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Ja, herzlichen Dank für diese Einladung, meine Damen und Herren, für diese Einladung, für das Rorthaus-Projekt ein paar Dinge über das Buch des Propheten Jeremia zu sagen, also über das Jeremia-Buch. Ich betone das eigentlich deswegen, weil unser Gegenstand so geartet ist, dass tatsächlich das Buch unser Thema ist. Dabei ist natürlich auch etwas über den Propheten selbst zu sagen, aber unser Zugang zu diesen Propheten erfolgt eben erst einmal durch das Buch. Und das muss man sich vergegenwärtigen, was das in einem biblischen Rahmen bedeutet, denn ein biblisches Buch ist in aller Regel doch etwas ziemlich anderes als ein modernes Buch. Wenn Sie den Zauberwerk von Thomas Mann lesen, dann können Sie einfach davon ausgehen, das ist

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Thomas Mann, der hier spricht. Jedes Wort stammt von ihm, es sei denn, er zitiert ausdrücklich. Das ist bei den biblischen Büchern anders, weil nach Meinung der Exegeten dort in aller Regel mehrere und sogar oft ziemlich viele Autoren beteiligt sind. Diese Bücher sind langsam über längere Zeit gewachsen, sie sind fortgeschrieben und in diesem Prozess immer mehr angereichert worden. Es sind gewachsene Größen. Wir haben hier keine Autorenliteratur wie bei Thomas Mann oder Gunther Krass vor uns, sondern wir haben Traditionsliteratur vor uns, Bücher, in denen ziemlich viele unterschiedliche Traditionen von verschiedenen Autoren eingetragen worden sind. Das war in einem antiken Verständnis kein Problem, da zählte eben nicht der Autor, der eigentliche Autor eines Buches, sondern es zählte die Autorität, die ein Buch hatte. Und

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man hat kein Problem darin gesehen, diese Autorität eines angesehenen Buches zu borgen und eigene Beiträge in dieses Buch hineinzuschreiben und es auf diese Weise aktuell zu halten, indem man dieses Buch auf neue Problemlagen und Situationen zugeschnitten hat und das durch eigene theologische Beiträge in diesem Buch getan hat. Und das gilt nun in besonderem Maße für das Jeremia-Buch. Es ist das längste Buch der Bibel, es ist also, obwohl es nur 52 Kapitel hat, länger als der Psalter mit seinen 150 Psalmen. Wenn man die Worte zählt, ist das Jeremia-Buch sogar umfangreicher als der Psalter, es ist das dickste Buch der ganzen Bibel. Und nach dem Aufbau unserer Bibelausgaben ist es das zweite große Prophetenbuch, also nach Jesaja und vor Gezecheel. Und zu den

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besonderen Reizen des Jeremia-Buchs gerade im Hinblick auf die Problematik, die ich gerade angeschnitten habe, gehört die Tatsache, dass das Jeremia-Buch das einzige Buch der Bibel ist, das seine eigene Entstehung reflektiert, das etwas über seine eigene Entstehung sagt. Und das finden wir im Jeremia-Buch im 36. Kapitel und damit springen wir gleich mitten in das Buch hinein und schauen mal, was da im Jeremia-Buch selbst über dessen Entstehung zu erfahren sein soll. Das Kapitel beginnt wie folgt. Und es geschah im vierten Jahr Joachim, des Sohnes Joschias, des Königs von Judah, da erging von Jahweh dieses Wort an Jeremia. Nimm dir eine Buchrolle und schreib darauf alle Worte, die ich zu dir über Israel und Judah und über alle Völker gesprochen

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habe, von dem Tag an, an dem ich zu dir geredet habe, seit den Tagen Joschias bis zum heutigen Tag. Vielleicht hört das Haus Judah all das Unheil, das ich ihnen zu tun gedenke, sodass sie umkehren von ihrem bösen Weg und ich kann ihnen Schuld und Sünde verzeihen. Das ist die Aufforderung, die hier ergeht. Jeremia soll in diesem vierten Jahr des Königs Joachim seine gesamte bisherige Verkündigung niederschreiben. Und Jeremia kommt ihm auch nach natürlich, nur macht er das bemerkenswerterweise nicht selbst, sondern er nimmt einen professionellen Schreiber zu Hilfe. Das steht im nächsten Vers. Da rief Jeremia Baruch, den Sohn der Rias, und Baruch schrieb nach dem Diktat Jeremias alle Worte, die Jahweh zu ihm gesprochen hatte, auf eine Buchrolle. Wie

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wir dann auch noch im Fortgang dieses Kapitels erfahren, war dieser Baruch ein professioneller Schreiber und das ist in der damaligen Zeit ein höchst angesehener, hochqualifizierter Beruf gewesen. Wir haben hier einen Mann aus der Elite, der gesellschaftlichen Elite vor uns. Die Schreiber waren die Intellektuellen einer Gesellschaft. Sie waren unter den damaligen Umständen eben relativ selten und sie waren höchst bedeutende Mitglieder der Gesellschaft. Und es geht dann wie folgt weiter. Darauf befahlen Jeremia dem Baruch, mir ist es verwehrt, in das Haus Jahwes, also in den Tempel zu gehen. Darum geh du hin und ließ am Fastag aus der Rolle, die du nach meinem Diktat geschrieben hast, dem Volk im Haus Jahwes die Worte Jahwes vor. Aus allen Judäern, die aus ihren Städten

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herbeiströmen, sollst du sie vorlesen. Baruch der Sohn Nerias handelte genau nach dem Auftrag des Propheten Jeremia und las im Haus Jahwes die Worte Jahwes aus dem Buch vor. Diese Rezitation von Jeremia-Worten am gesellschaftlichen Zentrum, am gesellschaftlichen und religiösen Zentrum des Landes, am Tempel, löst dann eine Ereigniskette aus, die dazu führt, dass schließlich dem König diese Schriftrolle in die Hände fällt. Ich lasse das an der Stelle mal aus, sondern ich nenne nur das Ergebnis dieses Vorgangs der König, nimmt die Schriftrolle und verbrennt sie demonstrativ. Warum er das gemacht hat, darauf komme ich später noch zurück. Ich springe gleich an das Ende,

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der Geschichte und lese noch folgendes. Und das Wort Jahwes erging an Jeremia, nachdem der König die Rolle und die Worte verbrannt hatte, die Baruch nach dem Diktat Jeremias niedergeschrieben hatte. Nimm dir eine andere Rolle und schreib all die früheren Worte darauf, die auf der ersten Rolle standen, die Jojakim, der König von Judah, verbrannt hat. Über Jojakim aber den König von Jula sollst du sagen. Und dann folgt ein heftiges prophetisches Strafwort an diesen König für seine Untat. Das lasse ich auch mal beiseite und springe zum allerletzten Vers, weil der für unser Thema besonders interessant ist. Da nahm Jeremia eine andere Rolle und übergab sie dem Schreiber Baruch, dem Sohn der Rias. Dieser schrieb auf sie nach dem Diktat Jeremias

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alle Worte des Buches, dass Jojakim, der König von Judah, im Feuer verbrannt hatte. Und jetzt kommt's. Ihnen wurden noch viele ähnliche Worte hinzugefügt. Hier haben wir eine Erzählung, die uns berichtet, wie das Jeremia Buch allererst entstanden ist. Das Jeremia Buch erzählt über das Jeremia Buch. Und da erfahren wir, dass das Buch sich einem göttlichen Befehl verdankt. Jahweh hat das so verlangt, dass dieses Buch niedergeschrieben wird. Und für unseren Zusammenhang ist besonders bemerkenswert, dass, wie schon betont, der Prophet dazu einen Schreiber heranzieht und dass wir erfahren, dass nach der Verbrennung der Erstausgabe eine Zweitausgabe hergestellt worden sei, die länger gewesen sei als die Erstausgabe. Hier erzählt also das Jeremia Buch selbst,

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dass es schon in seiner ursprünglichen Geschichte gewachsen sei. Und das kann man dann aus dem Kontext auch ganz gut erklären, denn diese Geschichte spielt ja im vierten und dann auch im fünften Jahr des Königs Joachim, also mittendrin in der prophetischen Karriere von Jeremia. Damit war diese Laufbahn noch gar nicht zu Ende. Und durch diese Schlussbemachung wird festgestellt, dass auch Dinge, die Jeremia später noch gesagt hat, ebenfalls in das Buch eingegangen seien. Und es wird betont, dass von vornherein professionelle Schreiber an diesem Buch mit beteiligt gewesen seien, ganz von Anfang an. Und der letzte Satz der ganzen Geschichte ist im Passiv formuliert. Ihnen wurden noch viele ähnliche Worte hinzugefügt. An dieser Stelle ist etwas

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wichtig, was Sprachwissenschaftler über das Passiv sagen. Alle Sprachen haben Passivformen und diese Passivformen sind dazu da, Dinge zu beschreiben, von denen man den Urheber entweder nicht nennen will oder nicht nennen kann. In der Nazizeit wurden sechs Millionen Juden ermordet. Das ist ein typisches Beispiel für einen passivischen Satz, wo man mal weglassen möchte, wer der Urheber gewesen ist. Man kann das auch so ausdrücken, das Passiv ist Akteursplint. Da wird eben der Handel der nicht genannt. Und hier in diesem Schlusssatz wird auch eine Akteursplint-Formulierung verwendet. Und damit wird offen gelassen, dass vielleicht auch noch andere Leute an diesem

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Jeremia-Buch mitgeschrieben haben. Und es gibt viele Beobachtungen an diesem Buch, die genau das bestätigen. Das ist ein Gemeinschaftswerk gewesen. Und wie dieses Kapitel zeigt, wusste man schon im antiken Israel, dass das ein Gemeinschaftswerk gewesen ist. Das ist nicht nur unsere moderne Idee. Aber nun habe ich bereits angedeutet, es gibt auch ein paar Beobachtungen, die dafür sprechen, dass das Buch tatsächlich ein Gemeinschaftswerk ist. Und in diesem Punkt stellt das Jeremia-Buch nun wieder eine Besonderheit dar und zwar aus folgendem Grund. Die Bibel ist ja schon in der Antike übersetzt worden. Und beim Alten Testament hat das schon in vorchristlicher Zeit begonnen. Und das Jeremia-Buch ist so etwa, ganz grob, man kann das nicht so genau sagen, sagen wir mal 200 vor Christus ins Griechische übersetzt worden. Und diese Griechische Übersetzung ist auf uns gekommen,

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die ist erhalten geblieben. Natürlich nicht im Originalmanuskript, aber in ziemlich originalen Fassungen. Und dabei fällt auf, diese Griechischen Übersetzungen sind deutlich kürzer als unser Hebräischer Text, wie er in unseren gedruckten Hebräischen Bibeln steht. Und zwar um ein rundes Zippel. Also das ist schon eine ganze Menge. Und das ist nicht der einzige gravierende Unterschied, es gibt auch noch folgenden erstaunlichen Unterschied. Der Gesamtaufbau des Buches ist in dieser Griechischen Übersetzung anders als in unserem kanonischen hebräischen Text. Wenn Sie in das Jeremia-Buch hineinlesen, werden Sie recht feststellen, dass es eine ziemlich komplizierte Aufgabe ist zu erklären, wie das Buch eigentlich geklidert ist. Es ist ziemlich unübersichtlich.

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Aber man kann zumindest eine Kropkklederung festmachen, darüber sind sich die Leute ziemlich einig. Es gibt drei große Teile. Der erste Teil geht von Kapitel 1 bis 25 und da stehen vor allen Dingen Unheilsworte, Unheilspropheseiungen über Israel und Judah. Und diese Prophezeiungen sind zu einem ganz großen Teil in Poesie abgefasst. Es handelt sich um Dichtung. Das erste Teil, dann kommt der zweite, der reicht von Kapitel 26 bis 45 und da stehen vor allen Dingen Erzählungen drin, wo wir eine ganze Menge an Szenen aus dem Leben Jeremias präsentiert bekommen. Und weil diese Erzählungen eben Erzählungen sind, sind die hauptsächlich in Prosa abgefasst. Da haben wir also einen großen prosaischen Teil. Das war Teil 2. Es folgt noch der dritte Teil, der geht von

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Kapitel 46 bis 51 und da wird es wieder Dichtung, Poesie. Und hier haben wir vor allen Dingen Unheilsorakel über Fremdvölker vor uns. Völker aus der Nachbarschaft von Israel. Es gibt dann noch in Kapitel 52 einen Anhang mit historischen Details. Der ist ziemlich wörtlich aus dem Ende des zweiten Königsbuches entnommen. Das ist also noch ein Epilog. Ansonsten haben wir einigermaßen klar die genannten drei Teile. Worte über Israel und Judah, Erzählungen von Jeremia und Worte über Fremdvölker. Und das Erstaunliche bei der griechischen Übersetzung ist nun, dass die die Teile 2 und 3 in umgekehrter Reihenfolge anordnet. Erst kommt Teil 3, die Fremdvölker-Sprache und dann erst die Erzählungen. Und das heißt, irgendjemand muss an diesem Buch gebastelt haben, sonst hätte das so nicht

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entstehen können. Und natürlich ist das schon in der Antike aufgefallen, dass es diese Differenzen zwischen dem hebräischen und griechischen Text gibt und man hat sich natürlich Gedanken gemacht, warum ist das eigentlich so? Und die klassische Antwort ging etwa so, wenn man sich diese Teile anschaut, die in der griechischen Übersetzung fehlen, dann sind das in der Hauptsache lauter kleine Stückchen, die über das Buch zerstreut sind und die sehr oft einen formelhaften Charakter haben. Also wenn Sie die deutsche Übersetzung des hebräischen Textes lesen, dann finden Sie zum Beispiel oft der Prophet Jeremia. Im griechischen fänden Sie da beispielsweise nur Jeremia ohne der Prophet oder Sie finden der König Joachim. Dann fänden Sie im griechischen entweder nur der König

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oder Joachim. Oder noch ein Beispiel, Gottes Worte werden im Jeremia Buch oft mit festen Formeln eingeleitet. Das können Sie auch leicht durch die Lektüre sich vergegenwärtigen, das heißt dann etwa so spricht Yahweh, der Heerscharen der Gott Israels. Schauen Sie in den griechischen Text stünde da nur so spricht Yahweh. Und dann lag die Antwort relativ nahe, dass man sich sagen konnte, okay auch dieser griechische Übersetzer hielt schon viel von der Devise, in der Kürze liegt die Würze und dachte sich, okay das ist, man kann da ein bisschen sparen, man kann das ein bisschen kürzen. Auf diese Weise wird das Buch ein bisschen schlanker und ein bisschen interessanter zu lesen. Aber nun gilt diese Formelhaftigkeit dieser im griechischen fehlenden Stücke nicht für alles,

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was da fehlt. Es gibt dann auch andere ganz erstaunliche Lücken. Die größte Lücke, die das griechische gegenüber dem perpräschischen aufweist, ist nun ausgerechnet eine leuchtende Heilsverheißung. Das ist die ganze zweite Hälfte von Kapitel 33 und das geht so los. Siehe Tage kommen, Spruch Yahwehs, da erfülle ich das Heilswort, das ich über das Haus Israel und über das Haus Judah gesprochen habe. In jenen Tagen und zu jener Zeit werde ich für David einen gerechten Spross aufsprießen lassen. Er wird Recht und Gerechtigkeit wirken im Land. In jenen Tagen wird Judah gerettet werden. Jerusalem wird in Sicherheit wohnen. Und so geht das dann noch eine ganze Weile weiter. Und dazu zu erklären, warum der griechische Übersetzer sich gedacht haben sollte, dass er sich lieber weg, das ist doch noch ziemlich schwierig. Also es gibt auch Beobachtungen,

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die dafür sprechen, dass das irgendwie anders abgelaufen ist. Und diese Debatte hat dann eine Wende genommen im Gefolge des Jahres 1948, ein ziemlich wichtiges Jahr für die Bibelexegese, denn da wurden, wie sicherlich einige von Ihnen wissen, im Kumran die Kumran-Manuskripte entdeckt. Das heißt, man hat da Höhlen entdeckt in denen alte Bibelhandschriften, Handschriften des Alten Testament und noch andere religiöse Literatur aus jüdischer Zeit lagerten. Und es ergab sich dann, dass das Handschriften gewesen waren, die Leute von der Gemeinschaft von Kumran am nördlichen Ende des Toten Meeres im Gefolge des ersten jüdischen Krieges dort versteckt hatten, damit sie von den

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Römern nicht zerstört werden und geraubt werden. Und da fanden sich nun erstaunlicherweise auch ein paar Fätzchen vom Jeremia-Buch. Und siehe da, das waren hebräische Texte. Es war nur wenig, was man gefunden hat, aber der Wortlaut, den man da antraf, entsprach ziemlich genau dem, was man auch in der griechischen Übersetzung fand. Was in der griechischen Übersetzung fehlte, das fehlte auch auf diesen kleinen Fragmenten aus Kumran. Und damit konnte man sich immerhin sagen, okay, wenn ja jemand den Text gekürzt hat, dann ist das jedenfalls nicht der Übersetzer gewesen, sondern der hat offenbar so um 200 v. Chr. noch eine Ausgabe des Jeremia-Buches verwendet, wie sie dann mit kleinen Fragmenten in Kumran wieder aufgetaucht ist. Eine Ausgabe des

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Jeremia-Buches, die noch kürzer war als dasjenige, was heute bei uns kanonisch geworden ist. Aber trotzdem war damit nicht die Frage beantwortet, was ist denn sozusagen jetzt der Originaltext. Es kann ja auch der hebräische Text gekürzt worden sein. Aber dann kann man sich die Unterschiede zwischen den beiden Texten genauer anschauen und dann folgende Beobachtung anstellen. In diesen Textüberschüssen, die der hebräische Text gegenüber dem griechischen hat, findet man ziemlich viele Wörter und Wendungen, die entweder im Jeremia-Buch sonst nirgends vorkommen, außer in diesen Sonderlesarten des hebräischen Textes oder die sogar im gesamten Alten Testament nirgends

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vorkommen. Und dabei berücksichtigt man nur Merkmale, die in diesen masoretischen, in diesen hebräischen Überhängen mindestens zweimal vorkommen. Was einmal nur vorkommt, das kann Zufall sein. Und wenn man das zusammenzählt, kommt man auf nahezu 100 Sprachmerkmale mit zusammengenommen nahezu 300 Belegen, die typisch sind nur für diese Besonderheiten des hebräischen gegenüber dem griechischen Text. Also damit ist ziemlich klar geworden, so einen Befund kann man nur erklären, dass hier jemand in ihrem Jeremia-Buch weitergeschrieben hat, Nachträge gemacht hat. So etwas kann man nicht durch die Kürzung erklären. Und damit haben wir sozusagen einen halb empirischen Beweis dafür, dieses Buch ist tatsächlich gewachsen. Wir haben keine Autorenliteratur vor uns, wir haben Traditionsliteratur vor uns. Und wenn wir dann mit diesem Röntgenblick an die

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biblischen Bücher herangehen und versuchen zu durchschauen, wie die tatsächlich gewachsen sind, dann ist das natürlich keine Spielerei, kein Selbstzweck, sondern wir möchten gerne wissen, auf welche Situationen waren diese Texte eigentlich zugeschnitten, wie sahen die Probleme aus, auf die man geantwortet hat und wie sahen die Antworten aus, die man darauf gegeben hat. Wir versuchen also unsere biblischen Texte in ihren Ursprungssituationen zu situieren, um etwas darüber zu lernen, wie diese Jahwegläubigen damals mit den Lebensproblemen umgegangen sind, die sich ihnen gestellt haben. Okay, das also kurz zu diesem Gesamtcharakter des Jeremia-Buches Traditionsliteratur,

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nicht Autorenliteratur. Nun sagte ich, wir machen das, weil wir gerne etwas wüssten über die Situationen, auf die man geantwortet hat. Und das geht natürlich nur, wenn wir auch ein bisschen was über die Geschichte wissen, damit wir Texte und Realszene aufeinander beziehen können. Deshalb muss ich jetzt in einem weiteren größeren Punkt etwas über die historische Situation sagen, in der Jeremia selbst gelebt hat und in der das Buch dann entstanden ist. Dabei sind wir in der relativ günstigen Lage, dass es hier um Epochen der israelitischen Geschichte geht, über die wir relativ gut informiert sind. Das gilt nicht für alle Epochen, aber hier ist die Gesamtlage etwas günstiger. Und wo Jeremia zeitlich hingehört, das erklärt schon das sogenannte Buch-Präskript,

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also ein paar Sätze, die dem Buch vorangeschickt werden und diesen Jeremia in einer bestimmten historischen Situation verorten. Das geht so, am Anfang des ersten Kapitels. Die Worte Jeremias, des Sohnes Hilkias, aus der Priesterschaft zu Anathot im Land Benjamin. An ihn erging das Wort Jahwes in den Tagen des Königs Joschia von Judah, des Sohnes Amons. Im 13. Jahr seiner Regierung, ebenso in den Tagen des Königs Jojakim von Judah, des Sohnes Joschias. Bis das 11. Jahr des Königs Zedkia von Judah, des Sohnes Joschias, zu Ende ging, als im fünften Monat Jerusalem in die Verbannung ziehen musste. Wenn wir diese Angaben in unsere heutige Zeitrechnung übersetzen,

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dann kommen wir auf die Jahre 626 bis 587 vor Christus. Da ist leicht zu errechnen, dass das genau 40 Jahre sind. Nachdenkend an die Exegeten, das dürfte wohl auch ein bisschen eine idealisierende Konstruktion sein, weil eben die Zahl 40 in der Bibel nun einmal eine bedeutende Rolle spielt, insbesondere 40 Jahre. Zu wissen, 40-jähriger Aufenthalt von Israel in der Wüste. Also das ist sicherlich ein Baustein einer idealisierenden Prophetenbiografie, aber so im Großen und Ganzen kommt das hin, wie auch aus dem Buch selbst hervorgeht. Jeremia ist erstmals unter

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Joschias aufgetreten und es ging dann etwa bis kurz nach der Zerstörung Jerusalems. Und das ist nun einmal eine Zeit sehr großer Unbrüche im Alten Orient gewesen und für Israel insbesondere ist es eine extrem dramatische Zeit gewesen. In diese Lebenszeit Jeremias, die Zeit seiner Aktivität als Prophet, fällt eine wichtige Epochenscheide im Alten Orient, nämlich die Ablösung der Assyrer Herrschaft durch die Herrschaft der Babylonier. Das muss ich wohl schon ein bisschen erklären. Ab dem 9. Jahrhundert hatten sich im Alten Orient die Assyrer breit gemacht und ein Großreich gegründet. Ihr Zentrum lag im heutigen Nordirak um ihre Hauptstadt Nineveh am oberen Tigris. Und schon

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das ist für Israel äußerst folgendereich gewesen, denn diesen Assyrern und ihren Expansionsbestrebungen ist im Jahr 722 der Nordstaat Israel zum Opfer gefallen. Sie wissen ja, seit der Reichsteilung existierte Israel in zwei verschiedenen Staaten. Einmal der Nordstaat Israel und der Südstaat Judah um Jerusalem. Und dieser Nordstaat um die Hauptstadt Samaria ist schon 722 von der Bildfläche verschwunden, weil er von den Assyrern vernichtet wurde. Judah wurde nicht vernichtet, aber immerhin asyrischer Vassal. Und diese Assyrer waren nun auch bekannt für ihre ausgesuchte Brutalität und deshalb waren sie auch ganz verhasst im Alten Orient. Sie hatten äußerst

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perfide Techniken entwickelt, um ihre Macht zu sichern. Und das ist auch wichtig für die Zeit Jeremias, weil die Babylonier später in wichtigen Hinsichten die Erden der Assyrer gewesen sind. Die Assyrer haben schon damals eine regelrechte Terrorpropaganda betrieben, das heißt sie waren nicht nur brutal, sondern sie haben auch dafür gesorgt, dass es bekannt wurde. Ihr Hauptpalast in Nineveh ist ausgegraben worden und dann hat man etwa große Reliefs gefunden, die diese Herrschaftstechniken der Assyrer großformatig dargestellt haben. Damit alle ausländischen Diplomaten, die da zu Besuch kamen, wussten, was ihnen bevorstand, wenn sie sich mit den Assyrern anlegten oder wenn sie sich deren Eroberungswünschen widersetzt haben. Da sieht man zum Beispiel ein

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Relief, wo der Assyrische Königs Saug und der Zweite zu sehen ist, wie er gerade dabei ist, mit einem Speer einem besiegten aufständischen Fürsten die Augen auszustechen. Wurde da groß dargestellt. Leute, das erwartet euch, wenn ihr uns euch uns widersetzt. Und später ist, wie die Bibel berichtet, dem jüdischen König Zitkir von den Händen der Assyrer, pardon der Babylonier, auch genau das passiert. Ja, die Assyrer haben diese Terrorpropaganda betrieben, aber denen ist auch noch ein weiteres, ziemlich perfides Instrument eingefallen, um ihre Herrschaft zu sichern. Und das waren die Bevölkerungsdeportationen. Man hat aus besiegten Territorien einen großen Anteil der Bevölkerung

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genommen und innerhalb des Assyrischen Großreiches irgendwo anders angesiedelt und dafür besiegte Untertanen von anderswo genommen und am Ausgangspunkt wieder angesiedelt. Eine sehr perfide Technik und eine effektive Technik, um ethnische Identitäten zu zerstören und um mögliche Nester von Widerstand gleich im Keim zu ersticken. Und wie das alte Testament berichtet, sei mit dieser Technik, dass Nordreich Israel sogar komplett ausgereicht worden, weil die Assyrer sämtliche Israeletten genommen und anderswohin verschleppt hätten, wo sich dann ihre Spuren verlieren. Das stimmt so sicherlich nicht, aber diese Massendeportationen waren sehr wirksame

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Instrumente, mit denen die Assyrer ihr Reich gefestigt haben. Allerdings hat dann so um die Mitte des siebten Jahrhunderts eine Erosion der asyrischen Macht eingesetzt, die sich recht beschleunigt hat, mit der Folge, dass wohl spätestens 623 v. Chr. die asyrische Herrschaft über die Levante, also die Ostküste des Mittelmeers, in sich zusammengebrochen ist. Und das hat in Judar, mit seiner Hauptstadt Jerusalem, nun zu einem sehr wichtigen religionsgeschichtlichen Einschnitt geführt. Dieser Einschnitt ist bekannt als die sogenannte joshianische Reform, benannt nach dem damals herrschenden jüdischen König Joschia. Und diese Reform soll 622 stattgefunden haben und ist eben ein ganz tiefer Einschnitt in der Geschichte der Jahwe-Religion,

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ein Einschnitt, der das Judentum bis heute prägt und in gewisser Weise auch das Christentum. Wenn Sie dazu genaueres wissen wollen, können Sie das in der Bibel selbst nachlesen in 2 Könige 22 bis 23. Das kann ich hier nicht vorlesen, das würde zu weit führen. Ich fasse nur kurz zusammen, worum es da gegangen ist. Die Hauptanliegen dieser Reform kann man sich wie mit einem Merkvers zusammenfassen, nämlich es ging um Kultreinheit und es ging um Kulteinheit. Was soll das besagen? Erstmal Kultreinheit. Damals ist sozusagen von Staats wegen in der Götter das erste Gebot des Dekalogs durchgesetzt worden. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Also dieser Anspruch Jahwes, dass nur er verehrt werden darf, dass es

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ein ungeheures Sakrileg ist, andere Götter zu verehren. Dieser Alleinverehrungsanspruch Jahwes ist damals gewissermaßen staatliches Gesetz geworden. Er ist von der Obrigkeit von Staats wegen durchgesetzt worden. Das war die Kultreinheit, daneben kam auch noch die Kulteinheit. Das ist die sogenannte Opferzentralisation, nämlich die Regel, dass Opfergottesdienst nicht wie früher überall im Land stattfinden darf, sondern dass das nur in Jerusalem geschehen darf. Und wenn Sie nur ein bisschen was vom Judentum wissen, ist Ihnen klar, das sind die Regeln, die im Judentum bis heute gelten. Es darf nur unser Gott verehrt werden und das gilt natürlich für uns Christen ganz genauso. Und dazu kommt dann auch noch die Regel, dass Opfergottesdienst eigentlich stattzufinden hat, aber gegenwärtig nicht stattfinden kann,

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weil es den Tempel nicht mehr gibt. Und es gibt durchaus Juden, die der Meinung sind, dass irgendwann dieser Tempel wiedererstehen wird und mit ihm auch der Opfergottesdienst. Das heißt also, diese joshianische Reform ist ein Riesenschritt gewesen auf das hin, was das Judentum bis heute ist. Die nächsten Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Assyrerherrschaft waren dann vor allen Dingen geprägt durch die Rivalität von zwei anderen Wächten im Alten Orient, nämlich auf der einen Seite die Ägypter und auf der anderen Seite die Babylonier. Die Ägypter hatten die Levante schon im zweiten Jahrtausend beherrscht, in der zweiten Hälfte, und waren eigentlich nach wie vor der Meinung, die Levante gehört uns. Und nachdem die Assyrer weg waren, haben sie natürlich versucht, sich die Levante

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wieder unter den Nagel zu reißen. Die Führlichkeit war, dass es einen Konkurrenten gab, nämlich die aufstrebenden Babylonier. Wieder ein Staat, der sich in Mesopotamien gebildet hat, allerdings nicht in Nordmessopotamien wie die Assyrer, sondern im Süden, also im heutigen Südirak. Und von dort aus haben sich die Babylonier fortschreitend ausgebreitet und sind dann auch sich mit den Ägyptern in die Haare geraten. Dieser Wettbewerb ist dann entschieden worden im Jahr 605. Da hat eine Schlacht stattgefunden, bekannt als die Schlacht bei Karkemisch, eine Stadt, die an der heutigen Grenze zwischen der Türkei und Syrien gelegen hat, dort am Euphrat. Da sind Babylonische und asyrische Streitkräfte aufeinander gestoßen und das

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hat geendet mit einem durchschlagenden Sieg der Babylonier. Und damit stand für die Babylonier der Weg in die Levante offen und die Babylonier konnten sich die Levante unterwerfen. Und mit diesem Jahr 605 ist dann für Israel das Babylonische Zeitalter angebrochen. Damit war man Untertan der Babylonier. Aber damit waren die Judäer natürlich genauso wenig einverstanden wie mit der Herrschaft der Assyrer und sie haben versucht, diese Babylonier-Herrschaft wieder abzuschütteln. Das ging schon im Jahr 598 los, als der damalige König Joachim gegen die Babylonier rebelliert hat. Und das konnten die Babylonier nicht so auf sich beruhigen

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lassen. Sie sind dann gegen Jerusalem marschiert. Joachim ist dann gestorben und ausbaden musste, dass sein Sohn Joachim, und wie das gegangen ist, das lese ich Ihnen aus der Bibel selber vor, denn das ist da ausführlich geschildert. Das ging so, das steht im 24. Kapitel des zweiten Buch der Könige und das lautet so. Joachim war 18 Jahre alt, als er König wurde und regierte drei Monate in Jerusalem. Nicht länger, nur drei Monate. Wie sein Vater tat er, was böse war in den Augen Jahwes. In jener Zeit zogen die Truppen Nebuchadnezzars, des Königs von Babel, gegen Jerusalem und belagerten die Stadt. Als sein König Nebuchadnezzar von Babel selbst vor der Stadt erschien, während seine Krieger sie belagerten, ging Joachim,

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der König von Judah, mit seiner Mutter, seinen Dienern, Fürsten und Kämmerern zum König von Babel hinaus und dieser nahm ihn im achten Jahr seiner Regierung fest. Jetzt kommt was Wichtiges. Nebuchadnezzar nahm auch alle Schätze des Hauses Jahwes und die Schätze des königlichen Palastes weg und zerbrach alle goldenen Geräte. Die Salomo, der König von Israel, im Haus Jahwes hatte anfertigen lassen, so wie es Jahwe gesagt hatte. Von ganz Jerusalem verschleppte er alle vornehmen und alle wehrfähigen Männer, insgesamt 10.000 Mann, auch alle Schmiede und Schlosser. Von den Bürgern des Landes blieben nur die geringen Leute zurück. Joachim verschleppte er nach Babel. Die Mutter des Königs, die königlichen Frauen und Kämmerer, sowie die einflussreichen Männer des Landes verschleppte er von Jerusalem nach Babel, dazu alle wehrfähigen 7.000 Mann, die Schmiede und Schlosser tausend an der Zahl, lauter

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kriegstüchtige Männer. Sie alle verschleppte der babylonische König nach Babel. Dann machte der König von Babel den Matanya, den Onkel Joachins, an dessen Stelle zum König und änderte seinen Namen in Zidia. Was wird uns hier erzählt? Berichtet wird von einer großen Verschleppungsaktion von Judäern nach Babylonien und dieser Vorgang ist bekannt als die erste Exilierung. Wenn es eine erste Exilierung gibt, gibt es auch eine zweite, davon reden wir bald. Und in dieser ersten Exilierung ist der König, der rechtmäßige König, der durch die normale Thronfolge auf den Thron gekommen war, mit seiner Familie nach Babylon versteppt worden. Und obendrein ist ein größerer Teil der Bevölkerung nach Babylon verschleppt worden. Und zwar,

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wie es hier heißt, alle vornehmen und alle wehrfähigen Männer, alle Schmiede und Schlosser, die einflussreichen Männer des Landes. Also faktisch sei die gesellschaftliche Elite Judas damals nach Babylonien deportiert worden. Und man kann sich die Gründe gut vorstellen. Auf diese Weise wollte man dann vor allen Dingen das besiegte Land wirtschaftlich schwächen. Auch die kriegerischen Potenziale wollte man schwächen. Die wehrfähigen Männer hat man nach Babylonien verschleppt zum großen Teil. Und natürlich ist das Ganze auch eine Geiselnahme gewesen. Diese Leute sollten in Babylonien Judas auch erpressbar halten. Nebenbei kann man hier noch hinzufügen, hier wird die Zahl 10.000 genannt. Und das ist die Stelle aus der Bibel, von der unser geflügeltes Wort von den oberen 10.000 herkommt. Es sei

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also schon ein ganz erklecklicher Teil der gesellschaftlichen Elite damals nach Babylonien gewandert. Und dann habe ich ja beim Vorlesen darauf hingewiesen, dass es auf einen speziellen Punkt ganz besonders ankommt. Nochmal Vers 13 Nebuchadnezzar nahm auch alle Schätze des Hauses Yahwehs mit nach Babylon. Auch der Tempel ist geplündert worden. Und hier muss man sich vergegenwärtigen, was das für die zeitgenössischen Judea bedeutet hat. Denn diese Plünderung von Kultgegenständen aus dem Tempel ist weniger eine ökonomische Maßnahme als eine religiöse Maßnahme gewesen. Es ging also gar nicht so sehr um den Materialwert der Gegenstände, die man hier geraubt hat, sondern die Idee dahinter war folgende. Es

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gab damals im Kriegswesen die Praxis, dass Sieger aus den Tempeln der besiegten Kultgegenstände entwendet und in ihren eigenen Tempeln aufgestellt haben. Und man meinte damit folgenden Effekt zu erzählen. Man hat damit gewissermaßen die Götter der Besiegten der Herrschaft der eigenen Götter unterstellt, indem diese Kultgegenstände, diese Repräsentationen der Götter der Besiegten in den Tempeln der Sieger standen, nahmen die Götter der Sieger die Götter der Besiegten unter ihre Kontrolle. Und damit nahmen sie natürlich indirekt auch die Besiegten unter ihre Kontrolle. Das ist eine übliche Praxis gewesen und wenn Sie sich ein Bild davon verschaffen wollen, können Sie die schöne Geschichte nachlesen, wie die Philister die Bundeslade geraubt und

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in ihrem Dagon-Tempel aufgestellt hätten. Das steht in Einsamung 5 in einer ziemlich lustigen Geschichte. Wenn Ihnen die nicht mehr präsent ist, holen Sie es nach. Das ist also eine magische Form der Herrschaftssicherung gewesen. Und man muss sich ausmalen, was das für die zeitgenössischen Judäer bedeutet hat. Diese Menschen konnten sich nämlich, die durch die Exilierung von 597 entstandene Lage etwa wie folgt deuten, ihr Gott Yahweh hatte eine Kraftprobe gegen die babylonischen Götter verloren. Die Kriege spielten sich ja nicht nur auf Erden ab, sondern die Götter sind gegeneinander angetreten und anscheinend hatte Yahweh verloren. Jedenfalls gab es die Möglichkeit die Lage so zu deuten. Und mit seinen Kultgegenständen in Babylon stand Yahweh unter der Knute von Marduk, dem Obergott

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der Babylonier. Das war natürlich eine besonders schmerzhafte religiöse Wunde und wie wir auch dem alten Testament entnehmen können, haben sich sehr viele Menschen damals gefragt, wie lange Yahweh das wohl so angehen lassen würde. Würde Yahweh das wirklich hinnehmen? Würde er diese Kraftprobe wirklich verlieren? Das ist die Lage gewesen, in die Jeremia hineingesprochen hat. Und obwohl nun Judah in diese missliche Lage geraten war, hat es der König Zitkia doch noch versucht dagegen aufzubegehren, auch in der Hoffnung, dass Yahweh ihn entscheidend unterstützen wurde. Und er hat im Jahr 587 v. Chr. wieder den Aufstand gegen die Babylonier versucht. Und die Ergebnisse waren besonders desaströs

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und werden deshalb auch in der Bibel beschrieben. Da sind wir im 25. Kapitel des zweiten Buchs der Könige und da ist Folgendes zu lesen. Zitkia hatte sich gegen den König von Babel empört. Im neunten Regierungsjahr am zehnten Tag des zehnten Monats rückte Nebuchadnezzar, der König von Babel, mit seiner ganzen Streitmacht vor Jerusalem und belagerte es. Man errichtete ringsherum einen Belagerungswall. Bis zum elften Jahr des Königs Zitkia wurde die Stadt belagert. Am neunten Tag des vierten Monats war in der Stadt die Hungersnot groß geworden und die Bürger des Landes hatten kein Brot mehr. Damals wurden Brechen in die Stadtmauer geschlagen. Alle Krieger verließen die Stadt bei Nacht auf dem Weg durch das Tor zwischen

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den beiden Mauern, das zum königlichen Garten hinausführt, obwohl die Chaldea rings um die Stadt lag. Der König ging in die Richtung nach der Arabar. Aber die chaldeerischen Truppen, das heißt die Babylonier, setzten dem König nach und holten ihn in den Niederungen von Jericho ein, nachdem alle seine Truppen ihn verlassen und sich zerstreut hatten. Man ergriff den König und brachte ihn nach Rippla zum König von Babel. Das liegt im heutigen Libanon. Und der König von Babel sprach ihm das Urteil. Die Söhne Zitkias machte man vor dessen Augen nieder. Zitkias ließ erblenden, sie erinnern sich, in Fesseln legen und nach Babel bringen. Am siebten Tag des fünften Monats, das ist im 19. Jahr des Königs Nebuchadnezzar, des

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Königs von Babel, rückte Nebuchadnezzar der Befehlshaber der Leibwache und Diener des Königs von Babel in Jerusalem ein und steckte das Haus Jahwes, den königlichen Palast und alle Häuser Jerusalems in Brand. Jedes große Haus ließ er in Flammen aufgehen. Auch die Umfassungsmauern Jerusalems rissen die chaldeerischen Truppen, die den Befehlshaber der Leibwache unterstanden, nieder. Den Rest der Bevölkerung, der noch in der Stadt geblieben war, sowie alle, die zum König von Babel übergelaufen waren und den Rest der Menge, schleppte Nebuchadnezzar dann der Befehlshaber der Leibwache in die Verbannung. Nur von den armen Leuten im Land ließ der Befehlshaber der Leibwache einen Teil als Wein- und Ackerbauern zurück. Dann

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wird ausführlich erzählt, wie der Tempel zerstört wird und wie seine Einrichtungsgegenstände geraubt werden. Das überspringe ich hier. Und etwas weiter unten fährt der Text wie folgt fort. Der Befehlshaber der Leibwache nahm Fahnder den Oberpriester Seraja, den zweiten Priester Zephania und die drei Schwellenwächter mit. Aus der Stadt nahm er einen Hofbeamten, der Kommandant der Soldaten war und fünf Leute vom persönlichen Dienst des Königs mit, die sich noch in der Stadt befanden, sowie den Schreiber des Heerführers, der die Bürger des Landes auszuheben hatte, schließlich 60 Mann von der Bürgerschaft, die sich noch in der Stadt befanden. Nebuchadnezzar dann der Befehlshaber der Leibwache nahm sie fest und schickte sie zum König von Babel nach Rippla. Der König von Babel ließ sie in Rippla in der Landschaft Hamat hinrichten. So wurde Judah von seiner Heimat weggeführt.

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Das heißt, dieser Aufstand Jojakims hatte zur Folge, dass Jerusalem von den Babyloniern eingeschlossen und belagert wird. Nach anderthalbjähriger Belagung wird es erobert und systematisch verwüstet. Dabei kommt es auch zur Zerstörung des Tempels, nicht nur Klinderung, sondern auch Zerstörung. Zidkia wird geblendet und deportiert. Seine Söhne werden sämtlich ermordet, sodass niemand von denen möglicherweise mal die Thronfolge antreten könnte. Und es gibt ein großes Massaker unter den Führungskreisen Judas, gefolgt dann von weiteren Deportationen, die laut dem alten Testament noch viel mehr Leute, viel mehr Judea nach Babylonien verschleppt haben. Das ist die zweite Deportation und die hat sich dem kollektiven Gedächtnis der

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Juden als noch viel gravierender als die erste eingeprägt und als der eigentliche Beginn des Exils-Zeitalters, des Babylonischen Exils. Und die religiösen Fragen, die ich angedeutet habe, die sich in der Folge der ersten Deportation gestellt haben, die stellten sich jetzt natürlich noch viel, viel mächtiger, weil die Konsequenzen sehr, sehr viel gravierender waren. In diesem Zusammenhang ist es übrigens auch ganz interessant mal die Archäologie zu befragen, was die Archäologen über die Konsequenzen dieser babylonischen Zerstörung Jerusalems und der Verwüstung Judas zu sagen haben. Die Archäologen haben so ihre Methoden, mit denen sie auch aus antiken Zeiten so ungefähr die Bevölkerungsdichte und die Bevölkerungszahlen von Ländern hochrechnen

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können. Und dabei hat sich für Judah ergeben, dass Judah im Gefolge dieses babylonischen Feldzugs sage und schreibe mindestens zwei Drittel seiner Bevölkerung verloren hat. Es gibt sogar noch radikalere Abschätzungen, die mit Bevölkerungsverlusten von bis zu 90 Prozent rechnen. Um das etwas in die Perspektive zu setzen, kann man das vergleichen mit anderen Katastrophen, die es in der Weltgeschichte so gegeben hat. Bis zum Zweiten Weltkrieg etwa ist das schlimmste Trauma der deutschen Geschichte der Dreißigjährige Krieg gewesen. Auch da kann man die Bevölkerungsverluste abschätzen und die Fachleute kommen da auf etwa ein Drittel der Bevölkerung des damaligen deutschen Reiches, die im Zuge des Dreißigjährigen

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Krieges zu Tode kamen. In Judah soll es das Doppelte gewesen sein und das in ziemlich kurzer Zeit. Es gibt noch eine bekannte Katastrophe, die einen ähnlichen Bevölkerungsverlust hervorgerufen hat und diese Katastrophe betrifft wieder das Judentum, nämlich die Shoah, der Holocaust. Im Zuge der Shoah haben die Nazis, jetzt versuche ich aktiv zu formulieren, haben deutsche und mit ihnen verbündete Nationen etwa zwei Drittel der Juden umgebracht, die in ihrem Herrschaftsbereich gelebt haben. Und wir haben zumindest eine vage Idee, welches Trauma die Shoah im heutigen Judentum ausgelöst hat. Das gibt uns eine Idee, was die Zerstörung

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Jerusalems für die damalige Zeitung des Juden bedeutet hat. Das ist das größte Trauma des Judentums vor der Zerstörung des zweiten Tempels dann im Jahr 70 nach Christus gewesen. Gut, das Exil nahm dann im Jahr 539 ein überraschendes Ende, als die Perser das babylonische Reich sich unterworfen haben und der persische König Kyros der Zweite den Judäern überraschend die Möglichkeit geboten hat, sie können nach Hause heimkehren, wenn sie das möchten. Man muss ja eigentlich genauer sagen, den noch wenigen Judäern, die damals noch gelebt haben, die selber exiliert worden sind, es handelt es sich hauptsächlich um Nachkommen dieser Judäer und erstaunlicherweise haben dann nur ziemlich wenige dieser Menschen von

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dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Nochmal, das war die Situation, in die Jeremia hineingesprochen hat. Ich habe diese Situation ziemlich ausführlich geschildert, weil ich mir davon erhoffe, dass die Einzeltexte des Jeremia Buches durch unsere Kenntnis der damaligen Geschichte mehr Fleisch bekommen. Wir haben eine Idee davon, wie dramatisch die Situation damals gewesen ist, wie dramatisch und wie traumatisch sie war und darauf mussten die Menschen eine religiöse Antwort finden oder religiöse Antworten. Dazu hat das Jeremia Buch wesentlich beigetragen und damit sind wir so weit, dass wir einen Blick werfen können in das Buch selber. Ich beginne schon

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mal damit und werde dann im zweiten Vortrag noch mehr Texte des Jeremia Buches vorstellen. Einstweilen springen wir an den Anfang des Buches, da steht nämlich ein Berufungsbericht, eine Geschichte, die uns erzählt, wie Jeremia zu seinem Prophetenberuf gekommen ist, wie er eine Berufung erlebt hat. Und das geht so. Aus dem ersten Kapitel sind das die Verse 4 bis 10. Das Wort Jahwes erging an mich. Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen. Noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt. Zum Leben für die Völker habe ich dich bestimmt. Da sagte ich, ach Herr und Gott, ich kann

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doch nicht reden, ich bin ja noch so jung. Aber Jahwe erwiderte mir, sag nicht, ich bin noch so jung. Wohin ich dich sende, sollst du gehen und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin mit dir, um dich zu retten, spruch Jahwes. Dann streckte Jahwe seine Hand aus, berührte meinen Mund und sagte zu mir, hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund. Sieh her, am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche. Du sollst ausreißen und niederreißen, vernichten und zerstören, aufbauen und einpflanzen. Das ist der Berufungsbericht, Herr Rebias, und Sie werden festgestellt haben, der ist

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als autobiografischer Text stilisiert. Jahwe sprach zu mir. Aber trotzdem sind sich die Exegeten heute einig, dass wir hier einen Text vor uns haben, der zu den Fortschreibungen des Buches gehört. Also zu den jüngeren Bestandteilen, die später zum Miram-Jahr-Buch dazugekommen sind. Hier haben wir einen späteren Autofonds, der festhält in bestimmten Hinsichten, was Jeremia für ihn bedeutet hat und was Jeremia eigentlich ausgemacht hat. Denn obwohl dieser Text autobiografisch stilisiert ist, Jahwe sprach zu mir, ist diese Geschichte keineswegs so individuell, wie sie erscheinen mag, wenn man nur das liest. Das zeigt sich dann, wenn man den Berufungsbericht Jeremias vergleicht mit anderen Berufungsberichten,

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die es auch im Alten Testament gibt. Die haben nämlich bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit dem hier. Und deshalb schauen wir mal in solche Berufungsberichte hinein. Das gibt es beispielsweise bei Mose. Das finden wir in Kapitel 3 des Buches Exodus. Und ich lese da ein paar Auszüge vor und achten Sie mal darauf, ob Sie irgendwelche Gemeinsamkeiten mit Jeremia 1 entdecken. Und ich frage das natürlich nur, weil es solche Gemeinsamkeiten gibt. Also Sie haben eine gute Chance, ein paar Gemeinsamkeiten zu entdecken. Sie kennen die Geschichte. Mose ist aus Ägypten geflohen und dann spielt sich am brennenden Dornbusch folgende Szene

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ab. Jahwe sprach, ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre lauter Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid. Und jetzt geh, ich sende dich zum Pharao, führe mein Volk die Israeliten aus Ägypten heraus. Mose antwortete Gott, wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte? Jahwe aber sagte, ich bin mit dir. Ich habe dich gesandt und als Zeichen dafür soll dir dienen. Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr Gott an diesem Werk hier dienen. So bei Mose. Und zum Vergleich lädt auch noch die Berufung des Richters Gideon

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ein. Das steht in Richter 6 und da wird geschildert, wie die Israeliten in große Bedrängnis geraten, weil Plünderer aus einem Volk des vorderen Orients, die Midianiter, ständig die Israeliten überfallen und sie ihrer Vorräte berauben. In dieser Situation wird ein gewisser Gideon berufen und das geht wie folgt. Da wandte sich Jahwe dem Gideon zu und sagte, geh in dieser deiner Kraft und rette Israel aus der Hand Midians. Sende ich dich nicht hier mit. Gideon entgegnete mit Verlaub, mein Herr, womit könnte ich Israel retten? Sieh

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doch, meine Tausendschaft ist die schwächste in Malasse, in meinem Stamm und ich bin der jüngste im Haus meines Vaters. Jahwe sagte zu ihm, ich werde ganz gewiss mit dir sein Gideon, du wirst Midian schlagen, als wäre es nur ein Mann. Soweit mal und ich bin mir ganz sicher, dass Ihnen ein paar Gemeinsamkeiten aufgefallen sind. Zunächst einmal passiert das, was am Beginn von solchen Erzählungen zu erwarten ist. Jahwe, der Gott Israels, spricht aus, wozu er den Berufenden beruft. Der Berufende bekommt eine Aufgabe. Israel herausführen aus Ägypten. Israel vor den Midianitern retten. Als Prophet für die Völker auftreten. Das sind die Aufgaben, denen wir hier begegnen. Und dann erhebt,

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dann antwortet der Berufende in allen drei Fällen und zwar immer im gleichen Sinn, erwehrt sich. Und zwar mit einem charakteristischen Argument, ich kann das doch gar nicht. Ich bin doch völlig ungeeignet für eine derartige Aufgabe. Und dann nennen sie Gründe, warum das so sein soll. Ich kann doch gar nicht reden. Ich bin doch viel zu jung. Und ich bin aus einer völlig unbedeutenden Familie. Wieso soll ich diese Aufgabe erfüllen können? Und dann folgt drittens wieder eine Antwort Jahwes auf diese Antwort. Und auffälligerweise fällt dabei in allen diesen drei Erzählungen derselbe Satz. Ich bin mit dir. Ich bin mit dir. Und das macht den Unterschied. Nicht, was du kannst oder wo du herkommst zählt,

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sondern dass ich mit dir bin und dass ich dich unterstütze. Das macht den Unterschied. Ich handle durch dich. Und diese Gemeinsamkeiten zwischen den drei Berufungsberichten zeigen, dass wir hier keine Schilderung von individuellen Erlebnissen vor uns haben, sondern wir haben ein festes theologisches Modell vor uns, wie eine Berufung im Kern funktioniert. Wir haben das Idealmodell einer Berufung vor uns. Und das ist auch bei Jeremia der Fall. Und dabei wird beständig hervorgehoben, dass Gott Menschen beruft, die von sich bekennen müssen, ich bin für diese Aufgabe völlig ungeeignet. Damit wird eine wichtige religiöse Botschaft übermittelt. Wenn Gott beruft, gibt es nur ein einziges Tauglichkeitskriterium. Und dieses

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Tauglichkeitskriterium ist die Untauglichkeit. Der Berufene muss untauglich sein, damit klar wird, es sind nicht die Fähigkeiten des Berufenden, die dann eine staunenswerte Leistung vollbringen, sondern es ist die Kraft Gottes, die durch diesen Berufenden handelt. Deshalb ist das einzige Tauglichkeitskriterium die Untauglichkeit. Gott soll durch den Berufenden seine Macht erweisen können. Und das gilt eben auch für Jeremia. Dabei hat nun dieser Berufungsbericht von Jeremia auch einige Züge, die nur ihn austauschen, äh, äh, äh, auszeichnen. Und es lohnt sich noch ein paar Blicke darauf zu werfen, denn hier erfahren wir noch ein bisschen mehr darüber, äh, welches Bild dieser Autor mit Jeremia verbunden hat, was

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Jeremia für ihn bedeutet hat. Äh, in dem Moment, wo am Anfang Jahwe dem Jeremia erklärt, wozu er ihn beruft, heißt es, noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehnt. Noch ehe du aus dem Mutterleib, aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt. Zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. Hier wird nichts weniger erklärt, als dass Jahwe diesen Propheten von vornherein für diese Aufgabe bestimmt hat. Und zwar so früh schon im Mutterleib, dass der Berufende in diesem Moment von seiner Berufung noch gar nichts wissen konnte. Also streng genommen wird hier Jeremia über eine Berufung unterrichtet, die schon viel früher eingetreten ist. Und, äh, Jeremia wird dabei ausdrücklich erklärt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. Das ist wichtig, denn damit wird

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klargestellt, dieser Prophet ist nicht nur für Israel berufen worden, der hatte eine viel weiterreichende Aufgabe, eine weltweite Aufgabe. Zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. Aber dann kommt eben der für diese Berufungsberichte typische Einwand des Berufenden, ich bin noch so jung. Dazu sollte man noch Folgendes bemerken. Wenn man das so im Deutschen liest, kann man das gut missverstehen in der Art, also Jahwe, warte noch fünf Jahre, dann bin ich ein bisschen älter geworden oder warte vielleicht noch zehn Jahre, dann bin ich eigentlich ganz okay für diesen Job. Das wäre sicherlich ein Missverständnis dieser Passage. Jeremia wird hier einen Satz in den Mund gelegt, den man so direkt gar nicht ins Deutsche übersetzen kann, weil da ein Wort fällt, weil Jeremia

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sich mit einem Wort bezeichnet, das keine unmittelbare Entsprechung im Deutschen hat. Jeremia nennt sich einen Naar. Das ist bei den meisten Belegen im Alten Testament ein junger Mann. Aber wenn man das gesamte Spektrum dieses Ausdrucks betrachtet, sieht man, dass das Wort ein sehr weiteres, sehr viel weiteres Bedeutungsfeld hat. Es bezeichnet faktisch einen Untergebenen auf jeder Stufe der sozialen Hierarchie. Auch ziemlich hochstehende Leute können Naar heißen aus dem eben genannten Grund. Und deshalb ist dieser Satz sicherlich so zu paraphrasieren, Jahwe, ich habe doch überhaupt nicht den sozialen Status, um eine solche Aufgabe zu erfüllen. Das heißt, ich habe ein Manko, das prinzipiell unaufhebbar ist. Nicht in ein paar Jahren ist das vorbei, sondern das ist unaufhebbar, damit Jahwe dann

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sagen kann, ich bin mit dir. Und das wird den entscheidenden Unterschied machen. Dabei fällt in diesem Fall noch ein ziemlich ominöser Zusatz. Es heißt nicht nur, ich bin mit dir, sondern es heißt auch noch, um dich zu retten. Offenbar gab es aus der Sicht dessen, der das geschrieben hat, ein paar Anlässe, in denen Jeremia gerettet werden musste. Und es gibt noch eine ominöse Aufforderung dazu, fürchte dich nicht vor ihnen. Das wird hier nicht gesagt, vor wem eigentlich, aber der, das geschrieben hat, hielt es für eine gute Idee, das dazu zu schreiben. Ein anderer Autor im selben Kapitel ist dann bei der unten noch deutlicher geworden. Das lohnt sich in diesem Fall, das dazu zu nehmen. Am Schluss

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des Kapitels heißt es, du aber gürte dich, tritt vor sie hin und verkünde ihnen alles, was ich dir auftrage. Erschrick nicht vor ihnen, sonst setze ich dich vor ihren Augen in Schrecken. Siehe, ich mache dich heute zur befestigten Stadt, zur eisernen Säule und zur bronzenden Mauer, gegen das ganze Land, gegen die Könige, Beamten und Priester von Judah und gegen die Bürger des Landes. Mögen sie dich bekämpfen, sie werden dich nicht bezwingen, denn ich bin mit dir, um dich zu retten. Spruch Jahwes. Da wird zum Schluss nochmal ein Passus aus dem Berufungsbericht wiederholt. Hier schreiben Autoren, die bereits auf das Leben Jeremias zurückgeblickt haben und die von den harten Konflikten wussten, dass es ein Problem mit dem Beruf zu stehen hatte. Wenn das an den Anfang des Buches gesetzt

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wird, werden wir Leser, die wir zu lesen beginnen, vorbereitet auf das, was uns im Buch bevorsteht. Hier wird uns schon mal eine Andeutung gegeben und ein bisschen Spannung erzeugt, was wir von diesem Buch eigentlich erwarten dürfen. Nochmal zurück zum Berufungsbericht selber und dessen Schluss. Da wird nämlich noch einmal etwas genauer gesagt, was das bedeutet, wovon am Anfang die Rede ist, nämlich dass Jeremia zum Völkerprophet berufen würde. Hier heißt es dann, siehe her, am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche. Du sollst ausreißen und hinterreißen, vernichten und zerstören, aufbauen und einpflanzen. Hier muss man sich genau Rechenschaft darüber geben, was hier eigentlich gesagt wird. Ich setze dich über Völker und Reiche. Jeremia wird zu einem Weltenherrscher eingesetzt.

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So steht es da. Und das bedeutet, Jeremia prophezeit nicht nur über die Völker. Er kündigt nicht nur an, sondern indem er prophezeit, vollzieht er auch dasjenige, was er sagt. Er setzt es in einer untergründigen Weise in Gang. Dieser Umsturz, von dem dann am Schluss des Berufungsberichts die Rede ist, den vollzieht er selber. Man beachte, was das für ein majestätisches Prophetenbild ist. Ein Prophet, der in der ganzen Welt einen Umsturz in Gang setzt und durchführt. Dabei ist zwar viel von Unheil und Zerstörung die Rede, aber das soll nicht das Ende sein. Am Ende dieser gewaltigen Umwalzungen sollen Heil und Wiederaufbau stehen. Aufbauen

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und einpflanzen. Das sind die letzten Worte des Berufungsberichts. Dieser Autor schaut also mit diesem Berufungsbericht auf das Leben Jeremias zurück und gibt seine grundlegende Interpretation dieses Propheten zu erkennen. All diese Umwalzungen, die in den letzten Jahrzehnten die Welt erschüttert haben, die Welt, soweit der Blick dieses Autors reicht, also der vordere Orient. Jeremia hat das nicht nur angekündigt, Jeremia hat das als Werkzeugjachwe selber durchgeführt. Und mit diesen Schlussformulierungen des Berufungsberichts Niederreißen, aber auch Aufbauen, wird ein Programm formuliert, das dann das gesamte Buch prägen wird.

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Das Jeremia Buch (Teil 1) | 10.2.1

Worthaus Pop-Up – Tübingen: 9. Mai 2020 von Prof. Dr. Hermann-Josef Stipp

Ungezählte und großteils unbekannte Menschen haben an der Bibel mitgeschrieben. Wer genau diese Menschen waren, lässt sich heute kaum noch ergründen. Und dann ist da Jeremia, auf den das längste Buch der Bibel, eines der größten Prophetenbücher zurückgeht. Jeremia erzählt darin selbst, wie Gott ihn beauftragte, ein Buch zu schreiben, dass ein Schreiber öffentlich vortrug und der König schließlich verbrennen ließ. Woraufhin Jeremia alles noch einmal aufschreiben ließ. Sogar Zeit und Epoche sind im Jeremia-Buch genau beschrieben. Damit dürfte alles klar sein – Job erledigt für die Jeremia-Forschung? Aber warum fehlen in der griechischen Übersetzung Textabschnitte, Worte und Namen aus den Originaltexten? Warum hat es eine strahlende Heilsverheißung gar nicht erst in die griechische Übersetzung geschafft? Und wer war dieser Jeremia, der zu Gott sagt, er solle sich doch einen kompetenteren Verkünder suchen? Der römisch-katholische Theologe Hermann-Josef Stipp lässt diesen jungen Propheten zu Wort kommen und eine Zeit voller Verzweiflung aufleben, in der die Juden den ersten Genozid ihrer Geschichte erlebten.

Dieser Vortrag gehört zur Reihe »Vorworte: Einführungsvorträge zu jedem biblischen Buch«.