährsleute. Paulus wurde von den Leuten tatsächlich als einer der entscheidenden Aposteln angesehen, andere meinten, Apollo wäre der Wichtigste. Das heißt, die Leute stellten sich in verschiedene apostolische Autoritäten und kämpften dann in der Gemeinde gegeneinander. Jeder behauptete, er oder sie habe die Wahrheit. Der erste Korintherbrief ist also nicht als Offenbarungsschrift geschrieben, sondern als ein Gelegenheitsschreiben des Apostels Paulus. Er wendet sich auch nicht an alle Gläubigen, sondern allein an die Gemeinde in Korinth. Ähnliches gilt für alle Briefe des Paulus. Besonders deutlich wird dieses, dass es ein Gelegenheitsschreiben ist, an einem besonders interessanten Brief, einen wirklich ganz so gar präferaten Brief des Paulus, nämlich dem Philemonbrief. Paulus hat nämlich an einen Mitarbeiter geschrieben, dem ein Sklave entlaufen war.

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Dieser Sklave war, auf welchem Wege auch immer, zu Paulus gelangt und dann von ihm zum christlichen Glauben bekehrt worden. Paulus möchte für diesen entlaufenden Sklaven bei seinem Herrn ein gutes Wort einlegen und schickt den Onesimus, so heißt der Geflohene, offenbar mit dem Brief seinem Besitzer zurück. Der soll seinen Sklaven jetzt wieder aufnehmen, aber nicht mehr als Sklaven, sondern als Bruder in Christus. Dieses Schreiben hat eigentlich gar keinen Inhalt als dies, die Rückkehr des Sklaven als Bruder, für die Paulus sich einsetzt. Dieser Brief ist also in gewissem Sinne ein Empfehlungsschreiben für den inzwischen zum Mitarbeiter des Paulus gewordenen Onesimus. Ein ganz privater Brief in einer ganz persönlichen Angelegenheit, keineswegs eine Schrift, die man in einer heiligen Offenbarungsurkunde erwarten würde. Keiner der Briefe des Paulus erhebt, wie gesagt, den Anspruch, als solcher Brief eine von Gott

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inspirierte Schrift zu sein. Paulus schreibt im eigenen Namen, beruft sich auf die Botschaft, die er von Christus und aus der Überlieferung erhalten hat, argumentiert mit Hilfe des alten Testaments für seine Lehre und versucht, seine Gesprächspartner im Dialog zu überzeugen. Er spricht immer in konkrete Situationen hinein, in seinen Briefen argumentiert er mit der Offenbarung, die er erhalten und weitergegeben hat, aber seine Briefe selbst erheben nirgends den Anspruch, Offenbarungen zu sein. Aber sie wurden von den Gemeinden, die Paulus gegründet hatte, von Anfang an in hohen Ehren gehalten und verbreitet. Schon Paulus selbst fordert seine Adressaten auf, seine Briefe in der Gemeindeversamlung zu verlesen. Und er hetzt auch voraus, dass sie an andere Gemeinden weitergegeben werden und zwischen den Gemeinden ausgetauscht werden. Paulus selbst hat also dafür Sorge getragen, dass seine Briefe, die wie gesagt zunächst

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reine Gelegenheitsschreiben gewesen sind, verbreitet wurden. Er hat tatsächlich auch angefangen, gegen Ende seines Lebens eine kleine Sammlung seiner eigenen Stifte zusammenzustellen, die dann später den Kern der Paulus-Briefsammlung bilden sollte. Aber ohne die Schüler des Paulus wäre unsere heutige Paulus-Sammlung gar nicht denkbar gewesen. Man kann nämlich aus seinen Briefen deutlich erkennen, dass Paulus nicht nur Gemeinden gegründet hat, sondern auch ein Netzwerk von Gemeindeverbindungen geschaffen hat, das seiner Mission und der Arbeit anderer Missionare diente. So erwähnt Paulus einen gewissen Apollos als Mitarbeiter, aber auch Titus und Timotheus, aber auch ein gewisser Epaphroditus wird als Mitarbeiter und Mitstreiter des Paulus und zugleich als Abgesandter der Gemeinde von Philippi genannt. Es gab offenbar ein Netzwerk von, was man sogar Gemeindegesandten nennen könnte, die

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eine Zeit lang als Vertreter ihrer Heimatgemeinden mit Paulus zusammen und für ihn in den Missionsgebieten des Paulus tätig waren und teilweise auch tatsächlich für ihn Briefe geschrieben haben bzw. ihn hat er Briefe diktiert. Andere nennen dieses Paulinische Netzwerk, wie ich es nenne, auch die Paulus-Schule, weil sich alle diese Missionars, Gehilfen, wenn man so will, als Schüler des Paulus empfunden haben. Sie haben Paulus als Autorität anerkannt. Nun ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Sammlung der Paulusbriefe und ihre Pflege sowie die Weiterführung der Missionen und der theologischen Arbeit des Apostels Paulus nach dessen Tod von diesem übergemeindlichen Netzwerk der Apostelschüler weitergeführt wurde. Diese Apostel- oder Paulus-Anhänger dürften nicht nur im Sinne des Paulus weitergewirkt haben, sondern im Laufe der Zeit auch die Lehre ihres Meisters weiterentwickelt und

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an die Herausforderungen ihrer neuen Zeit nach dem Paulus-Tod weiterentwickelt haben und angepasst haben. Wurde ja schon Timotheus mit einem gewissen Sylvanus als Mitverfasser des Brieftes an die Thessalonicher genannt, während derselbe Timotheus dann als Mitverfasser des Philippa-Briefs fungierte. So haben diese Schüler und ihre Nachfolger wahrscheinlich auch nach dem Tod des Paulus im Sinne seiner Theologie weiter Briefe verfasst, in seinem Namen und durchaus nicht zu Unrecht, weil sie sozusagen seine Theologie weiterführten. Der älteste Hinweis auf eine nun als kanonisch angesehene Briefsammlung des Paulus, also eine Ausgabe, die die Paulusbriefe als biblische und autoritative Stiften ansieht, findet sich erst Mitte des zweiten Jahrhunderts in einer Bibelausgabe eines berühmten, berüchtigten

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Heretikers, also eines Mannes, der von der Kirche einhellig als Irrlehrer verurteilt worden ist. Dieser Mann, ein gewisser Markion aus Sinope am Pontus, der um die Mitte des zweiten Jahrhunderts in Ruhm wirkte, hat die erste Ausgabe von so etwas wie einem Neuen Testament geschaffen. Von ihm müssen wir noch später näher reden, wenn es um die Evangeliensammlung gehen wird. Jetzt reden wir aber von ihm erstmal im Zusammenhang mit der Paulusbriefsammlung. Marcion oder Marchion, je nachdem, ob man griechisch oder latein ausspricht, Marcion stammte wie gesagt aus Pontus am Schwarzen Meer und war dort als Schiffsräter zu Geld im Ansehen gekommen, bzw. sein Vater war schon reich geworden. Er hat dann tatsächlich seine Heimat verlassen und ist dann nach Rom gegangen und hat dort gewirkt. Und wir wissen auch genau das Jahr, in dem er dort aufgetreten ist.

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Im Jahre 144 n. Chr. trat er vor die Gemeinde in Rom mit einem neuen Reformprogramm für die christliche Kirche und er berief sich dabei offensichtlich für sein Programm auf eine Sammlung von Schriften, die er selber das Neue Testament nannte. Und er wurde daraufhin aus der Gemeinde in Rom ausgeschlossen, weil man seine Lehre für gefährlich und der apostolischen Überlieferung als widersprechend ansah. Warum man das dachte, werden wir später noch sehen. Aber auf alle Fälle legte dieser Marcion im Rahmen seiner Ausgabe des Neuen Testaments tatsächlich die erste historisch greifbare Formation der Sammlung der Paulusbriefe vor. Sie bestand, wie etwas später der Kirchenvater Tertullian der Marcion auf das eifrigste bekämpft, aus folgenden zehn paulinischen Briefen. Den Brief an die Galater, den beiden Korintherbriefen, dem Römerbrief, den Zweites Halonischerbriefen,

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dem Kolosserbrief, dann den Epheserbrief, der bei ihm allerdings aus welchem Grund auch immer Laodicena-Brief heißt, und den Philemonbrief. Marcion hat aber für seine Ausgabe der Paulusbriefe mit Sicherheit auf eine Ausgabe zurückgegriffen, die schon vor ihm da war. Aber die Reihenfolge der Briefe hat er wahrscheinlich seinen eigenen theologischen Interessen angepasst. Während die Ausgabe, auf der unsere Paulusbriefsammlung der Neuen Testaments basiert, der Längen nach geordnet ist, der Römerbrief ist der längste, und deswegen, man kann sagen, die sind der Länge nach geordnet, diese Stiften des Paulus in unserer kanonischen Ausgabe, während das sozusagen so ist und sozusagen mit dem Römerbrief daher beginnt, stellt Marcion programmatisch den sehr scharf gegen das Judentum polemisierenden Galaterbrief an dem Anfang der Sammlung. Und sozusagen so müsste der Paulus lesen, nicht? Den müsste Paulus als einen anti-jüdischen Polemiker lesen.

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Deswegen kommt der sehr polemische, also für Paulus auch insgesamt sehr untypisch polemische Galaterbrief an den Anfang. Der Römerbrief ist viel, viel milder gestimmt, als der Judentum. Das hat sicher mit der, wie wir noch sehen werden, anti-judaistischen Stellung oder Einstellung des Marcion zu tun. Überhaupt spielt gerade der Galaterbrief für die Theologie des Marzion eine entscheidende Rolle, weshalb dieser Brief sozusagen als Motto seines Paulusverständnisses an den Anfang seiner Sammlung gestellt sein dürfte. Das älteste handschriftliche Dokument, das eine reguläre Sammlung von Paulusbriefen erkennen lässt, ist nun der Papyrus 46, eine Handschrift, die zwischen 150 und 200 nach Christus geschrieben sein dürfte. Während andere für Römer Papyri nur einzelne Paulusbriefe bezeugen und aber auch nur teilweise Ausschnitte daraus, haben wir hier eine Sammlung vor uns, in der teilweise der Römerbrief,

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der Hebräerbrief, die beiden Korintherbriefe, der Ephesserbrief, der Galaterbrief, der Philharperbrief, der Kolosserbrief sowie der erste Thessalonischerbrief mit Sicherheit bezeugt ist. Also ist noch auf Papyrus erhalten, der Text. Der Papyrus ist allerdings nicht vollständig erhalten. Die ersten sieben Blätter mit den ersten fünf Kapillen des Römerbriefs am Anfang des Kodex sind verloren gegangen. Ebenso die letzten sieben Blätter der Handschrift. Es ist typisch für Kodizes, also Bücher der Antike, dass gerade Textverluste am Anfang und am Ende einer solchen Handschrift auftreten, weil ja sozusagen dieser Anfang und das Ende tatsächlich den Witterungseinflüssen mit Umwelteinflüssen ausgesetzt waren, während die Blätter in der Mitte sozusagen durch die äußeren Blätter gescheutzt waren. Sehr oft fehlt gerade der Anfang und das Ende von Handschriften. Nun, woher wissen wir, wie viele Seiten da vorher da sind und wie viele da nach? Nun, das Schöne ist, die Seiten dieser Handschrift waren oben mit einer Zählung versehen, die

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an vielen Stellen noch erhalten ist, so dass man leicht berechnen kann, wie viele Seiten vorher gefehlt haben. Und da die Handschrift ein Kodex ist, das heißt sozusagen ein Lagen, kann man sozusagen auch sagen, was dann hinten gefehlt hat. Das heißt, man kann sehr genau berechnen, wie viel Text wohl in diese Handschrift gepasst hat. Also kann man jetzt rekonstruieren, dass sozusagen theoretisch der zweite der Salonicher Brief und auch der Brief an Philemon noch hinten dran gepasst hätten. Man kann es aber natürlich nicht genau sagen. Aber es ist ganz klar, es ist kein Platz gewesen für die sogenannten Pastoralbriefe und daher kann davon ausgegangen werden, dass P46 diese, also die beiden Timotheusbriefe und den Titusbrief mit Sicherheit grenzener Wahrscheinlichkeit nicht enthalten hat. Das sind übrigens die Paulusbriefe, deren Echtheit auch heute mit gutem Grund bestritten wird.

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Lässt sich also der Grundbestand der Paulusbriefe recht früh nachweisen, so ist das mit den anderen grundlegenden Teilen des Neuen Testaments, des Kanons, den Evangelien anders. In ihrem Text erheben zumindest die sogenannten Synoptiker, also Matthäus, Markus und Lukas, die sehr nahe miteinander verwandt sind, nicht den Anspruch, also in sich selbst, im Text selbst, von einem Apostel geschrieben zu sein. Im Pfeil des Johannesevangeliums ist dies anders, aber wird dies von den Jüngern, von den Schülern des Lieblingsjüngers gemacht. Am Ende des Evangeliums sagen die, dieser Jünger, den Jesus liebte, der hat das Evangelium geschrieben. Aber hier kommt wie gesagt nicht der Autor selbst zu Wort, der da schon tot ist, sondern seine Schüler, die offenbar nach dem Tod ihres Lehrers das Evangelium bearbeitet und herausgegeben haben. Aber auch sie nennen, wie auch das Evangelium selbst, interessanterweise nicht den Namen

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des Lieblingsjüngers. Der Lieblingsjünger bleibt anonym. Johannes ist der Name, der später sozusagen in der Überlieferung darüber gesetzt wird. Also die Schüler des Lieblingsjüngers sagen nur, dieser Jünger war tatsächlich, der das Evangelium geschrieben hat. Erst später, wie gesagt, hat man den Evangelien Überstiften beigegeben, die die Autoren dann identifizieren als Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Denn die Art und Weise, wie diese Überstiften in ihrer ältesten Fassung formuliert sind, setzt schon die bereits bestehende Sammlung der Evangelien voraus. Evangelium nach Lukas, Evangelium nach Johannes, den ältesten Zeugen, die wir noch haben, P75 und P66, da sieht man ganz deutlich, wenn ich ein Evangelium nach Matthäus nenne oder nach Lukas oder nach Johannes, setze ich voraus, dass es andere Evangelien gibt. Also hier haben wir schon tatsächlich, in Überstiften ist eigentlich schon vorausgesetzt,

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dass es eine Sammlung von Evangelien gibt, die man auseinanderhalten muss in dieser Sammlung. Nun ist die Zuschreibung, kann man sagen, an dieser Autorin sehr, sehr alt, aber dennoch nicht sicher, ob sie richtig ist. Daher wollen wir zunächst einmal versuchen herauszufinden, welche historisch zuverlässigen Daten wir über die Entstehung der Evangelien und ihre Sammlung gewinnen können. Die älteste sichere Erwähnung von Evangelien und ihren Autoren findet sich bei einer eher kuriosen Gestalt der frühen Kirchengeschichte, bei einem gewissen Papias aus Hieropolis. Wir wissen von ihm recht wenig. Seine genauen Lebensdaten sind uns schon unbekannt. Aber er muss zwischen 95 und 110 nach Christus ein Werk geschrieben haben mit dem Titel Fünf Bücher der Darstellung oder Auslegung der Herrenworte. Indem er unter anderem seine Ergebnisse seiner Recherchen veröffentlicht hat, er hat nämlich

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versucht herauszufinden, was die Jünger Jesu über dessen Lehre berichtet hatten. Er hat dazu nach eigenen Worten die in seiner Zeit noch lebenden Schüler und Nachfolger der Apostel aufgesucht und nach ihren persönlichen Erinnerungen über das, was die direkten Jesusbegleiter zu sagen wussten, ausgefragt und das dann in seinem Werk niedergeschrieben. Dieses Werk leider ist nur noch in ganz kleinen Fragmenten erhalten und tatsächlich dann nicht mehr als Ganz erhalten, weil es später Leute als etwas wunderlich empfanden. Er hat nämlich eine große Skepsis. Er setzt offenbar schon Evangelien voraus, wenn wir gleich noch sehen werden. Aber er ist skeptisch gegenüber diesen Evangelien. Er sagt, ich glaube nicht so sehr an geschrieben Worte, sondern ich glaube, er hat eine lebende Stimme und deswegen will er sozusagen die Apostelstühler befragen, was die Apostel über Jesus wussten. Später hat man das natürlich nicht mehr zu schätzen gewusst und deswegen ist das Werk verloren gegangen und wird nur noch in kleinen Zitaten, die Euseb von Caesarea im vierten

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Jahrhundert, also der Vater der Kirchengeschichte, uns überliefert hat, erhalten. Das heißt, er scheint offenbar den Schriften nicht so ganz getraut zu haben bzw. will sie bewahrheiten. Er will nachforschen, ob das alles so stimmt. Welchen Stiften er dabei nicht ganz zu trauen scheint, macht er dann an zwei Stellen deutlich und zeigt damit, dass er sie kennt und auch schon die Autorenzuschreibung kennt. So schreibt er einmal über eine Auskunft, die er erhalten haben will, ich zitiere, und dies sagte der Presbyter. Markus, der Dolmetscher des Petrus, schrieb von dem Herrn zwar alles dessen er sich erinnerte, seien es Reden, seien es Taten, genau, allerdings ohne Ordnung auf. Denn er hatte weder den Herrn gehört, also dieser Markus, weder den Herrn gehört, noch war er ihm nachgefolgt. Hinterher jedoch, wie gesagt, ist er dem Petrus gefolgt, welcher seine Lehrvorträge den Bedürfnissen

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nachgestaltete, aber nicht wie um eine zusammenhängende Darstellung der Worte des Herrn zu schaffen, so dass Markus nicht falsch gehandelt hat, wenn er einiges so aufschrieb, wie er sich eben erinnerte. Denn für eines trug er Sorge, nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder etwas davon anders zu berichten. Die Auskunft des Presbyters, den Papias befragt hat, erklärt für Papias also, warum das Markusevangelium gegenüber den anderen Evangelien formal schwächer und ungeordneter ist. Der Eindruck der Ungeordnetheit des Markusevangeliums setzt letztlich den Vergleich mit Matthäus und Lukas voraus, weil dort eine andere Anordnung der Geschichte dasteht. Da gibt es die Vorgeschichte, die bei Markus nicht da ist. Den Eindruck, dass Markus ungeordnet ist, kann ich aber erst gewinnen, wenn ich ihn

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mit den vermeintlich bessergeordneten anderen Evangelien vergleiche. Dass Papias dabei zumindest das Matthäus-Evangelium kennt, macht ein anderes seiner Fragmente deutlich. Dort heißt es, Matthäus hat die Worte Jesu also in hebräischer Sprache zusammengestellt, es übersetzte aber ein jeder so, wie er konnte. Wie immer man zum Inhalt dieser Nachricht stehen mag, eins ist meines Erachtens dadurch sicher, dass um das Jahr 110 unter denen, die dem Papias als Garanten der apostolischen Tradition galten, die Ansicht verbreitet war, dass Markus der Autor eines Evangelien ist, und zwar dessen, was wir auch heute noch als Markusevangelium kennen. Erner ist deutlich, dass auch das Matthäus-Evangelium um diese Zeit schon unter seinem heutigen Namen bekannt war. Denn wenn man eines der Evangelien, die wir noch erhalten haben, nähe zur jüdischen

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Darstellungsart, wie es eigentlich besser übersetzt heißt, was ich gerade gelesen habe, wenn man also einem Evangelium jüdische Darstellungsart zuschreiben kann, dann ist es das Matthäus-Evangelium, das ständig mit Zitaten aus dem Alten Testament zu beweisen versucht, dass Jesus der Messias ist. Aber lassen sich unsere Evangelien auch inhaltlich nachweisen. Deshalb will ich nur nachrichten über die Evangelien. Beginnen wir mit den ersten halbwegs brauchbaren Zitaten aus den synoptischen Evangelien, die wir bei Justin, dem Märtyrer finden, der seine beiden heute noch erhaltenen Werke, die Verteidigung des Christentums, die Apologie und einen Dialog mit einem Juden, einem jüdischen Grabbi, Dialog mit dem Juden Tryphon in der Mitte des zweiten Jahrhunderts verfasst hat. Denn er ist im Jahre 165 nach Christus mit Sicherheit gestorben und zwar als Märtyrer, sodass er danach seine Werke nicht geschrieben haben kann.

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Also vor 165 hat er seine Werke geschrieben und man kann sagen 150 seine Apologie und einige Jahre später dann seinen Dialog. Hier haben wir festes Datum, wo man zum ersten Mal historisch sagen kann, was hat er gelesen, was kannte er um diese Zeit. Justin zitiert in seinen Stiften das Alte Testament immer wieder sehr genau und wörtlich nach der griechischen Übersetzung der Septuaginta. Während seine neuntestamentlichen Zitate alle aus den Evangelien stammen, Paulus und die anderen Stiften des Neuen Testaments, obwohl er sie gekannt haben muss, führt er an keiner Stelle an. Aber interessant ist nun, wie Justin mit dem Text des Neuen Testaments umgeht. Während Justin das Alte Testament wörtlich zitiert, macht er das mit dem Neuen Testament mit Evangelien nicht so. Aber jedenfalls ist Justin der erste sichere Zeuge für das Vorliegen der vier Evangelien

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die wir heute tatsächlich noch haben. Und zwar in seiner Schrift der Apologie des Christentums um 150 ungefähr zu datieren, schreibt er Folgendes. Denn die Apostel haben die von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien genannt werden, überliefert, dass ihnen wie folgt aufgetragen worden ist, jetzt kommt ein Zitat aus der Bibel, dass Jesus das Brot nahm, dankte und sprach, das tut zu meinem Gedächtnis, das ist mein Leib, und in Kelch nahm er auf, gleiche Weise, und dankte und sprach, das ist mein Blut, und das er es allein ihnen übergeben hat. Soweit Justin. Das ist die einzige Stelle, in der Justin in seinen erhaltenen Schriften explizit ausspricht, was er damit meint, wenn er sonst immer von den Erinnerungen der Apostel schreibt. Normalerweise nennt er, wenn er das Neue Testament sichersprach, in der Erinnerung der Apostel

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lesen wir folgendes. Hier sagt er, was das ist, die Evangelien. Er sagt, die Evangelien sind tatsächlich diese Denkwürdigkeiten. Also wissen wir, er kennt Evangelien. Er kennt also mehrere Evangelien und entnimmt ihnen die Einsetzungsworte des Abendmahls, zitiert sie aber, wie ich mit den Texten des Neuen Testament vergleicht, relativ frei, wobei seine Anführung eine Mischung aus den Einsetzungsworten der Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas ist, in dem auch ein Einfluss aus der Paulusbriefe sichtbar wird. Also er kannte auch die Paulusbriefe, aber zitiert sie nicht. Aber hier sieht man in der Einsetzungsworte, das gibt so eine kleine Spur, dass er tatsächlich auch die Pauluseinsetzungsworte kannte. In dem Dialog mit dem Judentrüfer gibt er dann eine weitere wichtige Information über diese Evangelien, in dem er auf eine Passage im Lukasevangelium anspielend Folgendes schreibt.

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Denn in den Denkwürdigkeiten, von denen ich sage, dass sie von seinen Aposteln und denen, die ihnen gefolgt sind, zusammengestellt worden sind, steht geschrieben, dass der Schweiß wie Tropfen zurückgehalten wurde, als er betete und sprach, dieser Kelch gehe an mir vorbei, wenn es möglich ist. Hier ist also ganz deutlich ausgesprochen, dass in der Mitte des zweiten Jahrhunderts mehrere Evangelien existierten, und zwar unter dieser Bezeichnung Evangelien, und dass es mindestens zwei gab, das ist aber mehr Plural, die von Aposteln, und mindestens zwei gab, die von Apostel-Schülern verfasst worden sind, also von Jüngern der Apostel. Damit ist nun eindeutig aber die Idee unserer Vier-Evangelien-Sammlung angespielt, denn genau das ist das Konzept der Vier-Evangelien-Sammlung, die wir haben.

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Zwei Apostel, Matthäus und Johannes, und zwei Apostel-Schüler, Markus und Lukas. Das ist nämlich ganz deutlich in der Tradition, das war dem bewusst, Lukas und Markus sind keine Apostel. Also Justine kennt offenbar tatsächlich unsere Vier-Evangelien unter dem Namen der Evangelium, und er kennt sie als Werke von Aposteln und Apostel-Schülern. Und das ist genau das Konzept, das hinter der kanonischen Ausgabe steckt. Wenn Justine also wahrscheinlich auch unsere vier kanonischen Evangelien gekannt hat, so ist interessanterweise der Umgang, den er mit diesen Texten macht, sehr, sehr frei. So gibt es tatsächlich eine einzige Anspielung an das Johannes-Evangelium, die zeigt, dass er das Johannes-Evangelium kannte, aber im Umgang auch damit sehr, sehr frei ist. Er zitiert nämlich, und auch Christus sagte, wenn ihr nicht wiedergeboren werdet, werdet

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ihr nicht in das Reich der Himmel kommen. In dieser Paraphrase wird tatsächlich der Text leicht geändert, aber es ist deutlich, es ist tatsächlich das Gespräch mit Ikudemus angespielt darauf. Es ist sicherlich keine wörtliche Zitierung des Johannesextes, aber Justine paraphrasiert hier eindeutig Johannes 3,3. Aber er tut nicht nur dies, sondern er spielt in derselben Passage auch ganz deutlich auf den nächsten Vers des Johannes-Evangeliums an. In seiner Aussage ist aber auch für jeden deutlich, dass es unmöglich ist, dass die Menschen, die einmal geboren worden sind, in den Leib derer, die sie geboren haben, hineingehen. Da ist ganz deutlich, dass er tatsächlich dann beide Verse vor Augen hat. Also er kennt unser Johannes-Evangelium, obwohl er nirgends sagt, dass es das Johannes-Evangelium ist, aber er hat es tatsächlich wahrscheinlich gekannt. Dies ist die einzige Anführung des Justine aus dem Johannes-Evangelium. Sie zeigt aber auch wieder, wie frei Justine mit dem Text der Evangelium noch umgehen kann.

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Das macht er mit dem alten Desament, wie gesagt, nicht mehr. Er bildet immer wieder, wenn man sich alle Zitate anguckt, kann man ja auch aufsuchen und gucken, dann sieht man, dass er immer wieder Mischzitate aus Matthäus und Lukas und Markus bildet. Das heißt, er verbindet diese drei Evangelien immer wieder miteinander. Er zitiert also nicht Markus, nicht Lukas, sondern er will, indem er Markus, Lukas und Matthäus benutzt, hinter die Evangelien zurück auf Jesus. Aber er benutzt dabei tatsächlich diese drei Evangelien immer wieder. Die Evangelien sind also tatsächlich dem Justine schon bekannt, aber es ist noch was sehr anderes Interessantes. Sind die schon kanonisch? Fragt man sich. Er zitiert sie zwar als Erinnerung der Apostel oder als Denkwürdigkeiten der Apostel, aber sind sie schon kanonisch? Welche Bedeutung haben diese Evangelien zur Zeit des Justine für die christlichen Gemeinden?

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Da haben wir eine sehr wichtige Auskunft, die er uns auch wieder gibt. Er sagt nämlich, er schildert es sozusagen, es sind ja Apologien, also Werke, in denen das Christentum gegen heidnische Vorwürfe verteidigen will. Also muss er denen natürlich das Christentum auch erklären. Und dann sagt er zum Beispiel, was die Christen so machen. An dem Tage, den man Sonntag nennt, findet eine Versammlung aller statt, die in den Städten oder auf dem Lande wohnen. Dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es angeht. Hat der Vorleser aufgehört, so gibt der Vorsteher in einer Ansprache eine Ermahnung und Aufforderung zur Nachahmung dieses Guten. Also dieses Gute sind die Evangelien und die Propheten. Es wurden also schon zur Zeit des Justinen um 150 nach Christus die Evangelien zusammen mit den Propheten des Alten Testamentes im Gottesdienst verlesen und auch ausgelegt.

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Das sagt er ja nicht. Es gibt einen anderen Vorsteher, es gibt eine Ansprache, um das Gute, was in den Schriften drin ist, zu erklären. Also diese Schriften hatten schon in gewissem Sinne das Ansehen von heiligen Schriften bei Justinen. Das haben wir sozusagen mit den Propheten im Alten Testament zusammen gelesen und ausgelegt. Lässt sich also sowohl eine Sammlung von Paulusbriefen, haben wir schon gerade gesagt, als auch eine Sammlung der Evangelien recht früh nachweisen, so ist die Kombination beider zu einer Sammlung zur Zeit des Justins noch nicht nachweisbar. Es gibt nur zwei Personen, die als erste Zeugen für das kanonische Ansehen einer Kombination von Evangelien und Paulusbriefsammlungen angesehen werden konnten, je nachdem, wie man einen von ihnen datiert. Es ist nämlich einmal Marzion, von dem wir schon gehört haben als Vertreter der ersten

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Paulusbriefsammlung, die wir greifen können, der um 144 wie gesagt öffentlich aufgetreten ist, zum anderen ein gewisser Ptolemäus, dessen Einschlägeswärter nicht ganz genau datiert werden kann. Es handelt sich bei diesem Letztern um einen Brief an Flora, eine Schülerin, in der Ptolemäus dieser Schülerin erklären will, was für eine Bedeutung das Gesetz, das Alte Testamentische Gesetz für die Christen noch haben kann. Und dann zitiert er in diesem kurzen Traktat aus den mehreren Stellen aus dem Matthäus-Evangelium, dabei aber auch lassen seine Tate Einflüsse des Markusevangeliums und des Johannesevangeliums erkennen und er zitiert die Paulusbriefe. Er zitiert sozusagen Evangelien und Paulusbriefe und beruft sich tatsächlich bei diesem Zitat auf die Autorität dieser Stifte. Und zwar, das Interessante ist für ihn, er ist Gnostiker, für ihn ist das Alte Testament

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eigentlich fragwürdig. Er weiß nicht, ob das Alte Testament tatsächlich gut ist oder böse ist, das muss ja erst mal herausgefunden werden. Und er beurteilt jetzt das Alte Testament mit Hilfe des Neuen. Das heißt, wenn man so will, hängt für diesen Autoren, das sind Gnostiker, also ein Heretiker, der sozusagen unterschiedlich geglaubt hat, der Gott des alten Testaments und der Gott des neuen Testaments wären zwei, müsste man von da unterscheiden. Also dieser Heretiker will aber jetzt sagen, welche Bedeutung kann aber trotzdem noch das Alte Testament haben? Und um dieses zu begründen, dass das Alte Testament eine relative Bedeutung hat, zitiert er das Neue. Also, hier kann man deutlich sagen, für Ptolemaeus ist die Heilige Stift tatsächlich primär das Neue Testament schon. Also er hat schon sozusagen unsere neustesheimlichen Schriften, die als Kriterium gelten für die Beurteilung des Alten Testaments. Man weiß nun leider nicht ganz genau, wann dieser Brief datiert worden ist. Schön wäre es, wenn dieser Ptolemaeus mit jenem Ptolemaeus identisch wäre, von dem

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tatsächlich Justin einmal schreibt. Der ist nämlich um 150 in 150er Jahren als Märtyrer gestorben. Leider wissen wir es nicht. Wenn das gewesen wäre, könnten wir ganz genau datieren. Aber wahrscheinlich hat unser Ptolemaeus noch 180 bis 180 nach Christus gelebt. Wir wissen es aber nicht ganz genau. Das heißt, wir können leider nicht genau datieren, wann dieser Brief wirklich geschrieben worden ist. Er muss in der Zeit von 140 bis 180 entstanden sein. Das heißt aber, er kann tatsächlich älter sein als das Auftreten des Marzian 144 nach Christus in Rom. Mit letzter Sicherheit lässt sich das aber nicht feststellen. Sicher ist auf alle Fälle, wie gesagt, dass Marzian um 144 mit seiner Ausgabe des Neuen Testaments, die ein Evangelium und zehn Paulusbriefe enthielt, in Rom aufgetreten ist und hier als Reformator des Christentums auftreten wollte, aber gescheitert ist. Er gründet dann, nachdem er ausgestoßen wurde, eine eigene christliche Gemeinde.

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Dieser Marzian, der zwischen 90 nach Christus bis 160 nach Christus lebte und tatsächlich ein reicher Schiffskaufmann war, wie gesagt, kam ungefähr um 140 nach Rom. Er war ein Theologe, der sich auf das Erbe des Paulusbriefs, wie er es besonders im Galata-Brief gefunden hatte, meinte, aus der Theologie des Paulus endlich die nötigen Konsequenzen zu ziehen, die die Kirche vor ihm nicht gewagt habe. Der Wurzelgrund seines Denkens war nicht Spekulation oder Metaphysik oder irgendwelche grundlegenden spekulativen Ideen, was wahr oder falsch war. Nein, die Grundaussage seiner Ganthäologie ist die Theologie des Paulus, nämlich die Theologie der Gnade. Gott ist ein Gott der Gnade. Er will die Menschen aus reiner Gnade erlösen. Diese Gnadenerfahrung baut er dann sozusagen zu einem Denksystem um, das allerdings die

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paulinische und biblische Lehre von Gesetz und Evangelium sprengt und eigentlich auf den Kopf stellt. Denn Mation fühlte sich als Reformer des Christentums, der das Christentum wieder zu seiner Wurzel zurückbringen wollte, denn er meinte, die Apostel hätten das Evangelium völlig verdorben. Die Theologie des Maceon stellt nämlich von vornherein den Versuch dar, das Christentum radikal von seinen jüdischen, altes, sammeltlichen Wurzeln zu lösen. Er glaubte tatsächlich, dass das Evangelium mit dem Gesetz nicht vereinbar sei. Ausgangspunkt dieses Denkens des Maceon war dabei der paulinische Gegensatz oder pauline Zusammenhang kann man sagen. Bei Paulus ist es eigentlich kein Gegensatz, sondern ein dialektisches Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Während Paulus Gesetz und Evangelium als zwei Handlungsweisen des einen Gottes ansah, fällt für Maceon beides auseinander. Das Gesetz steht völlig im Antithese zum Evangelium.

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Es war völlig anderen Wesen, es hatte eine völlig andere Intention und es war unmöglich, die harten Forderungen des Gesetzes tatsächlich mit der Liebesforderung und dem Gnadenangebot Jesu von Nazareth zu verbinden. Das Gebets des alten Testament führt die Menschen in Knechtschaft, es überfordert sie, sodass es unmöglich ist, dass der Gott, der in Jesus Christus sich als Gott der Gnade offenbart hat, dieses harte Gesetz gegeben habe, um die Menschen damit zu quälen. Also gibt es zwei Götter. Das alte Testament ist von dem Schöpfergott gegeben, der ein gerechter Gott ist, aber gnadenlos und der seine Geschöpfe durch sein Gesetz nicht erlösen kann. Dann hat aus reiner Gnade der gute Gott Jesus seinen Sohn in die Welt gesandt, um die Menschen von dem Schöpfergott und seinem Gesetz zu befreien. Dieser gute Gott und Vater Jesu Christi hatte nichts mit der Schöpfung und dem Schöpfer

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zu tun. Er hat die Welt nicht geschaffen, er hat auch die Menschen nicht geschaffen. Die Menschen sind das Werk des gerechten, aber unfähigen Gottes. Und jetzt hat der gute Gott, als er sieht, das Leid der Menschen unter dem Schöpfergott, schickt er seinen Sohn aus reiner Gnade. Er hat mit ihm ja nichts zu tun. Er ist ihm zu nichts verpflichtet, weil er ja sozusagen sie nicht geschaffen hat. Aber er sieht das Menschen in ihrem Elend, schickt dann seinen Sohn, um sie zu erlösen. Er bahmt sich also aus reiner Liebe und Gnade und sendet deswegen seinen Sohn in die feindliche Welt, damit der Sohn den Menschen die Wahrheit über das unerfüllbare Gesetz offenbart und auf die Existenz des einzig Wahren Gottes aufmerksam macht. Erlösung ist dann letztlich für Marzion Erlösung von der Welt, von Weltschöpfer und seinem Gesetz und das Eingehen in die Welt des guten Gottes.

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Aufgabe der Christen ist es deshalb, den Gott des alten Testaments zu überwinden. Diese Lehre vom unbekannten Gott, das heißt, der Gott des alten Testaments, kannte den Gott des neuen Testaments nicht. Das heißt, die Propheten sprechen, wenn sie von Jesus, wenn sie von Messiah sprechen, nicht von Jesus. Sie haben gar keine Ahnung. Der neue Gott, den Marzion vertritt, ist wirklich ein neuer Gott insofern, als er vorher nicht bekannt war. Die Propheten wussten nichts von diesem wahren Gott. Deshalb ist sozusagen für ihn altes Testament und neues Testament unvereinbar. Und deshalb hat er tatsächlich dann zu seinem Reformprogramm aufgerufen. Und zwar die Lehre vom unbekannten Gott, die Jesus gebracht habe, haben die einfachen Jünger nicht verstanden. Sie waren Juden, haben im jüdischen Zusammenhang gelebt und haben tatsächlich trotz der immer wieder kehrenden Botschaft Jesu, dass das ein Unterschied ist, sind immer wieder in ihren alten Glauben zurückgefallen, sodass tatsächliches Evangelium im Laufe der Kirchengeschichte

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verfälscht worden ist. Das heißt, die Jünger haben sozusagen Jesus missverstanden, indem sie alle Aussagen auf den einen und denselben Gott bezogen haben, die eigentlich nur auf den Gott Jesu Christi zu beziehen wären. Sie haben also altes und neues Testament wieder zusammengesetzt. Das heißt, er brauchte tatsächlich eine neue heilige Schrift. Altes Testament gilt nicht mehr, beziehungsweise altes Testament sagt die Wahrheit, aber über den altes Testamenten Gott, der die Christen nichts angeht. Deswegen brauchte Mation aber jetzt so eine neue Bibel. Und die hat er sich dann selber insofern geschaffen, indem er nach traditioneller Ansicht hingegangen ist, die neudes Testamenten Schriften sind ebenfalls verfälscht. Und zwar von den Aposteln, die Jesus nicht verstanden haben. Es gibt aber einen Paulus-Jünger unter den Evangelisten, nämlich Lukas. Und deshalb hat sozusagen jeweils die Kirchenpfleger Mation das Lukasevangelium genommen und hat gesagt, dieses Evangelium, das ist die Grundlage, auf der arbeite ich.

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Und hat geguckt, das ist verfälscht worden. Also hat er, sagen die frühesten Kirchenpfleger, das wir noch vor Augen hatten, er hat die Anzahlstichte gestrichen. Also Jesus Geburt, Ankündigung der Geburt, Geburt, alles das bis zum Auftreten des Johannes des Täufers hat er rausgeschmissen. Das war alles, das verbindet nämlich Jesus alles mit dem alten Testament. Und dann habe er aus dem Lukasevangelium alle Stellen rausgestrichen, in denen tatsächlich Jesus auf das alte Testament verweist und die Identität von altes Testamenten, die um neutes hat mir Gott behauptet. Das hätten die Jünger alles verfälscht. Also hat er ein religiertes Matthäus-Evangelium hervorgebracht, wo er meinte, dies wäre jetzt das wahre Evangelium, in dem er es textkritisch bearbeitet hat und die Fehler und die Verfälschung herausgearbeitet, herausgestrichen hat. Zugleich bildet er natürlich auch eine Ausgabe, die es von ihm sehr vergöttert hat, Apostel Paulus, den er aber auch an einigen Stellen dort nämlich religiert, wo Paulus eindeutig

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das alte Testament als gültig ansieht. So jedenfalls sagen das die ältesten Zeugen, die über Marcion reden. Und dann hat Marcion diesem neuen Testament noch eine kleine Erklärungsstift beigegeben, die sogenannten Antithesen. Mit denen wollte er nämlich zeigen, warum er seinen Kanon so gebildet hat, wie er ihn gebildet hat. Die Antithesen stellen nämlich immer Aussagen des alten Testaments, Aussagen des neuen Testaments gegenüber, um zu zeigen, dass es unvereinbar ist. Beispiel Auge, Auge, Zahn und Zahn im alten Testament, im neuen Testament die Nächsten und Feindesliebe. Und das sind die Antithesen, die waren sozusagen die Begründung, warum er glaubte, dass die Apostel das Evangelium verfälscht haben und warum er mit seinem, wenn man so will, wiederentdeckten oder wiederhergestellten Ur-Evangelium auftreten musste. Die Kirche ist natürlich diesem Entwurf des Marcion nicht gefolgt, sondern hat meines Erachtens ganz zu Recht erkannt, dass mit der Auslöschung des alten Testaments man tatsächlich dann auch Jesus als Juden und Jesus als in der Altes-Testament-Tradition

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verwurzelten Messias tatsächlich nicht gerecht wird. Also hat man Marcion durchaus zu Recht, meine ich, verurteilt. Aber man musste nun natürlich auf Marcion reagieren. Marcion hatte ja, wenn man so will, als Erster ein neues Testament. Ich habe hier jetzt, sagte ich, hier ist mein neues Testament, das nannte er wahrscheinlich auch so. Ich habe ein neues Testament und zwar bewusst nennt er es Neues Testament, weil es völlig neu ist. Und dieses Wort Neues Testament kommt wahrscheinlich ursprünglich tatsächlich von Marcion und hat an unseren Ausgaben sozusagen auch den Namen Neues Testament gegeben. Im Gegenzug gegen diese radikale Herausforderung durch Marcion scheint sich die Kirche dann genötigt gesehen zu haben, nun ihrerseits zu bestimmen, was nun kanonisch ist, also was nun tatsächlich heilige Schriften sind, auf die man sich berufen kann. So kann man bei dem großen Ketzerbekämpfer und Theologen Irenaeus von Nyon, der um 177

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nach Christus Bischof von Nyon wurde, ursprünglich stammt er aus Kleinasien, aber dann hat es ihn nach Gallien verschlagen und dort schreibt er dann ein großes Werk gegen die Heretiker. Damit ist er zu einem der Begründer des christlichen Dogmas geworden, also der Erste, der tatsächlich versucht, gegen die Gnostiker jetzt die christliche Lehre zu verteidigen, also gegen diese Spaltung des Gottesbegriffs. Und er hat tatsächlich dann ein Werk geschrieben um 180 nach Christus, die Entlarvung und Wiederlegung der fälschlich sogenannten Gnosis, der fälschlich sogenannten Erkenntnis, mit der möchte er tatsächlich die Heretiker unter anderem auf Marcion widerlegen. Gegen das, was er für die Neuerungen der Heretiker hält, argumentiert Irenaeus in seinem Hauptwerk dann immer mit der apostolischen Autorität der Heiligen Schriften, die für ihn relativ sicher schon im Umfang festzustehen scheinen. Es gibt, sagt er, nur vier Evangelien und zwar die von den Aposteln Matthäus, Johannes

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und den Apostelschülern Markus und Lukas verfasst worden sein sollen. Und es kann auch gar nicht mehr als vier und es darf nicht weniger als vier geben, so wie es vier Himmelsrichtungen gibt. Also ganz klar vier, es müsste genau vier sein. Also hier hat man sozusagen eine Theologie des Kanons, wie man so will. Vier Evangelien, genau wie vier Himmelsrichtungen, mehr und weniger ist nicht richtig. Er zitiert fast alle Schriften des Neuen Testaments, wie wir sie heute kennen, als heilige Schrift. Nur den Philemonbrief, den zweiten Petrusbrief und den dritten Johannesbrief und den Brief an Judas. Den kann man bei ihm nicht nachweisen in Zitaten. Auch die Apokalypse des Johannes zitiert Irenaeus mehrfach und hält sie für die Schrift eines Apostels und erzielt sie in die Zeit des Kaiser aus Domitian. Er zitiert allerdings nun ein bisschen Wermutstropfen. Er zitiert allerdings auch den ersten Klemensbrief und eine etwas obskure Sprift, die noch erhalten ist, ein riesen Werk, den Hirt des Hermas.

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Zwei Werke, die auf die Dauer nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen worden werden, die zitiert er ebenso als authoritative Zeugen des Neuen Testaments. Also er scheint die auch dann neben unseren kanonischen Schriften auch als Bibel anerkannt zu haben. Interessanterweise finden sich diese beiden, theologisch übrigens völlig unanstößigen Werke, auch in einigen der älteren Handschriften als Anhang zu den Neuen Testament in Schriften. Das heißt, bis ins vierte, fünfte Jahrhundert wurden sie auch offenbar in vielen Gemeinden als heilige Schrift noch vorgelesen. Irenaeus ist also ein früher Zeuge für einen schon sehr weit entwickelten christlichen Bibelkanon. Er versteht die Heilige Schrift des Alten Testaments und des Neuen Testaments als einen, wie er sagt, Leib der Wahrheit. Also er bildet ein organisches Ganzes und diese ganze Heilige Schrift muss als Ganze ausgelegt werden, immer wieder miteinander. Man darf auch nicht eine Schrift oder ein Wort für sich auslegen, sondern man sagt,

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man muss tatsächlich die ganze Heilige Schrift immer heranziehen und vergleichen, damit man die wirklich die Botschaft des Gottes des Alten und Neuen Testaments, der Einer ist, finden kann. Also man braucht die ganze Heilige Schrift. Also für ihn ist tatsächlich ganz wichtig, dass die Heilige Schrift eine Einheit ist. Da haben wir schon den Begriff eines Kanons, wenn man so will, ganz deutlich greifbar. Seit dem Wirken des Irenaeus ist der Kanon im Wesentlichen grundgelegt und gefestigt. Es gibt zwar immerhin immer weiter Diskussionen über einzelne Bücher des Neuen Testaments, ob sie nun als apostolisch gelten oder ob sie tatsächlich nicht apostolisch sind, aber diese Diskussionen betreffen immer nur wenige Schriften und mehr am Ende des Kanons. Die Zentralschriften sind nie infrage gestellt worden danach mehr. Die Apokalypse des Johannes zum Beispiel, die wird immer wieder infrage gestellt. Ich habe gerade gesagt, Irenaeus hielt sie für kanonisch, besonders auch deshalb, weil er sozusagen die Lehrer vom tausendjährigen Reich am Ende der Geschichte so toll fand.

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Die hat er geglaubt und deswegen war für ihn das eine schöne, eine Schrift, die große Bedeutung hatte. Und auch der bedeutendste Kirchenvater des dritten Jahrhunderts, Eurydenes, hält die Apokalypse für kanonisch. Aber interessanterweise ein Schüler des Eurydenes, also bis kurz seit später, nämlich Dionysius von Alexandrien, der Bischof von Alexandrien, ein Schüler des Eurydenes, der bekämpft ausdrücklich die Verfasserschaft der Johannesapokalypse durch einen Apostel. Er argumentiert, dass tatsächlich diese Schrift nicht Apostelschrift ist. Er weiß davon, dass viele Theologen der Vergangenheit die Apokalypse abgelehnt haben. Ja, sogar einige haben sich als Werk eines Heretikers, eines gewissen Kerint verunglimpft, der seine verderblichen Lehren unter das Pseudonym des Johannes gestellt habe.

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Er selber glaubt diese Gerüchte zwar nicht, aber er erklärt dann doch, dass er nicht daran glaubt, dass der Apostel Johannes der Autor der Apokalypse gewesen sei. Dagegen kommen sehr interessante Argumente. Dagegen spricht einmal der Stil, die Eigenart und Wortwahl des Werkes, völlig anders ist als bei Johannes im Evangelium und in den Briefen. Sind nämlich die Werke des Apostels, sagt er, in einem fehlerlosen und sehr gewandten Griechisch verfasst, so bietet die Apokalypse einen barbarischen und von Fehlern kennzeichneten Sprachduktus. Wenn man die Apokalypse auf Griechisch liest, das ist sehr stark simitisches und kein klassisches Griechisch. Der Autor sagt er, sagt Dionysius, der Autor mag ein heiliger und mit prophetischen Gaben ausgestatter Mann gewesen sein, aber er ist kein Apostel.

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Daher lehnt Dionysius die Apokalypse als biblische Urkunde ab. Und so geht die Auseinandersetzung gerade um die Apokalypse in der Kirchengeschichte immer hin und her und weiter. Anfang des vierten Jahrhunderts rechnet Euseb, der im Wesentlichen den heutigen Kanon bestätigt, die Apokalypse zu den umstrittenen Werken. Es sei noch nicht entschieden, ob sie zum Kanon gehöre oder nicht. Schließlich fährt er fort, zu den Bestrittenen aber, welche indes gleichwohl bei den meisten Ansehen stehen, werden gerechnet der sogenannte Jakobusbrief, der Brief des Judas, der zweite Brief des Petrus und der sogenannte zweite und dritte Johannesbrief, welcher entweder dem Evangelisten oder einem anderen Johannes zuzuschreiben ist. Das heißt, hier wird tatsächlich diskutiert, diese Schriften sind noch nicht allgemein anerkannt. Interessanterweise macht das Euseb in seiner Kirchengeschichte, wie er zur Zeit Konstantins

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schreibt, Anfang des vierten Jahrhunderts, er schreibt eine Geschichte des Christentums von Jesus bis zu seiner eigenen Gegenwart. Und was er dabei immer wieder macht, er schreibt nicht nur, welcher Bischof wann regiert hat, was in der Kirchengeschichte passiert ist, wann es eine Christenverfolgung gegeben hat, welche Märtyrer da hervorgetreten sind, sondern er schildert auch immer, welcher Kirchenvater oder welcher Bischof welche Schriften des Neuen Testament zitiert hat. Um herauszufinden, das heißt, wie finde ich heraus, ob etwas heilige Schrift ist, indem ich sehe, in der Kirche wurde sie tatsächlich rezipiert. Und das hat sich jetzt in der Zeit, kann man sagen, seit Irenaeus immer stärker verfestigt in Richtung unseres Kanons. Die erste kirchliche Autorität, die nun exakt den Neuen Testament in Kanon bietet, in dem Umfang, wie wir heute ihn in unseren Bibelausgaben lesen, ist Athanasius von Alexandrien, der im vierten Jahrhundert Bischof von Alexandrien war und einer der großen rechtgläubigen Theologen

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sowohl im Osten als auch Westen anerkannt ist, also die große Leuchte der Rechtgläubigkeit der Kirche im vierten Jahrhundert. Und er zählt in seinem 39. Osterfestbrief alle Schriften der Bibel auf, die tatsächlich Gültigkeit haben und in den Gemeinden verlesen werden dürfen. Aber diese Lehreinscheidung gilt natürlich nur für die Gemeinden Ägyptens, denn er war ja nicht Oberhaupt der gesamten Kirche, sondern er ist Oberhaupt der Kirche Ägyptens. Das heißt, diese Entscheidung des Athanasius ist tatsächlich nur für Alexandrien und Ägypten gültig. Interessant ist nämlich, aber dieser Athanasius hat schon dann Mitte des vierten Jahrhunderts unseren Kanon, wie wir ihn heute noch im Krieg schon im Neuen Testament lesen, festgelegt, aber nur für seinen eigenen Bischofssitz. Interessanterweise hat es nämlich keine Lehreinscheidung der alten Kirche und auch

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keine im Mittelalter gegeben, die für die gesamte Kirche der Welt festgelegt hat, was in den Kanon gehört. Die katholische Kirche hat den Kanon erst im Konzil von Trient, kurz nach der Reformation, festgelegt. Also, der Kanon ist nie kirchenamtlich entschieden worden in der evangelischen Kirche und der orthodoxen Kirche, aber tatsächlich, er ist festgelegt worden dann in der katholischen Kirche erst nach der Reformation und bezieht sich dann auch noch auf die lateinische Bibel und nicht auf die griechische und hebräische. Es gibt auch heute zwischen den Konfessionen große Unterschiede im Alten Testament, aber auch einige im Neuen Testament, was tatsächlich zur Heiligen Schrift gehört oder nicht. So hat sich der Kanon des Neuen Testaments über die Zeit entwickelt, bis er seine heutige Gestalt enthalten hat. Bisher habe ich ihn die Sicht der Dinge so dargestellt, wie sie von den meisten Erforschern des Neuen Testaments geteilt werden dürfte. Es gibt aber in der neuesten Zeit durchaus ernstzunehmende Bibelwissenschaftler und Kirchenhistoriker,

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die diesen Konsens radikal infrage stellen. Der Redlichkeit halber muss ich ihnen auch deren Thesen vorstellen und zugleich erklären, aus welchem Grunde ich sie für falsch halte. Auch diese Gelehrten schreiben dem Auftreten des frühchristlichen Theologen Marzion eine zentrale Rolle bei der Herausbildung des Neuen Testamenten Kanons zu. Sie halten sie aber noch für weitaus grundlegender, bedeutender, als es die traditionelle Ansicht tut. Danach hat Marzion zwar im Falle der Paulusbriefe eine ältere Sammlung übernommen und bearbeitet, aber in der Frage nach der Entstehung und Sammlung der Evangelien ist seine Bedeutung viel, viel grundsätzlicher als die eines Sammlers und Redaktors des Lukasevangeliums. Sagen die frühen Kirchenstiftsteller Irenaeus und Tertullian und alle, die auf sie folgen,

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dass Marzion das Lukasevangelium ausgewählt hat und nach seinen theologischen Forschungen gekürzt und reagiert hat, so meinen diese Forscher, dass Marzion keineswegs das schon existierende Lukasevangelium bearbeitet und verfälscht habe, sondern dass es genau anders herum gewesen sein soll. Das Evangelium des Marzion sei das älteste Evangelium gewesen, das ohne jede Vorgeschichte mit dem Auftreten Jesu in Kapernaum begonnen hat und dann bis zur Passion und Auferstehung erzählt. Das heißt, das Lukasevangelium, das wir als gekürztes Lukasevangelium gerade bezeichnet haben, ist für die das ursprüngliche Evangelium, das von Marzion stammt. Unser Lukasevangelium ist sozusagen die Verfälschung, Erweiterung, sagen die. Also unsere kanonischen Evangelien seien also nicht vor Marzion dagewesen, sondern sie sind vielmehr verschiedene Bearbeitungen des Marzion-Evangeliums gewesen, sagt man. Als Argument für diese These wird unter anderem angebracht, dass sich das Evangelium Marzions,

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anders als die Kirchenväter berichten, nicht so leicht als tendenzielle Bearbeitung des heutigen Lukasevangeliums verstehen ließe. Da nämlich Marzion viele Aussagen, die seiner eigenen Theologie und seiner Unterscheidung vom Gott des Alten und Neuen Testaments tatsächlich widersprechen, doch in seinem Evangelium hat stehen lassen. Man kann nämlich finden, einige Stellen, die hätte er auch streichen müssen. Die nutzen natürlich dann die Kirchenväter, um ihn zu widerlegen und sagen, hier deine eigene Bibel, wir erliege dich. Wir können dich mit deiner eigenen Bibel widerlegen, dass der Gott des Alten Testaments der Gott Jesu Christi ist. Das heißt, man sagt, es kann also nicht so sein. Es muss also anders gewesen sein. Wie gesagt, daher scheint den Befürwortern der Marzion Priorität ist viel wahrscheinlicher, dass vielmehr die Vertreter der Großkirche das Evangelium des Marzion in ihrem Sinne einer weitgehenden Übereinstimmung vom Alten und Neuen Testament tatsächlich in mehreren Stufen sekundär überarbeitet hätten.

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Während nun Matthias Klinghardt, ein Neu-Testamentler an der Uni Dresden, er davon ausgeht, dass Marzion dieses ältere Evangelium schon vorgefunden habe, geht der an Londoner Kings College lehrende Kirchenhistoriker Markus Vincent davon aus, dass Marzion sein Evangelium selbst verfasst habe, dass er also Mitte des zweiten Jahrhunderts der Erfindung der Gattung des Evangeliums gewesen sei. Beide aber gehen davon aus, dass unsere Evangelien sukzessive Verfälschungen und Überarbeitungen des Marzion Evangeliums gewesen seien. So habe das Markusevangelium das Evangelium des Marzion benutzt und dann der Autor des Matthäusevangeliums habe sozusagen Marzion benutzt und dann sein Evangelium gemacht. Dann habe Lukas alle drei Evangelien benutzt und habe sein Evangelium rausgemacht und Johannes wäre der letzte, der alle diese Evangelien benutzt habe. So dass sozusagen am Anfang unserer Evangelienüberlieferung aus dem Nichts sozusagen Marzion um 144 sein

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Evangelium aus dem Hut zaubert. Diese These wird auch unter anderem dadurch begründet, dass sich vor dem Auftreten des Marzion keine eindeutigen Belege für die Existenz unserer kanonischen Evangelien beibringen lassen. Dies ist, wenn es denn richtig wäre, allerdings ein sogenanntes argumentum in silencio, also ein Argument aus dem Schweigen. Ein nicht unbedingt starkes Argument. Denn dass etwas in einer bestimmten Periode noch nicht erwähnt wird, heißt ja nicht unbedingt, dass es damals noch nicht existierte. Nur weil im Neuen Testament, lassen Sie mich mal etwas albernes Beispiel bringen, nur weil im Neuen Testament nirgends, ich habe gerade nachgeguckt, in dem Neuen Testament wird nirgends ein Löffel erwähnt. Jetzt könnte ich behaupten, es habe im Neuen Testament keinen Löffel gegeben. Das ist Quatsch, natürlich hat es den gegeben. Man hat es vorher gegeben und nachher. Warum sollte es im Neuen Testament keinen Löffel geben? Aber der Löffel wird nie erwähnt. Wenn ich so positivistisch vorgehe, könnte ich sagen, in der Umwelt Jesu gab es keinen

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Löffel. Sonst müssten sie erwähnt sein. Also ein Argument aus dem Schweigen der Quellen ist kein starkes Argument für das Nichtvorliegen einer Sache. Ich kann nicht beweisen, dass es Löffel gegeben hat zur Zeit Jesu. Aber es ist sehr plausibel, dass es sie gegeben hat. Ich kann historische Dinge nie beweisen. Ich kann sie nur plausibel machen. Aber dieses Argument in silencio ist meines Erachtens kein starkes Argument. Gut, darüber hinaus gibt es meines Erachtens in dem von uns vorgestellten Buch des Papias ja durchaus eine Erwähnung des Markus und auch des Matthäus-Evangeliums lange vor dem Auftreten des Marzian. Auch wenn man diese Papiasnotiz nicht ernst nehmen will, meines Erachtens völlig zu Unrecht und die Datierung, die auf Euseb von Caesarea zurückgeht, der sie um 100 detatiert, wenn man die einfach nicht glaubt, das ist einfach eine typische Taktik oft in der Argumentation. Alle Schriften, die sozusagen gegen mich sprechen, datiere ich dann spät.

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Also wenn man sagt, man sagt normalerweise, also Euseb, der eigentlich der Vater der Kirchengeschichte ist und eigentlich sehr gut informiert war, er hat die größte Bibliothek der christlichen Antike nutzen können. Und wenn der sagt, hundert nach hat Papias sein Werk geschrieben, dann muss man eigentlich sagen, dass es eigentlich, muss man starke Argumente haben, warum das nicht stimmen kann. Und diese Argumente gibt es meines Erachtens nicht. Aber diese Theologen müssen natürlich sagen, nein, Papias kann auch später datiert werden, also zählt das nicht. Selbst wenn wir also das zugestehen und sagen, gut, Papias können wir nicht benutzen, dann ist meines Erachtens ganz klar, dass wir in Justin 150 n. Chr. die vier Evangelien vorliegen haben. Es spricht also viel dafür, dass die vier Evangelien als Sammlung um die Mitte des zweiten Jahrhunderts vorlagen und dass es völlig unwahrscheinlich ist, dass die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sind, sich innerhalb von wenigen Jahren entstanden sind und als Evangelien durchsetzen können

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und keiner Zweifel daran hat, dass diese vier Evangelien in der großkirchlichen Tradition alle das glauben. Auch der Ketzer Ptolemaeus zitiert tatsächlich diese Evangelien, hat sie also gekannt. Also spricht viel dafür, dass tatsächlich dieses Evangelium, diese Evangelien vorher vorgelegen haben, bevor Marzion aufgetreten ist. Wenn Marzion nämlich 114 n. Chr. mit einem Kanon auftritt, so ist es mehr als unwahrscheinlich, dass als Reaktion auf sein neues Testament innerhalb von wenigen Jahren unsere vier Evangelien aus dem Boden gestampft sein sollten und sich dann allgemein durchgesetzt haben. Wenn sie erst als Reaktion auf Marzions Bibel geschrieben sein sollten, sozusagen unter den Augen der Zeitgenossen, dann wäre meines Erachtens kaum zu erwarten, dass irgendjemand ihre Echtheit und apostolische Autorität geglaubt hätte. Lassen Sie mich noch ein letztes Argument nennen, das die These von Marzions Evangelium als

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Quelle unserer Evangelien in meines Erachtens ausschließt. Das Evangelium des Marzion, wie wir es aus den Werken der Kirchen und Väter rekonstruieren können und müssen, enthält nämlich Passagen, die typisch und charakteristisch für unser Lukasevangelium sind. So beginnt das Evangelium des Marzion mit einer genauen Datierung im 15. Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Judea beherrschte, beginnt das Evangelium mit dem Auftreten Jesu in dieser Welt. Also es ist diese Datierung. Diese Datierung, diese genaue Datierung ist nun typisch für das Evangelium des Lukas, der in seinem bei Marzion natürlich nicht zu findenem Proemium, zu seinem Evangelium, sich als ein historisch arbeitender Schriftsteller vorstellt, der eine chronologische und aus den Quellen gearbeitete Darstellung des Lebens Jesus geben will.

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Wenn diese historische Notiz, 15. Jahr des Tiberius, als sozusagen Pontius Pilatus Stadthalter war, wenn diese schon in der marzionistischen Vorlage, in Marzion stand, dann kann er das nur aus Lukas haben. Das ist sehr unwahrscheinlich, muss ich vorstellen. Marzion hat sozusagen diese historische Notiz, Datierung. Dann kommt Markus, nichts über die Datierung. Dann kommt Matthäus, nichts über die Datierung. Und dann plötzlich nimmt Lukas als einziger diese Datierung wieder auf. Das ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Also da würde ich sagen, Lukas hat Marzion vorgelegen und er hat diese Datierung eben tatsächlich aus Lukas übernommen und sie nicht gestrichen, wie er andere Texte gestrichen hat. Andererseits fragt man sich auch, was sagen wir zu typischen lukanischen Erzielungen in

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seinem Evangelium, die Marzion bezeugt, die aber weder bei Markus noch Matthäus belegt sind, aber in seinem Lukas-Evangelium auftauchen. Zum Beispiel die wunderschöne Geschichte von der Heilung der zehn Aussätzigen, von denen nur einer zu dieses zurückkehrt, um sich zu bedanken. Marzion hat es, die anderen Evangelien haben es nicht, Lukas hat es. Oder das Gleichnis vom bösen Richter und der Witwe oder die Geschichte vom selbstgerechten Pharisäer, der sich dem heumütigen Zöllner überlegen fühlt. Warum tauchen die bei Lukas auf, aber bei Matthäus und Markus nicht und Marzion hat es auch? Marzion hat es wahrscheinlich eben tatsächlich aus Lukas. Das spricht sehr stark gegen diese These, meine ich. Also dürfte Marzion von Lukas abhängig sein und nicht umgekehrt. Aufgrund dieser und noch anderen Argumente, die ich hier nicht aufzählen kann, halte ich die Ansicht, dass der Kanon sich schon vor Marzion langsam entwickelte, tatsächlich

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für richtig. Und dass tatsächlich, so wie die Paulusbriefe langsam gewachsen sind, auch die Evangelien langsam tatsächlich entstanden sind, über den Lauf der Zeit und dann tatsächlich vor zu Marzions Zeit schon als vier Evangelien vorlagen. Also die traditionelle Sicht, die Evangelien entstehen um 70 nach Christus und werden dann tatsächlich erst tatsächlich im Laufe der Zeit gesammelt und werden dann zu unserem vier Evangelienkanon den Marzion dann vorfindet und den die Kirche dann tatsächlich rezipiert. Aber kommen wir noch einmal zurück zu der Ausgangsfrage. Wenn sich der Kanon erst langsam entwickelt hat und noch lange im Fluss war, wie verhält es sich dann mit der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der Heiligen Stift als Grundlage unseres Glaubens? Um das beantworten zu können, möchte ich am Ende noch einen kurzen Blick auf das Kanonverständnis des Mannes werfen, dem wir für die evangelische Kirche den Grundsatz des Sola Scriptura,

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des allein aus der Heiligen Schrift, verdanken. Martin Luther, dessen Erbe die lutherischen Orthodoxen im 16. und 17. Jahrhundert mit der Lehre von der wörtlichen Eingebung der Heiligen Schrift bewahren und weiterentwickeln wollten. Er hat in dieser Frage nach dem Kanon viel entspannter geredet, viel offener, als seine Nachfolger es getan haben. Für ihn war die Heilige Schrift keineswegs ein papierender Papst, wie man ihm vorwarf, sondern die Schrift war Ausdruck der lebendigen Verkündigung des Wortes Gottes, der mündlichen Verkündigung, die sich dann verschriftlicht hat. Für ihn war die Kirche eine Kreatur, ein Geschöpf des Wortes Gottes, aber nicht ein Geschöpf der Bibel. Die Bibel war für ihn ein unverzichtbares Transportmittel für dieses Gotteswort, aber sie war nicht buchstäblich mit dem Gotteswort identisch. So lehnte Martin Luther bekanntlich den Jakobusbrief, den er ja in seiner griechischen wie in seiner

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lateinischen Bibel vorfand, tatsächlich ab, weil er sie nicht für eine Schrift des Apostels und Jüngers Jesu hielt, obwohl es drüber steht in der Bibel. Und er begründet dies nicht mit historischen Argumenten, sondern weil dieser Brief seiner Meinung nach der Theologie des Paulus und damit der Rechtfertigungslehre, die Luther selber vertrat, widerspricht. Es sind also inhaltliche Kriterien, die für Luther den Ausschlag geben, nicht formale Kriterien wie der Ursprung von einem Apostel. So kann er in seiner Vorrede zum Jakobusbrief sogar sagen, was Christus nicht lehrt, das ist nicht apostolisch. Wenn es gleich Petrus oder Paulus lehrt. Wenn es aber Christus predigt, dann ist es apostolisch, wenn es Judas, Hannas, Pilatus oder Herodes täte. Also für Luther kommt es auf den Inhalt nicht auf die Autoren an.

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Interessanterweise hat tatsächlich Luther auch andere Briefe abgelehnt. Das Brief hat er abgelehnt und will ihn nicht unter die Hauptbücher des Neuen Testaments rechnen. Auch die Apokalypse hat Luther zuerst deutlich als nichtkanonisch abgelehnt. Später will er jedem die Freiheit lassen, mit diesem Brief und mit dieser Schrift umzugehen, wie er will. Er sagt nämlich, endlich über die Apokalypse, endlich meint er von jedermann, was ihm sein Geist eingibt. Mein Geist kann sich nicht in das Buch schicken. Und das ist mir Ursache genug, dass ich sein nicht hochachte, dass drinnen Christus weder gelehrt noch bekannt wird. Später ist er etwas gnädiger mit der Apokalypse gewesen, bleibt aber letztlich bei seiner ablehnenden Haltung. Für Luther ist der Kanon also keineswegs eine rein formale Autorität. Er kann ohne von der Vorstellung der Heiligen Schrift als der alleinigen Richtschnur für

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den christlichen Glauben abzugehen, bestimmte Bücher der Bibel aus theologischen Gründen ablehnen und zurückstellen, andere dagegen als Ausdruck des Evangeliums Jesu Christi in den Vordergrund stellen und besonders hochachten. Das Kriterium für die Kanonizität biblischer Bücher ist für Luther also nicht, dass sie in einem Buch namens Heiliger Schrift zwischen zwei Buchdeckeln vereint sind, dass die heilige christliche Kirche diesen Kanon einmal festgeschrieben hat oder wie auch immer von außen die Autorität festgelegt worden ist, sondern die Tatsache, dass sie Christus treiben, dass sie das befreiende Evangelium verkünden und dadurch den Geist der Lesenden einnehmen und überzeugen. Luther legt dabei ganz großen Wert auf die subjektive Seite dieser Autorität, dass sich unser Geist in eine Schrift schicken kann, wie er sagt. Daraus und aus der Geschichte des Kanons können wir heute lernen, dass es bei der Bibel eben

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nicht darauf ankommt, dass alle Bücher in ihr zu aller Zeit und immer das Wort für Wort geglaubte Wort Gottes sein müssen, sondern dass die Bibel gerade ihrer Vielstimmigkeit und auf vielfältige Weise zu uns zu verschiedenen Zeiten verschieden sprechen kann. Nicht jeder oder jeder findet zu jeder Zeit Zugang oder Freude am Lesen der oft schwerigen Briefe des Paulus. Er oder sie findet dann vielleicht Trost und Hoffnung bei der Lektüre eines der Evangelien. Manchmal ist einem darmachtig Simons zu lesen, manchmal findet man in einem sehr dunklen und schweren Wort der Apokalypse Trost. Aber das Wichtigste dabei bleibt immer, dass man diesen vielstimmigen Chor der Propheten, Aposteln und Apostelstühler und deren Nachfolger immer von der Mitte der Heiligen Schrift

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herliest. Vom Evangelium her, will Luther sagen, durch das Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

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Vom Gelegenheitsschreiben zur Heiligen Schrift – Wie das Neue Testament kanonisch wurde | 11.11.1

Worthaus Pop-Up – Tübingen: 27. Juli 2021 von Prof. Dr. Holger Strutwolf

Der Heilige Geist hat vor langer Zeit Aposteln und Apostelschülern die Schriften des Neuen Testaments in den Kopf gepflanzt, sie haben gehorsam alles aufgeschrieben, und da steht es nun, unverrückbar, für immer. Und wir können es lesen.
Schön, wenn es so einfach wäre!
Jahrhundertelang hat die Kirche darauf bestanden: Das steht da so und gezweifelt wird nicht.
Wie Eltern, deren einzige Begründung ist: »Weil ich es saaage!«
Damit macht man sich angreifbar, wird nicht ernst genommen. Damit wird auch die Autorität der Bibel angreifbar gemacht, sagt der evangelische Kirchenhistoriker Holger Strutwolf. Er beschreibt, wie der Glaube an die sogenannte Verbalinspiration in der Aufklärung ihr größtes Disaster erlebte und wie die Verbreitung der Bibel nach der Erfindung des Buchdrucks diesen Glauben weiter erschütterte. Wie ist die Bibel nun wirklich entstanden, wenn sie nicht vom Himmel gefallen ist? Wie wurde aus Briefen und Handschriften die Heilige Schrift, wie wir sie heute kennen? Woran erkennt man, welche Schriften wann und warum geschrieben wurden? Wann wurden sie »heilig«? Strutwolf führt mit diesem Vortrag weiter durch die Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments und klärt auf, was der Kanon den Gläubigen bedeuten kann, obwohl er von Menschen geschaffen wurde.