In Kopf und Herz hatte sich Paulus schon längst zurechtgelegt, was er den Christusgruppen in Rom sagen wollte. Das meiste hatte er schon in seinen früheren Briefen angedacht und jetzt galt es, seine Gedanken noch mal zu sortieren. Zu Adam, zu Abraham, zu David. Zum Christusglauben, zur Gottesgerechtigkeit, zu Israel und zu den Völkern, zu Sühne und zu Versöhnung, zu Kreuz und Auferstehung, zu seiner Mission und der künftigen Strategie im Westen des Reichs. Es sollte seine theologische Visitenkarte an die Gemeinde in Rom werden. Paulus bemüht sich um einen klaren Gedankengang, er bedenkt mögliche Vorbehalte und Widerstände, erläutert Inhalt, aber auch gemeindepraktische Konsequenzen seines Evangeliums und sein großes Thema ist die aus Glauben zu Glauben geoffenbarte Gottesgerechtigkeit.
Jetzt lässt er also den Schreiber Terzius zu sich rufen, um in den Brief zu diktieren. Sie trafen sich wohl im Haus seines Gastgebers Gaius in Korinth, Frühjahr 56 n. Chr. Paulus hatte diese Themen schon mehr als einmal durchdacht, diskutiert, gepredigt, niedergeschrieben. Und dennoch ist dieser Brief etwas Neues, anderes und zwar aus mehreren Gründen. Der Römerbrief ist erstens der längste, zweitens der aufwändigste, drittens der am meisten durchdachte und viertens der wirkmächtigste Paulusbrief. Erstens also der Römerbrief als der längste Paulusbrief. Paulus hat den Brief nicht nur in einem Wochenende hingeworfen, sondern in einem langen Prozess erarbeitet. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Paulusbriefe erheblich länger sind als gewöhnliche Briefe.
Die Durchschnittslänge der 14.000 Privatbriefe, die wir haben aus der Antike, beträgt etwa 87 Wörter, also so eine gut gefüllte Postkarte. Der längste erhaltene Papyrusbrief ist so lang wie der Galaterbrief. Der zweite Korintherbrief hat dann wiederum schon die doppelte Länge. Die Briefe Ciceros haben im Durchschnitt knapp 300 Wörter. Schon der kürzeste Brief des Paulus, der Philemonbrief, hat 335 Wörter, während der Römerbrief auf ganze 7114 Wörter kommt. Trotz seiner Länge wurde der Römerbrief wohl in einem Zug durchgelesen, oder besser vorgelesen. Phöbe aus der korinthischen Hafenstadt Censhrea, die den Brief den römischen Gemeinden überbrachte, wird den Brief, so stelle ich mir es vor, auch gleich den römischen Christusgruppen vorgelesen haben und sie war möglicherweise auch schon zuständig, etwaige aufkommende Fragen zu beantworten. Wie Paulus den Brief abschloss, also der letzte Teil des Briefes, das bleibt im Dunkeln.
Das Ende des Römerbriefs gehört zu den am meisten herausfordernden, textkritischen Problemen in der neustestamentlichen Wissenschaft. Woran liegt das? Mit ganz wenigen Ausnahmen wird von den ältesten Textzeugen das letzte Kapitel Römer 16 überliefert. Der Lobpreis Römer 16, 25 bis 27, der in unserem Bibel ganz am Ende des Römerbriefs steht, führte in der Überlieferung geradezu ein Eigenleben. Er ist gut bezeugt, taucht aber in den alten Handschriften an ganz verschiedenen Stellen auf. Vielleicht wurde in nachpaulinischer Zeit im Zug einer Paulusbriefsammlung ein würdiger, feierlicher Abschluss des Corpus Paulinum geschaffen, so könnte man sich es vorstellen. Der ursprüngliche Schluss wäre dabei verloren gegangen. Denn ein Ende mit Grüßen an Erastus, Gaius und Quartus ist für einen Brief des Paulus
nur schwer vorstellbar. Andererseits endet auch kein anderer Paulusbrief mit einer Doxologie, also mit einem Ruhm Gottes. Also wir wissen schlechterdings nicht, was mit dem ursprünglichen Ende des Römerbriefs passiert ist. Sehr unwahrscheinlich ist die weiterreichende These, dass das gesamte Schlusskapitel gar nicht an die römischen Christen gesamt war, sondern aus einem eigenständigen Schreiben einen Brief nach Ephesus stammt und von dort aus in den Römerbrief gerutscht sei. Paulus habe, so wird argumentiert, die römischen Gemeinden ja noch gar nicht gekannt. Wie könnte er also 26 Namen nennen? Völlig außer Acht bleibt bei dieser These, dass die Jesusbewegung des Anfangs sehr gut vernetzt war. Dass Paulus Berichte aus Rom kannte, römischen Christusgläubigen schon begegnet war, darunter auch Aquila und Priska, auf die ich nachher noch zu sprechen komme. Natürlich wollte Paulus auch belegen, dass er für viele Menschen in Rom eben kein Unbekannter war, sondern dass er schon auf bekannte Personen verweisen konnte.
Zweitens, der Römerbrief als der aufwendigste Brief. Der Länge des Briefs entspricht der Produktionsaufwand. Auch das sollten wir im Blick haben. Wir können damit rechnen, dass Paulus einen ersten Entwurf aus seinen zuvor schon angestellten Überlegungen und wohl auch aus Notizen zusammenstellte. Danach wird er den Text überarbeitet haben und ihn dann seinem Sekretär Terzius in die Feder diktiert haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde dann nochmals mindestens eine weitere Kopie erstellt, vielleicht auch zwei für den Gebrauch des Paulus und für die Korinthische Gemeindebibliothek. Ein Schreiber wird für eine Abschrift etwa zwei bis drei Tage gebraucht haben. Zum Arbeitslohn kämen dann noch die Materialkosten, vor allem für die Papyrusrollen. Es ist außerordentlich schwierig natürlich, die Kosten für die Herstellung eines solchen Briefes zu bestimmen, aber wir liegen nicht ganz falsch und schätzen wahrscheinlich eher niedrig, wenn wir von ungefähr 2000 Euro ausgehen.
Paulus wird die Rechnung natürlich nicht aus eigener Tasche bezahlt haben. Er hatte in Korinth finanzstarke Personen und Freunde, zum Beispiel seinen Gastgeber Gaius oder den Edilen Erastus, der zur städtischen Elite zählte. Der Römerbrief drittens als der am meisten durchdachte Brief. Im ersten Korinther Brief, seinem zweitlängsten Brief, den er ein paar Jahre vor dem Römerbrief schrieb, reiht der einzelne Aspekte wie an einer Perlenkette aneinander. Im Galaterbrief, der sich ja in einigen Punkten mit dem Römerbrief überschneidet, hatte er sich noch von seinem Ärger überwältigen lassen und schrieb, man kann sagen, im prophetischen Zorn. Die vier Einheiten des Römerbriefs stelle ich mir vor, wie vier sorgfältig hergestellte, nebeneinander auf einem Regal stehende römische Vasen, die sorgsam arrangiert sind, und zwar vier an der Zahl. Und man muss diese einzelnen Vasen aus dem Regal nehmen und sich genau anschauen, was
da drin ist, um zu verstehen, was der Römerbrief sagen will. Paulus bespielt die ganze Klaviatur der brieflichen Kommunikation. Er begründet seine Autorität. Paulus berufen zum Apostel, aussersehen das Evangelium Gottes zu verkündigen. Er lobt die Angeschriebenen, von eurem Glauben wird in der ganzen Welt gesprochen. Er redet ihnen ins Gewissen. Es gibt keine Entschuldigung für dich, Mensch. Wer immer du bist, der du urteilst. Er bringt den Inhalt seines Anliegens auf den Punkt. Er provoziert, er motiviert, bringt euren Leib dar als lebendiges, heiliges, gottwohl gefälliges Opfer. Paulus lag daran, seinen Brief als lebendigen Diskurs im Gespräch mit den Adressatinnen und Adressatinnen zu gestalten. Auch wenn Paulus wohl kein Rhetorikstudium absolvierte oder gar Cicero's berühmte De Inventione las, er konnte mit Worten umgehen und durch seine Sprachgewalt Eindruck erzeugen.
Sogar seine korinthischen Gegner mussten zugestehen, dass seine Briefe schwerwiegend und stark sind. In der Forschung wurde manchmal versucht, den Römerbrief in eine Gattung, in eine antike rhetorische Gattung einzuordnen. Sei ein politischer Brief, ein philosophischer Brief, eine Werbeschrift, eine Schreibschrift oder ein Diskurs in Briefform. Das sind alles Vorschläge, die in der Forschung gemacht wurden. Aber es ist doch wohl so, dass sich der Römerbrief nicht in eine bereits vorgegebene Form hinein pressen lässt. Ein neuer Wein, könnte man sagen, braucht neue Schläuche. Paulus spielt mit den vorgegebenen Briefgattungen, variiert und erweitert sie. Es ist also kaum eine Übertreibung, wenn wir mit der neueren Forschung feststellen, dass Paulus die Form des Briefes schöpferisch weiterentwickelt hat. Paulus und allzumal der Römerbrief stellen, so udo schnelle, in Neutestamentler einem
kreativen Akt innerhalb der antiken Literaturgeschichte dar. Viertens, der Römerbrief ist der wirkmächtigste Brief. Als Paulus diesen Römerbrief während seines Aufenthalts in Korinth erarbeitete und diktierte, konnte er natürlich noch nicht ahnen, welche Wellen dieser Brief schlagen würde. Der Römerbrief würde für unzählige Menschen zu einem kulturellen und existenziellen Kerntext. Er veränderte Existenzen und Gesellschaften. Wir denken vielleicht an den Kirchenvater Augustin. In seiner verzweifelten Sinnsuche wird er unter dem Feigenbaum im Garten seines Freundes auf den Römerbrief gestoßen. Tolle Legge. Später berichtet er darüber, wie er im 13. Kapitel las. Nicht Ess- und Trinkgelage, nicht sexueller Rausch und Perversion, nicht Konkurrenz und
Kampf, sondern umgebt euch ganz mit unserem Herrn Jesus Christus. Und Augustin dazu. Kaum hatte ich den Satz zu Ende gelesen, ergoss sich wie ein Licht die Gewissheit in mein Herz und alle Schatten des Zweifels waren verflogen. Weniger malerisch sind die Erinnerungen Martin Luthers, der ja bekanntlich auch Toilettenwitze lustig fand und über seine reformatorische Erkenntnis gesagt haben soll. Diese Kunst hat mir der Heilige Geist auf dieser Kloaka auf dem Turm gegeben. Auch er quälte sich mit existenziellen Fragen, mit der Gottesfrage. Und auch er wurde, als er gequält wurde, vom Römerbrief überrascht. Luther im Rückblick. Ich liebte den gerechten Gott, der die Sünder straft, nicht, sondern hasste ihn. So raste ich in meinem verwirrten Gewissen, pochte aber trotzdem ungestümt bei Paulus
an, indem ich verdurst brannte zu wissen, was der Heilige Paulus wollte. Da erbarmte sich Gott meiner. Unablässig sah ich Tag und Nacht, bis ich auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich die Gerechtigkeit wird in dem Evangelium geoffenbart, wie geschrieben steht, der Gerechte wird aus Glauben leben. Da begann ich die Gerechtigkeit als diejenige zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben. Hier meinte ich geradezu, ich sei wiedergeboren, die Türen hätten sich geöffnet und ich sei in das Paradies selbst eingetreten. So wie ich vorher das Wort Gerechtigkeit Gottes gehasst hatte, mit solcher Liebe priese ich jetzt den mir süßesten Begriff, so würde mir diese Paulusstelle zur Pfaut des Paradieses. So Luther einige Jahrzehnte nach dieser reformatorischen Entdeckung im Rückblick. Karl Barthes Römerbrieflektüre 400 Jahre später führt uns nun wieder in einen Garten, diesmal
in den Pfarrgarten im Safenwil unter einen Apfelbaum. Barth will den Römerbrief ganz anders lesen, weil Gott der ganz andere ist. Am Ende seines Lebens blickt er zurück. Ich begann mich mit allem mir damals zugänglichen Rüstzeug unter einem Apfelbaum dem Römerbrief zuzuwenden. Ich sagte Barth, ich begann ihn zu lesen, als hätte ich nie gelesen. Nicht ohne das gefundenen Punkt für Punkt bedächtig aufzuschreiben. Ich las und las und schrieb und schrieb. Der Römerbrief ist also mitverantwortlich für theologische und kirchliche Revolutionen. Mit ihm, aber sicher nicht immer in seinem Geist, wurde politisches Handeln begründet. Und in den vergangenen Jahrzehnten erlebte er eine Renaissance in der philosophischen Diskussion. Niemand wird bestreiten wollen, dass er mehr Auslegungen, Predigten, Seminararbeiten, Monographien,
Doktorarbeiten hervorgebracht hat als jeder andere Text. All dies konnte Paulus natürlich noch nicht voraussehen, als er dort in Korinth in der Villa seines Freundes Gaius saß und seine Gedanken zusammenschrieb. Doch wen hatte Paulus als Adressatinnen und als Adressaten im Blick? Wer waren die römischen Christusgläubigen, die den Brief irgendwann in den Händen halten sollten? Wir schauen zunächst auf die Ereignisse des Jahres 49 n. Chr. Schon einige Jahre verkehren hier in Rom jüdische Händler und Gewerbetreibende aus dem Osten. Sie haben sich dem neuen Messias-Glauben angeschlossen. Im Umfeld der Synagoge haben sich Gespräche ergeben über diesen neuen Weg. Einzelne Juden lassen sich überzeugen und kommen zum Glauben.
Hier und da bilden sich kleine Gruppen um eine jüdische Hausgemeinschaft. Zunächst sind es die großen Handelsrouten, Tiber und Via Appia. Es sind die Randgebiete der Stadt, außerhalb der republikanischen Stadtmauern. Vor allem in Trastevere lebten viele Juden. Sie waren als Kriegsgefangene und Sklaven nach Rom gekommen und waren nun überwiegend freie Bürger. Heutzutage ist Trastevere natürlich vor allem für sein Nachtleben und für die exzellenten Restaurants bekannt. Damals im ersten Jahrhundert ging es tagsüber drunter und drüber. Schiffsladungen kamen über den Tiber an in Rom und mussten gelöscht werden. Handwerker verarbeiteten Importware. Händler boten ihre Ware feil, Müller malten Getreide. Es war umtriebig und laut. Und es lag ein beißender Geruch über dem Viertel. Die Gerbereien sammelten den Urin aus den Bedürfnisanstalten und gerbten Tierhäute.
Hier in diesem Viertel hat wohl das Christentum unter der jüdischen Stadtbevölkerung erstmals Fuß gefasst. Es waren nicht die Nobelviertel mit ihren prächtigen Villen, sondern die bescheidenen, heruntergekommenen, chaotischen Ecken der Stadt. Es ist der Rand der Stadt. Trastevere heißt Trans-Tiberem, also jenseits des Tiber. Was das für die soziale Stellung der ersten Christusgläubigen bedeutet, wird uns noch beschäftigen. Jetzt aber zunächst zurück ins Jahr 49 n. Chr. Die Bekehrungen in den jüdischen Gemeinden sorgten für Wirbel in der Stadt. Mit neuen Messiasen haben sie schon schlimme Erfahrungen gemacht. Und dieser neue Christus erfüllte nicht ihre Hoffnungen einer politischen und sozialen Erneuerung. Sie fürchten, dass die neue Bewegung Unruhe schafft. Tatsächlich kommt es zu Auseinandersetzungen, die zunehmend auch über die Grenzen der
Synagogengemeinschaften, Schwatten und den römischen Autoritäten zu Gehör gebracht wurden. Schließlich musste der Kaiser selbst reagieren. Claudius hatte sich im Reich einen Namen gemacht für seine Religionspolitik nach dem Vorbild des Augustus, konservativ, resolut und doch um Ausgleich bedacht. Die jüdischen Gemeinschaften, die auch in der Hauptstadt einen Sonderstatus als Kollegia alicita hatten, also geduldet waren und sich selbst verwalteten und frei versammeln durften, werden von seiner Regierung aber mit Augustaugen beobachtet. Schon vor acht Jahren, im Jahr 41 n. Chr., verhängte Claudius per Edikt ein zeitweiliges Versammlungsgebot. Jetzt, 1949, kommt es zu erheblich schärferen Maßnahmen. Sowetone überliefert, diejenigen Juden, die von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe
stifteten, ließ er, nämlich Claudius, aus Rom vertreiben. Offensichtlich hat Sowetone im Rückblick den Titel Christus mit dem Sklavennamen Chrestus verwechselt, meint natürlich den Christus. Und er scheint überdies davon auszugehen, dass dieser Christus in der Stadt noch sein Unwesen treibt. Hier irrt er natürlich, aber sein Bericht zeigt, dass die Jesus-Bewegung in den stadtrömischen Synagogen zu dieser Zeit schon so erfolgreich war, 49 n. Chr., dass es zu erheblichen Turbulenzen kam. Religiös motivierter Aufruhr wird in der Hauptstadt nicht toleriert. Jüdische, Christusgläubige und Juden, die selbstverständlich alle Teil der Synagoge sind, werden aus Rom verwiesen und lassen sich andernorts nieder. So kommt es dazu, dass Paulus während seines ersten Besuchs in Korinth im Jahr 50 n.
Also ein Jahr nach dem Edikt, auf die beiden Juden, römischen Juden, Priska und Aquila, trifft. Lukas erklärt dazu in der Apostelgeschichte, Claudius hatte nämlich angeordnet, dass alle Juden Rom zu verlassen hatten. Im Römerbrief, den Paulus dann sechs Jahre später an die Gemeinde in Rom schreibt, lässt er die beiden Priska und Aquila grüßen. Sie sind also nun wieder zurück in Rom. Claudius ist unterdessen gestorben, sein Nachfolger Nero hat seinen Edikt außer Kraft gesetzt. Sicher wurden mit dem Claudius-Edikt nicht alle der ungefähr 30.000 Juden aus der Stadt vertrieben, aber ihre Zahl wurde merklich kleiner in Rom. Die Zurückgebliebenen ziehen sich zurück, verbergen, wo es möglich ist, ihre jüdische Identität. Sie sind nicht mehr willkommen. Die Folgen für die Jesus-Bewegung und für die Jesus-Gruppen in der Stadt sind erheblich.
Die Mehrheitsverhältnisse kehren sich um. Juden-Christen sind zwar noch präsent, werden aber zu Minderheit, auch als das Claudius-Edikt seine Gültigkeit verliert. In den Gemeinden kommt es zu schmerzhaften Reibereien. Die Lebensweise der anderen wird artwöhnisch betrachtet. Der Zusammenhalt ist gefährdet. Fleisch oder Gemüse, Wasser oder Wein. Paulus fühlt sich gedrängt auf diese spannungsvolle Situation einzugehen. Sein Credo lautet auch hier, das Evangelium sei für die Juden zuerst und dann auch für die Griechen. Wir kehren zurück nach Trasteveren zu den Anfängen des Christentums in Rom. Es sind die miesesten Wohnviertel der Stadt, in der wir die ersten Christusgläubigen antreffen. Kein Wunder entstand schon in der Antike der Gedanke, die Christen seien wie die Anhänger der jüdischen Schwesterreligion, randständig, unfrei, rechtlos, verarmt, ungebildet, schwächlich.
Diese Vorstellung ließ sich bis ins 20. Jahrhundert und darüber hinaus nicht ausrotten. Friedrich Wilhelm Nietzsche nimmt in seinem Fluch auf das Christentum die damals gängige Meinung zur sozialen Situierung der ersten Christengemeinden auf und spitzt sie polemisch zu. Zitat. Im Christentum kommen die Instinkte Unterworfener und Unterdrückter in den Vordergrund. Es sind die niedesten Stände, die in ihm ihr Heil suchen. Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missrahten genommen. Es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungsinstinkte des starken Lebens gemacht. Nietzsche's Polemik erinnert an die Worte des Christentumskritikers Cecilius, den der Apologet Minucius Felix am Ende des zweiten Jahrhunderts folgende Worte in den Mund legt.
Aus dem untersten Abschaum der Gesellschaft sammeln sich da die Ungebildeten und die leichtgläubigen Frauen, die wegen der Schwäche ihres Geschlechtes leicht zu beeinflussen sind. Sie bilden eine gemeine Verschwörerbande, die sich in nächtliche Zusammenkünfte bei regelmäßigem Fasten und unmenschlicher Speise nicht im Kult, sondern im Verbrechen verbrüdert, eine obskure, lichtscheue Brut, stumm in der Öffentlichkeit, nur in den Winken geschwätzig. Welch unfassliche Dummheit, welch unglaubliche Torheit. Nietzsche's Sätze sind bis heute noch ein feststehender Topos in manchen christentumskritischen Einlassungen. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass sie zutiefst ideologisch geprägt sind. Nietzsche's Antichrist ist auch immer ein Anti-Jude. Seine Sätze aus der Götzendämmerung sind fast nicht zu ertragen. Ich zitiere Nietzsche noch mal, das Christentum ist die antiarische Religion par excellence.
Das Christentum, die Umwertung aller arischen Werte. Das Evangelium, den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesamtaufstand, alles Niedergetretenen, Elenden, Missratenen, Schlechtweggekommenen gegen die Rasse. Mit historischem Sachverhalten hat das natürlich nichts mehr zu tun. Dennoch hielt sich die These vom Christentum als Unterschichtenphänomen, als Sklavenreligion oder als Palliativ der zu kurz Gekommenen. Dass sich diese Ansicht so lange hielt und von so vielen vertreten würde, ist schon deshalb erstaunlich, da wir einige höhergestellte Personen in den frühchristlichen Gemeinden mit Namen kennen, den Edien Erastus in Korinth, den Stadthalter von Cypern, Sergius Paulus oder Dionysios, Mitglied des Areopark in Athen. Im Römerbrief nun werden keine Personen und keine politischen Ämter genannt, aber Priska
und Aquila waren selbstständige Gewerbetreibende, in deren Betrieb vielleicht Sklaven oder Angestellte beschäftigt waren. Fragen wir umgekehrt, hätten sich die Jesusnachfolger nur aus den Ärmsten und Ungebildeten zusammengesetzt, wer hätte sich dann um die Belange der Armen kümmern sollen? Wer hätte Paulus in seinem Spanienprojekt finanziell unterstützen sollen? Wer hätte die Gemeinschaften bei sich zu Hause beherbergen sollen, Versammlungsorte organisieren sollen? Schließlich, und das ist nicht zu unterschätzen, wer hätte diesen Brief, diesen Römerbrief überhaupt lesen und verstehen sollen? Seit den 1970er Jahren bildet sich ein sogenannter New Consensus heraus, der für die frühe Christenheit eine größere soziale Vielfalt annimmt. Die ersten Christusgläubigen waren unterschiedlicher sozialer Herkunft und es gab unter ihnen einen nicht zu unterschätzenden Anteil mit höherem gesellschaftlichem Status.
Dass der Großteil der Neubekehrten aus den unteren Gesellschaftsschichten stammt, ist wenig überraschend in einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen aus den unteren Schichten sind. Dennoch fand der neuartige, kontroverse und doch überraschend anschlussfähige Glaube auch in den oberen Gesellschaftsschichten seine Anhängerschaft. Die stadtrömischen Christusgruppen waren wohl ein Spiegelbild der urbanen Gesellschaft. Das ganze Spektrum zwischen Elend und Elite war vertreten. Männer, Frauen, Kinder, Sklaven, Angesehene, Funktionsträger, Freigeborene, Freigelassene. Was zunächst für uns nicht weiter spektakulär erscheint, ist auf den zweiten Blick sehr bemerkenswert. Die Gemeinschaft musste mit ungeheuren sozialen Spannungen umgehen. Höhergestellte riskierten mit ihrer Bindung an die Ekklesia und mit ihrer Gastgeberrolle,
soziales Prestige zu verlieren und aus ihren Netzwerken herauszufallen. Niedriggestellte kämpften mit Ausgrenzung und Stigmatisierung. Die Christusgläubigen waren also stets gefordert, Milieubarrieren zu überwinden, Konventionen zu hinterfragen, bestehende Netzwerke aufzulösen und neue zu knüpfen, um eben zu dieser verbindenden Identität im Christusglauben zu gelangen. Dass die römischen Gemeinden dazu in der Lage waren, allen Streitigkeiten zum Trotz eine solch soziale Spreizung der Gemeinde auszuhalten, ist für den Erfolg des Christentums nicht hoch genug zu veranschlagen. Was bewog Paulus nun dazu, diesen Brief in einer doch recht aufwühlenden Phase in Korinth zu schreiben, diesen ausführlichen Brief? Welche Absicht verfolgte er, was ist der Abfassungszweck des Römerbriefs? Und hat uns das überhaupt zu interessieren?
Nicht interessieren muss es uns, wenn wir Karl Barth beim Wort nehmen. Im August 1918 schrieb er in Savenwil folgende Worte. Paulus hat als Sohn seiner Zeit zu seinen Zeitgenossen geredet. Aber viel wichtiger als diese Wahrheit ist die andere, dass er als Prophet und Apostel des Gottesreichs zu allen Menschen aller Zeiten redet. Die Unterschiede von einst und jetzt, dort und hier wollen bedacht sein. Aber der Zweck der Beachtung kann nur die Erkenntnis sein, dass diese Unterschiede im Wesen der Dinge keine Bedeutung haben. Soweit Barth. Hat er recht? Ich meine, er hat oft recht, aber nicht in diesem Punkt. Genau das Gegenteil ist doch der Fall. Je besser wir nachvollziehen können, was Paulus als Sohn seiner Zeit seinen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen gesagt hat, warum er so geredet hat, desto klarer redet er auch zu
uns. Paulus war Apostel des Gottesreichs, zuerst für die Juden und dann für die Völker, zuerst für die Menschen des ersten Jahrhunderts, dann aber auch für die Menschen des 21. Jahrhunderts. Daher also noch einmal die Frage, warum schrieb Paulus den Römerbrief? Die Antworten auf diese Frage füllen mittlerweile ganze Bücherregale. Die meisten haben einen einleuchtenden Kern, aber mindestens einen Haken. Sie alle stützen sich auf bestimmte Aussagen im Römerbrief, müssen aber andere Aussagen ausklammern. Wenn ich die alten und neuen Vorschläge durchsehe, kommt mir immer ein Ja-aber in den Sinn. Ja, ad philip melanchthon, Paulus schrieb mit dem Römerbrief seinen systematischsten Brief, aber das macht ihn noch nicht zu einem zeitlosen Kompendium christlicher Lehre. Zu einem solchen Schluss kann nur kommen, wer ab Kapitel 11 nicht mehr weiter liest und auch die Kapitel 1 bis 11 aus dem zeitgeschichtlichen Kontext herausreißt.
Außerdem würde doch im Römerbrief etwas Entscheidendes fehlen, wenn es tatsächlich ein Kompendium christlicher Lehre sein sollte. Paulus verliert beispielsweise kein Wort über das Abendmahl, weil es darüber in Rom, anders als wohl in Korinth, keine Kontroversen gab. Zweitens, ja, ad ferdinand christiam bauer, Paulus setzt sich intensiv mit den Fragen des Gesetzes und mit der Rolle Israels auseinander, aber das macht den Römerbrief doch noch nicht zu einer Streitschrift gegen das Judenkristentum oder gegen die Judaisten. Paulus betreibt im Römerbrief nicht primär Kirchenpolitik oder Kontroverstheologie, sondern konstruktive theologische und missionsstrategische Arbeit. Ja, et claus haker, Paulus wusste um die aufkeimenden Spannungen zwischen Jerusalem und Rom, die einige Jahre später in die Katastrophe des ersten jüdischen Krieges führen sollten.
Aber die Absicht des Römerbriefs ist unterbestimmt, wenn man ihn nur als versöhnliches Friedensmemorandum betrachtet, das die Gleichstellung von Juden und Nichtjuden im Licht des Evangeliums propagiert. Ja, et Jacob gerber, Paulus quält sich mit den Sorgen über seinen anstehenden Besuch nach Jerusalem und bittet die römischen Gläubigen um Unterstützung. Aber deswegen ist der Römerbrief noch lange keine Apologie, die verdeckt an die Jerusalemer Gemeinde gerichtet wäre, damit die Kollekte nicht abgewiesen wird. Paulus staut voraus auf seinen Besuch nach Rom und auf die weiteren Projekte im Westen des Reiches. Ja, et gertheisen, Paulus verhandelt römische Probleme, die ihn auch in Korinth plagten. Ich denke an die Schwierigkeiten rund um das Essen von Fleisch. Aber deshalb wird der Römerbrief nicht ein eigentlicher Brief an die Korinther gewesen sein.
Als Nebenadressaten mögen sie durchaus im Blick gewesen sein. Aber Paulus geht doch sehr spezifisch auf die römische Situation ein. Und dies nicht nur unter dem Vorwand, mit dem er dann den Korinthen auswischen will. Ja, et Günther Klein, Paulus bezeichnet die römischen Christusgruppen nicht als Ecclesia. Aber das heißt doch noch nicht, dass er ihnen einen Ehrentitel vorenthält, weil sie nicht von ihm gegründet worden seien. Diese These war für lange Zeit recht populär, aber sie scheitert schon daran, dass er die römische Christenheit, die römischen Christusgruppen, vorbehaltlos anerkennt. Sie ausdrücklich lobt und von ihnen substanzielle Hilfe erwartet. Sie müssen nicht erst noch apostolisch durch ihn aufgewertet werden. Auch die Jesusnachfolgerin Philippi bezeichnet Paulus übrigens nicht als Ecclesia. Viel nahelegend erscheint mir die Annahme, dass Paulus auf die spezifische Situation
der römischen Gemeinden eingeht, die sich eben aus verschiedenen Christusgruppen zusammensetzen und daher nicht als eine Ecclesia anzusprechen sind. Ja, et David Orny, Paulus wird mit allen Mitteln für sein Verständnis des Evangeliums und versucht, gegnerische Positionen zu entkräften. Aber man müsste etliche Abschnitte des Briefs links liegen lassen, wenn man ihn in die Gattung Werberede, logos protrep, dikos einordnen würde. Zumal längst nicht sicher ist, dass Paulus mit solchen Gattungen, mit solchen antiken rhetorischen Gattungen überhaupt vertraut war. Ja, et Angelica Reichert, Paulus setzt alles daran, die römischen Christusgruppen von seiner apostolischen Autorität und seinen theologischen Positionen zu überzeugen. Aber es führt doch zu weit, wenn behauptet wird, er wolle die uneinheitlich geprägte Adressatenschaft zu einer paulinischen Gemeinde machen und sie für den Fall eines Scheiterns seiner Missionspläne befähigen, sie in seinem Sinn weiterzuführen.
Paulus hat ein starkes Sendungsbewusstsein, aber er toleriert durchaus ein Nebeneinander von verschiedenen Gruppen, ohne dass er alle vereinnahmen wollte. Ja, et Antje Wright, Paulus verwendet bewusst Begriffe, die auch in der Ideologie der Kaiserzeit eine wichtige Rolle spielen. Euer Angelion, gute Nachricht, Kyrios, Herr, Soterreter, dikaiosin, Gerechtigkeit, Irene, Friede, Pistis, Treue. Aber das macht ihn noch nicht zu einem antiimperialen Theologen, der zwischen den Seilen unaufhörlich den Kaiser und die Kaiserideologie attackiert. Paulus interessiert der kosmische Kampf zwischen Geist und Sünde, zwischen Tod und Fleisch. Die irdischen Gewalten samt dem Kaiserreich finden sich im Kraftfeld dieser Mächte wieder, so wie jeder einzelne Mensch auch. Es gibt also nicht einen einzigen Zweck des Römerbriefs, sondern mehrere.
Noch nie hat Paulus die Gemeinde in Rom besucht. Die Jesus-Bewegung gelangte ganz ohne sein Zutun vor vielleicht 15 Jahren dorthin. Jetzt will er sich den Christusgläubigen in der Hauptstadt persönlich vorstellen und seine Beziehung aufbauen. Mit dem langen Schreiben stellt er sich selbst eine theologische und missionsstrategische Visitenkarte aus. Bald will er selbst nach Rom reisen, natürlich zuerst, nachdem er die Kollekte in Jerusalem abgeliefert hat. Und diese Kollekte ist mit einigen Unwägbarkeiten behaftet, die ihn durchaus existenziell auch Angst machen. Rom ist dann wiederum nicht das eigentliche Ziel seiner Reise, sondern er plant weiter in den Westen zu gehen. Und dazu braucht er finanzielle und personelle Unterstützung. Für sein neues Großprojekt ist er darauf angewiesen, dass die römischen Christusgruppen
nicht nur miteinander herleben, sondern zusammenstehen und mit ihrem Zusammenhalt ihn für die weitere Reise und für die weitere Missionstätigkeit in Spanien unterstützen können. Paulus haut nicht auf den Putz, wie in Briefen an seine Gründungen. Aber spätestens am Ende des Briefes durchbricht er das Nichteinmischungsprinzip und bezieht Stellung im Streit zwischen den Starken und den Schwachen. Hier steht das gedeihliche Nebeneinander zwischen dem jüdischen Teil der Gemeinden und dem paganen Teil der Gemeinden auf dem Spiel, klassisch gesagt zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Dieses Verhältnis definiert Paulus in revolutionärer Weise neu im Licht der Gottesgerechtigkeit und des Christusglaubens. Damit bietet er seinen Gegnern offene Flanken. Aber er ist gewappnet dafür zu werden und zu kämpfen. Denn das berührt den Kern seines Schreitens nach Rom.
Damit sind wir nun bei der Frage angelangt, was den Römerbrief denn nun eigentlich im Innersten zusammenhält. Worauf kommt es Paulus an? Unsere Lesepraxis, falls wir den Römerbrief lesen, abschnittsweise oder versweise, lässt den Fluss der Gedanken, den Paulus im Sinn hatte, die vielen Querbezüge und Stichwortverknüpfungen kaum mehr erkennen. Für Luther war sein neues Verständnis der Gerechtigkeit Gottes der Durchbruch. Wir haben es vorher gehört. Luther fand sich nach eigenen Worten im Paradies wieder. Von dort kehrte er dann zurück in die Welt revolutionierte Kirche und Theologie. Er setzte damit mit der Gerechtigkeit Gottes das entscheidende Thema für die nächsten Jahrhunderte. Mit dem Begriff Gottesgerechtigkeit und noch mehr mit der Frage, wie kriege ich einen gnädigen Gott. In den Lehrbüchern wird das Thema meist trocken grammatisch eingeführt.
Rudolf Bultmann dachte an einen Genitivus Autoris. Also die Gerechtigkeit Gottes ist von Gott geschenkte zugesprochene Gerechtigkeit für die Glaubenden. Sein Kontext ist die Anthropologie, also die Lehre vom Menschen. Bultmanns Schüler Ernst Käsemann fuhr energisch dazwischen. Es geliebt seinem Lehrer Bultmann immer wieder zu widersprechen und bestimmt den Genitiv als Genitivus Subjektivus. Die Vorstellung der Gerechtigkeit Gottes, so Käsemann, stammt aus der jüdischen Apokalyptik. Gerechtigkeit hat nach Käsemann Machtcharakter. Es ist mir Zitat völlig unmöglich zuzugeben, dass die Theologie und das Geschichtsbild des Paulus am Individuum orientiert seien. So Käsemann gegen Bultmann. Biden blies seit den 1960er Jahren ein heftiger Wind aus Harvard entgegen.
Der dortige Neutestamentler, er wurde dann später lutherischer Bischof von Stockholm, Christa Stendahl, stellt weder das Heil des Individuums noch die kosmische Macht ins Zentrum, sondern die Missionspraxis und die Missionspragmatik. Paulus beschäftige die missionarisch relevante Frage, wie Heiden Teil der Abraham-Familie werden. Seine Antwort, die Gerechtigkeit Gottes wird allen zuteil die Glauben. Paulus geht es also um nichts weniger als das Durchbrechen dieser Schranken zwischen Griechen und Juden. Dieser frische Wind aus Nordamerika, der entwickelte sich bald zu einem kräftigen Sturm in Großbritannien dann und so manche deutsche Eiche wurde entwurzelt, manche gesunde und manche morsche. Die sogenannte New Perspective on Paul ist verbunden mit den Namen E.P.
Sanders, James Dunn und N.T. Wright. Sie brachte einen Paradigmenwechsel in der Paulus-Forschung. Einig sind die Vertreter der New Perspective on Paul vor allem in der Ablehnung der alten Sichtweise, also der Old Perspective, wie sie dann genannt wird. Paulus Frage sei eben nicht die lutherische gewesen. Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Sondern welchen Platz haben die Völker im Heilsplan Gottes? Mittlerweile hat sich der Sturm etwas gelegt. Nach einer durchaus polemischen Phase ist man wieder mehr zu den Sachfragen zurückgekehrt. Wie gesagt, ich werde die Diskussion um die Gerechtigkeit Gottes jetzt nicht weiter vertiefen. Ich möchte meine Lektüre des Römerbriefs auf eine andere Spur setzen. Das Leib- und Magenthema des Paulus ist der Glaube. Die pistis auf Griechisch, fides auf Latein. Glaube, das will ich jetzt schon festhalten, ist für Paulus immer Christusglaube.
Der Christusglaube ist im Römerbrief argumentativ Dreh- und Angelpunkt. Paulus ist ein Theologe des Glaubens. Römerbrieftheologie ist Glaubenstheologie. Ganze viermal nennt Paulus den Glauben in den vielschichtigen Leitversen Römer 1, 16 und 17 ein deutliches Signal für seine immense Bedeutung. Wie gesagt, hat man sich in der Forschung vor allem immer auf den Begriff der Gerechtigkeit Gottes gestürzt und dabei den Glauben als scheinbar selbstverständlich einfach vorausgesetzt. Also Römer 1, 16 und 17, denn ich schäme mich des Evangeliums nicht. Eine Kraft Gottes ist es nämlich zum Heil für jeden, der glaubt. Für die Juden zuerst und auch für die Griechen. Gottes Gerechtigkeit nämlich wird in ihm offenbart, aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht, der aus Glauben Gerechte wird leben. Nach den Antiken Regeln, nach den Regeln antiker Rhetorik beinhaltet der Leitsatz den gedanklichen
Kernbestand und den Beginn der ganzen Beweisführung, so der Rhetoriklehre und Zeitgenosse des Paulus Quintilian. Also auf jedem einzelnen Wort einer solchen Propositio liegt Gewicht, Evangelium, Heil, Gotteskraft, Gottes Gerechtigkeit. Und doch ist der Brennpunkt der Sätze der Glaube. Er ist es, der alle Aussagen zusammenbindet und er ist es auch, der am meisten umstritten ist. Er taucht in zahlreichen Wendungen auf und die Exegetinnen und Exegeten zerbrechen sich den Kopf, wie diese Wendungen aufzulösen sind. Eben aus Glauben zu Glauben, Glaubensgehorsam, Glaubensgesetz, Glaubensgerechtigkeit, Glaubenswort, Glaubensmaß, Glaubensanalogie und derzeit massiv in der Diskussion der Begriff Christusglaube. Christus verwendet das Wort Glauben 21 mal, das Nomen pistis 40 mal im Römerbrief.
Auf den vier römischen Vasen findet sich ein Etikett mit der Aufschrift Glaube. Römer 1 bis 4 Glaubensgerechtigkeit, Römer 5 bis 9 Glaubenswirkungen, Römer 9 bis 11 Glaubensparadox und Römer 12 bis 16 Glaubenskonkretionen. Um zu wissen, was in diesen Vasen ist, wie es aussieht und wie es schmeckt, müssen wir sie aus dem Regal nehmen und sie uns genauer zu Gemüte führen.
Der Römerbrief – Teil 1 | 10.8.2
56 nach Christus, irgendwo in einer Stube in Korinth, ein Mann diktiert einen Brief, für umgerechnet 2000 Euro Produktionskosten. Was da drin steht, sollte sich also besser lohnen! Und das tut es. Denn der Römerbrief ist nicht nur der aufwendigste und am meisten durchdachte Brief des Paulus, er hat auch durch die Jahrtausende hinweg Kirchenväter von Augustin bis Luther verändert, er ist mitverantwortlich für kirchliche und theologische Revolutionen, in jüngerer Zeit wurde er für philosophische Diskussionen entdeckt. Denker der Zukunft hatte Paulus natürlich nicht im Sinn. Er adressierte in seinem Brief die zerstrittene Gemeinde in Rom, zerrüttet durch Verfolgung von außen und Streit über Fleisch und Wein im Inneren. Elend und Elite trafen in der römischen Gemeinde aufeinander, verschiedenste Milieus, Reiche und Arme, Juden und Nicht-Juden. Die Gemeinde stand unter Hochspannung. In diese Spannung hinein sprach Paulus. Je besser wir die Situation damals verstehen, sagt Benjamin Schließer, umso klarer spricht Paulus auch zu uns. Deswegen erklärt er in diesem Vortrag ausführlich die Lebenswelt der frühen Kirche in Rom – und was Paulus‘ Brief mit uns, unserem Umgang mit den Geschlechtern und mit Homosexualität zu tun hat.
Dieser Vortrag gehört zur Reihe »Vorworte: Einführungsvorträge zu jedem biblischen Buch«.