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Das Thema dieses Vortrags heißt die moralische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Der Schwerpunkt wird auf den Kindern liegen, aber ich schaue auch in das Jugendalter hinüber und ganz am Schluss, man weiß nie wie weit ich komme, vielleicht auch dann die moralische Entwicklung im Erwachsenenleben. Aber das kann ich nur kurz streifen, das ist ein eigener Vortrag. Ich lasse die Entwicklung bis zu vier Jahren rein aus pragmatischen Gründen weg. Ich setze also bei einer Phase ein zu ungefähr Vierjährige, weil die Jahre drunter sind ein eigener Vortrag. Ich habe es mir überlegt, aber es ist unmöglich, man kann nicht in einem Vortrag das alles reinpacken. Dann versteht man es auch nicht mehr.

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Ich orientiere mich in meinem Vortrag an Lorenz Kohlberg, der war Professor an der Harvard-Universität für Moral Education. Weltberühmter Mann, hat die grundlegenden Forschungen an der Harvard-Universität durchgeführt, 20, 30 Jahre lang. International, die Forschungen waren auch in Japan, in der Türkei, in Deutschland, in Südamerika, in den USA. Er hat Kinder über 20 Jahre lang begleitet in Langzeitstudien und sie immer wieder regelmäßig befragt. Lorenz Kohlberg starb 1986. Seine Schüler waren dann dran, Kiegen, Licona, Gilligen und andere, die sind heute auch so schon am Ruhestand. Es tritt dann praktisch die dritte Generation, die Enkel von Lorenz Kohlberg, treten jetzt langsam an den Großen, Yale, Princeton und Harvard und so weiter.

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Ja, mein eigener Chef, bei dem ich Assistent war, Professor Nipko, man kann sagen, er war der bedeutendste Religionspädagoge in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Und Professor Nipko, der auch lange Zeit Englischlehrer war am Gymnasium, der hat Kohlberg als erster deutscher Religionspädagoge in Deutschland bekannt gemacht. Damals gab es noch keine Übersetzungen ins Deutsche. Heute sind die gesammelten Werke von Lorenz Kohlberg viele Bände ins Deutsche übersetzt. Also mein Chef und einer meiner großen Lehrmeister, Professor Karl Ernst Nipko, vor einigen Jahren gestorben, hat Kohlberg in Deutschland bekannt gemacht. Friedrich Schweitzer übrigens, der ja da war, mit dem ich auch gut, guter Kollege von mir,

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hat ein Jahr lang in Harvard bei Lorenz Kohlberg studiert. Kohlberg ist heute durchaus auch umstritten, es gibt ja auch andere Schulrichtungen. Ich habe mich mit den Kritikern etwas beschäftigt und habe den Eindruck gewonnen, dass sie teilweise Kohlberg gar nicht verstanden haben und ihm aber auch auf jeden Fall nicht gerecht werden. Also sie kritisieren ihn unter Wert, deswegen nehme ich diese Kritik überwiegend nicht an. Man muss Kohlberg schon weiterentwickeln, die Schüler haben das ja auch getan. Und auch ich konzentriere mich auf die Dinge, die einfach gut sind, überzeugend sind, mit denen ich selber viele Jahre gearbeitet habe, an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und im Unterricht. Ich habe ja auch immer nebenher unterrichtet. An der Pädagogischen Hochschule ist es so, dass man jeden Dienstag in der Woche in der Schule ist. Auch mit Studierenden kann man alles Mögliche ausprobieren.

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Ich habe also diese Erforschung, die Forschungsergebnisse von Lorenz Kohlberg haben sich bei mir in 10, 15 Jahren sehr bewährt. Und deswegen sehe ich da keinen Grund, wobei ich bin jetzt nicht direkt ein Schüler von Kohlberg, das kann man nicht sagen. Aber er hat mir sehr wichtige, wertvolle Anregungen gegeben. Ich möchte überhaupt in diesem Vortrag auch euch zu spüren geben, dass die Entwicklungspsychologie sehr wichtig ist. In der Entwicklungspsychologie steckt manchmal mehr Liebe zum Kind als in anderen Kreisen, die von der Kinderliebe so viel reden. Denn viele Forscher haben sich, Piaget und viele andere, Maria Montessori, haben sich mit den Kindern mit einer Leidenschaft und Intensität beschäftigt. Tobias Falks hat ja gestern gesagt, predigen kann nicht jeder, aber Kinderarbeit kann ja jeder machen. Das ist der große Schaden in der frommen Welt, dass jeder Kinderarbeit machen kann.

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Theologische Ausbildung, religionspädagogische Ausbildung, was ist denn das? Kennen wir gar nicht, brauchen wir nicht. Es gibt Privatschulen, da kann jeder Religion unterrichten, ob er Theologie studiert hat oder nicht. Hauptsache, er lehnt die Evolution ab. Also solche grausamen Schulen gibt es wirklich. Gut, also die moralische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen nach Lorenz Kohlberg. Ich will ein paar wichtige einleitende Worte voranstellen. Lorenz Kohlberg spricht ganz bewusst von Moral. Er war ja Professor für Moral Education. Er spricht nicht von Ethik, spricht er manchmal auch, aber sein Hauptstichwort ist Moral. Moralische Erziehung in der Schule, in der Familie, in der Gesellschaft.

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Er spricht nicht von Werten und er spricht von Moral. Warum? Ja, sagt er, ich will dieses Wort den konservativen Menschen wegnehmen. Denn die Konservativen machen den Eindruck, dass sie die einzig moralischen Leute sind. Und wer anders denkt, wie sie, ist irgendwie nicht ganz so moralisch. In Amerika gibt es ja auch viele Grabenkriege. Und deswegen sagt er, ich verwende ganz bewusst das Wort Moral und verstehe darunter was anderes. Also er wählt bewusst das Wort Moral. Mein Professor, bei dem ich Assistent war, Karl-Heinz Nippke, hat ein Buch geschrieben, Moralische Erziehung im Religionsunterricht. Also Moral, was versteht Kohlberg unter Moral?

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Zunächst sagt er, es ist sehr wichtig, dass wir unsere Kinder moralisch erziehen, dass wir moralische Menschen werden. Denn Menschen tun anderen Menschen mehr an als Unglücksfälle, als alle Tsunamis und Erdbeben und wilde Tiere und Löwen und giftige Schlangen. Menschen tun anderen Menschen so viel Unrecht und Unmoralisches. Also sagt er, es ist schon ein sehr wichtiges Ziel. Was ist der Kern der Moral? Kohlberg sagt, Moral beginnt dort, wo ich die Situation und die Interessen anderer Menschen ernsthaft mitberücksichtige. Du darfst schon deine eigenen Interessen berücksichtigen und verfolgen. Nach Kohlberg kannst du sogar einen Schwerpunkt darauf legen. Also liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sagt Kohlberg, ist ein guter Spruch. Ich glaube aber, dass bei Millionen so in einem Massenpublikum USA, EU, dass das die meisten nicht hinkriegen, sagt Kohlberg.

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Also ich sage jetzt nicht meine Meinung, ich referiere Kohlberg. Also er meint, für meine moralische Erziehung will ich nicht so weit gehen zu sagen, das Ziel ist, liebe deinen Nächsten wie dich selbst, obwohl ich dieses Ziel sehr schön finde. Aber ist für eine Gesamtbevölkerung von 50 Millionen oder so oder 100, 200, ist ein bisschen zu hoch gegriffen. Also ich verstehe schon unter Moral, wenn du deine eigenen Interessen darfst du verfolgen, sogar voranstellen. Das machen ja eh die meisten. Aber du solltest die Interessen anderer Menschen ernsthaft und nicht nur so by the way, ernsthaft mitberücksichtigen. Es muss nicht 50-50 sein, aber ernsthaft. Dann beginnt die Moral. An einer anderen Stelle sagt er, Moral ist die Achtung vor dem Fremden.

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Achtung ist ja mehr als Respekt. Zu Respekt bin ich verpflichtet, zu Achtung nicht. Respekt kann man von mir verlangen, Achtung nicht. Achtung wird gewährt, kann man nicht verlangen. Und in diesem Sinne sagt Kohlberg, die Moral ist im Kern Achtung vor dem Fremden. Dann will ich mal so anfangen. Was ist der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Entwicklung? Ich will mal mit diesem Eingangstor beginnen und dann wieder auf Kohlberg zurückkommen. Auch das, was ich sage, ist nahe an Kohlberg, aber es ist relativ eigene Erfahrung und auch eigenständig formuliert. Weil diesen Schlüssel sollte man geschwind klären und dann gehen wir wieder zurück zu Kohlberg und dann komme ich in die einzelnen Schritte, die es da zu beachten ist.

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Es gibt tatsächlich meiner Überzeugung nach einen Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Entwicklung. Die menschliche Entwicklung hat eine gewisse Dynamik und diese Dynamik lebt im Entscheidenden von zwei Polen. Diese zwei Pole stehen in einer fruchtbaren Spannung. Und darin liegt die Dynamik, dass die menschliche Entwicklung sozusagen zwei Pole hat, die zueinander in Spannung stehen, in einer fruchtbaren Spannung. Und diese beiden Pole heißen das Ich und das Wir. Es geht in der menschlichen Entwicklung um eine Ich-Entwicklung, um eine Ich-Identität, Ich-Stärkung. Und es geht um Gemeinschaftsfähigkeit, dass ich auch eine Integrationsfähigkeit habe, eine Fähigkeit zur Solidarität und Anteilnahme.

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Also es gibt ein Ich und es gibt ein Wir. Und entscheidend ist, dass sich beide Pole langfristig, ich meine jetzt auf 10, 20, 30 Jahre, heute sagt man ja, Jugendliche reicht bis in die zweite Hälfte der 20er Jahre. Man ist vom Lebensgefühl her heute mit 25, 26, 27 noch meistens ein Jugendlicher. Deswegen ist es auch durchaus kein Zufall, dass das heutige Heiratsalter bei 27, 28, 30, 32 liegt. Das ist angemessen, denn man entwickelt sich heute in unserer Gesellschaft zwischen 20 und 30 noch enorm. Früher war mit 17 alles klar, Bäckersohn wird Bäcker und Schustersohn wird Schuster und mit 19 hatte man zwei Kinder.

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Da hat man sich zwischen 20 und 30 nicht mehr so grundlegend weiterentwickelt. Gut, also das Ich und das Wir. Und diese beiden Pole sollen sich langfristig, also ich meine jetzt mal von 0 bis 30, 35, also eine lange Zeit, langfristig beide gesund entwickeln. Und beide Pole sind gleich wichtig. Aus dieser ersten elementaren Erkenntnis, die menschliche Entwicklung hat eine Dynamik, weil sie zwei Pole hat, die zueinander in Spannung stehen, in einer schönen, fruchtbaren, unergründlich tiefen Spannung, nämlich das Ich und das Wir. Aus dieser Grunderkenntnis ergeben sich die zwei Leitziele der Erziehung. Ich würde sagen auch der christlichen Erziehung, aber ich meine jetzt mal grundlegend überhaupt der Erziehung.

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Nämlich das erste Ziel der Erziehung ist die Selbstständigkeit des Menschen. Man könnte auch sagen die Mündigkeit des Menschen. Und das zweite Ziel, genauso wichtig in einer Spannung dazu, die Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen. Ich könnte auch sagen die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen. Ich kann auch sagen die Kulturfähigkeit des Menschen. Das gehört alles zum Wir. Gehen wir mal zum ersten Ziel der christlichen und überhaupt der menschlichen Erziehung, Erziehung zur Selbstständigkeit und Mündigkeit. Wenn es eine Erziehung gibt, die nicht zur Selbstständigkeit und Mündigkeit führt oder das als Ziel gar nicht anstrebt, das ist also dann krank. Kann man nur kritisieren. Können wir also jetzt nicht als Leitvorstellung. Die Leitvorstellung ist Mündigkeit und Selbstständigkeit. Ich möchte mal bei diesem Ziel ein bisschen bleiben, dass es nicht nur so Schlagworte sind.

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Was bedeutet Selbstständigkeit und Mündigkeit? Das bedeutet viele Jahre selbstständig denken lernen, kritisch denken lernen, nicht sich alles vorgeben lassen. Ich denke an Paulus, prüfe alles. Das ist ja wirklich, gibt es etwas Gutes, dem denkt nach. Das sind super Hinweise. Also zur Mündigkeit gehört auch, trete heraus aus deiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Lass nicht andere für dich denken, denke selber. Wenn irgendwelche Führergestalten in Politik oder Religion sagen, du musst alles des übernehmen, was ich sage, eben das ganze Paket, entweder alles oder gar nichts. Und Führergestalten darf man nicht kritisieren. Ja, das führt natürlich nicht zur Mündigkeit und zur Selbstständigkeit. Zur Mündigkeit und Selbstständigkeit führt nur auch das selbstständige Denken, das man sehr früh lernen muss.

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Wenn man zehn, 20, 30 Jahre lang nur das Schäfchen einer Herde war, wie hoch ist dann deine Mündigkeit und Selbstständigkeit in Wahrheit? Also Jung, der große Psychologe, sagt auch, Selbstständigkeit und Mündigkeit bedeutet auch Individuation. Das heißt, dass du immer tiefer zu dir selber stehst, dich in deiner Originalität immer mehr annimmst. Der Anpassungsdruck an andere wird immer da sein, ist bei jedem da, aber du lässt dich von ihm nicht mehr wesentlich steuern. Du suchst deinen ureigenen Weg. Du kannst dich positionieren, du selber. Das muss dir niemand vorgeben. Du entwickelst deinen eigenen Stil. Und wenn dir kulturell oder politisch oder religiös Dinge vorgegeben werden, dann verarbeitest du diese Dinge in deiner Art.

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Du musst gar nichts pauschal schlucken nach dem Prinzip Vogelfriss oder Stirb. Das führt nicht in die Mündigkeit, sondern du hast ein Recht auf deinen eigenen Verarbeitungsprozess, den nur du so machst. Der nächste ist schon ein bisschen anders. Du wirst auswählen, was passt zu mir und was nicht. Also Individuation heißt auch, du hast den Mut, die wichtigsten Schritte deines Lebens auf deine eigene Kappe zu nehmen. Nur du bist dafür verantwortlich und sonst niemand. Da spricht Jung dann von der Werteschoi. Wir haben eine Scheu, der zu werden, der wir sind, denn es gibt nach Jung ein Reifungselend. Du wirst nur reif durch Elend, durch Mangelerfahrung.

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Auf dem Sofa und im ICE wird noch keiner reif. Also die Reife ist erlitten. Deswegen gibt es eine Werteschoi. Aber gegen alle Werteschoi möchte ich dir sagen, werde der, der du bist. Das ist aber ein Kampf über viele Jahre. Also Mündigkeit und Selbstständigkeit ist sehr schwer zu erreichen durch autoritären Erziehungsstil oder Gemeindestil oder politische Führergestalten. Autoritäre Führung, die nicht kritisiert werden darf, behindert die Selbstständigkeit und die Mündigkeit zutiefst. Ich muss aber auch gerne sagen, so wichtig mir das ist, weil ihr merkt, ich werde da richtig leidenschaftlich, ich könnte auch jetzt eine Stunde weiterreden. Aber das andere Ziel, Gemeinschaftsfähigkeit, ist genauso wichtig.

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Um was geht es bei der Gemeinschaftsfähigkeit? Ja, das beginnt mit der Kontaktfähigkeit. Dass ich gerne gesellig bin, kontaktfähig bin. Aber es gehört auch dazu, dass ich mich integrieren kann, dass ich mitarbeiten kann, dass ich an teilnehmen kann, dass ich fürsorglich bin, dass ich solidarisch bin. Also das ist genauso wichtig. Langfristig gesehen besteht das Entscheidende darin, wobei man das nie auf den Millimeter sagen kann, es gibt überall fließende Übergänge, die keiner genau sagen kann. Erwartet bitte keine genauen Regeln. Ihr sollt ja selbstständig werden. Und wenn ihr aus Gemeinschaften kommt, wo das nicht gefördert wird, dann beginnt jetzt damit. Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

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Immanuel Kant. Also anders wird es nicht gehen. Es war eine jüngere Frau bei mir Mitte 20, die sagt, sie hat immer noch so Höllenangst von ihrer christlichen Erziehung, dass sie die, auch wenn sie jetzt wirklich in einem guten Prozess ist, mit 25 noch nicht los hat. Wirklich richtige, giftige, lähmende Höllenangst. Ja, wie will man da mündig und selbstständig werden? Wie viele Gemeinden verhindern das im Kern? Durch Terror mit schlechtem Gewissen. Das geht aber schon in Richtung Gehirnwäsche. Also manchmal muss man sich aus bestimmten Gruppen lösen. Gut, aber Gemeinschaftsfähigkeit grundsätzlich sehr wichtig. Nur der Anpassungsdruck der Gemeinschaft darf nicht die Mündigkeit behindern.

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Also langfristig ist es sehr wichtig, dass diese beiden Pole, die Ich-Entwicklung und die Wir-Entwicklung, beide gleichberechtigt eingestuft werden und beide sich gesund entwickeln können. Wenn sich einer der beiden Pole einseitig entwickelt, der andere Defizite hat, das kommt millionenfach vor, dann kommt es zu kleineren oder mittleren oder größeren Einseitigkeiten. Die belasten die Menschen selbst, aber auch die Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen. Wenn also jemand sich in seiner Selbstständigkeit und Mündigkeit überbetont entwickelt und in seiner Gemeinschaftsfähigkeit Defizite hat, wird er zum Eigenbrötler, zum Querulant, zum Egomanen, zum Lonely Wolf. Was nützt denn die Mündigkeit, wenn du kontaktarm wirst?

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Was nützt dir die größte Selbstständigkeit, wenn du dich dabei in eine Isolation manövrierst? Also das kann es nicht sein. Aber wenn es gibt auch genau das andere Einseitigkeit, dass die Wir-Entwicklung überbetont wird, dann kannst du nur in einer Gruppe leben, das kann auch eine Gemeinde sein, und nur in einer bestimmten Gemeinschaft. Du bist ganz abhängig von der Gruppe, aber ich will jetzt nicht immer Gemeinde sagen, sondern ich denke jetzt einfach mal, das kann eine Band sein, das kann ein Verein sein, das kann eine Clique sein, das kann ein Berufsstand sein. Also du kannst nur in einer Gruppe leben, in deinem Bekanntenkreis und in deinem Freundeskreis. Mit dir alleine kannst du dich nur schwer beschäftigen. Du bist irgendwie abhängig, immer gerne in einer Gruppe. Du hast auch selten eigene Ideen, machst meistens das, was andere sagen. Ich denke an eine Bekannte, die ich vor vielen Jahren mal irgendwo hatte, die war immer in der Gruppe relativ still und hat halt das gemacht, was man dann so gesagt hat.

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Die war irgendwie antriebsschwach und hatte kaum eigene Anregungen. Also bist du so ein Gruppentier. Und daraus entwickeln sich zwei Empfehlungen. Du hast so bisher eher deine Ich-Entwicklung überbetont und spürst vielleicht selber immer wieder Defizite in der Fähigkeit, in einer Gruppe mitzuarbeiten, mitzuleben, dich zu integrieren, Anteil zu nehmen, fürsorglich zu sein. Dann suche nicht länger die Einsamkeit. Dann trainiere das Leben in einer Gruppe und in einer Gemeinschaft. Also spürst du selber oder sagen dir das auch andere, weil so Lonely Wolf und so Eigenbrödler verärgern oft ihre Zeitgenossen, ohne dass sie das selber merken. Aber manche Zeitgenossen spiegeln es dann zurück, dass das so nicht geht.

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Ja, dann trainiere deine Integrationsfähigkeit. Dann suche nicht die Einsamkeit, sondern suche das Gruppenleben. Also das heißt, es ist wichtig, dass wenn sich Einseitigkeiten herausschälen, dass man frühzeitig dagegen antrainiert. Das kann man. Und spürst du, dass du ein Gruppentier, ein Herdentier bist, ein Schäfchen, das einem Leitwolf oder einem Leittier folgt, der für dich denkt und der die Bibel sich dir vorgibt und er will, dass du das immer schön brav schluckst. Und du denkst halt so, wie in deiner Gruppe gedacht wird. Dann trainiere mal bitte deine Eigenständigkeit. Es ist nicht leicht, aber fang an. Also soweit. Und jetzt kommt noch zwei wichtige Punkte zum Schlüssel der menschlichen Entwicklung.

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Entscheidend für die Entwicklungspsychologie und darüber hinaus ist folgender Umstand. Diese beiden Pole, ich und wir, gleich wichtig, beide sollen sich langfristig gesund und gleichrangig entwickeln, können sich psychisch nicht gleichzeitig entwickeln. Das kriegt die menschliche Psyche nicht hin. Das heißt, es gibt Phasen im Leben eines Kindes, da ist stärker die Ich-Entwicklung dran. Und das ist auch gut so. Und wenn das gut durchlaufen ist, kommt wieder eine Phase, da ist stärker die Integration, das Wir dran. Das heißt, die beiden Pole sind zwar gleich wichtig und sie entwickeln sich auch immer gleichzeitig, aber nie in gleicher Intensität. Das ist eine der Grunderkenntnisse von Kohlberg. Sondern die beiden Pole entwickeln sich in Schüben. Es ist mal der Pol dominant und auch gut so und dann der andere.

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Dass beide gleichzeitig gleich stark sich entwickeln, ist nicht möglich. Und das ist der Schlüssel. Und das bedeutet zum Beispiel Folgendes, die menschliche Entwicklung geht also in Schüben, in Phasen. Ruhigere Zeiten, aber dann auch wieder wildere Zeiten, schwierigere Zeiten. Die menschliche Entwicklung ist kein gleichmäßiges Fließen oder so eine organische Entwicklung, wie eine Pflanze heranwächst. Sondern die menschliche Entwicklung ist ein Drama. Sie hat dramatische Elemente. Und ein letzter Punkt, Entwicklung hat mit Zeit zu tun. Es gibt zum Beispiel viele christliche Gemeinden, da geht es nur darum, bist du bekehrt oder nicht bekehrt und hast du die richtige Lehre,

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hast du die richtige Position. Aber es wird selten gefragt, wie hast du dich entwickelt. Aber diese Entwicklung ist wichtig. Wenn mich jemand fragt, Herr Zimmer, was vertreten Sie für eine Position? Da würde ich am liebsten sofort zurückfragen, und wie hast du dich in den letzten fünf Jahren entwickelt? Das ist mir viel wichtiger. Mich interessiert weniger deine Position, welche immer das sein mag, und wenn es die biblischste ist, die es gibt, interessiert mich erst zweitrangig. Aber was hast du gelernt? Wie hast du dich entwickelt? Wie wirst du dich in deiner Position in den nächsten fünf Jahren entwickeln? Was wirst du lernen? Wird sich dein Horizont erweitern? Ist deine Prägung dein Gefängnis? Oder hast du auch noch ein bisschen Spielraum? Also Entwicklung hat mit Zeit zu tun.

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Es gibt in der Entwicklung des Menschen eigentlich gar kein richtig oder falsch, unabhängig von der Zeit. Mir ist mal eingefallen, dass ein erfahrener Pfarrer, 50, 60 Jahre alt, sich ein bisschen abfällig über einen jungen Vicar, 26 oder so, geäußert hat, und dann so erzählt hat, was man bei dem alles nicht gefällt. Und dann habe ich zu dem Pfarrer gesagt, geben Sie doch dem jungen Mann Zeit. Mal sehen, was der mit 40 sagt. Ein Vicar darf anderes sagen, wie ein 50-jähriger Pfarrer. Es gibt nicht richtig oder falsch, unabhängig von deinem Reifestadium und deiner Entwicklung. Die Zeit ist wichtig, nicht nur die Korrektheit. Gut Ding will Weile haben. Kommt Zeit, kommt Rat. Take your time.

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Also ich habe schon manchen, die aus so engstirnigen Kreisen ausbrechen mussten. Die tun das ja nicht zum Vergnügen, weil sie so flippig sind oder, nein, sie leiden ja selber darunter. Und wo soll ich denn dann hingehen und so weiter? Ich sage da immer wieder, also mit 15 oder 15 Jahren müssen Sie schon rechnen. Wenn Sie da wirklich reifen wollen und bestimmte Enge durch Elternhaus oder frühkindliche Prägung oder eben durch enge Gemeinschaften, wenn ihr die übersteigen wollt, das sind alles jahrelange Prozesse. Und sie sind nicht einfach. Reif wird man nur durch Krise, Mangel und auch Scheitern. Der Segen liegt nicht nur im Gelingen. Der Segen liegt immer wieder auch im Scheitern. Okay, jetzt wieder zurück zu Kohlberg.

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Also wenn es so ist, dass die beiden Pole sich in Schüben entwickeln, nicht durch gleichmäßige Strömen, dann müssen Sie auch in der Entwicklung des Menschen mit Dilemmata rechnen, mit Krisen, mit Umgestaltungen, Umformungsprozessen. Und jetzt will ich mal erklären, was Kohlberg unter einer Stufe versteht. Er nennt diesen Schub, mal mehr auf der Ich-Ebene, dann mehr auf der Wir-Ebene, das wechselt sich immer ab. Er nennt einen solchen Schub eine Stufe. Es gibt bei Kohlberg sechs Stufen oder fünf Stufen. Bei der sechsten Stufe schwankt er selber. Er hat sie ein Weilchen vertreten und dann hat er gesagt, die sechste Stufe kann man nicht richtig sicher wissenschaftlich empirisch feststellen. Ich rede mal vorsichtiger nur von fünf Stufen. Aber in seiner Spätzeit gibt es einen sehr interessanten Aufsatz, den ich natürlich gelesen habe,

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die Wiederkehr der sechsten Stufe. Da hat er sich doch aus bestimmten Gründen entschlossen, wieder von sechs Stufen zu reden. Die Stufe 1 bis 2 nennt er präkonventionell, die Stufe 3 und 4 konventionell und die Stufe 5 oder eventuell 6 postkonventionell. Und in diesen fünf oder sechs Stufen, ich werde heute nur bis zur dritten kommen und die vierte andeuten, weil das ist die Stufen von Kindern und Jugendlichen. Was ist so eine Stufe? Ich habe immer wieder auch über Kohlberg Prüfungen gehabt im Examen. Und mein Eindruck war schon, wenn man Kohlberg so zwei Seiten in einem Lexikon liest und einpaugt, versteht man gar nichts. Ich kann mich nicht an eine einzige Prüfung erinnern in 20 Jahren, wo ich den Eindruck habe, die junge Frau und der junge Mann, das dürfen sie ja auch, Entwicklung ist Zeit,

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haben Kohlberg innerlich emotional verstanden. Ich hatte bei niemandem Eindruck. Es war Prüfungsstoff, den man gepaukt hat. War auch barmherzig, wenn sie gut gepaukt haben und die entscheidenden Stichworte einigermaßen. Also ich, weil in der Prüfung hat man ja ungeheure Macht. Karl Barth hat einmal gesagt, der große Theologe, was ist eine theologische Prüfung? Was ist ein theologisches Examen? Sagt Barth, ein theologisches Examen ist, wenn sich ein älterer Theologie Student mit einem jüngeren Theologie Student unter Zeitdruck über Dinge unterhalten, die sie gemeinsam interessieren. Das ist nach Karl Barth ein theologisches Examen. Und das habe ich versucht, in die Wirklichkeit umzusetzen. Bei meinen Prüfungen wurde auch oft gelacht. Das ging humorig zu, es war irgendwie ein Happening.

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Ich habe auch an der Universität Tübingen folgende Erfahrung gemacht. Je qualifizierter die Professoren dort waren, weil ich will nicht über Ludwigsburg reden, desto sanfter waren sie in ihrer Benutung. Gut, also jetzt versuche ich euch mal eine Stufe, weil das kann man auch blödsinnig schematisch, da sagt man, was ist denn das für ein Käse, man kann doch das Leben nicht so in Stufen einteilen. Sobald man von diesen Stufen läppisch redet, auswendig gelernt, verlieren sie irgendwie ihren Sinn. Also eine Stufe ist eine Weltanschauung, ist eine Gesamtsicht des Lebens. Eine Stufe kann man auch sagen, ist ein Regelsystem, ein inneres Regelsystem zur Verarbeitung aller Eindrücke, die ich sammle.

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Mein Verarbeitungsprozess wird in jeder Stufe anders dominiert. Also wenn ich eine Stufe wechsle, wechsle ich eine Weltanschauung, das ist eine Revolution. Christlich könnte man fast sagen, das ist ein Wunder, es wird alles anders. Es merkt man eben, es ist kein gleichmäßiges Fließen wie ein Fluss, sondern der Wechsel einer Stufe löst mehr oder weniger länger oder kürzer tiefe Unsicherheiten aus. Der Sprung in eine nächste Stufe gelingt eigentlich nur, wenn man zuversichtlicher ist als die Angst. In der Angst gelingt ja gar kein Stufenwechsel oder sehr schwer. Also es gehört ein Wagemut, eine Risikobereitschaft. Das Kind spürt, oh, ich wachse jetzt aus was raus, jetzt kommt was Neues auf mich zu. Und der Wechsel ist auch nicht, dass da was Besonderes passiert. Ein Wechsel dauert Wochen und Monate und in der Regel passiert da nichts Besonderes.

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Man merkt das so gar nicht. Aber wenn man gelernt hat, auf die Stufen zu achten, fallen einem ganz andere Dinge auf. Also bei der Stufe ist es auch so, man hat eine Anfangszeit, so eine Übergangszeit, die ist noch wackelig. Da weiß man gar nicht, bin ich jetzt da oder da. Dann hat so eine Stufe eine satte mittlere Periode, da ist sie richtig gut ausgeprägt. Und dann kommt man schon in den Übergangsbereich zur nächsten Stufe. Da sind wieder so Übergangsprozesse. Also es gibt ein Anfangsstadium einer Stufe, dann einen starken Mittelteil und dann gibt es wieder einen Endteil, wo man, wenn es gelingt, abspringen kann in eine neue Weltanschauung. Was muss man bei diesen Stufen, die ich jetzt also gleich behandeln werde, aber ich kann sie nicht einfach behandeln ohne diese und noch mehrere Vorbemerkungen. Diese Stufen nach Kohlberg bringen einen echten, wahren Fortschritt. Das Wort Fortschritt mag ich persönlich nicht so.

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Das ist auch ein bisschen aus der Übung gekommen, außer technischer Fortschritt. Weil es vertritt heute in den Geisteswissenschaften, glaubt kein Mensch mehr einen Fortschrittsglauben. Das ist so eine modernistische Illusion gewesen. Die Zeiten werden immer besser in der Flüchtlingswelle und man muss nur Aleppo sagen oder Ukraine oder sonst was. Glaubt kein Mensch mehr. Also statt Fortschritt sagen wir mal, ich glaube Kohlberg sagt Fortschritt. Aber das Wort ist irgendwie belastet. Jeder Wechsel zu einer nächsten Stufe ist tatsächlich ein echter Gewinn, eine Bereicherung. Deswegen lohnt es sich, wenn man in der Schule, in der Erziehung nicht sagt, komm, hier sind diese Stufen da, das ist mir egal. Das ist nicht gut. Man muss aber auf der anderen Seite wirklich ganz deutlich Folgendes sagen. Der Mensch wird nicht besser, wenn er die nächste Stufe erreicht.

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Also man darf das nicht elitär verstehen, als ob die Menschen bessere Menschen sind, wenn sie auf Stufe 4 oder 5 sind. Darum geht es gar nicht. Also man darf das nicht arrogant werden. Man ist auch Gott nicht näher. Es kann leicht sein, das weiß ja kein Mensch, also ich halte das ohne weiteres für millionenfach möglich, dass Menschen, Kinder, Jugendliche auf der Stufe 0, die gibt es auch, 0, 1, 2, Gott wesentlich näher sind, wie Menschen auf der Stufe 5. Also man kommt auch nicht Gott näher, wenn man die höheren Stufen sozusagen, schon das Wort höher ist ein bisschen bedenklich, weil es klingt elitär, als ob man dann höhere Wesen sind. Also man muss alles abwertende, alles elitäre und vor allem auch religiös, ein religiöses Stufen denken, muss man vollkommen ausschließen. Trotzdem ist es aller Fleiß und Anstrengung wert, in die nächste Stufe zu kommen.

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Der fehlt Schluss zu sagen, du bist doch Gott auf Stufe 4 auch nicht näher wie auf Stufe 3 und auf Stufe 5, da kann jemand von Stufe 2 Gott näher sein, also was soll das Ganze? Das ist ein bisschen blöd. Dann brauchen wir ja gar keine Bildung mehr. Also was ist der Gewinn auf der nächsten Stufe? Kann ich in wenigen Sätzen sagen. Es geht bei diesen Stufen um die Erforschung des moralischen Denkens, also nicht der Emotionen. Kohlberg hat sich ganz auf die kognitiven Dinge konzentriert, weil sie natürlich viel leichter zu erforschen sind. Also Kohlberg hat erforscht die Entwicklung des moralischen Denkens und Urteilens. Gut, was ist der Gewinn im moralischen Denken und Urteilen, wenn du von Stufe 1, 2, 3 und so weiter kommst?

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Auf jeder höheren, ich meine jetzt einfach nur die Zahl, auf jeder höheren Stufe nimmst du mehr Gesichtspunkte wahr. Also dein Urteil wird umfassender. Die niedere Stufe ist auf den unteren Stufen oft nur ein einziger Gesichtspunktausschlag. Die anderen Gesichtspunkte hat man gar nicht im Blick. Die sind noch nicht im Blickfeld. Also das Blickfeld weitet sich, der Horizont weitet sich und es treten mehr Gesichtspunkte im Entscheidungsprozess auf. Je mehr Gesichtspunkte du in deinem moralischen Denken berücksichtigst und je weniger du ausblendest, das ist für unser Zusammenleben und für unsere menschliche Reife sehr wichtig. Gut, Kohlberg hat auch festgestellt, man kann keine Stufe überspringen. Es gibt keinen Menschen, der eine Stufe überspringen kann.

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Die frühkindlicheren Stufen, also die niederen, ich mag das Wort nicht, die ersten Stufen sind ja auch grundlegend, also lass mal nieder und höre ganz weg. Die ersten Stufen sind auch kürzer, vielleicht ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre. Die nächsten Stufen dauern auch länger. Je später so eine Stufe ist, also je höher die Zahl ist, desto länger dauern auch Stufen und desto stärker variieren sie. Also ein Fehler, mancher, die Kohlberg so in die Praxis versucht haben umzusetzen, die sie zu stark an den Zeiten festgehalten haben. Man muss da sehr variabel sein, weil die Entwicklung ist nicht angeboren, die hängt von vielen Faktoren ab. Und sagen wir mal autoritär erzogene Kinder gelingt der Wechsel von Stufe 1 zu 2 sehr, sehr schwer. Und auch später. Also es hängt von vielen Dingen ab.

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Also so eine Stufe kann nicht übersprungen werden, sie dauert eine gewisse Zeit, ein Jahr, zwei Jahre, kann aber auch das ganze Leben dauern. Und es ist so, man kann immer nur in die nächste Stufe. Und wenn Lehrer zum Beispiel, sie haben eine Klasse auf der Stufe 2 und sie unterrichten, ihre Erklärungen liegen auf der Stufe 4, können die Kinder das nicht verstehen. Man kann immer nur plus eins jemand fördern, indem man auf einer Stufe höher, auch sagen wir mal, wenn jemand auf Stufe 5 ist und er unterrichtet eine Klasse, fünfte Klasse Stufe 2, muss er auf der Stufe 3 vor allem argumentieren. Weil den Sprung schaffen sie. Man hat zum Beispiel festgestellt, wenn man einem Kind, sagen wir mal auf der Stufe 2, eine Antwort von einem Menschen oder ein Text oder eine Rede oder ein paar Sätze von einem Menschen

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vorliest, der auf der Stufe 3 ist und dem Kind sagt, liest du das mal ein paar Mal durch, kannst du das verstehen, kannst du das mit deinen eigenen Worten wiedergeben, dann können das viele Kinder, wenn sie nicht gerade auf der Anfangsstufe sind, in der Mittleren können sie das schon und in der Endstufe sowieso, sind sie ja selber nicht mehr weit weg. Wenn man aber Kindern einen Text oder Sätze vorliest von einem Menschen auf der Stufe 4 und ihnen sagt, kannst du das in eigenen Worten wiedergeben, ist nicht möglich. Sie verstehen gar nicht, was der will. Das ist auch wichtig, wenn man fördern will in der Schule. Man kann nämlich diese Entwicklung des moralischen Denkens enorm fördern. Dann ist auch wichtig, die Stufe 4, also ich will mal so noch vorneweg sagen, die Stufe 3 ist eigentlich so die moralische Stufe der Jugendlichen in der Vorpubertät und in der Pubertät.

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Aber auch sehr viele Erwachsene kommen nicht weiter wie die Stufe 3, ihr Leben lang. Sagen wir mal, in Indianerstämmen oder in Sumatra, also ich will jetzt niemanden diskriminieren, also in Stammesgesellschaften ist es kaum möglich, überhaupt in die Stufe 4 zu kommen. Also es hängt auch von der zivilisatorischen Entwicklung ab. Also auf jeden Fall ist besonders brisantes Verhältnis der Stufe 4 zur Stufe 5. Also ein erheblicher Teil der Erwachsenen bleibt auf der Stufe 3. In den fortgeschrittenen Demokratien ist es eine Minderheit der Erwachsenen, aber eine kräftige Minderheit, sagen wir mal. Ein Fünftel, ein Viertel, vielleicht ein Drittel oder so, irgendwie in dem Bereich, bleibt auf der Stufe 3. Die Stufe 4 setzt eine gesamtgesellschaftliche Verantwortungsbereitschaft voraus,

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die über das Bezugsfeld im Nahbereich, sei es religiös, politisch oder sportlich oder musikalisch, so ein Klickenhorizont. Man kann sagen, die Stufe 3 ist noch ein Klickenhorizont, da ist die Klicke unheimlich wichtig. Wenn in der Klicke Autoradio-Diebstahl üblich ist, dann ist Autoradio-Diebstahl gut. Also man übernimmt ganz stark die Werte und den Lebensstil der entscheidenden Bezugsgruppe. Kohlberg hat Leute festgestellt, also Chefs von Gangs in Chicago, Kohlberg hat sehr viel in Gefängnissen gearbeitet mit Jugendlichen und er hat festgestellt, es gibt Gangführerbandenchefs, die können auf der Stufe 5 moralisch denken. Das ist glasklar, aber sie handeln auf der Stufe 3, weil sie haben kein Umfeld, wo sie auf der Stufe 5 leben können. Sie leben in dieser Diebstahlbande und da ist es halt so.

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Also wenn du auf der Stufe 5 denken kannst, ist damit noch nicht automatisch gesagt, dass du auf der Stufe 5 auch handelst. Man kann sie ja auch zurückentwickeln. Kohlberg hat festgestellt, dass Leute vom Wilden Westen und aus so wirklich sehr reduzierten religiösen Gemeinden kommen dann an eine Uni und kommen tatsächlich in die Stufe 4, manch jetzt gerade in 5 und wenn man sie 10 Jahre wieder auf der Ranch besucht, denken sie auch nur noch in der Stufe 3. Man kann sich also auch im Denken zurückentwickeln. Also ist nicht gesagt, dass das Denken immer bleibt, du brauchst Anregungen, Ermutigungen und es ist auch nicht gesagt, dass du auf der Stufe, wo du denkst, auch handelst. Besonders brisant ist das Verhältnis der Stufe 4 zur Stufe 5. In der Stufe 1 und 2 bist du präkonventionell, 3 und 4 konventionell und Stufe 5 ist postkonventionell, da ändert sich sehr viel. Und da haben viele auch konservative Kreise behauptet,

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im Rahmen der universitären Wissenschaft, ob du auf Stufe 4 bist oder auf Stufe 5. Das ist gar keine Entwicklung, lieber Kohlberg, das ist eine Entscheidung. Mir ist eben die Stufe 4 lieber als die Stufe 5, das ist meine Entscheidung. Und da kann man nicht sagen, der in der Stufe 5 ist weiterentwickelt. Das ist aber eine konservative Schutzbehauptung. Denn man hat sehr plausibel festgestellt, nein, es ist eine Entwicklung. Zum Beispiel hat Kohlberg in vielen 100 Interviews festgestellt, ein Mensch der Stufe 5 kann sehr gut einen Menschen der Stufe 4 verstehen, kann ihn auch seelsorgerlich beraten und betreuen, wenn man es mal so will. Aber ein Mensch der Stufe 4 kann nicht seelsorgerlich arbeiten bei einem Menschen der Stufe 5.

46:04
Er kann ihm gar nicht gerecht werden. Er zieht ihn unbewusst, ohne dass er es selber groß merkt, in eine Richtung, wo er auf Stufe 5 sagt, da war ich doch schon vor 15 Jahren. Da will ich ja nimmer hin. Weil er durchschaut es, was der auf Stufe 4 ausblendet, was man in Stufe 5 ins Blickfeld rückt. Wie kann man methodisch arbeiten, das will ich nur ganz kurz sagen. Kohlberg arbeitet mit moralischen Dilemmata. Du trägst also einer Klasse oder einer Gruppe ein moralisches Dilemma vor und dann lässt du die Klasse diskutieren, das ist spannend, das machen die unheimlich gern, und lässt sie begründen. Übrigens sind solche moralischen Diskussionen sehr gut, weil in einer Klasse oft zwei Stufen sind. Im Extremfall können auch mal drei Stufen sein und die knallen dann aufeinander.

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In vielen politischen und religiösen Diskussionen verkanten sich die Diskussionen deshalb, weil der eine Gesprächspartner auf der Stufe 5 denkt, der andere auf 4 oder 3. Da kommt nicht viel raus, wenn die aufeinander knallen. Also sehr viele Diskussionen, die scheitern, liegen an der Entwicklung des moralischen Denkens. Deswegen ihr Lieben, entwickelt euch. Also, wie arbeitet man mit moralischen Dilemmata? Es gibt ein berühmtes Dilemma, mit dem Kohlberg angefangen hat. Es ist nicht besonders gut, aber es ist berühmt und es ist auch nicht ganz schlecht. Wenn der Schwabe sagt, nicht schlecht, das ist ein großes Lob. Also, da war ein junger Arzt, der war gerade fertig geworden mit dem Medizinstudium, sagen wir mal in Tübingen oder so. Und zur Feier mit seiner Freundin oder Verlobten fliegt er nach London, aber über dem Ärmelkanal,

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riesen Windprobleme und der Pilot lässt über Lautsprecher sagen, wir müssen leider notlanden auf dem Meer. Dann fängt der Typ an zu beten und sagt, jetzt mal so idealtypisch, lieber Gott, wenn ich das überlebe, gehe ich als Arzt in die Entwicklungsländer, Afrika oder so, und nehme meine künftige Frau mit. Sie haben auf dem Wasser notlanden müssen, haben aber, ist nicht viel passiert. Und dann kehrt er wieder zurück, bekommt eine tolle Stelle als Arzt angeboten. Und jetzt ist die Frage, ist er an dieses Versprechen gebunden, ja oder nein? Und jetzt lässt man die Schüler antworten, sie können ja auch selber mal überlegen. Wobei das Entscheidende nicht ist, ob man mit ja oder nein antwortet, ist schon auch interessant, aber ist nicht mal entscheidend, sondern die Begründung ist entscheidend.

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Ja, also bei dem Pauls-Dilemma wird man schon sagen können, auf Stufe 5 fühlt man sich, also Luther fühlte sich ja an so ein Versprechen gebunden, der war sicher nicht auf der Stufe 5 der moralischen Entwicklung damals, also fast vom Blitz getötet wurde, weil man sagt, ein Versprechen, das man unter großem psychischen Druck, fast unter erpresserischem Druck abgegeben hat, soll man auch nicht leicht nehmen. Wenn man Gott ein Versprechen gibt, das soll man überhaupt nie leicht nehmen. Also bloß kein Schwarz-Weiß-Denken jetzt, das gibt es schon auf der Stufe 4 nicht mehr und auf der Stufe 5 schon gar nicht mehr. Also bitte jetzt nicht sagen, der Zimmer hat gesagt, es ist völlig egal. Ich flehe euch an. Also, aber man würde auf der Stufe 5 wohl schon sagen, automatisch unter allen Bedingungen dran gebunden bist du nicht,

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weil das ist eine extreme Ausnahmesituation. Es möge sich selber jeder überlegen, ob er das dann trotzdem halten will oder nicht, aber moralisch eisern verpflichtet es zu halten ist er nicht. Ich sage aber auch nicht, dass es egal ist, ist eine sensible Frage. Aber es gibt Stufen, wo man unbedingt sagt, muss man absolut halten. Und ich sage mal ein anderes Dilemma, ein britischer Diplomat im 19. Jahrhundert irgendwie kam nach Indien als Gouverneur in die indische Kronkolonie und dann war er gerade so ein paar Wochen dort und dann erfährte man, dass man in Indien die Witwen verbrennt. Also wenn ein Mann stirbt, auch jünger, mit 30, 40 Jahren, verbrennt man seine Frau. Und dann hat er erst mal wahnsinnig getobt, das ist ja Mord und das geht ja nicht, war ein christlicher Mensch. Und dann haben aber ebenso Leute, die schon länger in Indien waren, 10, 20, gesagt, Vorsicht, Vorsicht, das ist eine jahrhundertelange Tradition, die im Gewissen der Inder natürlich ganz anders verankert ist als in London.

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Und also Vorsicht. Und jetzt fragt man die Kinder und Jugendlichen und Erwachsenen, wenn ihr der Gouverneur gewesen wärt und jetzt eine Entscheidung fällen müsstet, soll man die Witwenverbrennung weiterhin zulassen oder soll man sie verbieten? Was meint ihr? Und jetzt kommt es auch nicht allein auf Ja und Nein an, sondern die Art der Begründung. Ich habe mal eine Lehrerverbindung in der Schweiz gemacht über Kohlberg und dann habe ich gesagt, ja, wenn ich zu euch komme, überlegt euch doch ein moralisches Dilemma, das ihr wirklich gerade so erlebt habt. Man hat nämlich festgestellt, ein künstliches Dilemma merkt man irgendwie. Wenn man ein echtes moralisches Dilemma, in dem man selber steckt, sehr realistisch, authentisch rüberbringt,

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das kitzelt das moralische Denken viel stärker an. Also haben die mir ein moralisches Dilemma erzählt, das sie vor einem Vierteljahr erlebt haben, der Rektor mit einem ganzen Lehrerkollegen. Sie hatten einen fürchterlich schwierigen Schüler auch durch die Familie gestört, die auch schon mal Schulausschluss gehabt und jeder Lehrer verliert die Hälfte seiner Nerven an diesem Schüler. Und dann hat man einen endgültigen Schulausschluss den Eltern miterteilt, geben sie doch ihren Schüler ein bisschen weiter weg in eine etwas entferntere Schule, Nachbarschule, wo man das Problem gar nicht kennt. Das haben die Eltern dann auch gemacht und haben den Schüler dort in der neuen Schule angemeldet. Und jetzt hat man im Lehrerkollegium der Schule echt kontrovers diskutiert. Was sollen wir tun? Sollen wir den dortigen Rektor und das Kollegium warnen? Weil der Schüler ist wirklich sehr schwierig. Wir haben uns in fünf Jahren die Zähne ausgebissen.

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Also sind wir verpflichtet, die ein bisschen vorzuwarnen? Oder sollen wir diesem Schüler und den Eltern die echte volle Chance auf einen Neuanfang machen? Und das ist ein moralisches Dilemma. Jetzt diskutiert man das, sammelt alle Argumente, gibt sich Zeit. Das ist wie sozusagen jetzt eine Nahaufnahme. Der verlorene Sohn sitzt bei den Schweinen, hat sich da so auf den Grashütel gesetzt und sagt, soll ich jetzt heimgehen? Der Papa ist vielleicht fürchterlich verletzt, ich habe das Erbe verschleudert. Oder soll ich nicht heimgehen? Wenn man das in der fünften, sechsten Klasse macht, doppelt, das ist so eine Methode, kann sich jeder Schüler mal auf den Stuhl setzen, da ist er der verlorene Sohn. Kann denken, gehe heim oder gehe nicht heim. Also wenn man mit diesem moralischen Dilemmata in Schulklassen regelmäßig arbeitet,

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zwei, drei Jahre lang, sind die eindeutig weiterentwickelt wie andere Schulklassen, indem man solche moralisch schwierigen, komplexen Situationen, wo es keine glatte Lösung gibt, die sind echt weiter im Diskutieren. Jetzt beginne ich mal mit den Stufen. Es gibt eine Stufe Null, die nennt Kohlberg auch bewusst Null, die ist so idealtypisch von vier bis fünf, kann aber durchaus ein halbes Jahr schwanken, kann man schon dreieinhalb, kann man da schon reinkommen, manche mit viereinhalb, und das ist ja eine große Schwankung, das ist ja, wenn man sagt, der eine kommt mit dreieinhalb, der andere mit viereinhalb, das ist ja ein Jahr von vier Jahren, das ist ja 25 Prozent. Da darf man jetzt also nicht sagen, das ist aber eine kleine Schwankung, nein, bei Vierjährigen ist das eine große Schwankung. Das wäre so, wie man sagen könnte, Zwanzigjährige und 28-Jährige. Also die Stufe Null geht so, da ist die Entwicklung des Ich im Vordergrund.

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Man kann übrigens so sagen, von Null bis Zwei, auch wenn auch Kleinkinder mit 14 Monaten schon einen sehr starken Willen haben können, werden viele Eltern bestätigen, dass sie sich nicht mehr so an die Kinder kümmern, die Kinder nicht mehr so an die Kinder kümmern. Also von Null bis Zwei ist das Wir insgesamt im Vordergrund. Von Zwei bis Drei, die Kinder können jetzt alle sprechen und laufen, auch die Spätzünder. Und durch das eigene Sprechen und Laufen sind jetzt viele neue Möglichkeiten dran, da ist das Ich jetzt im Vordergrund. Und das Interesse daran ist, dass die Kinder jetzt auch mit den Kinderarbeiten dazu zu gehören. Deswegen ist von Drei an die gute Zeit für den Beginn des Kindergartens. Und jetzt von Vier bis Fünf ist wieder das Ich dran.

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Das Interessante ist, dass auf dieser Stufe, deswegen nennt Kohlberg das schon mal eine Stufe, von Null bis Zwei und Zwei bis Drei und Drei bis Vier spricht er noch nicht von Stufen, obwohl die grundlegend wichtig sind. Und die Kinder im Alter in der Regel, also alle sehr variabel halten, in der Regel ihr eigenes Verhalten irgendwie schon ein bisschen begründen können. So erste zarte Formen der Moralphilosophie. Und das Interessante ist, dass alle Kinder auf der Welt in allen Erdteilen, in allen Religionen, in allen Kulturen die gleichen Begründungsversuche machen. Interreligiös und interkulturell. Denn was ist die Grundlage dieser kleinen Lebewesen, Vier bis Fünf? Welche Art von Philosophie haben die? Und zwar müssen wir die ganz ernst nehmen, weil alle Kinder auf der Welt haben sie. Sie haben gar keine andere Möglichkeit. Das heißt, wenn alle Kinder auf der Welt auf Stufe Null, auf eine bestimmte Art und Weise argumentieren,

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soweit sie das überhaupt können, oder eben leben, dann müssen wir sagen, das muss ganz tiefe Ursachen haben. Denn alle Kinder auf der Welt machen es so. Also bitte nehmt das ganz ernst. Was ist die Grundlage dieser Kinder? Ja, die Grundlage ist die Realität, die für sie am wichtigsten ist, die ihnen am nächsten steht und am vertrautesten ist. Und das ist die Realität ihrer Bedürfnisse. Und aus ihren Bedürfnissen kommen ihre Wünsche. Und die Wünsche liegen alle auf dem Gefühlsbereich. Kinder in diesem Alter leben ungebrochen in ihren Gefühlen. Also die Realität, auf die die Kinder jetzt als erstes Bezug nehmen, überhaupt, sobald sie überhaupt Bezug nehmen, ist die Realität ihrer Bedürfnisse. Und das ist natürlich grundlegend wichtig bis ins Alter.

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Für mich sind auch meine Bedürfnisse nach wie vor grundlegend. Also da wird etwas in den Kindern jetzt angesprochen, was für das ganze Leben bleibt. Aber in dieser Phase spielt das eine ganz spezifische Rolle. Nämlich, man kann sagen, die Philosophie, die Überzeugung, das moralische Denken. Mit moralischem Denken meint Kohlberg immer, was empfinden Kinder als gerecht? Also er stellt die Gerechtigkeitsfrage in den Mittelpunkt. Und Gerechtigkeit hängt zusammen mit Richtig. Merkt man noch im Deutschen, Gerecht in Recht steckt das Wort Richtig. Im Englischen noch viel stärker, denn All right oder right heißt richtig. Ein Lehrer im Englischen, in England kann sagen, wenn die Schülerantwort richtig ist, kann der Lehrer sagen, right. Es gibt aber auch die human rights und das sind die menschlichen Rechte. Justice Ministry heißt in Amerika, England, gerecht. Also was wir sagen, Justizministerium, heißt in England und in Amerika Gerechtigkeitsministerium.

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Justitia ist ja nur der lateinische Name für Gerechtigkeit. Also im Englischen hängt Recht und Richtig, right und right unheimlich zusammen. Also was empfinden Kinder als gerecht, was empfinden sie als richtig und was empfinden sie als falsch oder ungerecht. Das ist die Grundfrage durch diese Stufen hindurch. Also bei der Stufe Null, diese Stufe kann man in drei Sätzen im Kern ausdrücken. Also die Moralphilosophie der Vier- bis Fünfjährigen auf den Kern gebracht, heißt folgendermaßen. Gut ist, was ich wünsche. Richtig ist, was ich wünsche. Gerecht ist, wenn ich das bekomme, was ich wünsche. Das ist gerecht. Da könnt ihr euch drehen und wenden, wie ihr wollt, in Japan oder Neufundland oder auch Deutschland.

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Das ist die Moralphilosophie der Kinder. Die ist nicht schlecht, die ist nicht unchristlich. Das ist die einzige, die möglich ist. Sie beziehen sich auf ihre Bedürfnisse, die sich in ihren Wünschen äußert. Was ich wünsche, ist gut. Das gehört mir. Ihr habt ein Recht drauf. Also Sie sind ganz stark von dieser Wirklichkeit erfüllt. Sie leben sehr in Ihrem Ich und das dürfen Sie auch. Natürlich heißt es nicht, dass man Ihnen alles gestattet, aber man braucht das Verständnis. Dieses Trotzalter, nennt man es ja auch, diese Stärkung des Ichs, auch aggressiv und abgrenzen, ist gesund. Jede Familie muss schauen, da gibt es kein Patentrezept, dass wir das mit Verständnis zulassen, aber natürlich nicht alles einfach nur genehmigen. Schon klar. Aber Kinder in diesem Alter können schon, wenn ein Kind weint,

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dann ist so ein Kind auch traurig, es spürt schon durch Gefühl, oh, das Kind ist jetzt traurig, irgendwas ist da. Also Kinder können schon sehr Mitgefühl haben auf der Stufe. Voraussetzung ist, dass sie selber diese Erfahrung kennen. Und Voraussetzung ist, dass diese Anteilnahme am anderen nicht in Konkurrenz steht zu ihren eigenen Bedürfnissen. Sobald Bedürfnisse andere, auch so empathische Anwandlungen, die Kinder in dem Alter durchaus haben, irgendwie die eigenen Bedürfnisse treffen, dann ist auch Schluss. Also am stärksten ist es bei Eigentumsrechten. Ich will mal ein Beispiel erzählen. Vor vielen Jahren, ich werde das nie wieder vergessen, ich dachte, der Kohl war ein sapper Lot. Also bin ich durch ein schwäbisches Dorf gegangen mit einer jüngeren Mutter, die früher eine Nachbarin von mir war,

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und die habe ich mal besucht. Die hatte also ein Kind, ich sage auch nicht mal den Namen, also von mir aus Fritz, nein, nicht Fritz, sagen wir mal, der hieß Marvin. Also hat die Mutter gesagt, wir haben Kaffee und Kuchen gegessen, Siggi, komm, wir gehen, es ist gerade so schönes Wetter, wir laufen ein bisschen spazieren durchs Dorf. Also der Marvin auch, hat ein ganz neues Dreirad, und saß er so stolz drauf. Kommt aber in der Nachbarin vorbei, anderes Haus, Frau sowieso, ja, ja. Die hatte auch so ein Kind in dem Alter, haben sie so ein bisschen geplaudert, und jetzt wollte das andere Kind auch auf das Dreirad rauf. Ich sage euch, der Marvin, aber der wurde zum Löwen. Nix da. Jetzt war das der Mutter peinlich. Man hat ja gleich das Gefühl, oh, jetzt erscheine ich da als schlechte Mutter, die das Kind schlecht erzogen hat.

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Da laufen ganz komplexe Vorgänge ab. Und dann sagt die Mutter, Herr Marvin, guck mal, der will doch auch mal auf dem Dreirad spielen. Nix da, hat doch sich reingekrallt. Die Mutter hat zwei, drei Mal probiert. Nix da. Oh, das ist aber jetzt peinlich, sagt die Mutter zur Nachbarin. Der ist sonst nicht so. Es war für das Kind eine fürchterliche Erfahrung, für die Mutter auch, und ich glaube, für die Nachbarin irgendwie auch. Dann sind wir weitergegangen, das Haus war schon gar nicht mehr zu sehen, die Mutter war irgendwie abgelenkt von Marvin. Da bin ich zu Marvin hin und habe gesagt, Marvin, das hast du ganz richtig gemacht. Weißt du, das hätte ich auch gemacht. Ich hätte es auch so gemacht wie du. Wolltest doch dein Dreirad, oder wolltest du doch du jetzt gerade fahren. Das hast du richtig gemacht. Da haben die Augen geleuchtet.

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Also habe ich dann zu der Mutter gesagt, in dem Alter können Kinder ein Eigentum nicht hergeben. Es ist unmöglich, es ist psychologisch unmöglich, wenn sie selber gerade fahren wollen. Wenn der jetzt vier Stunden auf dem Dreirad gefahren wäre und so richtig abgesättigt wäre, dann wäre der vielleicht neben dem Dreirad inzwischen hergelaufen und dann kommt er noch. Dann hätte er dem lässig das Dreirad gegeben. Also Kinder können es schon hergeben, aber nicht, wenn sie es selber wollen. Also wie könnte man da als Mutter handeln? Man könnte der Nachbarin sagen, wissen Sie, es geht gerade nicht, er kann ja gerne morgen kommen oder heute Abend, aber im Moment geht es nicht. Und dann zum eigenen Kind sagen, ja, das kann ich, also dem Kind zeigen, dass man es versteht. Nicht das Kind vor den anderen herabsetzen. Also am nächsten Tag wäre das gar kein Problem.

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Gut, also auf der Stufe Null ist man sehr auf die Entwicklung des eigenen Ich eingestellt. Ja, also auf der Stufe Null ist auch ganz typisch, die Kinder manipulieren die Wirklichkeit so lange, bis sie ihren Wünschen entspricht. Sie lügen, sie lügen ist auf der Stufe relativ normal. Kommen Sie bloß nicht mit den Zehn Gebote, sondern die lügen, sie schummeln, sie tun beim Spielen eine Ausnahme erwirken. Also Sie wollen einfach, Sie haben so lange schlechte Laune, bis die Eltern genervt nachgeben. Aber auf der Stufe mit der Schwierigkeit müssen Sie von vornherein rechnen, die Kinder manipulieren, was nur geht. Lügen heißt auf der, eine Lügengeschichte oder irgendwas, heißt auf der Stufe, ich hätte es halt gern und es wäre schön, wenn das Wahrheit wäre.

66:02
Also eine Lügengeschichte zeigt nur, was Ihr Kind gern will. Es ist noch keine moralische Sache. Lügen in der Stufe Null ist vollkommen normal. Muss man nicht gerade fördern, aber es ist auch kein größeres Dilemma, kein Problem. Und Sie provozieren, Sie sagen die schlimmsten Worte, die Sie irgendwoher gehört haben. Und wenn Sie dann belohnt werden durch erschreckende Eltern oder durch irgendwelche Aufschreie, dann reizen Sie zur Wiederholung. Also in den meisten Kindergärten hat man sich darauf geeinigt, wir bleiben ganz cool. Wir machen gar nichts. Wir erschrecken auch nicht. Und da hören die relativ bald auf, das hat sich gezeigt. Gut, aber diese Lösung geht natürlich nicht immer, wenn Besuch da ist und so. Da kann man also schon sagen, wenn andere Kinder dann auch dabei sind, da könnte man zum Beispiel sagen, also dann geht bitte nach draußen, da könnt ihr euch Wörter sagen, wie ihr wollt, aber wir wollen sie nicht hören.

67:03
Kann man schon sagen. Also ihr müsst in dieser Phase jede Familie für sich, ist eine harte Arbeit, gibt keine Patentrezepte, also viel Verständnis haben, aber schon irgendwo auch Grenzen setzen. Ganz wichtig, wenn man in dieser Zeit nicht im Notfall eiserne Grenzen setzt, können die sich zu Tyrannen entwickeln. Das ist ja auch die These von Winterhoff und so. Ich will dazu nichts sagen. Aber wichtig ist gleich, Kinder wieder ablenken aus den Augen, aus dem Sinn und Verständnis zeigen. Die Kinder merken, dass die Eltern sie verstehen. Gut, jetzt kommt die Stufe 1. Das ist eine Revolution, das ist eine neue Weltanschauung. Da müsst ihr mitbippern und euch auch freuen, auch wenn die ersten Begründungen kommen auf der Stufe 0. Da müsst ihr euch freuen, das ist ja irre. So bauen die sich jetzt so langsam ihre Welt auf. Und die erste Realität, die Kinder haben, ist ihre Bedürfnisse, die sich in Wünschen äußern.

68:05
Das ist die vitalste Realität und die glauben an diese Realität. Kinder glauben an ihre Gefühle und das ist ja ein gutes Recht. Das brauchen sie und es gibt auch gar keine Alternative. Kommen sie da bloß nicht mit christlichem Zeug. Gut, dann kommt die Stufe 1. Jetzt muss man sich fragen, es ist ein Drahnagel, die menschliche Entwicklung. Zumindest in diesen Übergängen. Dazwischen kommen ruhigere Zeiten. Was ist wohl in der Lage, in einem Kind die Macht der eigenen Bedürfnisse, von denen sie ja völlig beherrscht sind, irgendwie zu bändigen? Also in der Stufe 1 dann, das ist dann wirklich die Stufe 1, die ist jetzt schon moralisch. Wenn solange die Macht der eigenen Bedürfnisse die Kinder beherrscht, was ihr gutes Recht ist, kann man noch nicht direkt von Moral reden. Aber es ist die Stufe 0, das ist der Ausgangspunkt.

69:02
Jetzt in Stufe 1, was kann das sein? Die Stufe 1 geht idealtypisch so von 5 bis 7. Kann schon ein bisschen früher anfangen, kann später aufhören. Der Wechsel von der Stufe 1 in die Stufe 2 ist in der Schule, kann schon beginnen am Ende der ersten Klasse. Die zweite Klasse ist die typische Klasse, wo die meisten wechseln in die Stufe 2 dann, aber die letzten wechseln in die Stufe 3, so in der ersten Hälfte. Also die Stufe 1 ist sehr geeignet für die Vorschule, letztes Jahr im Kindergarten und für den Beginn der Grundschule, das Alter von 5 bis 7. Gut, was ist da die moralische Weltordnung? Ja, die Kinder orientieren sich alle auf der Welt, Japaner, Chinesen, Argentinier, Schweden und Deutsche. Der Glaube der Kinder an die Macht und an die Gerechtigkeit der Eltern und der Erwachsenen.

70:08
In dem Alter sind die Erwachsenen die Hüter der Weltordnung und auch die Garanten der Weltordnung. Natürlich gibt es nach wie vor viele Unterschiede, gibt ganz freche Kinder, völlig undisziplinierte, aber auf der Stufe 1 sind die ganz frechen Kinder nicht ganz so frech. Also es heißt nicht, dass alle Kinder genau gleich reagieren, aber die Stufe 1 ist eine der schönsten, bequemsten Zeiten für die Erwachsenen, weil die Kinder glauben daran, dass die Erwachsenen die Macht haben, weil sie sind einfach größer und stärker, ist alles noch sehr physikalisch äußerlich gedacht, die inneren Werte kann man so noch gar nicht wahrnehmen. Und wer größer ist und die Macht hat, der ist ja auch stärker, der ist auch klug. Die Erwachsenen sind auch klug, weil sie sind groß. Und die Erwachsenen sind gerecht und sie sind die einzige Quelle der Normen.

71:01
Jetzt werden Regeln wichtig. Also nicht nur, wie tun wir Frühstücken, ganz praktische Regeln, sondern die Welt muss, ich meine das schon grundsätzlicher, auf der Stufe 1 sagt man nicht mehr so ohne weiteres, was ich will ist gut und gerecht ist, wenn ich das kriege, was ich will. Auf der Stufe 1 merkt man langsam, so einfach ist es nicht. Sondern es gibt in der Welt Regeln, ob man das gefällt oder nicht, es gibt diese Regeln und ich kriege nicht immer meine Bedürfnisse. Die Bedürfnisse bleiben weiterhin grundlegend, die sind ja auch noch für mich grundlegend, aber sie sind jetzt nicht mehr so dominant wie in der Stufe 0, sie werden eingebettet in eine bestimmte Weltordnung. Und diese Weltordnung heißt, die Erwachsenen haben recht und die Erwachsenen wissen Bescheid und es ist gut, wenn ich den Erwachsenen gehorche. Der Gehorsam ist hier jetzt sehr wichtig, er ist eine innere, sittliche Pflicht.

72:02
Also in dem Alter, im Allgemeinen gibt es natürlich auch Streit, also das bloß nicht jetzt Schwarz-Weiß, aber es ist eine starke Tendenz, die nie wieder so stark ist wie in diesen Jahren. Es kann trotzdem mal ein blöder Streit entstehen, aber sie sind schon überzeugt, die Erwachsenen kriegen alles Haus, wenn ich der Mama einen Euro da klaue im Geldbeutel, irgendwann kriegt die das Haus und dann werde ich bestraft und zwar zu Recht. Man braucht auf dieser Stufe klare Konturen, Schwarz-Weiß-Denken, auf Stufe 1, nicht bei euch. Also auf Stufe 1 braucht man Schwarz-Weiß-Denken, Böse und Gut und das Hexe wird verbrannt im Ofen. Und die Kinder in dem Alter neigen auch zu schweren Strafen, so nach dem Prinzip, ab in den Ofen. Und das Böse muss auch beseitigt werden, die Kinder brauchen ein Happy End in der Geschichte. Pumpkin habe ich ja kurz angerissen, kann man nicht sagen, der segelt dann davon irgendwo hin. Da können die Kinder nämlich schlafen, vielleicht ist der irgendwo reingeplumpst.

73:01
Also man muss dann schon sagen, dann fand er eine schöne Landschaft, da können die Kinder schlafen. Also auf der Stufe brauchen Kinder ein Happy End. Und diese Stufe ist also wirklich, die Erwachsenen sind die Garanten. Sie wissen Bescheid, sie sind die einzige Quelle der Norm. Autorität ist auf dieser Stufe Person-Autorität. Es gibt noch keine Sach-Autorität. Die Erwachsenen verkörpern die Weltordnung. Und auf dieser Ordnung, auf dieser Stufe ist es zum Beispiel auch ganz typisch, dass man petzt. Weil Petzen ist nicht unmoralisch auf der Stufe. Auf der Stufe 2 schon, weil da will man dem anderen eine auswischen oft. Aber auf der Stufe 1 ist man innerlich moralisch verpflichtet, zu den Hütern der Weltordnung zu gehen und sagen, Frau Müller, Lehrerin, aber die Sonja da, die macht nicht das, was Sie sagen. Man darf die Lehrer nicht sagen, petzen tut man nicht.

74:03
Das ist eines, das darf man nicht sagen. Denn das ist eine moralische innere Verpflichtung. Man muss zu den Hütern der Weltordnung hingehen und denen mitteilen, dass da die Weltordnung ein bisschen in Gefahr ist. Und das ist der eigene moralische Beitrag zur Unterstützung der Weltordnung. Also petzen ist auf dieser Stufe ganz normal. Ganz schlimm ist auf dieser Stufe, wenn die Erwachsenen sich nicht einig sind. Denn Kinder auf dieser Stufe glauben tendenziell, die Erwachsenen sind allwissend. Die wissen Bescheid und die sind gerecht, die sind anständig und sie ordnen die Welt gut. Und wenn die Erwachsenen jetzt einen schweren Streit haben, dann werden die Kinder hilflos. Wenn eine Scheidung kommt, kann die Weltordnung eines Kindes zusammenbrechen. Das hat psychische Langzeitfolgen über Jahrzehnte. Auch wenn Erwachsene überfordert sind.

75:02
Wenn in der ersten Klasse die Grundschullehrerin jammert, weil sie selber in einer Scheidung ist und weint. Also reißt euch zusammen, weil Kinder brauchen in dieser Zeit selbstsichere, klare, feste Erwachsene. Jetzt, ich muss stark eilen, jetzt gehen wir in die Stufe zwei. Eigentlich müsste man jede Stufe einen guten Vortrag halten, dass man spürt, um was es geht. Jetzt ist wieder ein Krimi, ein Drama. Was kann kommen, was die fast allmächtige Macht der Eltern bändigen kann? Das ist wieder eine neue Weltanschauung. Das ist ein Umstiegen, das ändert sich alles. Das ganze Verarbeitungssystem aller Eindrücke ändert sich. Was ist geeignet, die Macht der Eltern, die ja fast götterehnlich ist in der Zeit. Wie kann man die Macht... Jetzt kommt wieder das Ich dran. Also in der Stufe eins ist man auf Integration bedacht, deswegen auch Schulanfang, ist gut.

76:06
Aber irgendwie muss mal das Ich wieder zum zukommen. Ja, alle Kinder auf der Welt, in Japan, China, Neufundland, Norwegen und Sizilien, alle Kinder haben nur eine einzige Möglichkeit in sich, die Macht der Eltern zu begrenzen. Und das ist jetzt zum ersten Mal, es ist psychologisch gesehen eine Revolution und christlich gesehen ein Wunder. Allen Kindern steht jetzt allmählich etwas zur Verfügung, mit dem sie die Macht der Eltern begrenzen können. Die immer noch sehr wichtig bleibt, bis 12, 13 ist die dominant. Aber der Papa ist nicht mehr allwissend. Und wenn die Erwachsenen jetzt wieder Regeln aufstellen, dann sind das nicht die Regeln der moralischen Weltordnung, sondern die Regeln dieser Erwachsenen. Das wird relativiert. Sie haben nämlich in sich ein Prinzip, das jetzt zur Geltung kommt,

77:01
wie du mir, so ich dir. Eine Hand wäscht die andere. So eine Art Marktplatzmoral, nämlich wir sollten alle zueinander fair sein. Das ist eine ganz frühe Form der Fairness, die noch nicht in dieser tiefen humanen Fairsein, was da alles dazu gehört. Nein, das ist mehr so Nützlichkeitsdenken, bist du fair zu mir, bin ich fair zu dir. Aber auch negativ, wenn du mich fünfmal bockst, bockst du die auch fünfmal. Also auch Auge, Auge, Zahn um Zahn, witzelt auf dieser Stufe. Aber zunächst mal ist die ungeheuer berechtigt, weil jetzt tritt ein Prinzip auf, das auch für dich selber gilt, für die Erwachsenen. Papa gilt auch für dich. Wenn man jetzt eine Hausordnung, Janusz Korczak, da darf jetzt auch nicht das Treppengeländer. Jetzt beginnt die Zeit, wo man merkt, die Erwachsenen sind erst mal nicht allmächtig, sie haben auch nicht immer recht und sie stehen selber auch unter einer Sittlichkeitsverpflichtung.

78:06
Nicht nur ich bin meinen Eltern verpflichtet, die Eltern sind selber einer moralischen Ordnung verpflichtet, wo sie nicht drüber stehen, sondern drunter stehen. Und das begrenzt jetzt die Macht. Die Kinder in der Stufe sehen die Fehler der Eltern sehr klar und sagen es auch. Sie können unsere heftigsten Kritiker werden. Es kann richtig penetrant werden. Aber dieses Gerechtigkeitsdenken ist jetzt wirklich, du bist fair zu mir und ich bin fair zu dir. Da ist schon so eine Wechselseitigkeit drin. Ich bin nicht nur den Eltern verpflichtet, wie auf der Stufe 1. Auf dieser Stufe 1 kann man die Macht der Eltern noch gar nicht hinterfragen. Aber auf der Stufe 2 beginnt es. Eltern können falsch handeln, wenn sie unfair sind. Und Fairness ist gegenseitig. Ich kann nicht allein fair sein. Ich kann nur fair sein, wenn die anderen auch fair sind. Und der Glaube in dieser moralischen Weltanschauung ist, wenn wir alle fair sind,

79:04
kommt auch für uns selbst das meiste raus. Fair sein ist nicht so tief moralisch, human, ist sehr nützlichkeitsorientiert. Und es ist sehr schematisch. Kriegst du drei Äpfel, kriege ich auch drei Äpfel. Papa, der hat aber gestern einen Eiswürfel gekriegt. Und wenn der jetzt noch einen kriegt, dann kriege ich zwei. Stuhl heil. Die kämpfen wie die Löwen. Ich will mal ein Beispiel sagen. Das Gleichnis vom Arbeiter in Weinberg können Sie auf der Stufe 2 nicht bringen. Weil das merken die schon, da gibt es das Gleiche. Aber die haben ja ganz lange gearbeitet. Die können doch jetzt nicht das Gleiche kriegen, wenn man verschieden arbeitet. Wenn man dann sagt, das ist Gott, dann denken die Kinder auch, wenn sie es nicht sagen, der blöde Gott. Da können sie das Gottesbild richtig kaputt machen. Weil gerecht ist, dass jeder das Gleiche kriegt, aber natürlich entsprechend dem, was ihm zusteht.

80:08
Ich habe mal eine Examenkandidatin gehabt, die hatte ihre Examenarbeit, das Gleichnis vom Arbeiter in Weinberg, gehabt und hat es in der 5. Klasse, in der 6. Klasse, in der 7. und in der 8. mit Parallelklassen unterrichtet. Und dann nichts mit Gott, sondern das war ein Weinbergbesitzer in Griechenland und so. Und diese Auszahlung. Und da merkt man in der 5. Klasse ein oder zwei, die sagen, ha, der hat es aber gut gemeint. In der 6. Klasse ist es 50-50 ungefähr. Und in der 7., man muss es aber entsprechend erzählen. Es liegt sehr an der Erzählung. Man kann also sagen, in der 6. Klasse, da sind nämlich sehr viele am Übergang von der Stufe 2, drei Äpfel und drei Äpfel. Und wenn der da und dann der da und dann da und so. Da kann man in der 6. Klasse wechseln viele in die Stufe 3.

81:05
Und da entsteht die erste Chance auf dieses Gleichnis. Man muss aber beim Erzählen auch den Sechsklässlern richtig Hilfe geben, sonst packen die das nicht. Man muss sagen, stellt euch mal vor, so diese Tagelöhner, die ja abends bezahlt werden, die da immer noch rumstehen am Nachmittag. Wisst ihr, da hat einer innerlich gedacht, so ein Mist, ich hätte ja selber gerne in der Weinberg gehen. Ich wäre gern gegangen. Mein Rumstehen ist nicht leichter, weil ich stelle mir vor, heute Abend, wenn ich heimkomme, die enttäuschten Augen meiner Kinder. Jetzt hat der Papa wieder nichts. Und die Enttäuschung meiner Frau. Meint ihr, dass die Enttäuschung und die Sorgen derer leichter sind wie Weinbergs Arbeit? Dann tue ich es. Denn man nennt es eine Imaginationsübung. Man muss also die Empathiefähigkeit bewusst fördern und dann sagen in der 7. Klasse,

82:03
der hat es schon ein bisschen komisch gemacht, aber er hat es gut gemeint. Man kann an der Stufe 3 sagen, er hat es schlecht gemacht, aber gut gemeint. Auf der Stufe 2 kann man noch nicht die innere Absicht bewerten. Also man haftet noch ganz am äußerlich Sichtbaren. Aber in der Stufe 3, das ist so 11 Jahre, 12 Jahre der Übergang, Stufe 3 ist die Moral der Vorpubertät, späte Kindheit und der Pubertät. Dazu noch ein paar Hinweise. Auf der Stufe 3 kann man zum ersten Mal die innere Motivation eines Menschen berücksichtigen. Und nicht nur sein äußeres Handeln. In der Stufe 3 gibt es noch eine große Zäsur innerhalb der Stufe, eben Vorpubertät und Pubertät. Aber beides ist Stufe 3. Das Entscheidende auf der Stufe 3 ist, mein Bezugsfeld wird jetzt eine Gruppe.

83:06
Das war bisher nicht der Fall. Am Anfang die Familie, die Werte der Familie sind auch meine Werte, das ist die entscheidende Bezugsgruppe. Ich möchte ein liebes Kind in der Familie sein, aber es wechselt dann auf die Gleichaltrigen, die Peer-Group. Die 13-Jährige sagt der Freundin mehr wie der eigenen Mutter. Das ist für die Mutter schwierig. Aber auch wenn sie in die Pubertät kommen, bleibt das Bezugsfeld eine Clique, eine Bezugsgruppe. Man passt sich der Gruppe an in Sprache, Stil. Man will unbedingt anerkannt und beliebt sein in der Gruppe. Wenn ein Konflikt ist, das muss man so lösen, dass die gute Beziehung zur entscheidenden Bezugsgruppe bleibt. Die Angst ist, ich bin isoliert, ich bin einsam, ich bin nicht beliebt. Das ist ganz schwer. Warum ist es in dieser Gruppe so schwer in dieser Phase? Weil die Individuation des Menschen jetzt wesentlich weiterkommt.

84:06
Man bekommt eine tiefe innere Fantasiewelt, erotische Gefühle. Viele Schüler in der 7. Klasse behalten, auch wenn es warm ist, ihre Jacke an. Ganz komisch, brauchen sie nicht. Nein, sie wollen einfach sich schützen, Schmai, Innenwelt. Aber die Grenze in der Gruppe, in der Stufe 3 ist, die Bezugsgruppe ist eine im Nahbereich. Ich mache das, was die legitimen Erwartungen an mich, die Konventionen, jetzt ist konventionelles Denken. Was ist eine Konvention? Das sind die Vereinbarungen in meiner Umgebung, die ich anerkenne. Die legitimen Erwartungen der Gruppe möchte ich erfüllen. Auch wenn meine Eltern legitime Erwartungen haben, gute Noten in der Schule, das schlaucht, Kinder, wenn sie das nicht erfüllen können. Der Erwartungsdruck kann zu stark werden. Ich habe Menschen kennengelernt, im Alter von 30, 40 Jahren, die in dieser Stufe 3 Zeit vor Pubertät,

85:06
Pubertät einen solchen Erwartungsdruck der Eltern hatten, dass sie keinen Erwartungsdruck später mal aushalten. Ich habe zu einer begarten Frau gesagt, wieso bist du Sozialarbeiterin, studier doch an der Musikhochschule Stuttgart Violine. Du kennst wie Waldi Violinkonzert und so weiter. Warum popelst du hier rum? Und da hat sie mir gesagt, mein Papa hat immer solche Erwartungen. Ich bin die Schönste, ich bin die Glückste, ich bin die Musikalischste. Du bist mein Püppchen, du bist mein Nachwuchsstar. Und das hat mich kaputt gemacht. Ich habe nicht mehr die Kraft, auf die Musikhochschule zu gehen, weil ich habe Angst vor jedem Examen. Also der Erwartungsdruck wird in der Gruppe anerkannt. Man will ja den Erwartungen entsprechen, aber wenn er zu stark wird. Und jetzt zum Schluss. Man hat in dieser Stufe einen Klickenhorizont, kleinere Gruppen.

86:05
Das kann auch die Gemeinde sein. Es kann der Apotheker Berufsverband sein. Es kann eine kriminelle Gruppe sein. Kriminalität geschieht auf der Stufe drei. Wenn man den Staat ansieht als eine Kuh, die man melken kann, Hauptsache mein Klickeninteresse, wir fühlen uns wohl, dass dann die Bundesrepublik wegen irgendeinem Rechtsradikalen in Israel schlecht angesehen wird. Ja, das kümmert mich auf der Stufe drei nicht. Hauptsache meine Bezugsgruppe, ein rechter Verein oder ein Sportverein oder eine rechtsradikale Gruppe. Was da gilt, das gilt. Gesamtgesellschaftliche Solidarität hat man da nicht. Man kann auf der Stufe drei, wenn man nur seine eigene Gemeinde hat, nicht ökumenisch denken. Das geht ganz schwer. Das ist meine Gruppe, das ist meine Sprache, das ist meine Dogmatik. Das ist Stufe drei. Auf der Stufe drei bleibt der Mensch.

87:04
Entscheidend ist mein Nahbereich. Eine gesamtgesellschaftliche bildungspolitische für das Schulsystem. Schon nicht meine Bezugsgruppe. Also auf Stufe vier möchte ich nur andeuten, entsteht die gesamtgesellschaftliche Loyalität. Dass ich mich als Bürger der Bundesrepublik fühle, dem Rechtsstaater verdankbar bin, dass ich hier leben darf, dass ich viel vom Staat profitiert habe. Korruption ist Stufe drei. Kohlberg in der Nixon-Affäre, wo er geht, hat mal gesagt, ich wäre schon sehr froh, wenn ein Präsident der USA auf der Stufe vier mal wäre. Weil er hat Nixon auf der Stufe drei. Und wenn ich das mal so sagen darf, ich sehe bei Trump sehr viele Elemente der Stufe drei. Also Allgemeinwohl und Gesamtgesellschaft.

88:01
Nicht nur aus der Milliardärsperspektive, ich bin ein Geschäftsmann und jetzt mache ich aus meiner Bezugsgruppe die Welt. Nein, das geht nicht. Hauptschüler kommen viel schwerer in die Stufe vier als Gymnasiasten. Warum sollen Hauptschüler in die Stufe vier kommen? Die Gesellschaft bietet ihnen doch auch nicht viel, diskriminiert sie keine guten Berufe. Wenn der Überstieg von drei in vier gelingen soll, muss man auch viele gute Erfahrungen mit der Gesamtgesellschaft machen. Ich habe das gemacht. Ich bin Professor, die haben mich als Professor anerkannt, das finde ich nicht schlecht. Also da kommt man dann in die Stufe vier. Gut, die Grenze der Stufe, ich will noch die Altersangaben so ein bisschen nachschieben. In Stufe drei kann man kommen ab 12, 13 Jahren und kann sein Leben lang drin bleiben. Auf die Stufe vier kann man unter 15, 16 Jahren eigentlich nicht kommen. Eher später und manche nie.

89:03
Und in die Stufe fünf kann man so unter 18. Aber man merkt, das kann auch relativ zügig gehen. Wenn ein Lehrer oder ein Dozent, ein Bibelschullehrer auf der Stufe vier tickt und er hat zwei, drei Schüler, die Studenten, die auf der Stufe fünf ticken, das ist nicht besonders gut. Ich habe auf einer Fachhochschule mal erlebt, dass ein Dozent wirklich sehr begrenzt in seinem Denken war. Und mehrere Studenten, fünf oder zehn, ich habe den selber nie kennengelernt. Kam zu mir, es war vor vielen Jahren, und haben gesagt, das hält sich im Kopf nicht aus. Ja, das ist ein Problem. Also auf der Stufe vier denkt man gesamtgesellschaftlich, kann auch ökumenisch denken. Man ist nicht mehr gebunden an den Nahbereich, sondern man hat eine öffentliche Verantwortung.

90:02
Die Grenze der Stufe vier ist, dass man sehr statisch denkt, aber gewisse Gesetzlichkeit hat, dass man seine eigene Großgruppe, Stufe drei sind Kleingruppen und Stufe vier sind Großgruppen, also Gesamtgesellschaften, dass man aber seine eigene Kultur, seine eigene Prägung sehr schwer relativieren kann. Die Araber sind halt eher Kameltreiber, die haben einfach noch nicht unser Niveau. Interreligiöse Gespräche gelingen nur auf der Stufe fünf, sind auf der Stufe vier unmöglich. Was ist auf der Stufe fünf das Entscheidende? Stufe vier ist noch relativ statisch, System, aber schon große Systeme, ein Staat, und man würdigt den Rechtsstaat, Law and Order. Auf Stufe fünf anerkennt man im ganzen Ausmaß, wie es sachgemäß ist, den historischen Wandel. Die Tiefe und den Ausmaß des historischen Wandels, der auch vieles relativiert, ist ein Zeichen der Stufe fünf.

91:10
In der Stufe fünf merkt man auch, dass mitten im Recht Unrecht ist und dass man durch Gesetze und Recht und Gebote und seins biblische Gebote nicht ohne weiteres das ganze Leben erfassen kann. In der Stufe fünf merkt man auch den Unterschied zwischen legal und legitim. Etwas Illegales kann sehr legitim sein. Selbstverständlich kann man lügen, wenn man damit Juden rettet. Also bitte keine Hemmungen. Oder nehmen wir mal das hohe Lied, komm in die Kammer meiner Mutter, da wollen wir uns der Liebe hingeben. Ja, das ist eigentlich illegal bei der Freundin und dem Freund. Aber es ist sehr moralisch legitim, weil der Mann hat dann kein Scheidungsrecht mehr, wenn er beim vorehelichen Beischlaf ertappt wird.

92:08
Muss er auf sein Scheidungsrecht verzichten? Also die jungen Männer, die da mitgemacht haben, kommen in die Kammer meiner Mutter, also Lebensmittelkammer, und die kommt dann rein, dann verzichtet er auf sein Scheidungsrecht. Moralisch sehr tief, aber illegal. Unbiblisch, aber moralisch super gut. Das ist dann Stufe fünf Richtung sechs. Deswegen kann man auf der Stufe drei und vier viele Bibeltexte nicht würdigen.

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Die moralische Entwicklung bei Kindern | 7.4.2

Worthaus 7 – Weimar: 1. Mai 2017 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer

Wie werden aus Kindern Menschen, die selbstständig sind und sich gleichzeitig in eine Gemeinschaft integrieren können? Und wann ist diese Entwicklung abgeschlossen?
Mit diesem Vortrag zur moralischen Entwicklung bei Kindern betritt Siegfried Zimmer ausnahmsweise das Gebiet der Entwicklungspsychologie. Denn für die heutige Religionspädagogik ist die Entwicklungspsychologie eine wichtige Nachbardisziplin. Dabei geht es Siegfried Zimmer in seinen Ausführungen nicht um die Darstellung des neuesten Standes der entwicklungspsychologischen Diskussion – er ist ja auch Theologe und kein Entwicklungspsychologe. Vielmehr geht es ihm darum anhand der Stufentheorie der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg, einem Professor für moralische Entwicklung der »Harvard University« und Klassiker seines Fachs, zu beschreiben, welche Schritte Menschen auf dem Weg zu einer reifen Persönlichkeit durchlaufen. So wird deutlich, wie lehrreich und spannend die Ergebnisse der Entwicklungspsychologie gerade auch für einen Umgang mit Kinder und Jugendlichen unter christlichem Vorzeichen sind. Und wie wichtig es ist, Kinder – aber auch Erwachsene – entsprechend der Stufe zu behandeln und zu fördern, auf der sie sich befinden.