Video
Audio Als MP3 herunterladen
Transkript Als PDF herunterladen

00:00
Ich möchte euch heute von einem Mann erzählen, den ich selber erst im Erwachsenenalter zum ersten Mal den Namen gehört habe. Und dann habe ich mich mit diesem Mann immer wieder beschäftigt. Der Mann heißt Janusz Korczak. Er ist ein Jude, ein polnischer Jude, der in Warschau gelebt hat. Und es ist mir ein tiefes Bedürfnis, dass dieser Mann nicht vergessen wird. Und ich möchte durch diese Erzählung, die ich selber geschrieben habe, mit dazu beitragen, dass dieser Mann nicht in Vergessenheit gerät.

01:07
Janusz Korczak wurde im Jahr 1879 in Warschau geboren, der Hauptstadt von Polen. Seine Eltern waren Juden. Aber das war ihm als Kind nicht wichtig. Er wollte ein Kind sein wie die anderen polnischen Kinder in seiner Straße und in der Schule. Der Vater von Janusz war ein Rechtsanwalt, ein geachteter und wohlhabender Mann. Und wie es bei den wohlhabenden Leuten damals so üblich war, hatten die Eltern von Janusz ein eigenes Haus, eine Köchin, ein Kindermädchen und einen Salon. So nannte man ein Wohnzimmer, in dem kostbare Möbel stehen, Bilder, Bücher und Gardinen.

02:05
Obwohl Janusz sehr behütet aufgewachsen ist, war er kein besonders glückliches Kind. Er war für sein Alter ziemlich klein. In der Schule wurde er oft gehänselt und den Raufereien wich er aus, weil er meistens der Verlierer war. Wenn er von der Schule nach Hause kam, dann beneidete er oft die Straßenkinder, weil mit ihnen durfte er nicht spielen. Die Eltern sagten zu ihm, auf der Straße machst du dich bloß schmutzig, die Straßenkinder sind schlecht erzogen, sie haben Läuse und sie bringen dir hässliche Wörter bei. Also lies lieber etwas im Salon und lerne für die Schule. Da dachte Janusz manchmal, die Straßenkinder haben es besser wie die Salonkinder, sie haben mehr vom Leben.

03:07
Als Janusz 16 Jahre alt war, da geschah etwas, was sein Leben völlig verändert hat. Sein Vater benahm sich immer merkwürdiger. Die Ärzte sagten, er ist geisteskrank. Deshalb konnte er nicht mehr zu Hause wohnen bleiben. Er kam in ein Nervenkrankenhaus und dort lebte er noch einige Monate und dann starb er. Mit dem Tod des Vaters begann in der Familie die Armut. Das Geld, das der Vater jeden Monat nach Hause brachte, fehlte jetzt. Es gab damals in Polen keine Krankenversicherung und auch keine Lebensversicherung. Die Mutter hatte keinen Beruf erlernt, um wenigstens ein bisschen Einkommen zu haben, vermietete sie einen Teil des Hauses.

04:03
Sie entließ die Köchin und das Kindermädchen, weil sie konnte ihnen keinen Lohn mehr zahlen. Sie brachte nach und nach ihren gesamten Schmuck zum Pfandleiher, dann auch die Bilder und schließlich auch die Kleider vom Vater. Janusz und seine Schwester gaben Nachhilfe, um auch ein bisschen Geld zu verdienen. Aber das reichte alles nicht aus. Es kamen die Rechnungen der Ärzte, des Krankenhauses, der Beerdigung und auch Janusz selber war oft krank. Die Familie musste ihr schönes, großes Haus verkaufen und in eine kleine, enge Mietwohnung umziehen. Für Janusz begann mit dem Tod des Vaters aber nicht nur die Armut, sondern auch die Angst.

05:01
Manchmal lag er im Bett und dachte, ich bin der Sohn eines Wahnsinnigen. Vielleicht bricht der Wahnsinn bei mir auch später aus und ich übertrage ihn auf meine Kinder. Diese Angst konnte er lange Zeit nicht loswerden. Manchmal dachte er sogar, sich umzubringen. Aber das wollte er dann doch nicht tun. Nach diesem Umzug in die Mietwohnung versuchte Janusz zusätzlich zu seinem Nachhilfeunterricht durch Gelegenheitsarbeiten Geld zu verdienen. Er ging mehrmals in der Woche in ein Annosenbüro. Dort konnte man nachfragen, ob wohlhabende Bürger von Warschau irgendwelche Hilfsdienste anboten gegen Bezahlung. Dort sah er auch zum ersten Mal, wie viele Mädchen und Jungen auf dem Annosenbüro nach Arbeit fragten.

06:03
Meistens vergeblich, denn es gab gar nicht so viele wohlhabende Bürger, die solche Dinge angeboten haben. Janusz lernte da auch das Elend dieser Kinder näher kennen. Die meisten waren ärmer als er. Viele waren halbweise wie er selber und viele auch vollweise. Mit zehn oder zwölf oder vierzehn Jahren mussten sie sich schon ohne Hilfe der Erwachsenen durchs Leben schlagen. Sie lebten dann oft unter Brücken und in Hausfluren. Und das war für Korczak schon eine tiefgreifende Erfahrung. Er erinnerte sich manchmal daran, wie er früher gedacht hat, die Straßenkinder haben es besser als die Salonkinder, die haben mehr vom Leben. So dumm war er damals gewesen, so dumm, wie verwöhnte Salonkinder halt sind.

07:07
Obwohl Janusz nur noch wenig Zeit für die Schule hatte, hielt er auf dem Gymnasium die ganze Schulzeit durch und bestand mit 19 Jahren das Abitur. Er wollte Arzt werden und zwar Kinderarzt, weil er konnte die Kinder auf dem Anosenbüro nicht mehr vergessen. Er wollte ihnen helfen. Er studierte sechs Jahre an der Universität in Warschau Medizin mit Schwerpunkt Kindermedizin von 1898 bis 1904. Und das Geld für das Studium musste er sich selber durch Gelegenheitsarbeit verdienen. In den Jahren des Medizinstudiums ging Janusz Korczak abends immer wieder in die Stadtviertel von Warschau, wo die ärmsten Leute wohnen.

08:03
Er wollte genauer wissen, wie diese Leute und ihre Kinder leben. Zu den Medizinstudenten sagte er immer wieder, wir wissen viel zu wenig über die Kinder, die wir behandeln. Damals zogen viele Menschen vom Land in die Hauptstadt Warschau. Sie hatten gehört, dass in Warschau ständig neue Fabriken gebaut werden. Es gäbe dort Arbeit und guten Lohn. Aber die wenigsten der neu angekommenen Leute in Warschau fanden eine feste Arbeit. Die meisten wohnten dann enttäuscht und verbittert in den armen Vierteln. Sie versuchten sich durchzuschlagen mit Gelegenheitsarbeit oder Tagelöhner. Viele dieser Väter versuchten im Alkohol ihre Sorgen loszuwerden und wenn sie betrunken waren, gab es viel Streit und sie schlugen ihre Kinder.

09:07
In Polen gab es damals noch keine allgemeine Schulpflicht. Die Kinder der Unterschicht der armen Leute waren meistens nur kürzere Zeit auf der Schule und oft überhaupt nicht. Viele konnten weder lesen noch schreiben. Korczak sah aber auch in die Hinterhöfe und er sah die feuchten Kellerwohnungen. Abends beobachtete er, wie die Tagelöhner von der Arbeit nach Hause kamen, im Winter mit ihren billigen Wattejacken. Er sah auch, dass sie unter den Jacken in Tücher versteckt gestohlenes Brennholz mitbrachten. In diesen armen Vierteln ging man eigentlich so gut wie nie zum Arzt. Es war einfach zu teuer oder ein Krankenhausaufenthalt. Man ging oft zu spät zum Arzt und die Menschen in diesen Vierteln starben auch früher als die Menschen in den wohlhabenden Vierteln.

10:08
Das war ja auch der Hauptgrund, warum es so viele Halbweise und Vollweise gab. Wenn die Vollweisen Glück hatten, dann hatten sie Verwandte in Warschau oder konnten irgendwie vielleicht unterkommen, obwohl die Verwandten selber zu wenig Platz hatten. Aber die meisten Vollweisen hatten kein Glück. Sie lebten dann mit ihresgleich mit ihren Geschwistern unter Brücken oder in Hausfluren. Sie spielten in Hinterhöfen, in denen nur wenige Stunden die Sonne schien. Sie versuchten sich durch Lügen, Stehlen und Betteln durchs Leben zu schlagen. Zusammen mit Freunden baute Korczak in einem dieser armen Viertel eine kleine Privatschule auf, machte sie auf. Da gaben sie den Kindern einige Stunden in der Woche Unterricht, brachten ihnen Lesen und Schreiben bei.

11:07
Und sie gründeten auch eine kleine Ausleihebibliothek. Da lieten sie den Kindern kostenlos Kinderbücher aus, die sie vorher bei den Medizinstudenten gesammelt hatten. Korczak ging auch oft zu den Kindern unter den Brücken. Er brachte ihnen Medikamente mit oder Schokolade. Er spielte mit ihnen und erzählte ihnen Geschichten. In der Weihnachtszeit verkleidete er sich als Weihnachtsmann und verteilte Spielzeug. Und bei diesen Unternehmungen spürte Korczak, wie viel Freude es ihm machte, sich mit Kindern zu beschäftigen. Es wurde ihm klar, nicht nur er gab den Kindern etwas, die Kinder gaben ihm genauso viel. Wenn er sich den Kindern widmete, vergaß er seine eigenen Sorgen, sogar die Angst vor dem Wahnsinn des Vaters.

12:07
Korczak spürte, die Kinder gaben ihm Freude, Widerstandskraft und einen ganz neuen Tatendrang. Über das, was er in diesen armen Vierteln erlebt hatte, konnte und wollte Korczak nicht schweigen. Er begann in der Waschauer Zeitung Zeitungsartikel zu schreiben. Und nach einigen Zeitungsartikeln entschloss er sich sogar, ein Buch zu schreiben. Er war ein Student mit 21 Jahren und er schrieb ein Buch mit dem Titel Kinder der Straße. Es wurde ein beachtlicher Erfolg in Waschau. 1904 wurde er mit seinem Medizinstudium fertig und er wurde Kinderarzt in einem Kinderkrankenhaus.

13:02
Er hatte jetzt ein gutes Einkommen, sicheres Einkommen. Er hatte eine Dienstwohnung. Es ging ihm richtig gut. Und obwohl er im besten Alter war, entschloss er sich nicht zu heiraten. Die Angst, dass die Geisteskrankheit seines Vaters bei ihm ausbrechen könnte und er dann auch Frauen, Kinder in die Armut stürzen lässt, war bei ihm zu groß. Dafür entschloss er sich, ein zweites Buch zu schreiben. Dieses Buch hieß Das Salonkind. Und in diesem Buch schrieb er, wie verwöhnte Salonkinder und ihre Eltern so leben und wie wenig sie die Welt der anderen Menschen kennen. Dieses Buch wurde ein noch viel größerer Erfolg. Korczak wurde in ganz Waschau bekannt und berühmt. Und der Inhalt dieses Buches rüttelte das Gewissen vieler wohlhabender Bürger auf.

14:03
Obwohl er ja Arzt in einem Kinderkrankenhaus war, wurde er jetzt oft von reichen Bürgern privat in ihr in das Haus eingeladen, um die Kinder dort zu behandeln. Aber eigentlich wollten sie nur diesen Arzt kennenlernen, der solche mutigen Bücher schreibt. Und diese Behandlung ließ Korczak sich sehr teuer bezahlen und dafür behandelte er die armen Kinder umsonst. Korczak war jetzt sieben Jahre schon Arzt am Kinderkrankenhaus. Er war 32 Jahre alt und da bekam er eine Einladung von einem Arztkollegen. Der Arztkollege war Jude. Damals hatte Waschau 900.000 Einwohner und von den 900.000 war jeder dritte 300.000 Juden. Also war ein extrem hoher Anteil. In Polen lebten sehr, sehr viele Juden.

15:05
Dieser Arztkollege lud ihn zu einem Fest ein in einem jüdischen Waisenhaus. Korczak ist dorthin gegangen. Die Waisenhäuser und Kinderheime bekamen damals noch keine staatlichen Gelder. Die lebten ausschließlich von Spenden und Korczak merkte gleich, die kriegen aber nicht arg viel Spenden. Das Haus war in einem schlechten Zustand. Er fühlte sich aber unter den Erzieherinnen und Erziehern sofort sehr wohl. Und er versprach immer wieder vorbeizuschauen und mitzuhelfen. Und eines Tages sagten die Mitarbeiter dieses Waisenhauses zu Korczak, Dr. Korczak, wir wollen Ihnen von unserem Plan erzählen. Wir haben den Plan, ein viel schöneres, größeres Waisenhaus aufzubauen. Und wir brauchen dazu natürlich sehr viele Spenden. Unser Haus ist auf Dauer einfach nicht gut genug.

16:04
Und jetzt haben wir da mal eine Frage an Sie. Könnten Sie sich vorstellen, der Leiter dieses Waisenhauses zu werden? Sie sind in ganz Warschau bekannt und berühmt. Wenn die Leute hören, dass Sie der Leiter dieses Waisenhauses werden, da werden die Spendengelder fließen. Und wir brauchen viel Geld. Und außerdem sind Sie ja Arzt. Sie können die Kinder medizinisch betreuen und haben sehr viel Erfahrung. Das war die größte Entscheidung, vor der Korczak in seinem Leben gestellt wurde. Er hat tagelang nachgedacht und die Entscheidung fiel ihm schwer. Er hatte ein sicheres, gutes Einkommen. Er war in ganz Warschau bekannt. Er hätte jetzt bald eine eigene Kinderarztpraxis aufmachen können und als Kinderarzt Karriere machen können. Und so etwas gibt man nicht leicht auf. Und wenn ich Leiter vom Waisenhaus werde, dann bin ich von Spenden fremder Leute abhängig.

17:06
Und Leiter eines Waisenhauses kann man ja nicht für ein paar Monate werden und dann wieder gehen, weil es einem nicht gefällt. Das geht ja auch nicht. Dann aber dachte Korczak, wenn ich im Kinderkrankenhaus bleibe oder eine Kinderarztpraxis aufmache, dann habe ich die Kinder immer nur kurze Zeit. Und dann gehen sie wieder zurück in ihre alte, schlechte Welt und werden wieder aggressiv und das Ganze wiederholt sich. Aber wenn ich Leiter eines Waisenhauses werde, kann ich mit den Kindern zusammen leben und wir können eine neue, bessere Heimat aufbauen. Und dieser Gedanke gab den Ausschlag. Korczak schrieb in sein Tagebuch, ich habe mich entschlossen, mein Leben der Sache der Kinder zu widmen.

18:01
Im Oktober 1911 wurde endlich das neue Waisenhaus fertig. Es wurde noch viel größer und schöner, als jeder gedacht hatte, weil die Spendengelder flossen sehr reichlich. Es wurde ein dreistöckiges Haus. Es hatte elektrisches Licht, fließend kaltes und warmes Wasser. Es hatte gekachelte Bäder. Es hatte Waschbecken aus Porzellan. Und es war eines der ersten Gebäude in ganz Warschau mit Zentralheizung. Als die Waisenkinder ankamen, die ja nur rattenverseuchte Plumpsklos kannten, gingen sie andächtig durch das Haus und ein Kind sagte, wie ein Haus für wichtige Leute. Es wurde dann sogar etwas später noch ein weiterer Anbau fertig und es wurden nicht 100 Kinder aufgenommen, voll Waisen, sondern 200. Also wesentlich mehr als gedacht.

19:03
Dieses Waisenhaus bekam den Namen Dom Sierroth, polnisch heißt Haus der Waisen. Die Adresse war Koch Alma 92. Das Haus steht heute noch in Warschau und ist heute noch ein Waisenhaus, allerdings nicht jüdische Waisen. Mit den Waisen zogen auch Erzieherinnen und Erzieher ein, die jeweils für eine Kindergruppe zuständig waren. Es zogen auch Frauen ein, die für Küche und Wäsche zuständig waren. Und die wichtigste Mitarbeiterin von Janusz Korczak hieß Stefania Wilczyńska, eine junge Frau, die viel pädagogische Erfahrung hatte im Umgang mit Kindern. Korczak verstand sich mit ihr sehr gut. Sie beiden leiteten gemeinsam das Haus. Man soll nicht gegenüber dem Janusz Korczak die Stefania Wilczyńska aus den Augen verlieren.

20:05
Es war eine Zweierspitze, eine männliche und weibliche Leitung. Vor allem Janusz und Stefania hatten so ziemlich die gleiche Meinung, was eine gute Kindererziehung ist. Da haben sie sich sehr schnell und tief geeinigt. Sie haben zum Beispiel zwölf Regeln formuliert, was eine gute Kindererziehung ist. Im Jahr 1911 in Warschau in Polen. Hören Sie sich mal diese zwölf Regeln in Ruhe an. Erstens, ein Kind ist genauso wichtig wie ein Erwachsener. Zweitens, jedes Kind hat das Recht, so zu sein, wie es ist. Drittens, jedes Kind hat das Recht auf Eigentum, Information und Selbstverteidigung.

21:01
Viertens, jedes Kind hat das Recht auf gleichberechtigte Mitbestimmung. Fünftens, das Zusammenleben in Dom Sirot ist auf der Grundlage der Gerechtigkeit aufgebaut. Gleiche Rechte, gleiche Pflichten. Sechstens, möglichst wenig Zwang und Kontrolle, möglichst viel Freiwilligkeit. Siebtens, die Hausordnung gilt für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Achtens, kein Erwachsener darf ein Kind schlagen. Neuntens, der Erzieher soll dem Kind helfen, sich selbst zu erziehen. Zehntens, kein Kind darf ein anderes Kind bei den Erwachsenen verpetzen. Elftens, jedes Kind soll versuchen, seine guten Eigenschaften zu vergrößern und seine schlechten Eigenschaften zu verkleinern.

22:01
Zwölftens, die Kinder sollen lernen, möglichst viele ihrer Dinge selber zu organisieren und ihre Probleme selber zu lösen. Dankeschön. 1911 in Polen. Also das war sozusagen die Geschäftsgrundlage, die Philosophie von Janusz und Stefania. Aber die war leichter gesagt als getan. Janusz Korczak hat später einmal gesagt, das erste Jahr in Dom Sirot war das Schlimmste seines Lebens. 200 Kinder, die gewohnt waren, Lügen stehlen, betteln, Messerstechereien, Schlägereien, 200 dieser Sorte. Also Stefania und Janusz haben bald gemerkt, wir müssen irgendwelche Ideen entwickeln, wie wir diese Regeln in die Tat, in die Praxis umsetzen können.

23:02
Und ich möchte Ihnen mal in aller Kürze fünf Ideen mal skizzieren, die Janusz und sicher auch Stefania, das greift immer ineinander, der, der halt berühmter ist, weil er die Bücher geschrieben hat, war der Janusz. Aber das war schon ein Paar, also sie waren kein Paar, sie waren kein Liebespaar oder so, aber sie haben sehr miteinander kooperiert. Also eine erste Idee, das waren Putz- und Arbeitsdienste. Es gab in Dom Sirot keine Putzfrauen. Zwei Schaufeln, so überkreuzt, war das Symbol am Eingang von Dom Sirot. Putzen und Arbeiten gehört zur Würde des Menschen, ist eine sehr wichtige Tätigkeit. Körperliches und geistiges ist gleichberechtigt. Also es wurden an den Nachmittagen Putz- und Arbeitsdienste organisiert, Wäsche zusammenlegen, säubern, Toiletten putzen.

24:03
Die ganze Säuberungs- und Putzaktion im Haus, im Garten lag bei den Kindern und bei den Erwachsenen. Also alle haben gleicherweise am Putz- und Arbeitsdienst teilgenommen. Die unbeliebtesten Arbeiten wurden gerecht verteilt. Der Arbeitsdienst oder Putzdienst galt immer für eine Woche, niemand sollte körperlich überfordert sein. Korczak hat sich auch im Gartenarbeit im Haus, seine Lieblingstätigkeit war Mädchen, die Haare schneiden. Hat er sich immer wieder beworben, wurde aber nicht immer genommen. Aber es war sein Ding. Gut, also Putz- und Arbeitsdienst an den Nachmittagsstunden. Wir haben die beiden die Idee entwickelt, wir gründen eine Zeitung. Eine Zeitung verbindet uns alle untereinander. Die Erzieher, die Kinder, die Frauen in der Küche und in der Wäsche.

25:04
Die Zeitung ist wie ein Band um uns. Aber eine Zeitung verbindet auch Woche und Woche und Woche. Wir würden alles aufschreiben, wir würden alles viel schneller vergessen. Und eine Zeitung ist ein Forum, eine Gelegenheit für neue Ideen, die man vorstellen und diskutieren kann. Also es wurde ein Redaktionsteam geschaffen, wo Kinder von 7 bis 14, übrigens das Alter der Kinder war von 7 bis 14 in Dom Sirot. Und am Anfang war der Janusz noch bei den Redaktionssitzungen dabei, aber nach einiger Zeit hat er es sehr begabten Jugendlichen, 13-, 14-Jährigen überlassen. Die Warschauer Zeitung stiftete eine Druckmaschine. Und dann wurde auch für ganz Warschau eine Kinderzeitung gegründet, die kleine Hundschau, die der Tageszeitung beigelegt war. Die Auflage stieg enorm. Die Redakteure der kleinen Hundschau, also Dom Sirot,

26:03
die haben Aufsatzwettbewerbe für ganz Polen, Gedichtwettbewerbe. Die Schreber schrieben Kinder für Kinder und Jugendliche für Jugendliche. Manchmal bekamen das Redaktionsteam wöchentlich 200 bis 300 Briefe von Kindern und Jugendlichen. Die wollten auch mitarbeiten oder sie erzählten, was geschehen ist, damit es in der kleinen Hundschau veröffentlicht wird. Also die Zeitung wurde zu einem enormen Erfolg. Aber der Hauptsinn war eben eine Zeitung innerhalb von Dom Sirot. Das andere kam zusätzlich als öffentlich für die ganze Region Warschau dazu. Es wurden auch Sportveranstaltungen über die kleine Hundschau für Kinder und Jugendliche organisiert. Dann hat Korczak gemerkt, dass Kinder gerne wetten. Er hat sie oft so ein bisschen beobachtet, wie sie sagen, was wetten wir. Also hat Korczak in seinem Büro einmal in der Woche ein Wettbüro gemacht.

27:04
Sein Büro war jetzt ein Wettbüro und man konnte mit Korczak Wetten abschließen. Und da war meistens eine Schlange von Kindern vor seinem Büro, die alle mit Korczak eine Wette abschließen mussten. Die Wette war geheim. Es wusste nur das Kind oder Korczak, niemand sonst. Ein Kind konnte auch zu Korczak sagen, ich möchte mit dir eine Wette abschließen, aber ich sage nicht über was. Das hat Korczak auch über sie und dann hat er in sein Wettbuch geschrieben, Anna hat mit mir eine Wette abgeschlossen über X. Und nach einer Woche konnte man kommen und sagen, ob man die Wette gewonnen hat. Und da brauchte die Anna gar nicht, aber wenn sie sagt ja, hat er ihr es geglaubt. Also der Sinn dieser Wette war, die schlechten Eigenschaften zu verkleinern und die guten Eigenschaften, das ist ja die Regel 11, zu vergrößern. Und mit der Wette hat man einen ganz anderen Ansporn. Und manchmal haben die Kinder idealistisch gewettet,

28:04
da hat Korczak mit ihnen verhandelt. Also ein Raudi hat gesagt, Janusz, ich wette mit dir, dass ich mich eine Woche nicht mehr prügel. Er sagt, Janusz, das schaffst du nicht. Du prügelst dich doch jeden Tag, drei bis fünf Mal. Also dreimal in der Woche darfst du dich schon noch prügeln. Also hat er aufgeschrieben, ich wette mit Korczak. Also es blieb immer ein Geheimnis zwischen diesen beiden, dass ich mich in der nächsten Woche nicht öfters als dreimal prügel. Oder Korczak sagt zu einem, einmal pro Tag darfst du schon noch fluchen. Und dann mit der Zeit wirst du das auch abschaffen. Also es war das Wettbüro. Dann hat Korczak zum Beispiel ein Kameradschaftsgericht gegründet. Da waren neun Richter, alles Kinder vom Alter von sieben bis vierzehn.

29:01
Die wurden aber gewählt von den Kindern. Also die brauchten schon einen guten Ruf. Und jede Woche wieder neue Richter. Und wenn es einen Streit gab oder einen bösen Vorfall oder eine Gemeinheit, konnte jedes Kind in Dom Sierroth auf eine Tafel, jeder wusste, wo die Tafel ist, seinen Namen schreiben und den Konflikt und den Streitfall oder die Verletzung, die er erlitten hat. Und der Angeklagte wurde namentlich genannt. Und dann kam es jede Woche einmal zu diesen Gerichtsverhandlungen. Das Gericht hatte allgemein die Aufgabe, Kinder vor den Erwachsenen zu schützen, schwache und ängstliche Kinder vor den Stalken zu schützen, fleißige Kinder vor den Faulen zu schützen und gerecht zu urteilen. Und wenn es geht, milde zu urteilen und lieber öfters verzeihen. Das war so die Vorgabe. Korczak selber ist sechsmal verurteilt worden.

30:03
Einmal, weil er einen Richter beleidigt hat. Einmal, weil er, wie sagt man, an der Treppe die Treppengeländer runtergerutscht war. Das war verboten in der Hausordnung. Wurde er sofort angezeigt vor Gericht. Einmal, weil er ein Kind in die Ecke gestellt hat. Und einmal, weil er ein Kind beleidigt hat. Und Korczak hat jedes Mal das Urteil angenommen. Und die Wirkung war unglaublich. Allein dadurch, dass die Kinder wussten, jeder, der beschämt oder verletzt oder diskriminiert oder beklaut wird, kann das öffentlich machen unter Namensnennung. Und dann wird verhandelt. Und das machte die Kinder kolossal vorsichtig. Also die Wirkung war unglaublich. Aber es konnte auch jemand, der sich zu Unrecht verurteilt fühlte, sagen, das Gericht war befangen, es hat zu streng geurteilt oder hat gar nicht kapiert, was los war.

31:04
Dann wurde in der nächsten Woche mit anderen Richtern noch einmal verhandelt. Korczak hat auch ein Kinderparlament gegründet. Da durften allerdings nur Kinder gewählt werden, die längere Zeit schon in Domsierod waren und sich bewährt haben und einen guten Ruf haben. Und die ganze Polizeifunktion bis hin zum Ausschluss aus Domsierod. Es wurden auch Kinder aus Domsierod ausgeschlossen, wegen chronischem, schweren, gemeinschaftsschädigendem Verhalten. Aber der Ausschluss wurde durch Kinder entschlossen. Auch im Kinderparlament, da musste man schon ein gewisses Alter haben, also so die obere Hälfte im Alter, längere Zeit in Domsierod schon Erfahrung gesammelt haben und einen anerkannt guten Ruf haben. Das waren die Leute im Kinderparlament. Korczak hat die erste Kinderrepublik der Welt gegründet.

32:02
Gut, also durch diese Kinderrepublik wurde Korczak in ganz Europa bekannt. Eduard Spranger-Tübingen, einer der berühmtesten Pädagogen. Und viele große Pädagogen Europas sind nach Warschau gegangen. Sie haben das kennenlernen wollen. Korczak schrieb auch viele Bücher für Erzieherinnen, für Eltern, für Erwachsene. Ich will mal ein paar nennen. Lest sie bitte, die bringen euch Kilometer weiter. Wie man ein Kind lieben soll oder das Recht des Kindes auf Achtung oder verteidigt die Kinder und andere Bücher. Er hat aber auch Bücher geschrieben für Kinder. Wojtek ist so ein Jugendlicher, der sich durch New York schleppt. Korczak war Jude, er ging hin und wieder in die Synagoge, aber war nicht im orthodox-klassischen Sinn gläubig.

33:05
Also er hat sich selber nicht in diesem klassischen Sinn als gläubig verstanden. Dieser klassische Sinn hat ihn auch nicht sehr beeindruckt. Er schrieb zum Beispiel ein Gebetsbuch, das heißt, lest es mal, ist alles heute auch im Handel erhältlich, Gebete für Menschen, die nicht beten. Da merkt man schon, dass der Mann nicht ganz auf der Linie ist. Ja, und er schrieb vor allem, das berühmteste seiner Kinderbücher ist König Hänzchen. Müsst ihr lesen und eure Kinder sollen es lesen, König Hänzchen. Der Vater von König Hänzchen starb früh und dann wurde König Hänzchen als Kind König und hat dann als Kind ein Land regiert und es ging diesem Land gut. Das war das beliebteste Kinderbuch auch in Deutschland, es ist in viele Sprachen übersetzt.

34:02
Auch in der Hitlerzeit, die wussten nicht, dass Janusz Korczak Jude war. Und selbst in Deutschland war König Hänzchen das beliebteste Kinderbuch in den 20er, 30er Jahren. Das war so beliebt, dass Korczak eine Fortsetzung schreiben musste und dann schrieb er auch noch mal sehr gut, obwohl König Hänzchen selber ist einfach der Klassiker, schrieb er König Hänzchen auf einer Insel, auf einer einsamen Insel. Also Korczak schrieb auch viele Bücher, sowohl an Erwachsene als auch an Kinder. Die wurden von den Pädagogen Europas gelesen und die sind dann nach Warschau, wie kann ein Mann so eine Kinderrepublik aufbauen, 200 Kinder dieser Herkunft und dann noch so viele Bücher schreiben. Die wollten den Mann mal kennenlernen. Korczak hat auch viele Jahre, ich glaube 15, 20 Jahre war er der Gute-Nacht-Onkel im Rundfunk in Warschau. Er hieß Plaudereien mit einem alten Doktor, also immer Plaudereien mit Kindern.

35:02
Gut, jetzt möchte ich euch das Ende von Dom Sierroth und Stefania Wilczynska und Janusz Korczak erzählen. Im Jahr 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Die deutsche Armee eroberte Polen. Überall in Warschau waren jetzt deutsche Soldaten. Und im November 1940 gab der deutsche Stadtkommandant von Warschau im Auftrag von Hitler folgenden Befehl. Alle Juden in Warschau und Umgebung müssen in das Warschauer Ghetto umgesiedelt werden, umziehen. Alle Polen, die hier leben, müssen das Viertel verlassen. Das Viertel war eines der schlechtesten Viertel von Warschau, keine Grünanlagen, keine Parks. Auch die weisen Kinder in Dom Sierroth mussten in das Warschauer Ghetto umziehen.

36:09
Und das Haus dort war viel schlechter und enger als Dom Sierroth. Auch in den anderen Großstädten von Polen wurden solche Ghettos eingerichtet. Die Juden, die dorthin umgesiedelt wurden, durften nur das mitnehmen, was sie selber tragen konnten, oder mit einem Handkarren oder auch Pferdekarren, wenn man ein Pferd hatte, konnte das mitnehmen. Aber alle Häuser und Wohnungen und Fabriken und Maschinen und Möbel und so weiter mussten sie den Deutschen überlassen. Im Ghetto dauert es oft wochenlang, bis man sich einigen konnte, wer wo wohnt. Im Warschauer Ghetto wohnten bis zu einer halben Million Juden. Das waren zehnmal mehr, als vorher Polen dort gewohnt haben.

37:01
In einem einzigen Raum lebten durchschnittlich zehn Personen oder mehr. In einem normalen dreistöckigen Haus lebten 300 bis 400 Menschen. Also es herrschte eine unvorstellbare Enge. Und es gab zwar einige Fabriken im Warschauer Ghetto und einige Büros und Verwaltungseinrichtungen, soziale Einrichtungen, aber viel zu wenig. Die meisten Leute waren arbeitslos. Und weil alles viel zu knapp war, da fehlte es sehr schnell an allem Wichtigen, an Lebensmitteln, an Medikamenten, an Heizmaterial im Winter. Die Winter in Warschau sind härter als bei uns. Das Warschauer Ghetto war dicht abgeriegelt von der Außenwelt. Außerdem wurde eine große Mauer drumherum erbaut. Es war bei Todesstrafe verboten, ohne Genehmigung das Ghetto zu betreten oder zu verlassen.

38:01
Und weil alles so knapp war, stiegen die Preise enorm, immer mehr. Ein Brot nach heutiger Kaufkraft über 100 Euro, ein Leibbrot. Ein Kilo Fleisch, drei, vier, 500 Euro. Weil es viel zu wenig Toiletten- und Waschmöglichkeiten gab, breiteten sich die ansteckenden Krankheiten aus, Typhus, Tuberkulose. Und schon im ersten Winter starben Tausende von Bewohnern. Die einzige Möglichkeit, wie man Nachschub in das Ghetto bringen konnte, war der Schmuckel. Es wurde geschmuggelt in unterirdischen Abwasserkanälen, in Kellerräumen oder durch kleine versteckte Löcher an der Wand, an der Ghetto-Mauerwand oder in Sergen. Bei diesen Schmuckelaktionen hatten die Kinder eine wichtige Funktion. Man konnte sie leichter über Mauern heben und sie passten durch kleinere Löcher durch.

39:05
Aber wenn ein Kind erwischt wurde, wurde es sofort erschossen. Auch Kinder vom Domsierrott haben sich an diesem Schmuckel beteiligt, obwohl Korczak es ihnen verboten hatte. Ein Kind wurde erwischt und sofort erschossen. Korczak und Stefania achteten darauf, dass der ganze Tagesablauf im Waschauer Ghetto möglichst gleich blieb wie immer schon. Sie wollten dadurch die Kinder stabilisieren, ein gewissen Sicherheit zu spüren geben und auch ablenken von dem Elend draußen. Die Aufstehzeit blieb die gleiche, dann kam das Morgengebet, dann kam die Schule und am Nachmittag diese Putz- und Arbeitsdienste. Auch die Zeitung blieb erhalten und das Kameradschaftsgericht blieb weiter tätig. Korczak hat sehr schnell gemerkt, dass er irgendein zu kräftiges Symbol braucht.

40:07
Er ließ eine Fahne herstellen und zwar eine grüne Fahne, so wie König Hänzchen eine hatte. Und in dieser grünen Fahne war in die Mitte eine Kastanienblüte gestickt, Zeichen des Frühlings und drumherum Sterne. Und diese Fahne sollte den Kindern ein Hoffnungssymbol sein in härtester Zeit. Korczak hatte im Waschauer Ghetto kein eigenes Büro mehr und kein eigenes Schlafzimmer. Er schlief im Krankenzimmer. Die Krankenkinder brauchten ihn jetzt am dringendsten. Und tagsüber machte er seine Streifzüge durch das Ghetto. Er betrat die Kaufläden und die Werkstätten und die Leute, die immer noch genug hatten.

41:01
Das gibt es auch noch im Waschauer Ghetto. Gab es noch Leute, die genug hatten? Und den rückte er aber gewaltig auf die Pelle und er schimpfte und tobte und ging nicht, bis er das hatte, was er wollte. Oft wurde er regelrecht rausgeschmissen. Dann hat er auf der Straße laut geschrien und getobt. Und dann kam er abends heim mit etwas Geld oder einem Sack Kartoffel oder Mehl oder Kohle oder einem Topf Sauerkraut oder ein paar Kinderschuhen oder einem Kindermantel. Und manchmal sah er auch auf seinen Streifzügen Kinder, deren Eltern vor einigen Tagen oder Wochen gestorben waren. Diese Kinder brachte er mit nach Domsierot. Sie wurden erst mal gebadet und bekamen etwas zu essen. Selbst in dieser bitteren Zeit verlor Koczak nicht seinen Humor. Das zeigte sich, als in Domsierot, jetzt im Waschauer Ghetto, eine Fliegenplage ausbrach.

42:05
Die Fliegen verbreiteten sich dermaßen, dass die Gefahr der Krankheitsübertragung bestand. Vor allem in den Toiletten wimmelte es unglaublich von Fliegen. Und da sahen die Kinder eines Tages auf den Toiletten ein Plakat. Und da stand groß drauf Toilettengebührenordnung. Erstens ein kleines Geschäft kostet fünf Fliegen. Ein großes Geschäft zweiter Klasse, Kübelhocker mit ausgesägten Loch, kostet zehn Fliegen. Und ein großes Geschäft erster Klasse mit Sitz kostet 15 Fliegen. Und unglaublich, alle Kinder zusammen bändigten und beseitigten die Fliegenplage. Aber die Zeiten wurden immer schlimmer. Hitler und seine Helfershelfer hatten ja gedacht, die Menschen im Ghetto werden sicher bald sterben.

43:02
Aber die Rechnung ging nicht auf. Und deswegen beschlossen Hitler und seine Handlanger ein Vernichtungsurteil. Sie wollten alle Juden vernichten. Sie beschlossen, Vernichtungslager zu bauen, in denen die Juden durch giftiges Gas getötet werden sollen. Auch ganz in der Nähe von Warschau wurde so ein Vernichtungslager gebaut und es hieß Treblinka. Am 22. Juli gab der deutsche Stadtkommandant im Auftrag von Hitler Folgendes bekannt. Ab heute werden jeden Tag 6.000 Bewohner des Ghettos vom Ghetto-Bahnhof aus nach Osteuropa umgesiedelt. Jeden Tag 6.000 und so geschah es auch. Straße um Straße kam dran. Die deutschen Soldaten standen morgens um 6 Uhr mit dem Gewehr und trieben die Leute auf die Straße.

44:05
Viele im Ghetto haben durch Nachrichten ihrer Art erfahren, dass das Ziel nicht Osteuropa, sondern Treblinka ist. Und auch Korczak hat es erfahren und wusste es. Er log aber seine Kinder zum ersten Mal an. Er sagte ihnen, wir werden bald eine Reise nach Osteuropa machen. Es passiert euch nichts. Stefania und ich sind ja bei euch. Ja, in den ersten Augusttagen 42 war die Straße dran, wo Domsierot war. Die Kinder wurden am Tag vorher nochmal alle gebadet und sie zogen ihre schönsten Klamotten an, wenn man davon überhaupt reden kann. Und auch Janusz und Stefania haben sich noch einmal zu zweit unter vier Augen zusammengesetzt.

45:05
Das Tagebuch von Korczak ist ja erhalten. Es wurde aus dem Ghetto rausgerettet. Und Korczak holte noch eine Rotweinflasche. Da sagte Stefania, wo hast denn die her? Korczak hat nichts gesagt. Und dann sagte Stefania, weißt du, ich hätte dich so gerne mal geküsst. Da sagt Korczak, du Idiot, warum hast du nicht gemacht? Sie haben sich aber nicht geküsst. Es war der letzte Abend. Am nächsten Morgen um 6 Uhr standen die deutschen Soldaten mit den Gewehren und haben gebrüllt. In 15 Minuten stehen alle Kinder auf der Straße. Wurde aber alles schon gut vorbereitet. In vierer Reihe versammelten sich die Kinder rasch auf der Straße. Korczak ging voran und Stefania Wilczynska machte den Schluss.

46:05
Und in der ersten Reihe trug ein Kind die grüne Fahne. Als die jüdischen Vertreter der Ghettoverwaltung, das waren Juden, die die Verwaltung, die Deutschland sagt, die Juden sollen sich selber da in die Wolle kriegen, also es gab von Deutschen bestellte jüdische Vertreter der Ghettoverwaltung. Als die gesehen haben, dass hier jetzt die weißen Kinder, die 200, es waren nicht mehr ganz so viele, vorbeigehen in geordneten Viererreihen, haben sie beim Stadtkommandanten von Warschau, beim Deutschen, angerufen, haben gesagt, der Mann, der jetzt gerade da vor unserem Fenster vorbeigeht zum Ghetto-Bahnhof, das ist der weltberühmte Dr. Korczak, der das Kinderbuch König Hänzchen geschrieben hat. Und auch der Sohn vom deutschen Stadtkommandanten hat er als Lieblingsbuch König Hänzchen. Da hat der deutsche Stadtkommandant am Ghetto-Bahnhof angerufen und hat gesagt, die Kinder könnt ihr ruhig vergassen,

47:05
aber den Korczak müsst ihr freilassen. Jetzt möchte ich euch das Ende in einem Gedicht vortragen. Dieses Gedicht hat ein Israeli, der selber in Dom Sirot Kind war. Es haben einige wenige überlebt, die sind vorher schon abgehauen. Der hat beim 30-jährigen Todestag 1972 hat Korczak posthum den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten. Und auf dieser Preisverleihung sang ein Israeli auf Hebräisch und Deutsch folgendes Lied. Leute, mit Gitarrenbegleitung, die ich jetzt nicht kann. Ich sing es einfach so. Leute, hört die Geschichte, die in Warschau ist geschehen.

48:05
Janusz Korczak mit den Kindern musste nach Treblinka gehen. Den kleinen, weisen Kindern, die sich feierlich geschmückt und sie trugen eine Fahne, Blum und Sterne aufgestickt. In Treblinka standen Öfen, fragte die Alten, wie es war und die Kinder gingen singend, wussten nichts von der Gefahr. Alle Juden sollen verrecken, Mordbefehl den Hitler gab, weil sie Juden Kinder waren, mussten sie ins Massengrab. Als vors Lagertor sie kamen, ließ man alle Kinder ein. Korczak nahm man an die Seite, bot ihm Rettung ihm allein.

49:12
Doch er blieb bei seinen Kindern in der größten Todesnot, nahm das Kleinste in die Arme, ging mit allen in den Tod. Leute, alt ist die Geschichte, könnte heute sie geschehen, dass der Korczak mit den Kindern singend durch die Straßen ging.

Alles anzeigen
Ausblenden

Janusz Korczak | 7.3.2

Worthaus 7 – Weimar: 30. April 2017 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer

Zu diesem Vortrag bleibt nicht viel zu sagen, außer: anhören. Handy und Tablet abschalten, tief Luft holen und zuhören. Siegfried Zimmer beweist einmal mehr, dass er Geschichten erzählen kann. Wahre Geschichten mit all ihrer Dramatik und Eindringlichkeit. Obwohl diese Geschichte auch ohne einen großen Erzähler dramatisch und eindringlich genug wäre. Es geht um Janusz Korczak. Er war ein polnischer Jude zur Zeit des dritten Reichs. Aber dass er Jude war, tut fast nichts zur Sache. Korczak war so angesehen und berühmt, dass die Nazis ihn laufen lassen wollten, als der Transport Richtung Treblinka abfuhr. Er hätte leben können. Stattdessen blieb er bei »seinen« Kindern. So fuhren mit Korczak am 5. August 1942 etwa 200 jüdischen Waisenkinder frisch gebadet und festlich gekleidet in die Gaskammern.