Video
Audio Als MP3 herunterladen
Transkript Als PDF herunterladen

00:00
Ich fange einfach mal an, etwas autobiografisch. Als ich nach dem Abitur darüber nachdachte, was ich studieren möchte, kamen verschiedene Dinge in Frage und ich liebäugelte mit dem Fach Theologie an der Humboldt-Uni in Berlin und war mir aber nicht ganz sicher, hatte ein Gespräch mit meinem Pfarrer, der mich getauft und konfirmiert hatte und überhaupt in meiner Jugend sehr geprägt hat, also auch so eine Art Mentor war. Und wir sprachen zusammen über diesen Studienwunsch und auch offen über Glaubenszweifel. Und er fasste seine Glaubenszweifel so zusammen, dass er sagte einen ganz prägenden Satz, Jesus hat nicht an Jesus geglaubt. Er hatte also eine gewisse eigene Prägung und Tradition im Rücken, die ihn dazu führte, diesen Satz zu sagen. Und er meinte damit, Jesus hat an den Gott Israels geglaubt,

01:10
also nicht an Jesus Christus, nicht an sich gewissermaßen, sondern an den Gott Israels. Und unser Glaubensbekenntnis an Jesus als den Sohn Gottes, an seine Auferweckung und Erhöhung zu Gott ist etwas, was sich später entwickelt hat, was nicht am historischen Jesus sozusagen seinen Anfang nimmt. Und wenn wir jetzt den historischen Jesus befragen könnten, wären wir wahrscheinlich überrascht über seine Überzeugung, sein Weltbild, was er glaubte, und würden da einen ganz großen Abstand wahrnehmen zu dem, was wir heute glauben, wie wir heute an Jesus Christus glauben. Und das führte eben bei meinem Pfarrer zu diesem Satz, Jesus hat nicht an Jesus geglaubt. Das heißt auch, er unterschied ganz klar zwischen dem historischen Jesus auf der einen Seite und dem Jesus der Evangelien,

02:08
dem Jesus Christus der Evangelien und dem Jesusbild der Glaubensbekenntnisse, also unseres christlichen Glaubensbekenntnisses, was wir heute ja auch noch im Gottesdienst sprechen. Ja, ich hatte also diesen Satz gehört, und der ist mir sehr hängen geblieben. Und ich habe trotzdem das Theologiestudium angefangen und habe aber diesen Satz immer im Hintergrund gehabt. Also ich habe mit diesem Satz das Fach Neues Testament studiert, habe mit diesem Satz im Hintergrund die Evangelien gelesen und habe diesen Satz sozusagen für mich erst mal übernommen. Und das bedeutete auch, dass ich eben auf der Grundlage dieses Satzes meinte, dass die Auferweckung und die Erhöhung Jesu zu Gott etwas Sekundäres ist, was im Laufe der Entwicklung des frühen Christentums und der Kirchengeschichte

03:05
sich herausgebildet hat und hinzugetreten ist zu dem, was ursprünglich das frühe Christentum glaubte und was aber dann auch noch eigentlich den historischen Jesus ausmacht. Das bedeutete auch, dass wir eigentlich Jesu Glauben nicht als Glaubensvorbild nehmen können. Also da gab es sozusagen wirklich eine für mich auch tiefe Kluft zwischen dem historischen Jesus und dem geglaubten Christus. Ja, und so studierte ich weiter und lernte natürlich dazu noch alle Hand an Methodik. Historisch-Kritische Exegese hat so ein Methoden-Instrumentarium herausgebildet, was ich dann auch munter anwenden konnte auf die Texte. Aber der Satz blieb haften nach wie vor. Und erst nach ein paar Semestern, vielleicht auch, wenn ich jetzt ehrlich bin, vielleicht erst seit der Promotionsphase, wurde mir wirklich klar, dass dieser Satz eigentlich selbst schon Teil einer Geschichte ist,

04:04
einer Entwicklung der Jesusforschung. Wenn man sich mit der Jesusforschung beschäftigt, wird einem was deutlich, wie die sich auch selber entwickelt und verändert hat über die letzten 200 Jahre. Und vor allem auch, dass sie selbst noch daneben, neben dieser Vorstellung einer Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und dem geglaubten Christus, andere Auffassungen hat. Andere Auffassungen herausgebildet hat, dieses Verhältnis zu bestimmen. Also das ist nicht das einzige so eine klare Differenz zwischen diesen beiden Gestalten zu behaupten, sondern es gibt auch noch andere Auffassungen. Aber vielleicht komme ich doch mal kurz darauf, was eigentlich historische Jesusforschung ist. Was macht sie eigentlich aus? Und man versteht darunter die Erforschung, ganz allgemein gesagt, die Erforschung des galiläischen Juden-Jesus und seines Wirkens in seiner Zeit und in seinem geografischen Umfeld anhand kritischer Quellenarbeit.

05:06
Das ist das Charakteristikum historischer Jesusforschung. Nun haben sich ja mit Jesus natürlich schon seit der Antike Menschen beschäftigt, ganz klar, und sie haben auch versucht, die Bedeutung des irdischen Jesus für sich herauszufinden und zu formulieren. Und was jetzt wichtig ist, sie taten das noch nicht mittels kritischer Quellenanalyse. Das ist der große Unterschied. Das ist ein Kennzeichen der historisch kritischen Jesusforschung, die es eigentlich erst seit der Aufklärung gibt, also seit dem 18. Jahrhundert und seit der Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaft. Mit dem Aufkommen der Geschichtswissenschaft kam auch das Bewusstsein dafür auf, dass sich diese christlichen Texte, die neuntestamentlichen Texte einer bestimmten Entwicklung verdanken, dass sie historisch gewachsen sind und dass sich auch aus ihnen nicht unmittelbar etwas ableiten lässt

06:06
über dogmatische und kirchliche Lehre. Ja, sie gehören in ihre Zeit. Sie sind Ausweise des frühen Christentums. Und, das ist das eine, und das andere ist, dass sie auch nicht unmittelbare Augenzeugenberichte über den historischen Jesus sind. Auch das sind sie nicht. Also weder Zeugnisse dogmatischer Lehre noch Augenzeugenberichte, die eins zu eins historisches Wissen über Jesus vermitteln. Das heißt, man begann sich dann also mit dem Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert kritisch mit dem Bibeltext auseinanderzusetzen und seine Varianten auch zu erklären und zu deuten. Vorher hatte man den Text ja für göttlich inspiriert gehalten. Im 19. Jahrhundert haben sich noch mal ganz wichtige Weichen gestellt, die ich ganz kurz beschreiben will, damit wir dann sozusagen zu dem aktuellen Stand der Jesusforschung kommen können.

07:03
Im 19. Jahrhundert hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Evangelien keine Glaubenszeugnisse, keine historischen Berichte über Jesus sind, sondern Glaubenszeugnisse. Glaubenszeugnisse der ersten Christen, die zwar das Wirken des irdischen Jesus beschreiben, also sein Leben kann man nicht sagen, einen kleinen Ausschnitt seines Lebens beschreiben, sein Wirken ab der Taufe durch Johannes den Täufer bis zu seiner Kreuzigung, aber sie tun dies eben unter der Perspektive des christlichen Glaubens an Jesus Christus. Sie haben diese Glaubensperspektive immer schon dabei. Sie entwickeln ihr Erzählen von Jesus unter der Glaubensperspektive. Und hier wurde der Theologe David Friedrich Strauss sehr wichtig im 19. Jahrhundert.

08:01
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte er ein viel beachtetes und viel kritisiertes Buch, was so ein Meilenstein in der Jesusforschung war, über das Leben Jesu. Er nannte das das Leben Jesu kritisch bearbeitet. Und Strauss kann man nicht nur deswegen hier erwähnen, weil er auch in Tübingen wirkte. Er war hier am Tübinger Stift und an der Tübinger Universität wirksam, sondern auch, weil er eben einer der Ersten war, die erkannten, dass die Evangelien insgesamt Jesus mythisch interpretieren. Also so nannte er das. Er führte den Begriff des Mythos ein in die Jesusforschung. Das heißt, diese Evangelien benutzten bestimmte Vorstellungsgehalte, die sie nach der Auffassung von Strauss aus dem Alten Testament, aus den Schriften des Judentums beziehen, um Jesus zu verstehen und zu interpretieren.

09:03
Sie ziehen dazu messianische Vorstellungen heran, um Jesus zu deuten und um die Geschichte seines Wirkens darzustellen. Das heißt also, für Strauss war die Glaubensperspektive der Evangelien eben mythisch geprägt. Und ich finde diesen Begriff Mythos sehr aufschlussreich. Denn er zeigt eigentlich, dass Strauss, wenn er von Mythos spricht, einen großen Abstand sieht zwischen der Darstellung der Evangelien und seiner eigenen Zeit, die rational aufgeklärt, wissenschaftlich neutral an die Geschichte herangehen will. Er meinte, die Evangelien hatten dieses Interesse nicht, sondern sie waren mythische Texte. Und offenbar empfand Strauss nicht nur einen Abstand zwischen seiner eigenen wissenschaftsorientierten Zeit und den Evangelien, sondern auch noch einen großen Abstand

10:04
zwischen der Darstellung der Evangelien von Jesus und dem historischen Jesus. Also auch hier rechnete er mit einer starken Überformung des historischen Jesus. Diese These von Strauss stieß eine sehr intensive Diskussion und Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen dem historischen, kritisch erforschtbaren Jesus einerseits und dem geglaubten Christus andererseits an. Und diese Diskussion zieht sich im Grunde durch die Jesusforschung bis heute wie ein roter Faden und ist eine Art Motor der Entwicklung der Jesusforschung. Und seit dieser Unterscheidung wird auch immer wieder in der Jesusforschung der historische Wert der Evangelien diskutiert. Wie glaubwürdig, wie zuverlässig sind diese Zeugnisse eigentlich? Wenn wir Interesse haben am historischen Jesus, an diesem Menschen,

11:01
an diesem galiläischen Juden aus dem ersten Jahrhundert. Die Diskussion durchlief verschiedene Phasen, die mittlerweile selbst Teil der Geschichte der Jesusforschung geworden sind, die man auch wieder an der Universität lernt. Und es eröffnet sich dann gewissermaßen ein Spektrum möglicher Zugänge zu der Frage nach dem historischen Wert der Evangelien und nach dem Verhältnis zwischen dem historischen Jesus und dem geglaubten Christus. Und ich will noch auf eine wichtige Person kurz eingehen, die die Jesusforschung auch ihrerseits auf besondere Weise geprägt hat, nämlich auf den Marburger Theologen Rudolf Bultmann. Demzufolge, also er vertrat eine Extremposition an der Jesusforschung. Und er meinte, dass Jesus vollkommen unmessianisch aufgetreten sei. Also dieser Abstand, von dem ich gesprochen habe, zwischen historischem Jesus und geglaubtem Christus, den machte er ganz groß. Aber nicht nur das, sondern er hielt darüber hinaus auch überhaupt die Erforschung des

12:04
historischen Jesus für den Glauben als nicht für relevant. Also er meinte, dass das für den christlichen Glauben eigentlich nichts austrägt, wenn wir uns mit dem historischen Jesus beschäftigen, obwohl er selber auch ein Jesusbuch geschrieben hat. Für ihn war die Frage nach dem historischen Jesus belanglos, wenn es um den Glauben geht. Und er las die neuntestamentlichen Texte als Glaubenszeugnisse der ersten Christen einer anonymen, im Wesentlichen anonymen Gruppe, die sehr kreativ war und sehr viel Wichtiges geschaffen hat. Aber das in einem Vorstellungsrahmen interpretierte, der mit unserem Weltbild heute eigentlich kaum noch zu vereinen ist. Also auch hier klingt dieser Mythosbegriff von Strauss nach.

13:00
Allerdings meinte Bultmann, dass man diese mythische Überformung der Geschichte durchaus auf einen gewissen Kern, auf einen gewissen Inhalt hin befragen kann, der auch heute noch für uns bedeutsam sein kann. Denn in diesem Deutungsrahmen drücken sich nach Bultmann menschliche Erfahrungen aus, die sozusagen zeigen, dass die Menschen auch damals unmittelbar existenziell herausgefordert waren und sich als angesprochen empfanden. Und wenn man die Texte jetzt auf diesen Sinn hin liest, dann sind sie für uns auch heute noch bedeutsam. Aber das hatte mit dem historischen Jesus nicht so viel zu tun. Und jetzt bin ich wieder bei dem Satz meines Pfarrers. Jesus hat nicht an Jesus geglaubt. Von dem Hintergrund der Geschichte der Jesusforschung ergibt er plötzlich nochmal einen besonderen Sinn. Er zeigt, dass er gewissermaßen ein Ausschnitt aus dieser Geschichte der Jesusforschung ist.

14:04
Jetzt habe ich am Ende meines Studiums und in der Promotionsphase natürlich nochmal einen anderen Blick gehabt auf den Satz. Wo stehe ich eigentlich heute? Wie lese ich jetzt die Evangelien? Hat Bultmann recht? Und kann man die Evangelien nur als Glaubenszeugnisse lesen? Muss man den historischen Jesus beiseite lassen und sich dann sozusagen auch von der Geschichte, von den historischen Daten entfernen? Ist der historische Jesus wirklich für den Glauben heute im Grunde belanglos? Und was bedeutet das eigentlich, wenn wir wirklich auch historisch kritisch herausfinden, dass Jesus nicht an Jesus geglaubt hat? Also was heißt das für uns? Woran können wir uns eigentlich noch orientieren? Das ist gewissermaßen die Fragestellung heute. Wo steht die Jesusforschung da? In dieser Frage heute.

15:02
Ich fange mal nochmal mit den Evangelien an. Die Evangelien sind eigentlich nach wie vor die ergiebigsten Quellen zu Jesus. Wir haben zwar inzwischen gute Kenntnisse über das Judentum zur Zeit Jesu, also das Judentum des zweiten Tempels, das Judentum des ersten Jahrhunderts. Wir haben viele archäologische Funde aus Galilea und aus Jerusalem, die es ermöglichen, indirekte Informationen über Jesus zu gewinnen, über seine Lebensumstände ganz allgemein. Aber wenn wir wirklich konkret nach Ereignissen im Wirken Jesu fragen und auch nach dem Selbstverständnis des historischen Jesus, dann müssen wir doch auf die Evangelien zurückgreifen. Denn andere direkte Informationen haben wir nicht. Die Evangelien bleiben die Hauptquellen für das Leben und Wirken Jesu. Und damit deutet sich doch auch schon eine gewisse Paradoxie an, die in dem Satz Jesus

16:03
hat nicht an Jesus geglaubt, steckt. Das fiel mir dann auch nach und nach auf. Denn woran Jesus wirklich glaubte, das wissen wir ja nur aus den Evangelien. Woanders können wir das ja nicht hier haben. Das bedeutet also, wenn sich der historische Jesus wirklich so sehr unterschieden hat von dem geglaubten Christus, den die Evangelien schon beschreiben, dann müssten die Evangelien das ja irgendwie verraten, vielleicht auch gegen ihre Intention. Also sie müssten ja irgendwie Hinweise darauf bieten, denn anders könnten wir das ja gar nicht wissen. Das bedeutet also, wenn man vor dem Hintergrund historisch kritisch auf die Evangelien zugreift, dann müsste eigentlich der Exegete oder die Exegetin mit ihrem Instrumentarium mehr herausfinden über den historischen Jesus, als die Evangelien vermitteln wollten. Also man müsste hermeneutisch geschickt, detektivisch da herangehen und das Oberflächliche beiseite

17:04
lassen und in eine Tiefendimension vordringen, die etwas über den historischen Jesus verrät. Das heißt also, es kommt sehr darauf an, mit welcher Hermeneutik wir uns den Texten nähern. Die Hermeneutik, also das Verstehen der Texte, das ist interessant und das verdient eigentlich eine große Aufmerksamkeit, dass man sich nochmal damit beschäftigt, wie man eigentlich die Texte wirklich versteht, vor welchem Hintergrund man sie liest, in welchem großen Verstehensrahmen man sie einsortiert. Und David Friedrich Strauss hatte mit seinem Begriff des Mythischen die Ebene des Glaubens von den historischen Anfängen im Wirken Jesu weit abgerückt. Das ist seine Hermeneutik gewesen, dass er da schon von vornherein so einen großen Bruch und Abstand annahm und das Historische und das Deutende bei ihm weit auseinander treten. Aber das muss nicht so sein. Das muss man nicht so machen. Und Exegeten heute benutzen auch den Begriff des Mythos im Grunde nicht mehr.

18:02
Allerdings sehen sie durchaus einen Zusammenhang zwischen den überlieferten religiösen Vorstellungen des Judentums zur Zeit Jesu und der Art, wie das Wirken Jesu in den Evangelien erzählt wird. Also das ist sozusagen auch immer noch ein Inhalt, den Strauss auch richtig erkannt hat, der auch nach wie vor vertreten wird. Allerdings muss man vielleicht hier nochmal etwas genauer gucken, als Strauss das getan hat. Das Auftreten und Wirken Jesu wird in den Evangelien grundsätzlich in Anknüpfung an die Geschichtsdarstellung des Alten Testaments beschrieben und geschildert. Vor allem werden Aspekte der Vätergeschichte, Väter- und Müttergeschichte und der Geschichte Israels aufgegriffen, um Jesus zu deuten. Wichtig ist, dass in den Erzählungen über die Erzeltern sich Gott als ein personales Wesen offenbart. Und das ist so ein Grundzug, der auch im Neuen Testament weiter eine Rolle spielt.

19:05
Gott tritt den Erzeltern gegenüber als eine Person, die mit den Erzeltern einen Weg beschreitet und eine Geschichte hat mit ihnen. Und zwar vollzieht sich diese gemeinsame Geschichte durch Segen und Verheißung gegenüber den Erzeltern. Also denken Sie zum Beispiel an die Geschichte Abrahams. Er folgt dem Ruf Gottes in ein neues Land, das Gott ihm zeigen will. Und er folgt den Verheißungen Gottes. Er vertraut auf die Verheißungen Gottes. Oder denken Sie an Jakobs Ringen mit Gott um den Segen, Genesis 32. Das alles zeigt, dass diese Geschichten im Alten Testament den Weg mit Gott als Beziehungsgeschichte beschreiben. Und eine solche Art, die eigene Lebensgeschichte zu deuten, setzt sich auch im Neuen Testament

20:04
fort. Denn auch die Jesusgeschichte wird als Weg mit Gott und als eine Beziehungsgeschichte beschrieben. Im Matthäus-Evangelium zum Beispiel wird Josef im Traum von einem Engel offenbart, dass das Kind, das seine Frau Maria empfangen wird, vom Heiligen Geist ist und dass es den Namen Jesus tragen soll. Und es wird sein Volk von seinen Sünden retten. Matthäus 1. Und die Jesusgeschichte der Evangelien folgt insgesamt diesen Strukturen einer theologischen Deutung menschlicher Erfahrungen und der Geschichte, wie sie eben auch im Alten Testament schon begegnen. Und wie im Alten Testament werden auch in den Evangelien solche geschichtlichen Ereignisse in einem übergreifenden Rahmen interpretiert, bei dem es letztlich um das Beziehungsstiften der Handelngottes an den Menschen geht. Das ist so eine grundsätzliche Analogie.

21:01
Genauso der Auszug Israels aus Ägypten, die Ursprungsgeschichte des Volkes Israel, das Exodus-Geschehen. Auch hier lenkt Gott die Geschichte in einen großen heilsgeschichtlichen Bogen. Er lenkt Israel, führt Israel aus dem Land in die Wüste und dann ins Land hinein durch bestimmte Einzelgestalten, Mose und Aaron. Aber er kann auch direkt in die Geschichte eingreifen. Er kann unmittelbar in die Geschichte hineinwirken, zum Beispiel beim Durchzug der Israeliten durch das Schilfmeer. Und genau so wird es auch im Neuen Testament im Grunde geschildert. Auch das Wirken Jesu ist ein Eingreifen Gottes in die Welt und ein Handeln Gottes an den Menschen. Es wird ja auch erzählt, dass er in Machttaten und Zeichen gewirkt hat und sich so als von Gott zu den Menschen erwiesen hat, gesandt erwiesen hat.

22:01
Und im Hintergrund der Darstellung der Jesusgeschichte steht damit letztlich so eine alttestamentlich jüdische Geschichtstheologie. Und in ihrem Licht erscheint auch Jesu auftreten als ein Heilhandeln Gottes an den Menschen, als Handeln Gottes, als Geschichte Gottes mit den Menschen, die letztlich zu einem von Gott vorgesehenen Ziel führen soll. Diese Aspekte, die ich jetzt genannt habe, gehören ja zu der übergreifenden Ebene der Deutung Jesu in den Evangelien und zu solchen leitenden Darstellungsprinzipien seines Weges. Jetzt ist aber nochmal interessant zu fragen, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass dieser Mensch Jesus, dieser aus einem Dorf in Galiläa stammende Jude namens Jesus, in diesen großen alttestamentlich grundgelegten Kategorien gedeutet werden konnte, in den

23:02
Kategorien einer Geschichte Gottes mit den Menschen. Wie konnte es dazu kommen, dass Jesus als ein einfacher galiläischer Jude des ersten Jahrhunderts nach Christus zu einem Zentrum einer neuen Bewegung wurde und dann schließlich auch als Christus, als Gesandter Gottes und Sohn Gottes interpretiert wurde? Das beruht natürlich zunächst auf den Erfahrungen der Jünger mit seinem Kreuzestod und den Erscheinungen nach seinem Tod zu Ostern. Das sind so die entscheidenden Zäsuren und Wendepunkte, die zu einer solchen Explosion an Deutung und Interpretationen führten, auf die ich auch nochmal zurückkomme. Aber ich möchte jetzt erstmal noch dahinter zurück. Also ich möchte nochmal noch hinter Karfreitag und hinter Ostern zurücktreten und fragen, ob es nicht im Wirken des historischen Jesus, wie die Evangelien es deutend beschreiben,

24:04
Ansätze und Aspekte gibt, die über diese Kluft, die ich beschrieben hatte, hinwegführt, die eine Brücke baut über die Kluft und sozusagen zwischen seinem Auftreten und seiner Selbstdeutung eine Kontinuität zeigt, bis hin zu dem christlichen Bekenntnis nach Ostern. Also mein Versuch ist zu zeigen, dass dieser Satz, Jesus hat nicht an Jesus geglaubt, doch eine Verkürzung ist. Gibt es eine Verbindung zwischen dem irdischen Jesus, seinem Selbstverständnis, seiner Selbstauslegung und unserem Glaubensbekenntnis? Ich fange vielleicht mal so an, dass Jesus galiläischer Jude war, ist Konsens in der Forschung, da gibt es gar keinen Zweifel. Und das heißt aber dann auch, da führt dann gleich der nächste Schritt hin, dass er wohl doch mit den Traditionen des Jugendtums und der Thora sehr vertraut war und dass er selbstverständlich

25:04
mit ihnen umging. Es ist sogar wahrscheinlich, dass sich Jesus besonders gut in den Schriften auskannte. Und es ist gut vorstellbar, dass er seine Sendung und sein Wirken im Licht dieser Überlieferungen der Schrift verstand, dass er sie im Licht des alten Testaments, anachronistisch gesprochen, interpretierte. Man kann sich vorstellen, dass er von der Gewissheit getragen war, eine unmittelbare Gottesbeziehung zu haben, wie sie auch schon mit den Vätern in den Erzeltern-Geschichten sich zeigt. Und das bedeutet dann natürlich, dass seine Selbstauslegung, sein Selbstverständnis gar nicht so weit entfernt wäre von den späteren Darstellungen der Evangelien. Nicht so weit jedenfalls wie ältere Forschung ist anders. Aber das gucken wir nochmal jetzt genauer. Ich möchte also jetzt nochmal ein paar Aspekte abschreiten im Wirken des irdischen Jesus, die in der aktuellen Jesus-Forschung zum Selbstverständnis Jesu gerechnet werden.

26:03
Ich fange an mit der Verkündigung Jesu. Die Verkündigung vom nahen Reich Gottes bildet im Grunde das Zentrum der Botschaft Jesu. Das wird in allen Evangelien deutlich. Also da stimmen eigentlich alle Evangelien in gewisser Hinsicht, bei Johannes gibt es eine Ausnahme, grundsätzlich überein. Und dem Evangelisten Markus zufolge ist sie einfach schlichtweg das Evangelium, das Jesus brachte. Diese Botschaft vom nahen Gottesreich teilte er einerseits mit Überzeugungen des zeitgenössischen Judentums im ersten Jahrhundert, aber er setzte andererseits auch spezifische eigene Akzente dabei. Apokalyptische Kreise und die Bewegung um Johannes, den Täufer, pflegten die Hoffnung auf das endzeitliche Eingreifen Gottes in die bestehenden und als ungerecht empfundenen

27:01
Verhältnisse. Es wurde ein endzeitliches Eingreifen Gottes erwartet, das einhergehen sollte mit der Erneuerung des Gottesvolkes und der Wiederherstellung von Gerechtigkeit und der Durchsetzung der Gottesherrschaft. Also Gott sollte als König universal am Ende der Zeit herrschen. Diese Vorstellungen hat Jesus wahrscheinlich geteilt. Also auch seine Verkündigung trug esiatologische, endgerichtliche Züge und er sammelte ja einen Kreis von zwölf Hühnern um sich, die wahrscheinlich symbolisch das erneuerte Gottesvolk schon repräsentieren sollten. Es liegt nahe, dass das Grundzüge der Verkündigung Jesus sind, denn Jesus, und das ist auch eines der wenigen wirklich gesicherten Daten seines Wirkens, war von Johannes dem Täufer beeinflusst. Er hat sich taufen lassen, das heißt er war vermutlich eine Zeit lang Schüler Johannes

28:02
des Täufers. Während die Geburt und auch die Kindheitsgeschichte bei Lukas legendarisch sind, kann man sagen, die Taufe ist gesichert. Auf der anderen Seite geht aus den Evangelien aber auch hervor, dass Jesus in bestimmten Punkten von dieser Gerichtsbotschaft die Johannes der Täufer beispielsweise pflegte, abwich. Früh jüdischer Apokalyptik nach sollte das Heil, also das endzeitliche von Gott gebrachte Heil eigentlich nur den Frommen und Gerechten gelten, während die Sünder bespracht werden sollten. Und der entscheidende Maßstab dieser Zuweisung von Heil und Unheil sollte die Thora sein. In der Verkündigung Jesu, wenn man sich die genauer ansieht, erscheint Gott dagegen etwas anders. Er wird öfter als Vater beschrieben, als Vater, der sich den Armen, den Sündern, den Zöllnern,

29:03
den gesellschaftlich an den Rand gedrängt zuwendet. Und diesen Menschen, diesen Gruppen gilt sein Heilversprechen, seine Heilzuwendung. Das ist also schon eine interessante Verschiebung der ansonsten übereinstimmenden Vorstellungen von der Endzeit. Nun teilte Jesus die für uns heute fremdwirkende apokalyptische Vorstellung, dass das Reich Gottes im Gegensatz und im Kampf mit dem Reich des Satans steht. Die Herrschaft Gottes werde erst aufgerichtet, wenn der Satan überwältigt ist. Das kann man aus verschiedenen frühjüdischen, apokalyptischen und weisheitlichen Texten entnehmen. Und interessant ist eine Stelle im Lukasevangelium, Lukas 10, Vers 18. Da berichtet Jesus von einer Vision, die er hatte, bei der er den Satan wie ein Blitz

30:00
vom Himmel fallen sah. Was bedeutet das jetzt? Offensichtlich sah Jesus die Gottesherrschaft jetzt schon gegenwärtig im Kommen begriffen. Der Satan ist mit diesem Schimmelsturz ja im Grundsatz schon entmachtet. Bevor sie sich jetzt aber, also die Gottesherrschaft, so von Jerusalem ausgehend über den gesamten Erdkreis sichtbar manifestiert, wird sie punktuell in dem Wirken Jesu schon aufgerichtet. Zum Beispiel in den Dämonen-Austreibungen, die sind historisch auch relativ sicher für Jesus. Die Dämonen sind nach jüdischer Vorstellung dem Satan untertan. Und das heißt, wenn Jesus sie austreibt bei einzelnen Menschen, dann ist die Machtsphäre des Satans schon im Rückzug begriffen. Das kommt zum Beispiel in einem Gleichnis zum Ausdruck des Markus, der Evangelist Markus

31:00
von Jesus überliefert, in dem von einem starken Mann die Rede ist, dessen Haus man erst eindringen kann, wenn der starke gefesselt ist, Markus 3. Vermutlich ist mit dem Starken im Gleichnis eben der Satan gemeint, der dann gefesselt wird. Außerdem kennen Sie vielleicht das berühmte Logion in Lukas 11, Vers 20, das auch zur authentischen Jesusüberlieferung in der Forschung gerechnet wird. Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon zu euch gekommen. Das weist eigentlich in dieselbe Richtung. Jesus hat für sich beansprucht, dass Gott durch ihn wirkt. Und die enge Verschränkung des Handelns Gottes, das hinter dieser Entmachtung des Satans sichtbar wird und Jesu öffentlichem Auftreten lässt sich an diesen Worten Jesu gut erkennen.

32:01
Nun ist der Wortlaut dieser Rede Jesu nicht unbedingt getreu überliefert. Das macht aber auch nichts, denn es gibt bestimmte Hinweise darauf, dass diese Einzellogien gut und stimmig in ein Gesamtbild des Wirkens Jesu passen. Das heißt also, dass Jesus sein Wirken wesentlich mit der Aufrichtung und Ausbreitung der Gottesherrschaft in Verbindung brachte. Es gibt auch noch andere Aspekte im Wirken Jesu, die darauf hindeuten. Wie es die Evangelien beschreiben, demonstriert Jesus sein Verständnis der anbrechenden Heilszeit und der Zuwendung Gottes zu den Armen, zu den Sündern, zu den Verlorenen, auch durch seine Tischgemeinschaft mit Sündern und Zöllnern und auch durch seine Heilungen von Aussätzigen,

33:00
Blinden, Gelähmten, solchen, die dadurch automatisch durch Krankheit, ihr Gebrechen, automatisch an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden waren und sozial ausgeschlossen waren. Dass Jesus heilte, ist wiederum in allen Evangelien bezeugt und historisch deswegen gesichert. Und man kann also neben der Deutung der Dämonenaustreibung auch aus den Heilungen schließen, dass Jesus nicht allein die Nähe der Gottesherrschaft verkündigt hat, sondern eben auch sein eigenes Wirken in ganz engem Zusammenhang mit ihrem Anbruch stellte. Und laut Evangelien, also den Evangelien nach, hat Jesus hier an den Propheten Jesaja anknüpfen können, um zu zeigen, wie sich Gott dem Volk heilvoll zuwendet. Es gibt Heilsansagen im Propheten Jesaja, die die Heilzeit, die zukünftige Heilzeit so beschreiben, dass Taube hören werden, dass Blinde sehen werden, dass Gefangene befreit werden und

34:03
dass die Elenden Freude am Herrn haben werden. Jesaja beschrieb damit vermutlich metaphorisch die Umkehr von Unheil in Heil für Israel. Es kann sein, dass Jesus sein eigenes Wirken, seine eigenen Heilungen im Licht dieser jesajanischen Verheißungen verstanden hat. Das könnte man Lukas 7,22 entnehmen. Da stellt Johannes der Täufer an Jesus die Frage, ob er derjenige sei, der da kommen soll oder ob sie auf einen anderen warten sollen. Also wer ist die Heilsgestalt, die erwartet wird? Und Jesus antwortet nicht einfach mit Ja oder Nein, sondern er zitiert Jesaja. Er sagt Geht und verkündet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt. Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören. Tote stehen auf. Amen wird das Evangelium gepredigt. Und selig ist, wer sich nicht ärgert an dir.

35:02
Das heißt also, sollte hier ein historischer Kern vorliegen, hat Jesus seine Heilungen im Licht der anbrechenden Gottesherrschaft interpretiert, Jesaja verheißen hatte. Das heißt auch seine Verkündigung vom nahen Gottesreich verband Jesus mit seinen Heilungen und Exorzismen, um mit ihnen die zukünftige Gottesherrschaft zu veranschaulichen. Aber nicht nur das, nicht nur zu veranschaulichen, nicht nur symbolisch zu zeigen, wie die Gottesherrschaft sein wird, sondern auch schon tatsächlich die Gottesherrschaft zum Anbruch zu bringen in diesen Heilungen und Exorzismen. Die Evangelien berichten auch von Kontakten Jesu zu zwei einander spannungsvoll gegenüberstehenden Gruppen, einmal der Frömmigkeitsbewegung der Pharisäer und der Schriftgelehrten, die immer genannt werden, und dann auch der Sünder auf der anderen Seite. Mit beiden Gruppen sind Begegnungen und Gesprächsgänge überliefert.

36:01
Während sich die Pharisäer in den evangelischen Erzählungen oft von sich aus Jesus nähern und Gespräche mit ihm suchen, die dann oft in Streitgespräche umschlagen und zu Kontroversen führen, sucht Jesus seinerseits Nähe zu den Sündern. Im sozialen Kontext bildete diese Gruppe, die ich jetzt Gruppe nenne, Gruppe der Sünder, keine klar abgegrenzte Gemeinschaft, sondern das waren eben diejenigen, die nicht zu dem wahren Israel gemäß Gruppendefinition gehörten. Das waren solche, die etwas schlecht angesehene Berufe ausübten und am Rand der Gesellschaft standen. Und Jesus pflegte nun Gemeinschaft mit ihnen, indem er zum Beispiel mit ihnen aß. Das war ein wichtiger Punkt, Gemeinschaft aufzubauen, gemeinsames Essen. Bedeutete auch, dass man seine Tischpartner annahm und damit übertrat Jesus soziale Grenzen

37:07
und handelte sich auch den Vorwurf ein, dass er die Gesetze missachtet. In der Darstellung der Evangelien lebte und praktizierte Jesus jetzt mit dieser Tischgemeinschaft mit Sündern Sündenvergebung. Exemplarisch ist das im Markusevangelium überliefert, in Markus 2. Und es begab sich, dass er zu Tisch saß in seinem Haus. Da setzten sich viele Zöllner und Sünder zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern, denn es waren viele und sie folgten ihm nach. Und als die Schriftgelehrten unter den Pharisäern sahen, dass er mit den Sündern und Zöllnern aß, sprachen sie zu seinen Jüngern. Mit den Zöllnern und Sündern ist er, da das Jesus hörte, sprach er zu ihnen, nicht die starken Bedürfen des Arztes, sondern die kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. Das bedeutet, dass Jesus erst mal die geltenden sozialen Rangordnungen und Normen akzeptierte.

38:08
Also er sagte ja nicht, das sind ja im Grunde keine Sünder. Diese Gruppendefinitionen, wenn man so will, ist falsch. Nein, er hat das durchaus akzeptiert. Aber er hat sich eben nicht von diesen gesellschaftlich Ausgesonderten separiert, sondern er hat Gemeinschaft mit ihnen demonstriert oder Gemeinschaft mit ihnen gepflegt und dadurch den Kern seiner Botschaft vermittelt durch so eine Art Zeichenhandlung, wenn man so will, nämlich dass das kommende Reich Gottes ein radikales Umkehrangebot für die Verlorenen und die Sünder ist. Und die Sünder sind auch ein wiederkehrendes Thema seiner Gleichnisse. Denken Sie an die Gleichnisse vom verlorenen, verlorenes Schaf, verlorener Groschen, verlorener Sohn. Diese Gleichnisse beschreiben, dass Gott Sünder, Zöllner und auch für unrein gehaltene Menschen

39:04
annimmt. Was also für die Heilungen und Exorzismen Jesu gilt, kann gleichermaßen von der Zuwendung zu Sündern gesagt werden. Jesus verhieß ihnen nicht allein endzeitliche Rettung, sondern er wandte sich ihnen zu und vollzog damit schon Gottes endzeitliches Heilzahneln. Er selbst. Welchen Eindruck er da bei seinen Kontrahenten hervorgerufen hat, das geben die Evangelien auch wieder. Interessanterweise, die Gegner nehmen ihn als Fresser, Weinsäufer, Freund der Sünder und Zöllner wahr. Wenn man also diese Grundzüge der Haltung Jesu zu Sündern und Verlorenen sich anschaut, dann sprechen sie für die Tatsache, dass Jesus selbst Gemeinschaft mit Sündern gepflegt hat und dadurch eben Sünden Vergebung selbst praktiziert hat. An einer Stelle im Markusevangel wird das sogar explizit gesagt.

40:02
Bei der Heilung des Gelähmten spricht Jesus ihm Sünden Vergebung zu und das mag anstößig gewirkt haben für jüdische Autoritäten. Man kann sich vorstellen, dass Jesus die Hinwendung der Sünder zu ihm, die immer wieder in den Evangelien berichtet wird, Sünder, Zöllner usw. folgten ihm, hörten ihm gerne zu, dass er diese Hinwendung zu ihm interpretiert hat als die Umkehr der Sünder zu Gott. Das zeigt natürlich, dass er einen bestimmten Anspruch mit seiner Sendung verband, dass er aus einem Vollmachtsbewusstsein heraus handelte. Gleiches gilt auch für die Rolle, die sich Jesus vermutlich im erwarteten endzeitlichen Gericht Gottes zuschrieb. Auch diese Erwartung des endzeitlichen Gerichts war im Judentum seiner Zeit lebendig. Wir wissen daraus aus verschiedenen jüdischen Schriften, jüdischen Apokalypsen, die über längere Zeit entstanden waren. Da wurde zum Beispiel ein Tag Jahwes erwartet, bei dem Gott zum Gericht erscheinen würde

41:01
und seine Feinde vernichten würde, um dann die ewige Gottesherrschaft aufzurichten. Und den Sündern Unheil zuzuweisen, den gerechten Heil zuzuweisen am Maßstab der Thora. Das heißt, die Erfüllung der Thora galt als Kriterium für die Zuweisung von Heil und Unheil. Und der Überlieferung der Evangelien nach teilte Jesus die jüdische Gerichtserwartung und verband sie auch mit seiner Botschaft vom kommenden Gottesreich. Jetzt ist aber bemerkenswert, was für eine Rolle Jesus sich in diesem Geschehen selbst zuschrieb. Es gibt im Lukasevangelium eine Stelle, die dafür aussagekräftig ist und die hat auch im Markusevangelium eine Parallele, also gehört zur ältesten Jesusüberlieferung. In Lukas 12 sagt er, ich sage euch aber, wer mich bekennt vor den Menschen, zudem wird sich auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes.

42:00
Das heißt, Jesus machte das Ergehen der Menschen im endzeitlichen Gericht Gottes von der gegenwärtigen Haltung der Menschen zu ihm, zu seiner Botschaft und zu seiner Verkündigung abhängig. In dem Wort spricht er auch auffällig vom Menschensohn und er verwendet damit einen Ausdruck, der in der jüdischen Apokalyptik bekannt war, aus dem Daniel Buch. Daniel hat eine Vision von einer Gestalt, die auf den Wolken des Himmels kommt, wie eines Menschensohn und dieser Gestalt wird im Daniel Buch die ewige Gottesherrschaft übertragen. Mit dieser Gestalt wurde vermutlich Israel gemeint oder war Israel gemeint, aber sie konnte später in jüdischer Überlieferung auf eine bestimmte Einzelgestalt, auf eine messianische Einzelgestalt gedeutet werden, auf einen endzeitlichen Richter, der kommen

43:01
wird. Und genau das ist auch eine Interpretation, die das frühe Christentum dann entwickelt hat. Aus der Verwendung dieses Ausdrucks Menschensohn durch Jesus konnte sie auf ihn auch die Vorstellung übertragen, dass er als endzeitlicher Richter erscheinen wird. Allerdings benutzte der historische Jesus diesen Begriff wahrscheinlich noch nicht so in diesem Sinne. Er schrieb sich wahrscheinlich selber noch keine eigene Funktion an der Vollendung der Gottesherrschaft zu, sondern verwendete diesen Ausdruck einfach zur Umschreibung seiner Person. Zum Beispiel in solchen Worten wie die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er seinen Haupt hinlege. Lukas 9. Es gibt aber so ein paar Menschensohn Worte, die doch schon einen gewissen Anspruch, ein gewisses Vollmachtsbewusstsein Jesu zeigen, die auch möglicherweise auf den historischen Jesus zurückgehen.

44:01
So spricht er bei der Heilung des Gelähmten in Markus 2 auch von sich als Menschensohn und sagt da, damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden, sprach er zu dem Gelähmten. Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim. Das heißt, er spricht sich hier diese eigentlich als Vorrecht Gottes geltende Macht zur Sündenvergebung zu. So wie Jesus den Menschensohn Ausdruck benutzte, konnte er in frühchristlichen Deutungen weiter verwendet werden und mit zusätzlichen Interpretationen angereichert werden. Man konnte jetzt in Jesus den endzeitlichen Richter sehen, der zur Rechten Gottes sitzt und zum Gericht auf den Wolken des Himmels erscheinen wird. Das heißt also, dass Jesus sich selbst eine entscheidende, ja, ein entscheidendes Bewusstsein

45:00
zuschrieb, eine entscheidende Rolle bei der Heilsentscheidung im endgerichtlichen Handeln Gottes. Und diese markante Rolle Jesu im Gerichtsgeschehen muss natürlich zwangsläufig auch sein Verhältnis zur Thora berühren. Denn ich hatte ja gesagt, dass die Thora der Maßstab und das Kriterium für die gerichtliche Zuweisung von Heil und Unheil im Frühjudentum war. Die Thora hatte allerdings im Judentum noch keine ganz fest im Wortlaut feststehende Gestalt. Sie war auch durchaus, wurde sie verschieden interpretiert. Es gab verschiedene Haltungen zu ihr. Das bedeutet, dass man auch die Haltung Jesu zur Thora in dieses größere Spektrum, in diese Vielfalt verschiedener Positionen des Judentums einordnen muss. Und nicht zuletzt zeigen die Evangelien, dass Jesus auch selbst eine offensichtlich

46:03
vielschichtige und komplexe Haltung zur Thora hatte. Denn einerseits weisen Teile der Jesustradition Jesus als einen Thorat-treuen Juden aus. Und andererseits sind ja zahlreiche Konflikte und Streitgespräche überliefert, die sich an Jesu Thoratdeutung entzündeten. Was also der Fluchtpunkt war, von dem aus Jesus die Thora interpretierte, worin sozusagen der Kern der Auseinandersetzung mit anderen jüdischen Gruppen lag, das wird gegenwärtig kontrovers diskutiert. Möglich wäre, dass Jesus die Deutung der Thora geboten nur als eine Variante in dem vielfaltigen Spektrum von konkurrierenden Auslegungen des Judentums des zweiten Tempels. Also dass die Deutungen Jesu der Thora nur Teil dieses vielfältigen Spektrums waren. Aber es ist auch möglich, dass er aufgrund einer unmittelbaren Gottesbeziehung sich zur

47:00
vollmächtigen Gesetzesauslegung befähigt sah. Also hier ist die Forschung nicht einhellig. Und es ist schwer, historische Spuren über die Haltung Jesu in Gesetzesfragen zu finden, weil die Evangelisten ihre Darstellung der Haltung Jesu zum Gesetz nicht nur an dem ausrichten, was ihnen vom historischen Jesus überliefert ist, sondern auch an dem, was sie ihren Adressaten vermitteln wollen und an den aktuellen Konflikten ihrer Zeit um die Thora. Und so entstehen unterschiedliche Bilder von Jesus. Bei Matthäus etwa erscheint Jesus als jemand, der den Pharisäern und Schriftgelehrten äußerst kritisch gegenübersteht, aber zugleich in Gesetzesfragen sehr ausgewiesen und bedacht argumentierte, während er bei Markus so erscheint, dass er sich über die Gebote hinweg setzt teilweise und sich so auf diese Weise möglichst weit gegenüber Nichtjuden öffnet. Also hier gibt es sehr unterschiedliche Bilder von Jesus.

48:00
Ich will jetzt deswegen mal den Evangelisten herausgreifen, der eigentlich sich am frontiertesten zu dieser Frage äußert. Das ist Matthäus in der Bergpredigt. Hier kommt etwas grundsätzliches, programmatisches zur Stellung Jesu zum Gesetz zum Ausdruck. Berühmt sind die sogenannten Antithesen der Bergpredigt, in denen Jesus ein Gebot oder eine Auslegung zitiert und dann selbstbewusst ein Ich aber sage euch gegenüberstellt und hier seine eigene Deutung und sein eigenes Ethos formuliert. Er tastet allerdings nicht die grundsätzliche Bedeutung der Thora dabei an, sondern sagt bei Matthäus explizit, denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen aufzuheben, sondern zu erfüllen. Aus den Antithesen, die dann folgen, geht aber auch hervor, dass Jesus in der Thora nicht den vollkommenen Ausdruck des Willens Gottes formuliert sah, wie er eigentlich

49:04
bei der Schöpfung intendiert war. Also Jesus hat möglicherweise unterschieden zwischen dem ursprünglichen vollkommenen Schöpfungswillen Gottes auf der einen Seite und der Thora auf der anderen Seite. Und er hat die Thora Gebote als Möglichkeit interpretiert, die Welt zu gestalten unter den Bedingungen von Unvollkommenheit und Sünde. Man kann das gut sehen an einem Beispiel, das ich mal erläutern will, nämlich dem Verbot der Ehescheidung. Kommt ja auch in den Antithesen vor. Und dieses Wort Jesu zur Ehe ist auch mehrfach bezeugt, nicht nur bei den Evangelisten, sondern auch Paulus kennt es und zitiert es im ersten Korintherbrief. Man kann deswegen es seinem Sinn nach für authentisch halten. Im Buch Deuteronomium, also im Alten Testament, wird eine Regelung überliefert, die Mose erlassen haben soll.

50:01
Und nach dieser Regelung soll der Ehemann, wenn er sich von seiner Frau scheiden lässt, der Frau einen Scheidebrief geben. Das sollte die Frau schützen. Sie sollte mit Hilfe dieses Scheidebriefs neue Ehen eingehen oder eine neue Ehe eingehen und damit auch ihren Lebensunterhalt sichern. Sonst war ihre Existenz gefährdet. Diese Regelung legitimiert de facto Ehescheidungen. Sie macht Ehescheidungen möglich. Und von Jesus wird jetzt erzählt, dass er die Praxis des Scheidebriefs und damit eben auch die Scheidung überhaupt ablehnte. Wer sich scheiden lässt, macht, dass die geschiedene Frau bei ihrer neuen Heirat die Ehe bricht. Und wer eine geschiedene Frau heiratet, der bricht die Ehe, so formuliert es Jesus. Den Hintergrund dieses strengen Eheverständnisses hellen Matthäus und Markus an anderer Stelle auf. Und es bezieht sich auf den Schöpfungsbericht auf Genesis 2.

51:04
Gott sah ursprünglich vor, dass Mann und Frau zu einem Fleisch gemacht werden. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach, dass endlich das Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie genannt werden, denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an und sie werden ein Fleisch. Für Jesus ist klar, was Gott so zusammengefügt hat, das soll und kann der Mensch auch gar nicht trennen. Und das bedeutet, jede neue Ehe, die eingegangen wird, bricht die eigentlich immer noch bestehende erste Ehe. Und Jesus hat offensichtlich diese Mose Regelung mit dem Scheidebrief als Zugeständnis, als Kompromiss an die Hartherzigkeit der Menschen bewertet.

52:00
Das bedeutet aber für Jesus blieben die Menschen ganz grundsätzlich hinter der Schöpfungsintention zurück, die Gott eigentlich mit ihnen hatte. Und Jesu Weisungen, die er in den Antithesen formuliert, beanspruchen, den ursprünglichen Gottes Willen wieder aufzudecken. Auch das hat seinen Fluchtpunkt in seiner Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft, die diesen ursprünglichen Gottes Willen wieder ganz zur Geltung bringen soll. Der ursprüngliche Schöpfungswille kommt aber in der Mose Thora nur bedingt zum Ausdruck. In der Forschung ist umstritten, ob diese Form der Antithesen, die Matthäus bietet, Bildungen des Evangelisten sind oder ob sie in Teilen auch schon auf die ältere Jesustradition zurückgehen. Das kann man nicht genau sagen. Sicher kann man aber sagen, dass Jesu Verständnis von der beginnenden Aufrichtung der Gottesherrschaft auch auf sein Verständnis der Thora sich auswirkte und zu einer neuen Auslegung ihrer

53:02
Gebote führte. In der Haltung der Thora manifestiert sich dem Judentum nach, Judentum zur Zeit Jesu, die Zugehörigkeit zum Bund mit Gott. Und man kann nun sagen, dass Jesu Thora Auslegung zwei Seiten hatte. Einerseits vertrat er wohl eine radikalisierte Auslegung, wie ich es jetzt beschrieben habe, wo er als Maßstab den in den Genesis Texten formulierten Schöpfungswillen Gottes nahm. Aber andererseits wird Jesus auch als jemand dargestellt, der in die Prophetenkritik einstimmte und die Forderung der Propheten nach Barmherzigkeit erfüllte. Weil Matthäus es zum Beispiel überliefert, dass Jesus auf die Kritik der Pharisäer an seiner Tischgemeinschaft mit Sündern und Söldnern mit einem Zitat aus Hosea, vom Propheten Hosea antwortete, geht und lernt, was es heißt, Barmherzigkeit will ich nicht Opfer, denn

54:01
ich bin nicht gekommen, um gerecht zu rufen, sondern Sünder. Das heißt, Matthäus kann Jesus als jemanden beschreiben, der die Thora und die Propheten erfüllt und Barmherzigkeit gegenüber sozialen Außenseitern kennzeichnet Jesu Auslegung der Gesetze auch. Das heißt, Jesus vertrat offensichtlich neben dieser radikaleren Tendenz, die ich jetzt an dem Ehescheidungsverbot aufgezeigt habe, auch eine erweiterte, ein offeneres Verständnis für die Zubehörigkeit zum Bund Gottes, für die Deutung der Thora. Auch Jesu Ethos, auf das ich noch kurz eingehen will, ist von so einer schöpfungstheologischen und von der Prophetenkritik inspirierten Haltung geprägt. Man meinte in der älteren Forschung, dass Jesu Ethos, also seine Vorstellungen vom Verhalt, vom richtigen Verhalten des Menschen, von der richtigen inneren Haltung des Menschen geprägt war, von einer unmittelbaren Gotteserfahrung, einer unmittelbaren Beziehung zu Gott.

55:00
Aber vor dem Hintergrund unseres jetzigen Kenntnisstandes über das Judentum zurzeit, so muss man das anzweifeln, dahinter steht eine Vorstellung, dass Jesu Verkündigung einzigartig gewesen sei und gar keine Verbindungen zu den Auffassungen seiner Zeit besessen habe. Also so ein älteres, idealisiertes Geschichtsbild vom Wirken großer Männer, die ihrer Zeit weit voraus sind und die Geschichte gewissermaßen lenken, das sieht man heute nicht mehr so, sondern man verankert auch Jesu Ethik, Jesu Ethos tief im Judentum seiner Zeit. Aber es ist zugleich auch wieder, wie die Thora-Auslegung und wie das Verständnis seiner Exorzismen und Heilungen, von seiner Botschaft des anbrechenden Reichs Gottes geprägt. Man könnte einen Kern seines Ethos im Gebot der Nächstenliebe sehen, in Verbindung mit dem Gebot der Gottesliebe, so wird das in den Evangelien zumindest dargestellt.

56:01
Jesus hat das Gebot der Nächstenliebe aus dem Buch Leviticus aufgegriffen und mit dem Gebot der Gottesliebe aus Deutonomium zu einem Doppelgebot verbunden. Solche Zusammenfassungen der Thora in einem höchsten Gebot gab es auch im Judentum der Zeit Jesu. Das heißt, das ist auch nichts Singuläres. Aber exemplarisch bringt Jesus dieses Doppelgebot in einem Gespräch mit einem Schriftgelehrten nach Markus 12 zum Ausdruck. Er bezeichnet es dort als das höchste Gebot. Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn, welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus antwortete, das höchste Gebot ist das. Höre Israel, der Herr unser Gott ist der Herr allein. Und du sollst den Herrn, dein Gott lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von

57:00
ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Das andere ist dies. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als dieses. Im Kontext von Leviticus, wo also dieses Nächstenliebe-Gebot auftaucht, richtet es sich zunächst an Menschen, die im sozialen Umfeld leben, also eigene Volksangehörige oder auch Fremde, die mit im Land leben. Und bei der Interpretation Jesu, beim Aufgreifen Jesu, von diesem Nächstenliebe-Gebot ist jetzt auffällig, dass er es in der Bergpredigt in das Gebot der Feindesliebe ausweitet, dass er sozusagen das Nächstenliebe-Gebot radikal zu einem Feindesliebe-Gebot erweitert. In der Literatur des frühen Judentums gibt es auch hierfür für dieses Feindesliebe-Gebot

58:04
gewisse Vorläufer. Zum Beispiel gibt es im Sprüchebuch Forderungen zum Wohltun am Widersacher und zum Verzicht auf Vergeltung. Wir lesen dort im Sprüchebuch, hungert deinen Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser, denn du wirst feurige Kohlen auf seinen Haupthäufen und der Herr wird es dir vergelten. Das heißt also, man soll sich an dem Unterlegenen feind gnädig erweisen. Und solche ethischen Motive bildeten den Kontext und den Hintergrund des Feindesliebe-Gebots Jesu in der Bergpredigt. Aber interessant ist, dass Jesus dieses Feindesliebe-Gebot, was ihm aus der jüdischen Tradition überliefert ist, doch bedingungslos in der Bergpredigt formuliert und radikal einfordert. Denn der Feind im Feindesliebe-Gebot Jesu wird überhaupt nicht näher definiert.

59:01
Er ist nicht unterlegen. Er gehört nicht irgendwie zum Volk. Es ist nicht der sündige Bruder, dem gegenüber man Gutes tun soll, sondern es ist einfach der Feind schlechthin. Das Feindesliebe-Gebot steht in der Bergpredigt absolut und ohne Einschränkung. Es wird dann zwar konkretisiert, wie man sich da genau verhalten soll. Sie kennen das, die Beispiele vom Adulden, von Schlägen auf die Backe oder das Segnen derer, die einen verfluchen. Aber Jesus fordert mit diesem Feindesliebe-Gebot, wie es absolut formuliert ist, im Grunde ein paradoxes Handeln. Und er will das Prinzip der Gegenseitigkeit komplett aushebeln und überwinden. Die Jünger sollen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern auf Böses mit Gutem antworten. Warum sollen sie das tun? Auch das wird in der Bergpredigt gesagt. Sie sollen nämlich im Grunde wie Gott werden. Also sie sollen sich so verhalten wie Gott, der nach weisheitlicher Theologie seine Sonne

60:02
über Böse und Gute aufgehen lässt und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Ja, also wenn man auch nicht sicher sagen kann, ob Jesus das Feindesliebe-Gebot jetzt so formuliert hat, wie es bei Matthäus und Lukas überliefert ist, kann man doch sagen, dass es dem Sinn nach Jesu Verhalten, ja, dass es mit diesem Verhalten übereinstimmt und sozusagen in das Gesamtbild seines Wirkens passt. Es passt zu seiner Zuwendung zu den Kranken, zu den Verlorenen, zu den Sündern, zu den am Rand der Gesellschaft stehenden. Es passt auch zur Berufung von Jüngern aus den untersten sozialen Schichten. Das ist auch sozusagen ein Grundkonsens in der Jesusforschung, dass man nämlich nicht mehr den Wortlaut einzelner Logien Jesu, einzelner Reden Jesu rekonstruieren will, sondern dass man guckt, welche Grundzüge seiner Haltung, seines Wirkens, seiner Botschaft übereinstimmen

61:06
mit einem Gesamtbild, was auch im geografischen und historischen sozialen Kontext seiner Zeit stimmig ist. Und man versucht auf diese Weise solche grundsätzlichen Konturen des historischen Jesus nachzuzeichnen. Man kann also sagen, dass es hier Züge gibt in der Person Jesu, die eine Kontinuität zeigen. Das hatte ich ja an verschiedenen Stellen deutlich gemacht. Zum Geschichtsbild, das sich in den Schriften, in der Thora äußert, im Alten Testament, zu dem Geschichtsdenken, zu dem Gottesbild, zu den messianischen Erwartungen im Judentum. Es gibt also eine kontinuierliche Linie zwischen den Schriften, mit denen Jesus selber gelebt hat und umgegangen ist, hin zu seiner Selbstdeutung, zu seinem Selbstbild und dann schließlich

62:00
darüber hinaus auch zu seiner Darstellung in den Evangelien. Was natürlich heißt, dass diese Rede vom Mythos, den die Evangelien über das Bild des historischen Jesus gelegt haben sollen, so nicht stimmt, sondern hier mehr mit Kontinuität zu rechnen ist. Dass also die historische Rückfrage nach Jesus durch diese durchgängige Glaubensperspektive der Evangelien historisch nichts austrägt oder für den Glauben nichts austrägt, wie Bultmann meinte, das kann man eigentlich nicht mehr behaupten. Man muss sagen, dass die christologische Perspektive der Evangelien, also diese Glaubensperspektive der Evangelien, nicht den historischen Zugang zu Jesus komplett verstellt, sondern dieser Zugang ist nach wie vor möglich, denn die Evangelien zeigen ja gerade, wie Gott an Jesus wirkte, indem sie seine Geschichte erzählen, indem sie von seinem Wirken erzählen.

63:04
Das heißt, sie benutzen historische Daten, um das zu zeigen. Deshalb ist auch historische Forschung heute für den christlichen Glauben nach wie vor relevant. Wenn wir uns an die Tendenz dieser Texte, dieser Evangelien halten, wenn wir diese Tendenz nachvollziehen, ist es auch heute relevant, historisch nach Jesus zu fragen, denn die Evangelien haben historisch gearbeitet und haben solche Daten verwendet, um ihre Vorstellung von Jesus als dem Gottessohn und Christus zu vermitteln. Die Evangelien zeigen eine Erzählweise, bei der sie an die geschichtstheologische Deutung im Alten Testament anknüpfen, wo ja auch historisch erinnert wird einerseits, aber auch theologisch gedeutet wird andererseits, wo also beides zusammenfließt. Und auch Jesus hat die geschichtstheologische Perspektive der Vätergeschichten und der

64:02
Geschichte Israels und der Propheten geteilt und sein eigenes Wirken darin verortet. Daran konnten die ersten Christen anknüpfen und Jesus' Selbstdeutung schließlich unter dem Eindruck von Kreuz und Auferstehung in solchen Hoheitstiteln wie Christus und Sohn Gottes zusammenfassen und verdichten. Das heißt also, man kann nicht strikt zwischen den historischen Ereignissen und ihrer mythischen Deutung unterscheiden, wie Strauß das getan hat. Es gibt eben eine fortgesetzte Linie zwischen dem Wirken, dem Sendungsbewusstsein des irdischen Jesus, seiner Wahrnehmung durch Zeitgenossen auch, durch Anhänger und dann seiner Deutung nach Ostern. Was kann man also zu Jesu Selbstverständnis sagen, wenn man sich nicht damit zufrieden geben will, dass Jesus nicht an Jesus geglaubt hat, um auf diesen Satz meines Pfarrers zurückzukommen?

65:00
Ganz sicher hat Jesus einen besonderen Anspruch mit seiner Person verbunden, was ich zeigen wollte anhand seiner Deutung, seiner Heilungen und Exorzismen der Tischgemeinschaft, der Thora-Auslegung seines Ethos und auch seiner Funktion im endzeitlichen Gericht. Mit seinem Wirken beginnt sich also seiner Auffassung nach das Gottesreich bereits auszubreiten. Von ihm und den um ihn versammelten Zwölferkreis geht die endzeitliche Sammlung Israels aus. Zugleich hat sich Jesus aber auch nicht an die Stelle des Gottesreiches gesetzt. Er hat also auch keine eigenen Herrschaftsansprüche in diesem Gottesreich schon beansprucht und für sich formuliert. Im Gegenteil, wir haben auch solche Überlieferungen wie in Markus 10, Vers 42 bis 44, wo Jesus solche Geltungs- und Herrschaftsbeschrebungen kritisch, solchen Geltungs- und Herrschaftsansprüchen

66:02
kritisch gegenübersteht. Da rief Jesus sie zu sich, die Jünger, und sprach zu ihnen, ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht. Sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein. Und wer unter euch der erste sein will, der soll aller Knecht sein. Also man kann sagen, es gibt zwei Tendenzen im Wirken Jesu. Einerseits den Vollmachtsanspruch, den ich hier ausführlich besprochen habe, aber dann auch so einen Zug einer gewissen Selbstzurücknahme. Ja, also ein Verzicht auf einen eigenen Herrschaftsanspruch. Das beides zusammen sind einzigartige und spezifische Kennzeichen des Wirkens Jesu. Und das passt auch sehr gut zu der nachösterlichen Deutung Jesu durch die Jünger. Die Jünger konnten nämlich durch diesen Zug der Selbstzurücknahme im Verhalten Jesu,

67:00
dem Dienen, der Zuwendung zu den Sündern und Verlorenen in seinem Wirken den Tod Jesu, der ja ein schmachvoller Tod nach damaligen Kategorien war, in ihr Bekenntnis integrieren. Also sie konnten diesen schmachvollen Tod in ihr Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und Sohn Gottes dann einschließen. Und das war ganz wichtig für die Herausbildung des nachösterlichen Bekenntnisses zu Jesus. Damit bin ich fast am Schluss. Ich möchte aber nicht mit dem schmachvollen Kreuzestod enden, der dann natürlich auf besondere Weise umgedeutet werden konnte, sondern mit dem Schluss enden, der auch in den Evangelien den Schluss bildet, nämlich den Erfahrungen der Erscheinung Jesu vor den Jüngern als lebendiger der Auferstehung. Die Auferstehung ist der Ausgangspunkt der Christologiebildung nach Ostern.

68:01
Sie ist sozusagen der Ausgangspunkt der Bekenntnisbildung überhaupt zu Jesus als dem Christus und Sohn Gottes. Und sie ist auch das Bindeglied zwischen dem irdischen Wirken Jesu und seiner Rezeption dann in den nachösterlichen Gemeinden. Das Bekenntnis zur Auferstehung war auch schon in der Antike scharfer Kritik ausgesetzt und ist natürlich heute noch schwieriger zu vereinbaren mit einem neuzeitlich aufgeklärten Weltbild. Wie kann man heute noch am Glauben an die Auferstehung Jesu festhalten? Es gibt hier mehrere Lösungsmöglichkeiten, die formuliert wurden in der Forschung, in der Theologie. Und ich möchte zwei Lösungen vorstellen und sie dann kurz einschätzen. Eine Lösung dazu ist, dass man sagt, dieses Bekenntnis zur Auferstehung oder der Glaube an die Auferstehung, das ist eigentlich etwas, was man metaphorisch deuten muss. Die Rede von der Auferstehung Jesu ist etwas Bildhaftes, zeitgebundenes, ein Ausdruck

69:06
für Jesu Weiterleben im Quirigma der Gemeinde, also in der christlichen Verkündigung später und im Glauben der Christen. Und es ist verständlich, dass die Jünger Jesu diese Formulierung und diesen Vorstellungsgehalt von der Auferstehung verwendeten, weil sie eben Kinder ihrer Zeit waren und Auferstehungen dort durchaus vorstellbar galt, Auferstehung von Toten. Sie konnten also ihr Erlebnis vom Erscheinen Jesu nach Ostern, also nach seinem Tod, mit solchen üblichen Vorstellungen von toten Auferstehungen deuten. Und wir heute müssten aber diese Sprachform der Auferstehung neu interpretieren. Diese Sprachform ist für uns einfach nicht mehr übernehmbar. Sie ist nicht mehr passend. Wir müssen einen neuen Ausdruck dafür finden, der dem neuzeitlich aufgeklärten Denken entspricht.

70:05
Nur so können wir am Glauben an die Auferstehung festhalten. Die liberale Jesusforschung meinte da zum Beispiel, dass die Erscheinungen Jesu vor den Jüngern als Auferstandener subjektive Visionen gewesen seien, die dadurch zustande kamen, dass die Jünger besonders belastet waren durch seinen Tod und in einer Art kognitiven Dissonanzsituation waren und sie mussten diese Dissonanz überwinden und reagierten darauf mit dem Bekenntnis zu Jesuauferweckung. Sie merken aber, dass diese Deutung sich von den Texten, von den Evangelien weit weg bewegt. Sie hat also mit den Evangelien Erzählungen eigentlich wenig zu tun. Stattdessen setzen Sie einen anderen Verstehensrahmen an die Stelle der Deutung der Evangelien. Es sind solche Erklärungsrahmen, die eben für die gegenwärtigen Erkenntnisbedingungen

71:03
plausibel erscheinen, für ein neuzeitliches Wirklichkeitsverständnis rezipierbar sind. Das ist die eine Lösung, die formuliert wurde. Und es gibt auch noch eine andere Lösung, die vorwiegend im englischsprachigen Raum vertreten wird, die gewissermaßen den ontologischen Status der Auferstehung mittels klarer Kriterien erheben will und die Auferstehung letztlich als ein historisches Ereignis beweisen will, wie auch die Tempelzerstörung im Jahr 70 oder Caesars Überquerung des Rubikon. Und ein Vertreter dieser Richtung ist Tom Wright, ein britischer Neutestamentler, der 2003 eine ganz umfangreiche Monographie zur Auferstehung des Sohnes Gottes veröffentlicht hat. Und was macht er da? Er will die Faktizität und Historicität der Auferstehung rational begründen. Er geht aus von der Überlieferung des leeren Grabes, die er also für historisch plausibel hält. Das Grab war zu Ostern am Ostermorgen tatsächlich leer.

72:04
Und hinzu kamen die Erscheinungserfahrungen der Jünger am Ostermorgen. Und beides zusammen, leeres Grab und Erscheinungen, bilden eine hinreichende Voraussetzung für die Entstehung des Osterglaubens nach Tom Wright. Aber damit gibt sich Wright nicht zufrieden. Er will noch darüber hinausgehen. Er möchte nicht nur den Glauben erklären, sondern er möchte wirklich die Auferstehung selbst historisch erklären und auf diese Weise den christlichen Glauben auch historisch absichern. Und seine These lautet daher, dass die leibliche Auferstehung Jesu nicht nur eine hinreichende Erklärung für die Ereignisse leeres Grab und Erscheinungen ist, sondern dass sie sogar die beste aller Erklärungen dafür ist. Sie erklärt diese beiden Fakten einfach am besten und deswegen ist sie historisch plausibel.

73:00
Dem Einwand von Naturwissenschaftlern und einer allgemeinen Erfahrungswelt, dass ja noch nie jemand von den Toten auferstanden sei, hält Wright entgegen, dass genau das ja ein historisches Ereignis ausmacht, dass es einmalig ist, unwiderholbar. Also muss auch die Auferstehung ein historisches Ereignis sein. Sie genügt den Kriterien eines solchen historischen Ereignisses. Das sind zwei Lösungsmöglichkeiten, die ich beide für nicht ganz zufriedenstellend halte. Auf jeden Fall muss man sie erst einmal darin würdigen, dass sie das Anliegen verfolgen, das christliche Bekenntnis für gegenwärtige Erkenntnisbedingungen und für ein gegenwärtiges Wirklichkeitsverständnis zu retten. Dazu werden die Glaubensaussagen und Ostererzählungen der Evangelien entweder metaphorisch behandelt, dass sie bloße Metaphern sind, die man übersetzen muss oder übertragen und neu erklären muss,

74:02
sodass sie den Standards des aufgeklärten Bewusstseins heute entsprechen. Oder es wird versucht, sie wirklich als historische Fakten abzusichern und zu dem vorzudringen, was wirklich passiert ist. Damit soll die historische Tragfähigkeit der Glaubensaussagen bewiesen werden. Ich finde aber, dass sich beide Ansätze letztlich weit entfernen von den Texten vom Neuen Testament. Sie lösen nämlich diese Spannung auf, die die neustesamentlichen Texte haben. Die Evangelien erzählen ja von den Osterereignissen so, dass sie einerseits den Ereigniskarakter der Auferstehung festhalten und andererseits auch eine theologische, eminent theologische und deutende Ebene herein tragen. Das bleibt spannungsvoll dort. Bei dieser Spannung muss man bleiben. Wenn man erst mal bei den Texten selbst einsetzt und versucht, eben dieses spannungsvolle Verhältnis

75:00
zwischen Ereignis und Deutung nicht aufzulösen, sondern zu beschreiben, kommt man zu ganz interessanten Ergebnissen. Erst mal ist die Auferstehung nirgends direkt erzählt. Nirgends wird berichtet, wie Jesus am Ostermorgen den Stein vom Grab wegwälzte und aus dem Grab kam. Sondern die Auferstehung kommt indirekt ins Spiel. Sie wird geschildert entlang der Erfahrungen der Frauen am Grab und der Jünger. Also nur im Spiegel der Ereignisse. Zugleich wird sie aber als ein objektives Ereignis durchaus verstanden, das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattfand. Und der Auferstande zeigte sich nach seiner Auferstehung leiblich den Jüngern. Also nicht nur einem Jünger. Es war nicht nur die Vision eines Einzelnen, sondern ein Kollektiv hat ihn gesehen. Und nach Lukas ist er sogar vor den Augen der Jünger dann in den Himmel aufgenommen worden.

76:00
Das heißt, die Auferstehung Jesu wird von den frühesten Texten nicht als eine besondere Sprachform oder als eine Metapher oder Mythos verhandelt, sondern schon als ein einmaliges, reales Geschehen. Und wenn ich sage, das war jetzt etwas Mythisches, was man metaphorisch verstehen muss und übersetzen muss, dann gehe ich eigentlich am Anspruch der Texte vorbei. Und gegen den zweiten Ansatz muss man einwenden, dass die Texte, wenn sie von Jesu Auferstehung sprechen, eben auch wieder nicht die genauen historischen Umstände schildern, was ich schon gesagt hatte. Sie machen vor allem auf die theologische Bedeutung und Wirkung aufmerksam. Die Auferstehung wird nicht selbst erzählt, sondern sie erschließt sich den Jüngern am Ostermorgen. Der Auferstande erscheint ihnen. Er bricht das Brot mit ihnen. Er erschließt ihnen die Schrift. Er richtet an sie den Friedensgruß aus. Und auf diese Weise gibt er sich selbst zu erkennen. Ja, also die Auferstehung ist quasi im Hintergrund.

77:02
Sie ist das Wirken Gottes im Hintergrund der Ereignisse, dass dann eine bahnbrechende Wirkung bei den Jüngern entfaltet. Das heißt aber auch, dass die Art und Weise, wie englischsprachige Exegese, ich hatte jetzt Tom Wright als besonderen Repräsentanten genannt, damit umgeht, nicht zufriedenstellend ist, weil sie eben versucht, zu diesem historischen Ereignis vorzudringen, was ja gar nicht in der Weise in den Evangelien präsent ist, sondern eben durch die Erzählung auf indirekte Weise. Welche Wirkungen werden mit der Auferstehung entfaltet? Die Jünger kommen zum Glauben, zum vollkommenen Glauben an die wirkliche Identität Jesu. Jesu ist Sohn Gottes und Christus. Das verstehen sie jetzt erst vollkommen. Das heißt, ihr Weg zur Jüngerschaft vollendet sich jetzt erst. Und auch diese unscheinbaren Anfänge der Gottesherrschaft im punktuellen Wirken Jesu,

78:05
in den Heilungen und in den Dämonen Austreibungen und so, werden erst jetzt vollkommen verständlich. In welchen großen Rahmen sie sich einordnen, nämlich in die Aufrichtung der Gottesherrschaft, das wird erst jetzt erkennbar. Auch die vorösterliche Botschaft Jesu wird jetzt auf neue Weise wahrgenommen. Die Tiefendimension dieser Botschaft wird jetzt erst wirklich voll verstanden. Und man kann sagen, dass die Texte die Auferstehung Jesu so deuten, dass Gott letztlich selbst mit ihr weiter an der Aufrichtung seiner Herrschaft wirkt. Er hat damit angefangen im Leben des irdischen Jesus, was noch voller, also was noch unter den Bedingungen menschlichen Lebens sich vollzog. Aber jetzt durch die Auferweckung Jesu vollendet er dieses Werk selbst weiter.

79:00
Er erweckt den zum Leben, durch den er bereits unter den vorläufigen Bedingungen menschlichen Lebens wirkte und durch den er eben in diesen vorläufigen Bedingungen schon sein Reich aufzurichten begann. Das heißt, es kommt den evangelischen Erzählungen nicht auf die genauen Umstände und das Wie der Auferstehung Jesu an, sondern auf die Einsichten, die durch sie freigesetzt werden. Die neutestamentlichen Texte demonstrieren damit selbst, dass der Glaube an Jesu Auferstehung eben nicht im Anerkennen eines historischen Faktums besteht, nicht so wie Wright das präsentiert, sondern die Auferstehung führt selber zu einem ganz grundlegend neuen Daseinsverständnis. Man kann sie nicht einordnen in einem Rahmen von historischen Fakten, sondern sie sprengt diesen Rahmen. Sie kann gar nicht rein faktisch begründet und erfasst werden. Ja, wie geht man jetzt damit um? Wie verbinde ich das jetzt eigentlich mit historisch kritischer Jesus Forschung, die sich ja, wie ich am Anfang gesagt hatte, auch einer Entwicklung der Geschichtswissenschaft verdankt, wo es auch um historische Ereignisse geht und um ihre Deutung geht?

80:09
Im Jahr 2017 haben Jens Schröter, mein Doktorvater und ich ein Jesus Handbuch herausgegeben, in dem wir breit das Wirken des irdischen Jesus darstellen und die verschiedenen Aspekte in Artikeln behandeln. In einem Teil 3 wird dieses Wirken ausführlich entfaltet. Und im vierten Teil des Buches unter der Überschrift Wirkungen und Rezeptionen Jesu behandeln wir die Auferstehung. Und diese Aufteilung in dem Jesus Handbuch hat in Rezension Kritiker vorgerufen. Es wurde geschrieben, warum wir denn nicht die Auferstehung hineinholen in den Teil zum irdischen Jesus und zu seinem Wirken als Abschluss seines Wirkens.

81:01
Aus meiner Sicht ist das trotzdem sinnvoll, weil wir an dieser Stelle die Grenzen historisch kritischer Exegese markieren. Sie kann eben nicht den Weg Tom Wrights und anderer einschlagen, bestimmte Aspekte des Christus Geschehens, die eben in den Evangelien wirklich erkennbar theologisch gedeutet werden, wirklich rein wie historische Daten zu behandeln und zu veri oder falsifizieren. Das funktioniert hier nicht. Das hieße nämlich den Glauben an Jesus, letztlich von historisch kritischer Exegese abhängig zu machen. Aber auch der andere Weg, den ich beschrieben hatte, nämlich die frühchristliche Rede über Jesus in einen naturwissenschaftlichen, psychologischen Rahmen zu stellen, muss man kritisch bewerten, weil auch dieser Weg abführt von den Texten, wie sie Jesu wirken und geschickt darstellen. Und letztlich diese Einzelheiten, diese einzelnen vermeintlich geschichtlichen Daten in einen ganz anderen Rahmen einsortieren.

82:06
Das ist auch schon nicht neu in der Geschichte der Jesusforschung. Das wurde auch mit den Wundern Jesu schon gemacht. Es gibt im 18. und 19. Jahrhundert eine rationalistische Wunderkritik. Ein Vertreter dieser Phase war Heinrich Ebert Gottlob Paulus, der hatte sich unter dem Eindruck der beginnenden Aufklärung und des Rationalismus darum bemüht, die Bibel zu retten für das neu entstehende Weltbild und hat versucht, die Machttaten und Wunder Jesu als natürliche Vorgänge, die mit der Vernunft begreifbar sind, zu erklären. Zum Beispiel hat er gesagt, dass Jesu Brotvermehrung und Speisung der 5000 dadurch möglich wurde, dass eine Karawane vorbeizog und bei dieser Speisung mithalf. Oder es gibt ja auch diese Szene in den Evangelien von der Verklärung Jesu auf dem Berg, wo einzelne jüngere Zeugen sind, wie Jesus dort fast wie eine Lichtgestalt erscheint,

83:09
wo Mose und Elia dabei sind und das hat Paulus, also der Heinrich Ebert Gottlob Paulus so erklärt, dass es eine Luftspiegelung und Vater Morgana war, die die Jünger dort sahen. Und genauso war es auch mit der Auferstehung. Die Auferstehung war eigentlich nur die Wiederbelebung eines Scheintoten. Und ich merke, Ihnen ist diese Deutung etwas fremd. Sie wirkt ein bisschen seltsam, wenn man sie heute so wahrnimmt. Aber die Intention von Paulus war natürlich eine gute, wenn man so will. Er wollte die Bibel vor dem aufgeklärten Denken seiner Zeit in der Weise retten, dass er eben selber überkritisch an sie herangehen. Das allerdings ist, denke ich, kein Weg mehr für uns heute, etwa mit der Auferstehung und mit dem christlichen Bekenntnis umzugehen.

84:05
Wenn wir heute Auferstehung unter Wirkungen und Rezeptionen Jesu einordnen, möchten wir eigentlich die enge Verbindung zwischen dem Wirken des irischen Jesus zeigen und den vielen Auswirkungen und Deutungen seiner Gestalt und seines Wirkens in der Geschichte des Christentums. Wir wollen also nicht so einen Bruch konstatieren, den man dann irgendwie künstlich glätten muss, eine Kluft aufmachen, die man künstlich überbrücken muss, sondern wir wollen eigentlich gerade zeigen, dass vom irdischen Jesus Wirkungen ausgegangen sind, die sich entfaltet haben im Bekenntnis der ersten Christen und dann in der Kirchengeschichte, in der Geschichte des Christentums bis heute, bis in die Jesusforschung selbst hinein. So dass man sagen kann, dass sowohl die Texte des Neuen Testaments schon solche Rezeptionen und Wirkungen des historischen,

85:05
irdischen Jesus sind, als auch die Jesusforschung selbst. Die Jesusforschung hat an diesem Punkt, wo wir heute stehen, sich selbst reflektiert, ihre eigene Forschungsgeschichte reflektiert und gesehen, dass sie nicht neutral und objektiv dem historischen Jesus einfach gegenüber tritt und ihn kritisch erforscht, sondern dass sie ja selber schon von seinen Wirkungen beeinflusst ist, dass sie selber an seiner Deutungsgeschichte partizipiert. Die Jesusforschung ruht also selbst auf dieser jahrhundertelangen Geschichte der Wirkung Jesu und des Nachdenkens über Jesus. Sie partizipiert an seiner Wirkungsgeschichte. Und zugleich ist sie natürlich immer auch Kind ihrer Zeit. Sie gehört auch immer in ihre entsprechende Zeit hinein.

86:01
Sie partizipiert an den aktuellen Weltbildern und am Wirklichkeitsverständnis ihrer Zeit und bezieht von dort aus ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Und auf diese Weise, indem sich die Jesusforschung immer selbst auch weiterentwickelt, entstehen immer neue Jesusbilder. Das ist ja ein Phänomen, was schon Albert Schweitzer erkannt hat und was auch zu einer gewissen Krise in der Jesusforschung führte. Aber inzwischen kann die Jesusforschung das gelassen sehen, weil sie eben dieses Modell einer Wirkungsgeschichte verfolgt und sich selbst als Teil dieser Wirkungsgeschichte begreift. Allerdings bleiben die Jesusbilder, die sie entwickelt, letztlich immer auf die Texte bezogen, auf die Evangelien bezogen, also auf den biblisch Bezeugten Jesus.

Alles anzeigen
Ausblenden

Der aktuelle Stand der historischen Jesusforschung | 9.2.1

Worthaus 9 – Tübingen: 8. Juni 2019 von Dr. Christine Jacobi

Seit Jahrtausenden denken die Menschen über Jesus nach. Und bei diesem Nachdenken entstand immer wieder ein neues Bild von jenem Mann, den Christen als den Sohn Gottes bezeichnen, den viele aber auch schlicht als historische Figur betrachten. Oder sogar als Erfindung, eine Legende oder ein Mythos. Was ist dran an diesem Jesus, von dem die Bibel erzählt? Was weiß die Wissenschaft über den Menschen, der Jesus einst war? Und wofür hielt dieser Jesus sich selbst eigentlich? Die Theologin Christine Jacobi beantwortet diese und viele andere Fragen rund um die Jesusforschung und zitiert dabei immer wieder diesen entscheidenden Satz, den einmal ein Pfarrer zu ihr sagte: »Jesus hat nicht an Jesus geglaubt.«