Video
Audio Als MP3 herunterladen
Transkript Als PDF herunterladen

00:00
Die Exodus-Erzählung, das ist die Erzählung in 2. Mose 1 bis 20, kann man sagen, geht aber noch länger, ist für Israel eine der grundlegenden Erzählungen. Auch die Schöpfungserzählung ist grundlegend, die Väter-Erzählung in Abraham, Isaac, Jakob, Joseph, dann die Exodus-Erzählung ist grundlegend und dann noch die Erzählung, wie das Königtum entstand und wie es kaputtging. Diese vier Erzählungen sind grundlegend, aber in gewisser Hinsicht ist die Exodus-Erzählung die wichtigste, weil in ihr findet das Volk Israel seine Eigenart, seine Identität. Die Schöpfungserzählung ist natürlich auch für alle Menschen grundlegend, die Väter, aber die Exodus-Erzählung mit der Berufung des Mose am Donbussch, durch diese Erzählung hat Israel immer wieder

01:08
aufs Neue herausgefunden, wer sind wir eigentlich, was ist eigentlich das Besondere am Volk Gottes. Das hat sich Israel immer wieder an dieser Erzählung klargemacht, immer wieder aufs Neue. An dieser Erzählung ist jahrhundertelang gearbeitet worden, ihre endgültige Gestalt hat sie im babylonischen Exil gefunden, oder kurze Zeit später. Also durch diese Erzählung lernte Israel, wer bin ich. Und jetzt ist es so, diese Erzählung hat eine eigenartige Wirkungskraft durch die Jahrhunderte. Einer hat mal gesagt, es ist eine immergrüne Erzählung, die grünt immer. Die Afrikaner, die in das christliche Amerika verschleppt worden sind, die afrikanischen Sklaven,

02:04
die die Überfahrt überhaupt überlebt haben, haben in dieser Erzählung Hoffnung und Prost gefunden, in dieser Exodus-Erzählung. Go down Mose und so weiter. Joshua fought the battle of Jericho, das ist alles Exodus-Thema. Aber auch die Südafrikaner haben in dieser Erzählung, aber auch viele feministische Strömungen, viele andere, die sozialgeschichtliche Theologie ist besonders inspiriert worden durch die Exodus-Erzählung. Also was die im Laufe der Jahrhunderte schon menschengestärkt inspiriert zum Aufbruch motiviert hat, das weiß niemand, das weiß nur Gott. Also diese Erzählung hat eine eigentümliche Wirkungskraft. Diese Wirkungskraft hängt auch mit folgendem Umstand zusammen und der ist jetzt für meinen Vortrag entscheidend.

03:04
Im Altertum gibt es noch nicht die klare prinzipielle Trennung zwischen einer kollektiven Erzählebene, sagen wir mal, was ein Volk erlebt oder eben sonst Vorgänge in der Völkerwelt oder in der Urzeit, in der Vorzeit. Das sind alles so kollektive Erzählebenen und der ganz persönlichen Erzählebene. Dieser Unterschied gibt es im Altertum noch nicht so wie wir heute, denn im 19. Jahrhundert wird das Individuum entdeckt. In der modernen Welt gibt es diesen modernen Individualismus. Diesen Individualismus gibt es im Altertum noch nicht. Und deswegen gibt es in den großen Erzählungen des Altertums noch nicht diese Unterscheidung zwischen der kollektiven, äußerlichen, historischen Ebene und der ganz persönlichen Ebene.

04:03
Das fließt in Erzählungen des Altertums viel stärker ineinander, wie es in heutigen Erzählungen der Fall ist. Und bei dieser Exodus-Erzählung ist das in einem besonderen Maße der Fall. Das heißt, in dieser Befreiung Israels, dass Israel seinen Weg durch die Wüste nimmt und dann in das gelobte Land geht, dass es in die Wüste geht, dass es in die Wüste geht, dass es in die Wüste geht, dass es in die Wüste geht, dass es in die Wüste geht. Und deshalb wird dieser lange Weg der Befreiung in das Land der Bestimmung ist so erzählt auf eine geheimnisvolle Weise, dass Israel durch eine Wüstenerfahrung in das verheißene Land geht. Das heißt, der Weg Israels in seine Bestimmung ist so erzählt,

05:01
dass es gleichzeitig der Weg jedes Menschen dieser Welt ist in seine Bestimmung. Und sowas gibt es in der Verflechtung ganz selten. Diese Verflechtung, dass die Volkswertung Israels gleichzeitig deine Identitätsfindung ist, eine solche Verflechtung ist einzigartig. Und man hat herausgefunden, in dieser Verflechtung steckt das Geheimnis, warum die Exodus-Geschichte uns alle immer wieder so berührt. Diese immer grüne Geschichte, denn der Weg Israels in die Freiheit kann dein Weg in die Freiheit sein. Das heißt, die Marksteine, die Stationen, die Israel durchläuft auf der kollektiven Ebene, ist so erzählt, dass es gleichzeitig die grundlegenden Stationen für jeden Menschen sind, heraus aus den Zwängen in das Land deiner Bestimmung.

06:08
Noch ein paar Vorbemerkungen, bevor ich dann versuche, das aufzuzeigen, in der Hoffnung, dass es euch tief berührt. Man hat zum Beispiel herausgefunden, wenn es irgendwie gelingt, durch Dinge, die man nicht in der Hand hat, einen Menschen so anzusprechen, dass er spürt, dass jetzt das Geheimnis seines Lebens berührt wird, muss ein Mensch sofort weinen. Also ihr braucht jetzt nachher nicht weinen, aber falls einer irgendwann mal eine Träne kriegt, könnte es mit diesen Dingen zusammenhängen. Der Weg Israels, den ich also, sagen wir mal an der PH, ich habe immer wieder ein Seminar, Exodus oder auch Einführung ins Alte Testament. Und da behandle ich die Exodus-Erzählung schon politisch, theologisch, auf der Volksebene, auf der kollektiven Ebene.

07:02
Aber man kann auch mal fragen, was bedeutet das für mich persönlich? Also man soll nicht ständig so fragen. Ich mache es eigentlich eher seltener, aber heute will ich es jetzt mal so machen, denn diese Fragehaltung ist auch berechtigt. Also ich interpretiere die Exodus-Erzählung zu 80, 90 Prozent. In 80, 90 Prozent der Fälle interpretiere ich sie auf der kollektiven Ebene, politisch, gesellschaftlich, historisch. Aber jetzt mal persönlich. Der Weg Israels in das gelobte Land war lang, 40 Jahre. Also du musst damit rechnen, dass dein Weg in deine Identitätsfindung auch lang ist. Vorher sprach mich ein Mann an, sehr nett, sehr herzlich, Stefan. Und dann habe ich ihn gefragt, wie alt bist du?

08:03
Hat er ein bisschen gezögert und dann hat er, darf ich sagen, gut, 45. Ich sag, du, pass mal bei der Geschichte auf, da hat es auch was mit 40. Bist ein bisschen drüber, aber vor ein paar Jahren kommt es da nicht an. Also der Weg Israels durch die Wüste, also ist dicht bei Stephans Alter. Pass mal auf, das könnte was zu bedeuten haben. Also der Weg Israels in die Freiheit war lang, 40 Jahre. Rechnet mal damit, dass euer Weg auch lang ist. Da gehen 40 Jahre schon gerne ins Land. Es gibt kein ICE-Tempo in die Reife, gibt es nicht. Aber Israels Weg, diese 40 Jahre haben sich gelohnt. Denn dieser Weg durch die Wüste hat ein Ziel. Das heißt, in dieser Exodus-Geschichte steckt die Zuversicht für jeden Menschen dieser Erde.

09:04
Dein Weg wird lang sein und steinig, aber er lohnt sich, denn er hat ein Ziel. Und in dieser Zuversicht, der Weg ist lang, aber lohnend, steckt das Geheimnis der Exodus-Erzählung. Jetzt möchte ich die einzelnen Stationen mal so durchgehen. Ihr werdet sie alle auch durchgehen. Ihr könnt auf keine dieser Stationen verzichten. Und hört sie euch mal an, ob es euch irgendwie berührt, ob es in euch klingelt. Und ihr prüft es, ob in dieser kollektiven Erzählung nicht tatsächlich das Modell der Selbstfindung jedes Menschen drinsteckt. Also, prüft es mal und könnt mir ja vielleicht mal bei Gelegenheit sagen oder eine Mail schreiben oder so.

10:03
Die erste Station. Die erste Station ist folgende. Der Mensch sucht Zuflucht in Ägypten. Unbedingt aufgrund ganz tiefer Lebensbedürfnisse. Der Mensch sucht Zuflucht in Ägypten. Also auf der kollektiven Ebene ist es so, die Vorfahren, Josef und seine Nachbarn und dann kommt der Jakob aus Hungersnot. Weil große Hungersnot war, ziehen diese Beduinenstämme nach Ägypten und sie suchen Zuflucht in Ägypten. Aufgrund schwerer Hungersnöte, weil in Ägypten kriegt man Nahrung. Der Nil sorgt regelmäßig Jahr für Jahr für fruchtbaren Schlamm. Also, der Mensch sucht Zuflucht in Ägypten. Jeder von euch hat es getan, nämlich in der Kindheit.

11:02
In der Kindheit suchen wir eine haltgebende Größe, wo wir Nahrung finden. Das heißt, Absättigung unserer grundlegenden Lebensbedürfnisse, weil wir in Hungersnot sind, in Nöten sind, in der Lebensangst. Jedes Kind spürt ohne die Eltern, ohne den Schutz der Eltern, die haltgebende Kraft meiner wichtigsten Bezugspersonen. Bin ich niemals lebensfähig? Die Alternative zur Schutzgebenden Kraft der Eltern ist der Tod. Also, weil wir tiefe Lebensängste haben und spüren als Kinder, dass wir vom Leben völlig überfordert wären, entsteht ganz intensiv in unserem Herzen die Sehnsucht nach Geborgenheit, die Sehnsucht nach Halt. Und das ist jetzt zunächst mal Ägypten.

12:05
Jeder Mensch sucht Zuflucht in Ägypten, denn die Alternative wäre der Tod. Jetzt kommt die zweite Lebensstation, die haltgebende Kraft, unser Zufluchtsort, wird irgendwie im Laufe der Zeit zu einer beherrschenden Macht, die unsere Selbstständigkeit verhindern kann. Also, das ist die zweite Station. Unser Zufluchtsort, die haltgebende Kraft, kann im Laufe der Jahre und wird zu einer beherrschenden Macht, die unsere Selbstständigkeit aufhält und auch verhindern kann. Das ist die zweite Station, die ist so grundlegend, dass ich jetzt ein bisschen bei der stehenbleibe. Also, Israels Situation in Ägypten ist existenziell gesehen auf der persönlichen Ebene von grundlegender Bedeutung für jeden Menschen.

13:11
Denn es ist die Situation der Abhängigkeit. Wir sind zwar versorgt, wir haben Nahrung gekriegt, also es ist eine Versorgtheit, Jubilate, aber diese Versorgtheit ist kombiniert mit Abhängigkeit und Ohnmacht. Und aus dieser Situation der Abhängigkeit muss jeder Mensch raus, wenn er in seine ureigene Lebenslinie finden will. Denn jeder Mensch hat etwas ureigenes. Er hat eine ureigene Bestimmung, ein eigenes Lebensziel, das hat kein anderer, nur du. Und wenn du dein ureigenes finden willst, kannst du nicht als Fronarbeiter leben. Israel wird zum Fronarbeiter in Ägypten. Was bedeutet das?

14:02
Wir arbeiten fremde Programme ab. Durch die Kindheit, so schön sie ist, das stelle ich gar nicht in Frage, ich greife jetzt auch gar keine Eltern an, weil auch die besten Eltern sind trotzdem in dieser zweiten Station drin. Es geht hier gar nicht um die Qualität bestimmter Eltern. Man kann in gewisser Weise sogar sagen, manchmal sind die besten Eltern so ein schönes Nest, dass man da gar nicht richtig raus will. Also es geht mir jetzt nicht um Charaktereigenschaften irgendwelcher Eltern, es geht mir um ganz tiefe, elementare Dinge in unserem Selbstwerte-Prozess. Also wir sind in Ägypten, und zwar sind wir da Fronarbeiter. Wir müssen tun, was andere für richtig halten. Und aus dieser Situation müssen wir irgendwie raus. Pharao steht in dieser Sicht, in dieser existenzialen Sicht für alle Kräfte, alle Mächte,

15:07
die uns an der Selbstwertung, an der Selbstständigkeit auf dem Weg in unser Land der Bestimmung aufhalten. Für alle Kräfte und Mächte. Die Größe dieser Aufgabe, dass wir aus Ägypten, unserem Zufluchtsort, unserem größten Halt, der unser Überleben ermöglicht hat, dass wir aus diesem Ort heraus müssen, das ist eine tiefe, schwere Aufgabe. Und die schwere Aufgabe besteht vor allem darin, dass wir in unserem frühkindlichen Gewissen gar keine andere Möglichkeit hatten, als diesen großen Instanzen, die uns Halt gaben, diesen Autoritäten, diesen Bezugspersonen eine riesige Macht zu geben. Eine götterehnliche Macht. Wir haben sie aus unserer Angst heraus, aus unseren Schuldgefühlen heraus,

16:02
aber auch aus unserer Dankbarkeit heraus, haben wir sie vergrößert ins Überdimensionale. Weil wir wussten, wir verdanken ja ihnen alles. Also damit haben wir diesen Instanzen, diesen Personen, psychologisch könnte man auch sagen, diesem Über-Ich, eine ungeheure Größe gegeben. Und es geht auch gar nicht anders, weil nur so geben sie uns Halt in der Zeit der Überforderung, in der Zeit der Ohnmacht. Und das bedeutet eben, wir werden dann doch irgendwie zu frohen Arbeiter, die das tun, was andere sagen. Die Kindheit stempelt uns auch ab. Ihr habt alle einen Stempel, ich auch, genauso. Die Kindheit prägt uns auch, sie stempelt uns ab. Wir übernehmen einfach die Wertsysteme derer, die unsere wichtigsten Bezugspersonen waren. Wir übernehmen es, wir passen uns an. Also diese frohen Arbeiter-Existenz, in der jeder Mensch drinsteckt,

17:06
darunter kann man zum Beispiel Folgendes verstehen. Es können starre Regeln sein, die in diesem Familienplan, in dem wir halt waren, tonangeben waren. So ein Regelsystem, das können relativ gute Regeln sein. Ich will gar nicht sagen, dass sie schlecht sind, aber sie halten uns abhängig. Wir übernehmen diesen Tellerrand, als ob das der einzige Weg des Lebens ist. Und wo bleibt unser ureigenes? Es können aber auch Verhaltensmuster sein, die uns andressiert wurden, oder die wir einfach im Laufe der Monate im Alltag so übernommen haben. Es können auch Ängste sein, es können Schuldgefühle sein, es können auch Komplexe sein, es können auch Selbsteinschätzungen sein. Dass wir einfach in ein bestimmtes Selbstbild hineingeraten sein. Und es können Zwänge sein. Regeln, Zwänge, Ängste, Schuldgefühle, Selbsteinschätzungen.

18:09
Dieses Regelsystem, das arbeiten wir ab, das gängelt uns. Wir sind fremdgesteuerte, ferngesteuerte. Wir leben noch nicht, wir werden gelebt. Wir getrauen uns noch nicht. Eigene Schritte, für die wir ganz alleine verantwortlich sind. Die wir auf unsere Kappe nehmen müssen. Diese Fronarbeiter-Mentalität unter Pharao kann sich so auswirken, dass diese Menschen, die in diesen Fremdprogrammen sich eingerichtet haben, das kann Jahrzehnte lang das ganze Leben gehen, dass man erst sehr spät aufwacht. Ich habe mal einen Film gesehen, einen Superfilm, weiß nicht, ob einer von Ihnen gesehen hat. Kleine Fluchten. Wer hat ihn gesehen?

19:03
Müsst ihr angucken. Gucken an. Kleine Fluchten. Ich sage euch mal, um was es geht. Ein Knecht auf einem bayerischen großen Bauernhof. Wird 65 und tritt seinen Hohestand an. 65. Der Star in diesem Film ist ein bayerischer Knecht im Alter von 65. Das Ding hat übrigens authentische Hintergründe. Jetzt kauft sich dieser Knecht allein, er ist nicht verheiratet, ein einsamer Knecht in Bayern, im Allgäu, kauft sich zum ersten Mal im Leben ein Motorrad. Kleines Motorrad, ganz kleines. So Ho-Jolle, nicht viel mehr wie ein Mofa. Er hat ein Zimmer im Bauernhof, das ist sein Leben. Jetzt fährt er mit diesem kleinen Motorrad in ein ganz neues Gelände. Jetzt fängt er an, kleine Fluchten aus Ägypten. Er traut sich immer mehr zu, mit 66, 67.

20:03
Habe ja auch noch Hoffnung für mich. Er fährt dann mit einer Gondel irgendwo hoch. Er hat ja einiges zurücklegen können, ein paar Groschen. Fährt er mit einem Motorsegler über Allgäu, guckt sich die Sache mal von oben an. So geht es los mit dem Exodus. Das muss nicht immer in der Pubertät sein. Das kann in ganz verschiedenen Lebensphasen sein. Diese Fronarbeiter, die ihr Leben damit zubringen, das zu tun, was andere für richtig halten, sind oft sehr gehorsame Leute. Fronarbeiter sind gehorsam. Ihr Leben besteht ja aus dem Gehorsam. Immer das tun, was andere für richtig halten. Das können also in Schule und Studium Superstudierende sein. Die haben beste Noten. Die können auch im Berufsleben, in der Verwaltung Abteilungsleiter sein. Hoch angesehene Leute. Sie spüren ihre Fronarbeiterexistenz gar nicht so bewusst.

21:04
Sie haben sich so eingerichtet in dem Regelsystem, in ihrem Tellerrand. Da leben sie. Sie lassen diese Spannung. Hör ich eigentlich auf meine eigenen Wünsche? Was will eigentlich ich? Nein, das opfern Sie auf dem Altar der Harmonie mit zuvorkommendem Gehorsam. Es sind meistens eifrige, gutwillige, anpassungsfähige und anpassungsbedürftige Menschen. Sie wollen es den anderen möglichst recht machen. Also, die Leute können durchaus sehr erfolgreich sein in bestimmten Lebenskonstellationen. Und es kann oft erst sehr spät losgehen oder eben gar nicht. Gut, das ist also die Grundsituation im Leben aller Menschen. Die entscheidenden, haltgebenden Instanzen halten dich ab einer gewissen Zeit fürchterlich auf.

22:06
Und diesen Umschlag darfst du nicht verpassen. Jetzt kommt die dritte Station, der Schrei nach Hilfe. Also die Hebräer, die Fronarbeiters schreien und stöhnen. Sie schreien nach Hilfe. Das ist der Leidensdruck, ohne den es nicht geht. Diese Fronarbeiterexistenzen, die nicht rauskommen aus der Abhängigkeit und aus dem Abarbeiten von Fernsteuerung und Fremdprogrammen, die sie im Gehirn haben, manchmal merken sie doch, Mensch, das Leben geht irgendwie an mir vorbei. Manchmal spüren sie ein bisschen deutlicher, wie sonst, ich lebe eigentlich in einem Gehäuse. Ich bin umzingelt von irgendwelchen Mauern. Ich traue mich ja gar nicht raus, meine Ängste, meine Komplexe. Draußen ist die gefährliche Freiheit.

23:02
Und dann leiden sie darunter. Sie merken auch, sie haben gar kein angemessenes Verhaltensrepertoire. Ich kann mit Nicht-Christen, ich kann mit Atheisten oder mit Muslimen gar nicht richtig reden. Ich bin immer bloß in meinem Hauskreis. Ich beherrsche bloß den Slang und diese Konventikel und diese Verhaltensmuster. Da lebe ich halt drin und da zappel ich drin wie in einem Netz. Und irgendwann wachen sie auf und sie haben einen Leidensdruck. Sie spüren, das ist kein wirklich gesundes Leben. Ich opfe meine eigenen Wünsche ständig jahrelang bloß, weil ich es anderen recht machen will. Bloß, weil irgendwelche Ideologen, auch religiöse Ideologen, mir eingeimpft haben, immer gehörsam sein, immer brav sein, Scheifchen der Herde sein. Ich habe viel Kontakt mit Muslimen an der Hochschule und ich spüre bei vielen muslimischen eigentlich begabten Studierenden, die könnten so experimentell und kreativ leben, dass es ihnen eingebläut worden ist, einfach gehörsam sein.

24:03
Das Leben meisterst du, indem du die Regel gehörsam einhältst und die und die und die. Mehr brauchst du nicht denken. Denken brauchst du eigentlich nicht viel. Du brauchst auch nicht kreativ sein. Einfach sieben Sachen gehörsam halten und dann hast du gut gelebt. Wann werden sie aufwachen und merken, sie werden ja gelebt. Wo ist das Ureigene? Also die Hebräer, irgendwann kommt dieser Leidensdruck, ohne den es in der Regel nicht geht. Viele verdrängen diesen Leidensdruck jahrelang. Sie lassen diese Spannung zwischen dieser Fremdsteuerung, dieser Abstempelung und den ureigenen Lebensinteressen, diese Spannung lassen sie gar nicht hochkommen, weil sie spüren unbewusst, oh, da wird es problematisch. Lieber weiter den Weg gehen, brav, gehörsam, Scheifchen der Herde.

25:04
Gut, also habt ihr vielleicht schon mal gespürt diesen Leidensdruck. Jetzt kommt die vierte Station, die Begegnung mit Jahweh, mit Gott am brennenden Donbusch. In der Begegnung mit dem lebendigen Gott, nicht mit dem Gottesbild des irgendwelchen kirchlich-religiösen Gruppen daherzaubern. Also die Gottesverständnisse der Religionen und der lebendige Gott ist nicht unbedingt das Gleiche. Aber wenn du dem lebendigen Gott begegnest, sein Name dir klar wird, Jahweh heißt auf gutes Deutsch, ich bin für dich da. Ich bin keine Gefahr für dich. Ich will nicht, dass du Fronarbeiter bist. Ich bin der Schöpfer alles Lebens. Alles Leben verdankt sich mir. Und ich bin die einzige Macht, die es gibt, die von dir auf eine Weise Besitz ergreifen kann, die dich nicht gängelt.

26:01
Wo du ganz zu deinem eigenen Leben findest. Ich bin die einzige Macht, die das kann. Ich bin kein Pharao. Und dieser Jahweh, dessen Rolle ist in der Exodus-Erzählung glasklar, eindeutig. Ich sage euch die Rolle von Exodus, von Jahweh, von der Stimme aus dem Busch, die ist sowas von eindeutig. Nämlich raus aus Ägypten. Ich bin kein Pharao. Ich bin kein Fronfokt. Ich bin der Schöpfer des Lebens. Ich kenne deine Lebensbestimmung. Ich bin kein Freund des Pharao. Ich bin eine Gefahr für den Pharao. Ich bin eine Gefahr für die ganzen dominierenden, autoritären, abhängig machenden, unterdrückenden Mächte und Autoritäten dieser Welt. Ich bin kein Steigbügelhalter für die Herren dieser Welt. Ich bin eine subversive Gefahr für die Herren dieser Welt.

27:02
Schön, dass ihr da seid. Ihr wart so lange ruhig. Auf jeden Fall, also die Rolle von Jahweh ist völlig klar. Ich hole euch da raus. Ich führe euch in ein anderes Land, in eine Alternative. Und zwar dieses Land ist weiträumig. Nur übersetzt weit. Also es ist nicht eng. Gott führt nicht in die Enge, nicht in die Kleinkariertheit. Raus aus der Enge, raus aus Ägypten. Bleibt nicht euer Leben lang Fronarbeiter, die das glauben, denken und tun, was andere euch sagen. Davon kannst du nicht bis zum Tod leben. Musst schon irgendwann mal dein eigenes Leben entdecken. Also mit Jahweh kriegst du den Mut und die Zuversicht. Gott ist auf der Seite der Befreiung und er gibt dir eine Zusage. Ich werde mit dir sein. Ich werde dich begleiten. Ich werde dich inspirieren, motivieren auf dem Weg in die Sesshaftwerdung.

28:08
In einem eigenen Land, wo du Grund und Boden unter die Füße kriegst. Das ist also die Begegnung mit dem lebendigen Gott in der Dynamik der Exodus Erzählung. Seine Rolle ist glasklar. Er ist der Befreier. Jetzt kommt die fünfte Station. Also durch die Begegnung mit dem lebendigen, durch die Begegnung mit dem pulsierenden, gesunden, echten Leben, das seine Quelle in Gott hat, wird dir klar, so geht es nicht weiter. Also ich bin am Leben vorbei. Das Leben zieht an mir vorbei. In all den Programmen und Regeln und Verhaltensmustern und Schuldgefühlen und Ängsten und Zwängen, in dem ich da rumzappel. Also was macht ein Mensch, in dem das aufbricht?

29:01
Er beginnt Verhandlungen mit Pharao. Jetzt kommt die Phase der Verhandlung. Wir wollen mal in die Wüste, wir wollen mal ein bisschen Urlaub von dem Zwangssystem. Sozusagen mal ein paar erste Lockerungsübungen. Ein bisschen Lockerungen. Mehr kriegen wir am Anfang nicht hin. Also ein paar erste Lockerungsübungen. Und an wen wenden wir uns? An die Autoritäten, die uns bisher beherrscht haben. Was anderes kennen wir ja nicht. Wir versuchen eine offizielle Genehmigung auf dem Amtsweg. Dürfte ich mal bitte aus dem System ein bisschen aussteigen? Wie mal mein Geschichtsprofessor gesagt hat, wenn deutsche Revolutionäre einen Bahnsteig stürmen, lösen sie vorher eine Bahnsteigkarte. Muss alles ordentlich sein. Offizielle Genehmigung. Aber ich sage dir, solange du den Pharao und seine Truppe fragst, da darfst du nicht viel erwarten.

30:01
Also die reagieren, wie reagiert der Pharao? Oh ja, er gibt mal ein bisschen nach. Aber sobald der Veränderungsdruck die Veränderungsimpulse nachlassen, wird alles wieder rückgängig gemacht. Das ist ein Eiertanz. Solange du diejenigen fragst, die dich beherrscht haben, passiert nicht viel. Weil die reagieren sehr negativ. Die sagen, was ist denn mit der auf einmal los? Wird da so aufmüpfig? Genügt dir der Gedankenvorrat in unserem Hauskreis etwa nicht mehr? Hör mal, da reagieren die nettverständnisvoll. Ein rigides Über-Ich und ein freiheitsdurstiges Ich, da gibt es keine Verhandlungslösung. Habt ihr vielleicht schon mal gemerkt. Jetzt kommt der nächste Punkt, das ist jetzt der sechste Punkt. Jetzt kommen die Plagen, die Plagen, die Plagen.

31:05
Ich sage euch, das sind fünf Kapitel. Das ist ja irrsinnig lang, aber ich sage euch, das ist so tief, da ist so eine Weisheit drin, so eine gesunde Realität. Jetzt wirst du deiner Umgebung zur Plage. Du wirst ja echte Plage. Du glaubst es nicht mehr so einfach, diese abgelutschten Formeln kommen dir gar nicht mehr so über die Lippen. Gestern sagt mir ein Schulzählsorger unter vier Augen, Siegfried, ich halte es hier nicht mehr aus, diese christlichen Oberflächlichkeiten, diese Floskeln, dieser Dünnschiss. Endlich hast du mal ein paar. Du, ich gier danach. Ich habe eine Mail bekommen, ein Worthaus, Martin hat sie mir weitergeleitet. In dieser Mail steht drin, endlich, endlich, endlich, frische Luft.

32:01
Dreimal endlich. Ich kann ungefähr ahnen, in welcher Fronarbeiterexistenz der Typ bisher versucht hat zu überleben. Also, jetzt kommen die Plagen. Und diese Plagen spitzen die Sache zu. Ich sage euch, die Sache eskaliert. Es gibt keinen harmonischen, organischen Weg. Nein, nein, die Sache spitzt sich zu. Die Sache wird tödlich. Die Plagen zeigen den tödlichen Ernst, der kommt, wenn du dich nicht mehr gängeln lässt. Wenn du sagst, ich habe meine ganz eigenen Interessen, ich habe mein eigenes Leben. Ich sag dir, da ist was los. Da wird manches komplizierter. So, geht gar nicht mehr. Der ist gar nicht mehr so pflegeleicht. Also, auch diese Plagen, die haben irgendeine raffinierte Tiefenschicht. Frösche, die Froschplage, Frösche sind ein Übergangssymbol aus Wasser-Land-Übergänge.

33:02
Also, es deuten sich Übergänge an. Stechmücken, stechen dich, Stiche im Gewissen, Heuschrecken, fressen alles auf, Zweifel, Blut im Nil. Tödlicher Ernst. Also, diese Plagen berühren auch eine Tiefenschicht, die sehr realistisch ist. Fünf Kapitel lang Plage. Es wird tödlich, die Sache eskaliert. Jetzt kommt der sechste Schritt. Siebte. Siebte, danke. Gut, zählt mit. Der siebte Schritt. Sieben ist ja auch eine besondere Zahl. Komisch, dass jetzt gerade der siebte Schritt, eines Nachts bist du weg. Du kannst Ägypten nicht verändern. Du kannst Ägypten nur verlassen. Und ich sage dir, das Verlassen, wenn es echt ist, ist nicht ein stolzer Gang, ich gehe jetzt, guck mal alle her, ich gehe.

34:04
Nein, du haust bei Nacht und Nebel ab. Du bist einfach froh, dass du die Scheiße hinter dir hast. Also niemand verlässt dieses Frohn-Arbeitersystem, in dem er im Gewissen jahrelang gegängelt, resiert und in Abhängigkeit gehalten wurde. Und im zuvorkommenden Gehorsam, weil du willst schon alle recht machen. Sei brav und dann ist alles gut. Sei gehorsamer, dann kann das Leben nicht schiefgehen. Du musst einfach gehorsam sein. Also diese Scheiße, die willst du jetzt endlich loswerden. Und ich sage dir, du hast nicht die Kraft, dort zu stehen und zu sagen, Leute guckt mich an, ich gehe jetzt. Nein, du packst die Gunst der Stunde und auf einmal bist du nicht mehr da. Empty chairs and empty tables. Leere Plätze. Wo ist er denn hin? Also es ist im Grunde eine Flucht.

35:01
Du weißt eigentlich noch gar nicht, wo es hingeht. Du weißt gar nicht genau, wo du hin willst. Das sagen gleich die Bewohner Ägyptens, wo will er denn hin? Was will er denn, der Kerle? Der ist ein bisschen, ist doch bloß Wüste. Wir sind doch hier in Ägypten. Jetzt verlässt der Ägypten das warme Nest. Hier ist doch alles okay, alles geregelt. Alles hierarchisch im Budden. Brauchst eigentlich nur deine Regeln. Jetzt geht er in die Wüste. Also absolutes Kopfschütteln bei der ägyptischen Bevölkerung. Was will er denn? Ja, und du musst zugeben, ich weiß ja eigentlich selber auch nicht genau. Ich habe es auch nicht genau gewusst. Niemand weiß es. Ich weiß nur eines, hier will ich nicht bleiben. So wie bisher kann es nicht weitergehen, das weiß ich. Mehr weiß niemand in der Situation. Kafka erzählt mal eine Parabel, der Aufbruch. Und der geht so, also ich weiß die Parabel nicht auswendig,

36:01
aber ich sage mal das, was ich auswendig weiß. Schon kurze Parabel, schon ein bisschen länger, als das, was ich erzähle. Eines Tages, eines Tages, das kann man nicht klären, eines Tages ist es soweit. Eines Tages hörte ich die Trompete blasen. Mein Diener hat nichts vernommen. Der Diener steht für die beharrenden Kräfte. Ich gehe in den Stall und sattele mein Pferd. Der Diener kommt mir hinterher und sagt, wieso brichst du auf? Ich sagte zu ihm, ich habe die Trompete blasen hören. Sagt der Diener, ich nicht. Wohin willst du denn gehen? Sagt der Diener. Die Frage kommt immer. Er sagt, das weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, weg von hier. Ja, und du nimmst ja gar keine Profiante mit auf deiner Reise. Dir auch nicht. Die Flucht kam so schnell, du konntest gar nicht richtig vorbereiten. Es blieb gar keine Zeit zur Reisevorbereitung.

37:03
Die überraschst du nicht. Also, du hast ja gar keinen Profiant bei dir. Dann sage ich, die Fabel ist im Ich-Stil erzählt, ich hörte die Trompete blasen. Da sagte ich meinem Diener, auf dieser Reise kann man keinen Profiant mitnehmen. Man muss unterwegs aufnehmen. Und jetzt kommt der Schlusssatz. Denn es ist ja zum Glück eine ungeheure Reise. Es ist ja zum Glück eine ungeheure Reise. Wow, passt diese Fabel. Kafka ist ein Jude. Der hat sicher die Exodus und die Flucht, der Aufbruch. Steht nichts dabei, aber das ist genau diese Dynamik. Also, du fliehst nachts in Nacht und Nebel, weil du eines weißt, so geht es nicht weiter. So mache ich nicht mehr weiter. Ich weiß nicht genau wohin, und die Umgebung schüttelt den Kopf, ist mir aber egal.

38:03
Ich gehe hier weg. Das ist der Schritt 7. Also, ein besonderer Schritt. Das ist der Aufbruch. Jetzt kommt aber ziemlich schnell die Verfolgung. Jetzt kommen die ägyptischen Streitwagen. Ich sage dir, kaum hast du einen Schritt in neues Gelände gemacht. Da kommen die Strafängste. Warte, du wirst vom Glauben abfallen. Du verlierst jede Orientierung. Ich sage dir mal, das will Gott nicht, was du machst. Die wissen immer genau, was Gott will. Also, jetzt gehst du aus diesem Ägypten raus. Jetzt kommen aber die ägyptischen Streitwagen. Ich sage dir, die bleiben dir nicht erspart. Die drohen dich einzuholen und dich umzubringen. Also, das ist die innere Polizei, die verfolgt dich. Wenn du 15, 20, 25, 30 Jahre in diesen engstirnigen, frohen Arbeiterregelsystem abgerichtet warst,

39:02
anstatt es mal ein bisschen freien zu machen, da kannst du nicht einfach weggehen. Die innere Polizei pfeift dich zurück. Und dann kriegst du Strafängste, Gerichtsängste. Die drohen dich. Die ägyptischen Streitwagen stehen für ein ganzes Arsenal an Verfolgungsängsten, Untergangsängsten, Orientierungslosigkeit. Jetzt kommt der neunte Schritt. Jeder macht das durch in der Tiefe auf dem Weg zu einem ureigenen Leben. Die Selbstfindung tut in vielfacher Weise sehr weh. Sie ist nicht einfach und man kann nichts geradlinig planen. Es gibt so Kindergartenseminare für fromme Typen. Wie erkenne ich die Führungen Gottes? Ah, jetzt habe ich es gelernt. Rezept, drei Regeln, so erkenne ich die Führung Gottes. So bleibst du kindisch. So bleibst du infantil.

40:02
Bist ein bisschen overprotected. Brauchst du eine Pseudogeländer. Brauchst einfach deine Gängelung. Viele Eltern oder Prediger oder sonst was. Doch, ich will schon deine Selbstständigkeit. Doch, ich bin ja... Aber was ist das für eine Selbstständigkeit? Am Gängelband. Ich möchte schon, dass du selbstständig wirst, aber in dem Bereich, den ich für richtig halte. Da darfst du selbstständig werden. Aber weh, du gehst drüber hinaus. Kein Tellerrand wird zu dir sagen, komm überschreite mich. Dein Tellerrand wird dir niemals zu dir sagen, komm überschreite mich. Das musst du schon selber machen. Gegen den Widerstand von deinem Tellerrand. Also, jetzt kommen die Streitwägen. Und du kriegst, es geht nicht mehr vorwärts. Jetzt kommt ein Wasserhindernis. Jetzt kommt das Wunder am Schilfmeer. Und das wirst du erleben, sage ich dir. Es geht nicht gescheit vorwärts. Und es geht nicht gescheit zurück. Du bist jetzt in einem schweren Dilemma. Weil du bist immer noch im Machtbereich der Pharaonen.

41:02
Und seiner Streitwagen. Und du bist immer noch im Einflussbereich dieses Fronarbeitersystems. Und jetzt stehst du am Wasser. Und wisst ihr, Wasser ist der Grundstoff des Lebens. Wasser verschlingt und Wasser gebiert. Jetzt bist du an einem Geburtskanal. Jetzt musst du einen Kanal durchs Wasser gehen. Das ist der Geburtskanal. Jetzt geht es um ein eigenes, neues Leben. Und ich sage dir, du musst auf Gnade und Verteid sagen, ich gehe durch. Komme ich um, dann komme ich um. Ich weiß nicht, was auf der anderen Seite ist. Das weiß niemand. Auch der Brot ist der große Geburtskanal. Da gehen wir auch durch einen Kanal. Aber jetzt mal, das ist der psychologische Geburtskanal. Also, du musst dich fallen lassen. Du musst dich an Gott wenden und sagen, mit eigener Kraft, ich blicke da nicht mehr durch.

42:02
Da geht es um Dinge, die ich mit eigener Kraft nicht mehr organisieren kann. Ich habe das nicht in meiner Hand. Ich gehe jetzt nur durch. Und wenn du am anderen Ufer ankommst, wird keiner sagen, das habe ich gemacht. Das war meine Kraft. Ich habe das geleistet. Nein, das sagt niemand. Du musst dich auf die andere Seite legen. Du musst dich heilfroh am anderen Ufer angekommen sein. Du empfindest das wie ein Wunder. Wie eine Geburt. Wie eine Rettung. Jetzt bist du aus dem Einflussbereich des pharaonischen Systems draußen. Die Nabelschnur ist jetzt weg. Der nächste Schritt ist das Lied am Schilfmeer. Der zehnte Punkt ist das Jubellied am Schilfmeer. Übrigens von einer Frau. Wenn du durch diesen Geburtskanal durch bist,

43:02
durch das Wasser links und rechts, verachtest du anschließend nicht mehr das Weibliche. Schon ein ganz eigenartiger Vorgang. Die Männer, die durch diesen Geburtskanal geschritten sind, wissen das Weibliche ganz anders zu würdigen, wie vorher. Deswegen ist es kein Zufall, dass eine Frau das Jubellied am Schilfmeer singt. Miriam tanzt und trommelt. Wir müssen uns Luft machen im Halleluja, im Tanz, Gesang und Rhythmus. Wir sind durch. Wir sind durch den Geburtskanal zum eigenen Leben. Gut, das sind die ersten zehn Schritte, die macht jeder Mensch durch. Je tiefer ihr pressiert seid, je tiefer eure Abhängigkeit war, je tiefer eure Ohnmacht, je tiefer eure Prägung, desto eskalierender sind die Konflikte bei der Plage. Da kann es wirklich zur Sache gehen.

44:02
Da meinst du paar Mal, du musst sterben. Also, wenn du am anderen Ufer angekommen bist und dein Schilfmeer-Lied gesungen hast, ich singe es immer wieder, es ist irgendwie leichter, ohne die doofen Vorurteile zu leben. Ich habe immer noch viele Vorurteile, aber ich habe so den Eindruck, ein gerüttelt Maß an Vorurteilen habe ich los. Auch so christliches Geschwätz, so oberflächlich, so ein paar Schubladen habe ich hinter mir. Und da spreche ich regelmäßig Jubeldankgebete. Wie schön, dass ich aus diesem Gefängnis draußen bin. Da kriegt mich auch keiner mehr rein. Und du riechst das 10 km gegen den Wind, wenn so ägyptische religiöse Frauenarbeiter dich anpinkeln wollen. Ich sage euch, da bin ich völlig resistent. Gut, aber auf jeden Fall, du meinst jetzt,

45:01
jetzt habe ich es geschafft. Ich bin am Ziel angekommen. Das meint irgendwie jeder. Die Miriam, die da ihr Trommel trommelt und ihr Schilfmeer-Lied singt, die hat das Gefühl, sie hat es geschafft. Irgendwie stimmt es ja auch. Aber ich sage euch, jetzt geht es erst los. Du stehst nicht am Ende, du bist am Anfang. Du bist am Anfang eines eigenen, selbstständigen Lebens und Denkens. Du hast nur die Ablösung erlebt. Aber jetzt erst kann es losgehen. Also jetzt kommen noch fünf Schritte nach diesen zehn Schritten der Abnabelung. Die dauern aber jetzt 40 Jahre. Nämlich der erste Schritt ist, was liegt vor dir? Ich sage dir, wer immer auch du bist, vor dir liegt jetzt eigentlich bloß die Wüste. Was heißt die Wüste? Die Wüste heißt erstens mal keine Orientierung.

46:03
Du hast jetzt lange Zeit keine so flotte, glatte, sieben Bibelsprüche, damit meisterst du das Leben. Wenn Frauen von Zeugen Jehovas zu mir kommen, da spüre ich richtig diese Vorneinarbeit, diese Versorgtheit, sieben Regeln und sieben Bibelsprüche, dann ist alles klar. Gut, also die hast du jetzt nicht mehr. Auch diese alten eingefuchsten Bibelsprüche, mit denen du alle Probleme geklärt hast, die hängen dir zum Hals raus. Und du merkst auch, dass diese alte Deutung gar nicht so stimmt. Das Problem, wisst ihr, sind nicht die heiligen Schriften. Das Problem sind die Menschen, die diese Schriften lesen. Die sind das Problem. Diese oberflächliche Bibelauslegung, das zieht einem ja die Socken aus. Also die hast du jetzt nicht mehr. Die Geländer fehlen dir. Du stehst vor einer Wüste ohne Wege. Hast du das schon mal erlebt? Aber anders wirst du nicht reif.

47:02
Du bleibst ein Vorneinarbeiter. Vor dir die Wüste. Jetzt die alten Antworten, niemand sagt dir jetzt mehr, was du tun sollst. Die sagen dir, das ist hart. Das ist hart. Das ist das Reifungselend. Und da sind die Leute gar nicht scharf drauf. Es gibt eine Werte scheu. Die Leute sind scheu, das zu werden, was sie könnten. Denn es geht nur durch die Wüste. Es sagt dir jetzt überhaupt niemand mehr, was du machen sollst. Auch nicht die Bibel so einfach. Weil die Bibel hat 1200 Seiten. Wir sagen immer wieder, ich glaube alles, was in der Bibel steht. Ich glaube das, was in der Bibel steht. Dann sage ich, die Bibel hat 1200 Seiten. Jetzt was glaubst du eigentlich? Gut, also so einfach ist das nicht, dass du dich von der Bibel einfach versteuern lassen könntest. Das kannst du auch nicht mehr. Du musst die Bibel schon innerlich verstehen und sagen, was ist mir?

48:01
Nicht meinem Hauskreisleiter. Was ist mir an der Bibel echt die entscheidende Hilfe? Das musst du selber herausfinden. Also du stehst vor einer Wüste. Die Wüste hat keine Wege. Die Wüste hat auch keine Ablenkung. Da gibt es keine Zerstreuungskultur. Kannst du nicht morgens Radio anschalten und abends Fernsehen aus. Kannst du auch nicht Internet. Also sage ich jetzt mal so. Die Wüste hat kein Amusement. Amerikanische Soziologen sagen, wir amüsieren uns zu Tode. Wir vergeigen unser Leben durch Amusement. Spaßgesellschaft. Hauptsache Spaß. Hauptsache möglichst viel Lust, möglichst viel Spaß. Ich sagte, das geht in der Wüste nicht. Es gibt in der Wüste keine Spaßkultur. Es gibt keine Ablenkung, keine Zerstreuung. Und was gibt es in der Wüste? Mangel, Mangel. Du wirst bescheiden. Du erlebst die Härte der Realität.

49:03
Realitätsprinzip. Ich sage euch, die Wüste ist hart. Die kann grausam sein. Und das Leben ist hart. Und das Leben ist grausam. Aber anders wirst du nicht reif. Ein Therapeut hat zu mir gesagt, die jüngeren Leute von heute, so ein bisschen aus der Mittelschichtskultur in Mitteleuropa, die haben alle ein ganzes Verhältnis zur Wirklichkeit. Sagt mein Freund Paul, der ist 72 und der weiß es. Er hat gesagt, Paul, was beleidigen Sie mit einem Verhältnis zur Wirklichkeit? Ja, die sind alle tendenziell verwöhnt. Kindheitsverwöhnt und dann Klavierstunde und Flötenunterricht und Reiten und so. Und jetzt an der PH kommen diese overprotected Mädels aus dem Schwarzwald an. Hören ein paar fremde Worte, da machen die gleich schlapp und brechen das Theologiestudium ab. Weil die sind völlig overprotected. Die haben vier Kinderbibeln gelesen und waren auf acht Kinder-Teenager-Freizeiten. Und jetzt kommen sie an der PH an und wenn da was anders ist, wie sie gewöhnt sind, das machen die nicht mit.

50:02
Also, die haben ein beleidigtes Verhältnis zur Wirklichkeit. Ach so, ich muss im Theologiestudium tatsächlich was lernen. Da bin ich beleidigt. Weil ich hab doch gedacht, ich weiß doch schon alles. Und jetzt muss ich wissenschaftliche Hausarbeit schreiben. Und ich sag euch, das ist hart. Drei Monate lang kommt jetzt raus, dass ich eigentlich vieles gar nicht genau weiß. Jetzt sind die Schwedischen am Ende beim Examen, da werden ja die Studierenden am bescheidensten. Am stolzesten sind sie im ersten, zweiten, dritten Semester. Da hast du das Gefühl, die müssen ja eh nichts lernen. Die sind ja bekehrt und von Gott berufen. Die wollen sich eigentlich nur einen Schein abholen, damit sie dann in der Schule fürs Reich Gottes missionieren können. Aber lernen haben die nicht den Eindruck. Die prüfen nur die Professoren, wer auf dem rechten Weg ist. Aber lernen, die müssen doch nicht lernen. Und jetzt im Examen merken die Scheiße, 80 Prozent weiß ich eigentlich nur, wischiwaschi,

51:01
wenn man mal genau nachfragt. Und jetzt sind sie beleidigt. Weil das Leben ist härter, wie sie denken. Jetzt sind sie beleidigt. Die verwöhnten, beschützten Fronarbeiter, ich sag euch, die scheuen die Wüste. In der Wüste herrscht Mangel. Und nur durch die Erfahrung des Mangels wirst du reif. Nur. Dass dir die Pseudosicherheiten, die Pseudo-Ratschläge, deine flotten Sprüche, dass dir die mal vergehen. Und dass du merkst, du blickst ja kaum durch. Das ist der Beginn der Wüste. Du kommst jetzt in die Kraftwirkung der Wüste. Und ich sag dir, das dauert. Das dauert. Da geht es um Jahre. Dann hast du oft das Gefühl, du gehst im Kreis. Da denkst du, da war ich doch schon mal vor 2,5 Jahren. Und das wiederholt sich. Du musst manche Erfahrungen vielleicht 17-mal machen,

52:02
bis du merkst, worum es geht. Also, du kommst jetzt in die formende Kraft der Wüste. In dieser Wüste wirst du bescheiden. Du lernst, kleine Dinge wertzuschätzen. Eine Handvoll Wasser, ein bisschen Schatten. Das weißt du jetzt zu schätzen. Du weißt, dass du in der Wüste nicht aus eigener Kraft leben kannst. Du brauchst ein tägliches Manar. Du erlebst das Einfliegen der Wachteln. Und dann entdeckst du hin und wieder im verborgenen Felsspalt Wasser. Und dann bist du glücklich. Du merkst in der Wüste, dass du nicht aus dir heraus leben kannst. Dass es irgendwie andere Kräfte sind, die dich durchs Leben tragen. Das lernst du in der Wüste. So, das war der erste Schritt. Ich wünsche euch die Härte und das Realitätsprinzip der Wüste.

53:01
Dafür lernt ihr eure flotten Sprüche. Das nächste, was jetzt kommt, ist die Amalekitterschlacht. Kommt relativ schnell. Exodus 15. Kaum bist du in der Wüste und merkst, dass deine Geländer fehlen, die Wege fehlen, dass die Ablenkung fehlt, die Zerstreuung fehlt, die Unterhaltung fehlt. Vieles, was du für wahnsinnig wichtig gehalten hast, merkst du, es ist unwichtig. Hilft dir in der Wüste gar nicht. Der Professorentitel hilft dir in der Wüste gar nicht. Verdurste ist genauso zwei Stunden später. So viele Sachen, die uns so unverzichtbar erscheinen. Und dann sagt er, du lernst nur in der Wüste den Unterschied zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen. Und das musst du lernen. Aber kaum bist du in der Wüste, die ersten Lernprozesse haben begonnen. Man merkt auch den Studierenden ab, wenn sie ihre ersten scheuen Spuren wirklich in der Wüste hinterlassen. Da reden sie dann irgendwie ein bisschen anders.

54:01
Wie im geborgenen Nest, aus dem sie kommen. Auf jeden Fall, aber jetzt kommt sehr schnell die Amalekitterschlacht. Du bist kaum in den ersten Zügen deiner Freiheit, deiner Selbstständigkeit, deines ureigenen Lebens. Und da musst du jeden Schritt verteidigen. Ich sagte, da kommen ganz schnell die Amalekitter. Da kannst du jetzt nicht harmonisch, du musst deine Position finden. Du musst deinen Standpunkt finden und den musst du verteidigen. Die Amalekitter sind keine pharaonischen Bötzen mit Über-Ich und aus der Angst und Schuld übergroß. Deswegen löst man sich so schwer. Nein, die Amalekitter sind jetzt ganz normale Menschen, es sind deine Kollegen. Ich sage, ich habe Kollegen, da muss ich schon mal dreimal eine Amalekitterschlacht machen. Da braucht man Streitkultur. Du musst dich verteidigen lernen. Der große Pädagoge Janusz Korczak, der Gründer der ersten Kinderrepublik in Warschau, der hat bestimmte Regeln gehabt. Und eine Regel heißt, jedes Kind hat ein Recht auf Selbstverteidigung.

55:05
Nicht bloß christliche Schmusekurse, da kommst du nicht weit. Die Amalekitter kannst du nicht wegschmusen. Ich sage dir, mit denen musst du kämpfen. Du musst lernen, dich zu verteidigen. Verteidige deine Freiheit, verteidige deine Selbstständigkeit. Das ist nicht Egoismus, sondern du hast die Pflicht, den Raum einzunehmen, den Gott dir zugedacht hat. Den sollst du auch ausfüllen. Du musst lernen, dich zu positionieren. Du musst die Amalekitterschlacht lernen. Und die kommt schnell. Die nächste Station, zum Schlaunen, sind die Zehn Gebote. Die Zehn Gebote. Ich muss euch mal Folgendes sagen. Ich bin total verblüfft, wie spät die Zehn Gebote kommen. Sau spät. Ich hätte bei ängstlichen, gehorchsamen, kleinkarierten Leuten

56:04
mit ihren onkel- und pantenhaften Ratschlägen, da hätte ich erwartet, gleich beim ersten Tag, also Mirjam Lied ist noch gut, jetzt bist du vor der Wüste, jetzt brauchst du eine Zehn Gebote. Ein kleinkarierter Erzähler, der nicht durchblickt, hätte doch den Leuten für den schweren Weg in der Wüste gleich mal die Zehn Gebote gegeben. Gleich am ersten Tag, damit die wissen, wo es lang geht. Das wäre aber wieder so eine Fremdsteuerung geworden. Leicht ägyptisch angestunken. Nein, du musst erst mal jahrelang durch die Wüste gehen. Du musst die Amalekitterschlacht streiten lernen. Und erst dann kommt die Moral. Ist komisch, aber ich sage euch, das ist Gesundheit. Denn die Gebote richten sich an selbstständige Menschen. Die wollen nicht wieder Frohnarbeiter-Mentalität. Mäuseexistenz, ab ins Schlupfloch.

57:02
Nein, die Zehn Gebote richten sich an Menschen, die erwachsen sind. Die haben ja auch nichts mit Kindererziehung zu tun. Du sollst Vater und Mutter ehren. Es richtet sich an erwachsene Männer, die auch Ehe brechen können. Von denen man sagen kann, du sollst dich nicht lassen gelüsten. Deines nächsten Haus, Frau, Esel und was er sonst noch hat. Das kann man ja nicht sechsjährigen Kindern sagen. Am Zehnten Gebot merkt man ganz klar, an wen sich alle Zehn Gebote richten. Weil das Du-sollsch, das ist immer der gleiche, Adressatenkreis. Und der zeigt sich glasklar am Zehnten Gebot. Es sind erwachsene Männer. Es geht ja hier nicht um lesbische Beziehungen im Zehnten Gebot. Man sagt zum Mann, lass dich nicht gelüsten deiner nächsten Frau. Die Frau deines nächsten. Es sind erwachsene Männer, die auch Grundbesitz haben. Also bürgerliche Mittelschicht. Weil es gibt ja auch viele Männer,

58:01
die haben gar keine Haus und Hof und Esel. Es gibt ja auch alleinstehende Männer, die haben gar keine Frau. An diese Randzonen denken die Zehn Gebote natürlich nicht. Die Zehn Gebote sind bürgerliche Minimalethik. Die kann niemand... Wir haben die Zehn Gebote grässlich überschätzt. Durch Luther und Katechismus. Wo steht in den Zehn Geboten, brich dem Hungrigen dein Brot? Wo steht es? Und wenn Jesus die goldene Regel sagt, alles was du willst, das einer dir tut, das macht doch ihn, das tut doch ihnen. Das ist ja Ethik. Aber mach das nicht, mach das nicht, mach das nicht. Das ist ja reine Vermeidungsethik. Vermeid das, vermeid das, dann bist du okay. Also hat schon seinen Sinn. Aber das vierte Gebot, du sollst Vater und Mutter ehren, richtet sich an 30- bis 50-jährige Männer, deren Vater und Mutter alt und klapprig werden. Die dann 70 und 80 sind. Dann sollst du Vater und Mutter ehren.

59:01
Das ist der Sinn. Nicht, dass so kleine Kinder mit dem christlichen Zuchtrute, du, der liebe Gott, willst, dass du mich und der Papa ehrst. Also du hast so einen kleinen Wurm, so ein Dreijährige, und dann der Superriese im Himmel, und die zwei Riesen, und alle drei gegen die kleine Wurst. Was ist denn das für eine Idiotie? Ich weiß, euer Zustimmung zu schätzen. Ich sag ja, ich fühle mich pudelwohl unter euch. Ich hab auch den Eindruck, es tickert in eurem Gehirn. Ich glaub, es laufen noch paar Prinzessen ab. Ich hab mal zu meiner Tochter gesagt, als sie vier Jahre alt war, Chrissi, wenn wir mal einen Streit haben. Ich wirklich weiß es nicht mehr. Aber sie hat mir mit 20 gesagt, wie gut ihr das getan habt. Hat sie nie wieder vergessen. Ich hab zu Chrissi gesagt, Chrissi, wenn wir mal Streit haben, dann darfst du sicher sein, dass Gott auf deiner Seite steht. Ja. Da haben ihre Augen geleuchtet.

60:01
Ich sag ihr, von dem Tag an war Gott ihr irgendwie sympathisch. Okay? Also die zehn Gebote, sag ich euch, kommen verdammt spät. Sie kommen superspät. Wenn mich jemand fragt, was hat eigentlich die Moral, die Moral, die Moral? Das ist keine unschuldige Größe. Wie viele Millionen Kinder wurden durch die Moral unglücklich? Wenn mich jemand fragt, Herr Zimmer, was meinen Sie, hat die Moral mehr Gutes getan oder mehr Schlechtes? Dann sage ich regelmäßig, das weiß ich nicht. Das ist eine komplizierte Frage. Kommt bloß nicht zu früh mit der Moral. Diese moralistischen Zuchtrouten. Feiert doch lieber erst mal das Leben. Die zehn Gebote kommen in Kapitel 20. Und das ist in der Dynamik der Selbstwertung genau der richtige Ort. Deswegen liebe ich die biblische Botschaft, weil sie so verdammt gesund ist.

61:01
Die Bibel ist ja tausendmal besser wie die Frommen. Deswegen zieht nicht die Bibel auf euer Niveau runter, sondern versucht euch aufs Niveau der Bibel hoch zu hefen. Probiert es mal, es wird euch gut tun. Also und am Anfang der zehn Gebote steht, ich bin Yahweh, der euch aus dem Sklavenhaus in Ägypten rausgeholt hat. Also die zehn Gebote sind keine moralinsaure Gängelung, sondern sie wollen in einer Gesellschaft der Selbstständigen. Wollen sie, dass das gesunde Leben geschützt wird in deinem Interesse und auch im Interesse aller anderen. Es ist eine sehr selbstständigkeitsorientierte Erwachsenen-Weisheit. Vorsichtig mit Kindererziehung. Gut, also sind die zehn Gebote. Jetzt kommt die vorletzte Station. Die ist jetzt allerdings wahnsinnig wichtig. Nach den zehn Geboten, also die Leute sind jetzt schon sehr selbstständig geworden, können auch mit moralischen Regeln emanzipiert umgehen.

62:01
Jetzt kommt die ganz große Versuchung. Das ist die Anbetung des goldenen Stiers. Luther hat leider keine Ahnung gehabt, was Kalb heißt und was Stier heißt. Das hat überhaupt nichts mit Kalb zu tun, das goldene Kalb. Damit ist alles kaputt. Nein, es geht um den Stier. Der Stier ist in der Antike Sinnbild der Potenz, der Kraft, der Nacken eines Stieres. Und auch der Schwanz eines Stieres. Also ich meine jetzt mal den richtigen Schwanz. Aber ich meine den anderen auch. Ich sage doch mal, wenn mal ein Stier pumst, geht schon los. Der Stier ist, deswegen auch viele Götter haben Stiersymbole. Macht, sie wollen Macht, Potenz. Das ist mit der Anbetung des goldenen Stiers gemeint. Eine ganz tiefe Wahrheit. Nämlich, wenn du selbstständig geworden bist, du hast die mehrere Amalekitterschlachten gewonnen,

63:02
kannst mit den zehn Geboten vernünftig umgehen, jetzt spürst du deine Kraft, deine Lebenskraft. Du spürst, ich bin eine selbstständige Persönlichkeit. Und jetzt kommt die große Gefahr, die Kraft, die in dir ist, deine Selbstständigkeitskraft, deine Lebenssouveränität, deine hart errungene Reife. Da sagst du, das ist das Realste, was es gibt. Ich bin sehr stolz auf meine Lebenskraft. Ich habe wirklich Lebenskraft. Ich kann selbstständig leben. Ich kann sogar Einsamkeit ertragen. Ich brauche gar kein Amusement. Ich weiß, was ich will. Und jetzt betest du dich ein bisschen selber an. Die größte Versuchung des emanzipierten Menschen ist, dass er seine eigene Kraft überschätzt. Er macht jetzt Schmuckstücke. Schmuckstücke sind Dinge, die deinen eigenen Wert erhöhen

64:02
und die man auch gut zur Schau stellen kann. Guck mich an, ich bin eine reife Persönlichkeit. Ich bin eine Führungskraft. Ich bin Vorstand der Deutschen Bank. Seit 20 Jahren erarbeitet. Da habe ich mich zielstrebig 20 Jahre lang. Und dann habe ich nichts geschenkt bekommen. Das habe ich mir alles sauber verdient. Ich bin Konrektor. Erste Staatssekretärin haben gesagt, jetzt bin ich Konrektor. Also ein bisschen zelebriert man sich da doch selber. Die große Versuchung ist, wenn du erwachsen bist, emanzipiert bist und die Eierschalen der Fremdsteuerung abgeworfen hast, dein Über-Ich ist jetzt unter Kontrolle deines Ich. Dass du deine Kraft für das Realste hältst, was es gibt. Und solche Menschen fragen dann manchmal, Gott, braucht man denn überhaupt? Ist das nicht eher so irreal? Real ist meine Lebenskraft. Das ist real.

65:01
Hält Gott mich nicht eher auf? Beschränkt er nicht meine Möglichkeiten? Jetzt wird meine Lebenskraft real und Gott wird ein bisschen irreal. Während man früher die Macht anderer Menschen überschätzt hat und immer das getan hat, was andere wollen, jetzt überschätzt man sich selber. Das ist die große Versuchung. Daraus entsteht der gesamte Atheismus. Ich bin real und Gott ist vermutlich ziemlich irreal. Und er hält mich in meiner Kraft eher auf. Um diese Problematik geht es hier. Deswegen zur Reife im biblischen Sinn findet der Mensch, der keine Menschenfurcht mehr hat vor Autoritäten oder Instanzen, der sich nicht mehr gängeln lässt, der nicht mehr im Zustand der Menschenfurcht ist und der andere Menschen nicht mehr überschätzt, aber auch sich selber nicht.

66:04
Dann kommt die letzte Station. Du stehst vor dem gelobten Land. Du bist schon am Jordan und siehst, da drüben geht es los. Ich bin dicht vor meiner Lebensbestimmung. Ich meine jetzt nicht der Himmel, sondern Lebensbestimmung, dass du eine erwachsene Persönlichkeit wirst, die ihren Platz, den Gott dir zugedacht hat, auch einnimmst und den auch verteidigst. Und überzogene Ansprüche an dich auch zurückweist. Darum geht es. Jetzt bist du dicht vor der Sesshaftwerdung. Jetzt brauchst du nur noch mit 40 oder 45, Stefan, jetzt brauchst du nur noch Sesshaftwerden. Lebe das. Und jetzt kommt eine letzte große Gefahr. Schon werden die Speer ausgeschickt. Alles ist zum Greifen nahe. Du bist dicht davor. Und jetzt kriegst du auf einmal den Eindruck, du bist nicht gut genug.

67:02
Als ich die Chance hatte, Professor zu werden, habe ich solche Selbstzweifel gekriegt. Wie fast noch nie im Leben. Ich habe schon manche Emanzipationsschübe durchlebt. Aber da dachte ich, Mensch, Siggi, packst du das? Kannst du das wirklich ausfüllen? Jetzt kommt kurz vor deiner Sesshaftwerdung in deiner Lebensberufung. Kann ich Mutter sein? Wie viele Fehler werde ich machen? Kurz vor deiner Lebensbestimmung überfällt dich noch mal die Werteschöie. Und du hast das Gefühl, du bist nicht gut genug. Und da melden die Speer, das sind Riesen. In dem Land deiner Bestimmung sind alles Riesen. Und du bist ein kleiner Wurm. Und gegen die Riesen wirst du nie aufkommen. Und jetzt kriegst du noch mal Angst. Und wenn du auf diese Angst eingehst, dann hast du Angst, dass nichts mehr möglich ist. Und du meinst natürlich, du bist nicht der erste, der musste. Sondern an der Stelle musst du dir sagen,

68:04
Gott wird mich tüchtig machen. Ich lasse mich nicht regieren von meinen Grenzen. Ich habe viele Grenzen, frag mal Frau, die kennt die. Aber wenn es um deine Lebensbestimmung geht, mach dich nicht selber schlecht. Lass dich nicht regieren durch den Gedanken, bin ich gut genug. Nein, Gott wird mit dir sein. Er wird dir zur gegebenen Zeit dich tüchtig machen. Denk nicht nur an deine Schwächen, denke an Gottes Möglichkeiten. So, das waren die 15 Stufen vom Weg Israels in das Land seiner Bestimmung. Und jeder Mensch geht diesen Weg. Auf dem Weg in deine Lebensbestimmung ist nichts gradlinig planbar, gar nichts. Es ist voller Gefahren, voller Irrwege, voller nochmal viermal die Runden drehen,

69:04
gell? Du kannst überhaupt nichts gradlinig planen, aber gerade so ist es der Weg in deine Reife. Und du wirst irgendwann erkennen, gerade so ist das Leben das größte Geschenk, das es gibt.

Alles anzeigen
Ausblenden

Entwicklung der Persönlichkeit: Das Leben als Exodus | 3.6.1

Worthaus@Freakstock 2013 – Borgentreich: 2. August 2013 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer

Siegfried Zimmer bricht mit seinen Zuhörern auf in die Wüste. Klar, dass dieser Vortrag eine besonders heiße Sache ist. Es geht nicht nur mit dem Volk Israel auf den langen Weg ins gelobte Land, sondern auf den langen und steinigen Weg ins gelobte Land eines jeden Menschen. Von einer Kindheit in Geborgenheit und einer Jugend in Abhängigkeit, geht es auf die Suche nach der Bestimmung des eigenen Seins, nach der eigenen Identität und schließlich ins Ziel, in ein selbstbestimmtes und aufrechtes Leben. Zimmers Interpretation des uralten Textes ist eine einzige Befreiung für die Moderne: Heute ist Exodus, heute ist Auszug, heute ist Aufbruch.