Advent ist eigentlich ein merkwürdiges Datum, den nur beim Advent feiern wir ersten Advent, zweiten, dritten und vierten Advent. Das machen wir sonst bei keinem Fest. Wir feiern nicht zweites Ostern, drittes Pfingsten und viertes Weihnachten. Jedes Kirchenjahr beginnt mit so einem vierfachen Advent, einem vierfachen Akkord. Und das ist schon ein starkes Signal. Advent war ursprünglich nicht einfach nur die Vorbereitungszeit für Weihnachten. Das ist eine relativ neue Entwicklung, die erst aus dem 19. Jahrhundert stammt. Da hat nämlich Johann Hinrich Wichern, der Leiter des Rauen Hauses in Hamburg,
den Adventskranz erfunden. Er hat dazu ursprünglich mal ein Wagenrad genommen und dann vier Kerzen darauf gestellt für die vier Adventssonntage. Wichern war ein sehr beeindruckender Mann. Er hat am Beginn der Industrialisierung erkannt, dass Hamburg sehr viele Straßenkinder hat, die auf der Straße leben. Und die hat er in sein Raues Haus aufgenommen. Und mit der Idee des Adventskranzes wollte er diese Wartezeit bis Weihnachten sinnlich erfahrbar machen und damit den Kindern verkürzen. Eine wunderschöne Idee. Aber ursprünglich galt Advent nicht einfach nur Weihnachten, sondern Advent war der Anfang des ganzen Kirchenjahres.
Wir sollen also Ostern adventlich feiern, Weihnachten selber auch. Wir sollen Weihnachten adventlich feiern, Ostern adventlich feiern, Pfingsten adventlich feiern, das ganze Kirchenjahr adventlich feiern, unser ganzes Leben adventlich feiern. Und am besten ist es, wenn wir auch an den Tod in adventlicher Perspektive herantreten. Advent war ursprünglich der Start in ein ganzes Kirchenjahr, jedes Jahr aufs Neue. Und das zeigt, dass Advent ein entscheidender Akzent ist im christlichen Glauben. Ich habe vor einiger Zeit einen Film gesehen, der mich seitdem nicht mehr loslässt. Ich will ihn ganz kurz skizzieren. In diesem Film fährt ein älterer Mann, vielleicht so Mitte 60,
in einem Vorortzug nach Hause, geschätzt zum 1000. Mal. Und dieser 1000. Vorortzug war für ihn jetzt was ganz Besonderes, denn es war sein letzter Arbeitstag. Am Ende einer harten Arbeitswoche im Ruhrpott - Stahlindustrie - fährt er jetzt nach Hause und steigt zum geschätzt 1000. Mal bei der Haltestelle 17 aus und geht die letzte halbe Stunde zu Fuß nach Hause. Dieser Mann schaut aus dem Fenster. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Und er schaut auch die anderen Mitreisenden an, die auch mit ihm in diesem Abteil sitzen. Die Mehrzahl von ihnen schaut ebenfalls aus dem Fenster hinaus,
müde, abgespannt und irgendwie auch teilnahmslos. Und da überkommt diesem Mann eine Erkenntnis. Sie überfällt ihn so stark und klar, dass er diese Erkenntnis zum Ausdruck bringen muss. Er fängt an zu singen in diesem Vorortzug. Leise erst und dann lauter. Aber in dem Film kann man jedes Wort deutlich erkennen. Ich möchte euch jetzt nicht das ganze Lied vorsingen. Das will ich euch ersparen. Aber so einen kleinen Sing-Sang will ich doch probieren, damit ihr das Ganze mitfühlen könnt. Der Mann fängt an zu singen. Das kann doch nicht alles gewesen sein.
Das bisschen Fußball und im Stadion schreien. Da muss doch sonst noch irgendwas kommen. Das muss doch irgendwo hingehen. Das kann doch nicht alles gewesen sein. Das bisschen Fernseh gucken und roter Wein. Da muss doch sonst noch was kommen. Da muss doch mehr Leben ins Leben. Und das muss doch auch irgendwo hingehen. Ist jemand da, der weiß, wo das hin muss? Der möge sich melden und es uns sagen. Und wir werden ihm sehr dankbar sein. Dritte Strophe. Das kann doch nicht alles gewesen sein. Das bisschen Stammtisch und Führerschein.
Wir können doch nicht sagen, was du hast gesagt. Das ist doch nicht alles gewesen. Der Führerschein. Wir können doch nicht sagen, was, Du hast einen Führerschein gemacht, du hast die Führerscheinprüfung bestanden. Damit hast du einen der ganz großen Höhepunkte des Lebens hinter dich gebracht. Nach einer bestandenen Führerscheinprüfung kommt nicht mehr viel im Leben. Das können wir doch nicht sagen. Ich will auch noch nicht meinen Löffel abgeben, singt er. Ich will vorher noch was Blaues sehen und einige eckige Runden drehen. Da muss doch noch mehr Leben ins Leben. Es ist ein Lied von Wolf Biermann, ein eigentümliches Adventslied.
Das kann doch nicht alles gewesen sein. Man kann da nicht sagen, Wolf Biermann, sei doch ein bisschen dankbarer. Auch für ein schlichtes Leben kann man doch dankbar sein. Denn dieser Text ist ja dankbar. Er redet sehr hoch vom Leben. Das kann doch nicht das ganze donnernde, prasselnde Leben gewesen sein. Ist ja ein schlechter Witz. Er redet sehr hoch vom Leben, nicht undankbar. In diesem Adventslied habe ich zum ersten Mal gespürt, dass das Thema Advent bis in die Wurzel unseres Lebens hinabreicht. Und deswegen will ich jetzt mal diesem Vortrag dem
Thema Advent widmen. Schauen wir mal in diesem Zusammenhang auf Jesus aus Nazareth, die entscheidende Person im christlichen Glauben. Jesus war ein Mann voller Erwartungen. Schon im Vater Unser, in der zweiten Bitte, äußert er eine Erwartung: "dein Reich komme". Dieses Thema, dein Reich komme, ist das Thema für die Erwartung, in der Jesus gelebt hat. Jesus war ein Mann voller Erwartungen und es zeigt, wie entscheidend die Zukunft für ihn war. Jesus hat nach vorne geschaut, nicht
zurück. Und er hat einmal gesagt, in einem ganz grundsätzlichen prinzipiellen Satz, wer seine Hand an den Pflug legt und schaut zurück, der ist nicht geeignet für das Reich Gottes. Ein Satz, wie ihn so noch keiner gesagt hat. Wer seine Hand an den Pflug legt. Der Pflug war möglicherweise zusammen mit dem Rad die nützlichste Erfindung der Menschheit. Der Pflug hat ganz dem Allgemeinwohl gedient. Gerade Furchen ziehen kannst du nur vorwärts. Jesus wollte pflügen, und Pflügen geht nur nach vorne. Du kannst nicht pflügen und gleichzeitig nach hinten gucken. Und
diese Furchen, um die es geht, verändern die Realität. Denn in diese Furchen kannst du dann das Saatgut hineinwerfen und hast dann gute Aussichten für eine gute Ernte. Also Jesus wollte pflügen. Er wollte die Realität empfänglicher machen. Und wer pflügen will, der will säen. Jesus wollte säen. Und ihr könnt es drehen und wenden wie ihr wollt. Säen geht nur nach vorne. Säen ist ganz auf Zukunft angelegt. Dem Säen geht es um die Ernte. Wer säen will, erntet. Jesus verstand sich als Sämann, und er verstand seine ganze Tätigkeit, sein ganzes
öffentliches Auftreten, als Aussaat. Und das geht nur nach vorne. Diese Akzente bei Jesus aus Nazareth sind sehr erstaunlich. Denn alle antiken Kulturen und alle antiken Religionen sind traditionsorientiert. Sie schauen zurück. Ihre Grundlage und ihr Erfahrungsschatz war die Tradition der Väter. An denen haben sie Maß genommen, und in der Kraft der Vergangenheit haben sie die Gegenwart bewältigt. Und für sie war am höchsten das Alte. Und je älter etwas war, desto mehr Ehrfurcht hatte man vor dem Alten. Denn das Alte war das Bewährte. Das Neue war noch
nicht bewährt. Das Alte ist ein breiter, verlässlicher Strom. Die Gegenwart ist ein dünnes Rinnsal, wo man nie weiß, geht es mal in die Kurve oder in die andere. Also das Konservative in sehr vielen antiken Gesellschaften und Religionen kommt daher, dass man sich viel lieber mit der Vergangenheit beschäftigt hat als mit der Zukunft. Denn die Vergangenheit ändert sich nicht mehr. Da kann man Bücher drüber lesen, das kann man studieren. Da kennt man sich aus, während die Zukunft, ja die ist wankelmütig, unbekannt, verunsichernd. Aber Jesus schaute nach vorne. Er handelte zielorientiert. Er erwartete das Reich Gottes. Und das Verblüffende ist, wir
können ein Stück weit erkennen, was Jesus unter dem Reich Gottes verstand, dem seine ganze Erwartung galt. Jesus handelte zielorientiert, und sein Ziel war das Reich Gottes. Das Verblüffende am Reich Gottes ist: Es ist nicht die Erfüllung unserer Träume. Reich Gottes ist kein Schlaraffenland, sondern das Reich Gottes ist von ganz anderer Qualität, wie wir es denken würden. Reich Gottes ist so was von fremd. Ich will mal drei Sätze Jesu über das Reich Gottes sagen, und dann kann man
eigentlich nur sagen, diese drei Sätze sind ja völlig absurd. Das kann man doch nicht ernsthaft vertreten. Und wenn diese Sätze jemand anders sagen würde, wären sie auch absurd. Aber wenn Jesus diese Sätze sagt, ist es vielleicht doch noch mal was anderes. Also Jesus sagt zum Beispiel, zu gratulieren ist den Trauernden, denn, er begründet diesen Wahnsinnssatz, denn sie werden getröstet werden. Bleiben wir mal bei diesem Satz stehen. Dieser Satz, diese Behauptung, man kann fragen, woher will denn der junge Mann das wissen? Eine irrsinnige Behauptung. Zu gratulieren ist den
Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Dieser Satz hat zur Voraussetzung, zur stillen, indirekten Voraussetzung: Die Tröstung, die Jesus hier meint, ist so tief und gründlich und überraschend und beglückend, dass man schon den Trauernden gratulieren kann. Dieser Satz wird nicht einfach überholt durch die wissenschaftliche Entwicklung. Man kann mit einem gewissen Recht wirklich sagen, wir können uns doch nicht einfach an der Bibel orientieren, die ist über 2000 Jahre alt, da sind wir doch heute in vielfacher Hinsicht tausendmal weiter. Ja, stimmt auf einer einen Ebene schon. Und muss man auch ernst nehmen. Aber ich will trotzdem sagen, auch im 21. Jahrhundert
wird kein Universitätsprofessor aufgrund irgendeines wissenschaftlichen Fortschritts sagen können: Nein, so weit kann man nicht gehen, dass man Trauernden gratulieren kann. Denn die Tröstung, von der Jesus spricht, das wissen wir heute besser, kann doch nicht so tief und so beglückend sein, dass man Trauernden gratulieren kann. Also diese Behauptung Jesu aus Nazareth liegt auf einer Ebene, die uns nicht zur Verfügung steht, auch im 22. Jahrhundert nicht. Und solche Sprüche Jesu gibt es einige. Zwei will ich noch sagen, und da werdet ihr merken, die überholen sich nicht so einfach dank eines Fortschrittsglaubens. Also Jesus sagt noch so einen Wahnsinnsspruch,
zu gratulieren ist den Machtlosen, denn sie werden die Erde besitzen. Wahnsinn. Luther hat übersetzt, zu gratulieren ist den Sanftmütigen. Und was verstand Luther unter den Sanftmütigen? Es ist präziser zu sagen "den Machtlosen". Warum? Luther verstand unter den Sanftmütigen Menschen guten Herzens, die auf andere keinen autoritären Druck ausüben. Das verstand Luther unter den Sanftmütigen. Aber das Wort, das hier steht, meint Folgendes. Es meint Menschen, die in der Tat auf andere keinen autoritären Druck ausüben. Warum nicht? Weil sie gar nicht die Möglichkeit haben,
Druck auszuüben. Und das sind die Machtlosen. Deswegen ist die Übersetzung "machtlos" genauer, politischer, und wie oft dann auch genauer. Aber stellen wir uns mal vor, diesen Grundwandel auf dem Immobilienmarkt, wenn die Machtlosen die Erde besitzen, das wird ein Heissassa sein auf dem Immobilienmarkt. Ihr Besitzenden, da wird es noch grundlegende Veränderungen geben. Die sind so grundlegend und so erfreulich, dass Jesus jetzt schon den Machtlosen gratuliert. Ist schon fremd und sonderbar, absurd. Also der Mann denkt wirklich ganz anders wie du und ich. Da können wir sicher
sein. Was sagt er noch über das Reich Gottes? Das Reich Gottes ist ein Reich der Gerechtigkeit. Er sagt, trachtet am ersten nach dem Reich Gottes, und jetzt übersetze ich mal sinngemäß genau, dann wird sich alles andere im Leben schon zurechtrütteln. Wenn ihr das Reich Gottes an erster Stelle setzt und seine Gerechtigkeit, dann werden die anderen Dinge alle ihren angemessenen Ort finden. Also, das sind schon Behauptungen, die auf einer Ebene liegen, die wir wissenschaftlich nicht einfach korrigieren können. Die überholen sich nicht. Jesus hat anders gelebt wie seine
Zeitgenossen. Er hatte einen sehr spezifischen Lebensstil mit sehr spezifischen Prioritäten. Woher kommt dieser andersartige Lebensstil? Der kommt daher, dass Jesus sich anders orientiert hat wie seine Zeitgenossen. Er hat nämlich nach vorne geschaut, nicht zurück. Ich will dich mal fragen, präzise fragen - Ihr braucht nicht laut antworten - aber ich will euch mal fragen, schaust du mehr zurück oder schaust du mehr, gewichtiger, nach vorne? Überleg mal. Ich will dir mal sagen, darauf kommt es an. Wer seine Hand an den Pflug legt und schaut zurück, macht das nicht. Schau
nach vorne. In der Jesus-Anhängerschaft ergab sich eine Verschiebung der Grundkoordinaten des menschlichen Daseins, nämlich der Koordinaten alt und neu. In der Jesus-Anhängerschaft gewann das Neue mehr Gewicht als das Alte. Sehr erstaunlich, gab es bisher nicht. Jesus sagt zum Beispiel, der neue Wein muss in neue Schläuche. Die Alten, denen schmeckt der alte Wein besser, und wenn er auch in die alten Schläuche kommt, dann verreißt der neue Wein die alten Schläuche. Also tut neuen Wein in neue Schläuche. Ist jemand in Christus, der ist eine neue Kreatur, und diese neue Kreatur altert nicht.
Sie wird nie überholt sein. Jesus spricht von einem neuen Bund und aus der Anhängerschaft Jesu erwächst im Laufe der Zeit ein Neues Testament. Die Anhängerschaft Jesu war neugierig. Und das ist neu. Das Neue hat sich noch nicht bewährt, stimmt. Trotzdem, Jesus würde sagen, aber dafür ist es eben neu, und das ist wichtiger. Ja, Jesus hat sich anders orientiert als seine Zeitgenossen. Er hat zielorientiert gelebt. Warum? Warum? Das kann man mit Sicherheit beantworten. Die tiefste und die
sattelfesteste Gewissheit, die man im öffentlichen Auftreten Jesu erkennen kann, deutlich erkennen kann, ist, dass Jesus sich ganz gewiss war, dass Gott zielorientiert handelt. Und zwar mehr als alle anderen bisher. Keiner kann so zielorientiert handeln, auch im 23. Jahrhundert nicht. Weil Gott das Ende der Weltgeschichte kennt. Wer das Ende kennt, kann die Wege dorthin finden. Nur wer das Ziel kennt, kann die Wege finden. Nur wer das Ziel in der Schule kennt, Lernziel, kann die richtigen Methoden wählen. Das hängt alles vom Ziel ab. Wenn dein Ziel hochdemokratisch ist,
dann kannst du keine autoritären undemokratischen Methoden bevorzugen. Die Methoden machen dein Ziel kaputt. Von der Gewissheit war Jesus getragen und geleitet, das war seine Geschäftsgrundlage. Gott handelt zielorientiert wie sonst niemand. Und das überholt sich nicht so schnell. Denn welcher heutige Wissenschaftler könnte von sich sagen, ich kenne das Ziel der Weltgeschichte. Ich glaube, das kann von uns Menschen in welthaftem Wissen niemand sagen. Heute nicht und übermorgen auch nicht. Und deswegen, weil sich in der Bibel der meldet, der das Ziel kennt, können wir nicht
so einfach sagen, ach die Bibel ist doch über 2000 Jahre alt, die ist doch längst überholt. Nein, sie ist nicht überholt. Denn das, was die Bibel neu nennt, kennen wir nicht. Die Bibel meint nämlich mit Neuem das endgültig Neue. Und das ist uns fremd. Jesus orientiert sich am Endgültigen mit der Hilfe Gottes, der das Ende kennt. Und niemand, so glauben wir Christen, kennt Gott so gut wie er. Und deswegen vertrauen wir seiner Gotteserkenntnis, die uns weit überlegen ist, für Jahrhunderte weit
überlegen ist. Also Jesus versteht unter dem Neuen das Endgültige. Das, was auch am Ende der Weltgeschichte sich als gültig herausstellen wird. Der Clou im öffentlichen Auftreten Jesu ist meiner Meinung nach, Jesus stellt das nicht Endgültige in das Licht des Endgültigen. Das ist der Clou seines Lebens. Das ist eine Orientierung, die anders ist als die seiner Zeitgenossen. Was wir neu nennen, das überholt sich dann wieder. Nach einer gewissen Zeit muss das, was wir neu nennen,
dem weichen, was noch neuer ist. Und auch das noch Neuere muss nach einer gewissen Zeit dem allerneuesten weichen und so weiter und so weiter. Also was allein zunimmt, ist das Alte. Denn das Neue wird zur Gegenwart, die Gegenwart wird zur Vergangenheit und die Vergangenheit, die nimmt zu und nimmt zu und nimmt zu und nimmt zu. Aber das Neue bei Jesus ist das Endgültige, das nicht altern kann. Gott altert nicht. Er bleibt der, der Zeit und Raum nicht unterliegt, im Gegensatz zu uns. Soweit mal. Das Adventliche ist das nach vorne orientiert sein. Wir Adventsleute!
Ich bezeichne mich als einen Adventsmensch. Ich will ein Adventsmensch sein bis zum letzten Augenblick und im letzten Augenblick sagen, Advent, da muss noch was kommen. Das kann doch nicht alles gewesen sein. Das wäre ein schlechter Witz. Also ich frage dich mal wieder, welche Erwartungen hast du noch an dein Leben? Übe dich mal darin, dir genau Rechenschaft zu geben. Welche Erwartungen hast du noch? Diese Frage ist sehr wichtig. Warum? Weil an deinen Erwartungen an das Leben zeigt sich
am deutlichsten, was du unter Leben verstehst. Das zeigt sich am klarsten an deinen Erwartungen. Auch am klarsten bei Jesu Erwartungen: "zu gratulieren ist den Trauernden". Wie kommt denn der da drauf? Gut, also mal soweit ein erster Schritt hinein in das Thema Advent. Jetzt ein zweiter Schritt, genauso wichtig. Ich will mich mal einem hochinteressanten Punkt der Weltgeschichte zuwenden. Eine besondere, hochinteressante, hochaufschlussreiche Epoche in der Weltgeschichte. Das ist der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit. Dieser Übergang, wie er zustande kommt,
was der Motor war für diesen Übergang, ich sage euch, daraus kann man lernen. Die Weltgeschichte wird ja allgemein eingeteilt in drei Abschnitte. Altertum, Mittelalter, Neuzeit. Altertum reicht im Allgemeinen, das kann man gar nicht genau sagen, niemand will es genau sagen, weil es keiner genau sagen kann, reicht so ungefähr bis 500 n. Chr., bis zum Untergang des weströmischen Reiches. Mit dem Untergang des weströmischen Reiches, das oströmische hat noch lange weitergelebt, datiert man im Allgemeinen den Beginn des Mittelalters bis zum 15. Jahrhundert ungefähr. Das ist ungefähr die Zeit von Martin Luther. Da endet das Mittelalter und beginnt die Neuzeit. Martin Luther selber war ein tief mittelalterlich geprägter Mensch, der aber schon hinüberschauen
konnte im Unterschied zu früheren Zeiten, er konnte schon hinüberschauen in die Neuzeit. Und jetzt die Frage, wie kam es dazu? Da will ich jetzt die Antwort vorneweg sagen und dann erst die Begründung nachliefern. Die Antwort habe ich von einem berühmten Mann, der eines der einflussreichsten Bücher geschrieben hat, die es gibt. Vor allem kann man sagen, er hat eines der einflussreichsten Bücher des Mittelalters geschrieben. 1170, Chrétien de Troyes heißt der Mann, ein Franzose. Der hat ein Buch geschrieben und die Historiker, die das 200 Jahre lang jetzt Zeit haben, genau zu recherchieren,
die sagen, dieses Buch war der Hauptmotor, der das Mittelalter überwunden hat und die Neuzeit ermöglicht hat, heraufgeführt hat. Und was ist der Grund? Jetzt sage ich ganz schlicht die Antwort. Mal sehen, ob ihr sie glaubt. Kann ja jeder für sich sagen, im Stillen, glaube ich nicht. Also ich sage jetzt eine hanebüchene Antwort, die aber sich in den letzten 200 Jahren in der Fachwelt durchgesetzt hat. Also ein bisschen Respekt. Der Motor für die Neuzeit war der Hunger nach Abenteuern. Das ist der Motor für die Neuzeit. Im Mittelalter gab es diesen Hunger so nicht im vergleichbaren Sinn.
Im Mittelalter hatte schon den starken Akzent stabile Ordnung. Gott war ein Ordnungsfaktor, und man hätte den Eindruck bekommen können, am liebsten ist es Gott immer, wenn alles so bleibt, wie es ist. Das ist Gott am liebsten. Das ist der Ordo, der Ordnungsgott. Aber Chrétien de Troyes schrieb im Jahr 1170 an die Ritter, die sich auf ihren Burgen langweilten. Und er begründete damit den Ritterroman, den es bis dahin gar nicht gab. Also Chrétien de Troyes hat das wahrscheinlich mit Abstand wirkungsvollste Buch des Mittelalters geschrieben, spricht alles dafür und nichts dagegen. Und er hat den Hunger auf Abenteuer als entscheidend für unser Leben erkannt.
Und ich sage euch, der Chrétien de Troyes, der weiß es. Der weiß es. Also er schrieb an die Ritter folgendes: Verlasst immer wieder für längere Zeit die sichere Abgeschlossenheit eurer Burgen. Heute würden wir sagen, verlasst immer wieder eure Bubble, eure abgeschlossene Welt. Sucht das Unbekannte. Öffnet euch dem Fremden. Geht auf Reisen. Und dann könnt ihr, wenn ihr wieder zurückkehrt, den Daheimgebliebenen von euren Adventuras erzählen. Adventures, Aventure, Abenteuer.
Ihr könnt dann den Daheimgebliebenen von euren Abenteuern erzählen. Denn auf den Reisen werdet ihr Unplanbares erleben. Unverhofftes. Und gerade das gehört zum Leben. Dieses Buch von Chrétien de Troyes ist voller Advent. Warum verbindet Chrétien de Troyes das Leben dermaßen eng mit Abenteuern? Er war der Erste, der das so gemacht hat. Und das war der Motor zur Neuzeit. Aber warum macht er es? Warum ist das richtig? Ja, er gibt diese Antwort selber. Und die sage ich jetzt auch. Das Leben ist ein Abenteuer, und nichts weniger als das,
weil das Leben von dir keine Lappalie ist. Weil dein Leben keine Bagatelle ist. Nicht selbstverständlich ist, sondern dein Leben ist ein ungeheurer Vorgang. Und in dir drin sitzt ein reiches Maß an Zukunft und damit an Geheimnis. In der Bibel heißt es deshalb, es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Es ist noch nicht erschienen, was du sein wirst. Aber du wirst erkennen, dein Leben ist nicht einfach banal, ist nicht selbstverständlich, ist keine Bagatelle, sondern etwas Ungeheuerliches.
Das Buch hat sich in atemberaubender kurzer Zeit in ganz Europa verbreitet mit einer schwindelerregenden Auflage, wie es sie im Mittelalter sonst nicht gibt. Denn da wird ja alles noch per Hand vervielfältigt, es gibt ja noch keinen Buchdruck. Millionenauflage im Mittelalter, per Hand geschrieben. Aber das Buch hatte eine Auflage - schwindelerregend. Und man kann historisch heute öffentlich sagen, Ritter haben ihre Burgen verlassen und haben ihren Erwartungen Raum gegeben. Chrétien de Troyes: Verlasst immer wieder für längere Zeit, nicht für zwei Wochen, das reicht nicht, zwei Jahre, verlasst eure abgeschlossene Sicherheit eurer Burgen.
Sucht das Unbekannte. Öffnet euch dem Fremden. Deswegen leben viele religiöse Menschen: Öffnet euch dem Fremden - Nein, verschließt euch vor dem Fremden. Sichert euch ab, geht nie raus aus eurer Burg. Ja, die leben auch noch gar nicht in der Neuzeit. Diese religiösen Systeme, die gerade das Gegenteil leben von dem, was Chrétien de Troyes sagt. Kaum neue Gedanken, Absicherung, Angst, hinter verschlossenen Türen seine Erleuchtung leben. In den Hinterhöfen, wo sich die Erleuchteten sammeln. Oje, oje. Also Chrétien de Troyes, Hunger nach Abenteuer. Was ist ein Abenteuer?
Das Abenteuer heißt nicht Abenbillig, es heißt Abenteuer. Chrétien de Troyes meint mit Abenteuer keine Spaßgesellschaft. Gar nicht, gar nicht. Wenn ich von der Angela Merkel, die ich sehr schätze, höre in einem Interview, rückblickend auf ihre Kanzlerschaft, ja, ich war sehr gern Bundeskanzlerin, das hat mir großen Spaß gemacht. Da habe ich doch irgendwie ein bisschen unwohle Gefühle. Wenn sie wenigstens gesagt hätte, das hat mir Freude gemacht, hätte ich irgendwie besser gefunden. Ist das Bundeskanzleramt, ist dieses Amt dazu da, Spaß zu machen? Glaube ich eigentlich nicht. Also Chrétien de Troyes meint nicht eine Spaßgesellschaft, wo du dauernd spannend leben musst. Immer muss was los sein.
Nein, Chrétien de Troyes sagt, die Langeweile gehört zum Leben, das Leid gehört zu Leben. Wer die Langeweile nicht ertragen kann, kann auch keine Abenteuer leben. Denn Abenteuer ist kein Ventil, ist keine Kompensation für Dinge, die das Leben uns sonst vorenthält. Wenn wir mal fragen nach den erlebnisintensiven Zeitphasen für heutige Menschen, ist das der Feierabend, ist das Wochenende, Happy Weekend, und ist der Urlaub, die großen Ferien. Das sind heute die erlebnisintensiven Wochen. Und von denen erhofft man sich Dinge, die der normale Alltag uns vorenthält. Also diese erlebnisintensiven Tage haben eine indirekte, schleichende, kompensatorische Wirkung.
Und das soll ein Abenteuer nicht haben. Abenteuer, die kompensatorisch wirken, da stimmt was nicht ganz. Ja, das Abenteuer ruft uns allen zu: Kommt her zu mir, kommt her zu mir, die ihr an Eintönigkeit erstickt. Ich will euch erfrischen und beleben. Und so viele Forscher, Entdecker, Verliebte, Goldgräber, Taucher, Reisende usw. haben diesen Ruf gehört und ihm geantwortet. Die ängstlichen, vorsichtigen Menschen weichen dem Abenteuer aus, denn sie sagen sich innerlich, es geht ja doch schief.
Also machen wir es erst mal gar nicht. Aber die Träume dieser Menschen zeigen eine tiefe Sehnsucht nach Abenteuer. Das Abenteuer, ein gelungenes Abenteuer, verschafft uns eine unbändige Lebensfreude. Wir werden jünger statt älter. Ich habe eine Schulstunde mal unter 100. Wenn ihr das hier denkt, die Schulstunden sind bei mir alle gelungen. Ich habe lernen müssen, barmherzig zu mir selber zu sein nach der zehnten misslungenen Schulstunde. Da musst du dann lernen, barmherzig zu sein zu dir selber. Aber ich habe eine Schulstunde erlebt, die war ein Abenteuer. Es hat geklingelt, keiner ging raus. Die standen bei mir vorne am Pult. Da sage ich Leute, geht in die Pause, es hat geklingelt, nichts da.
Und ich selber bin müde reingegangen und topfit raus. Ich bin jünger geworden. Das Abenteuer - teuer - hält in uns eine Ahnung wach. Es muss doch etwas geben, für das es sich lohnt, sich zu engagieren und sich hinzugeben. Das muss es doch im Leben geben. Sag der Lord. Das Abenteuer hält diese Ahnung in dir wach. Und diese Ahnung stimmt. Ja, ihr Lieben, jetzt kommt meine entscheidende Botschaft. Ganz kurz. Abenteuer heißt im lateinischen adventura, im englischen adventure und im französischen aventure.
Adventura kommt von Advent. Kommt von Advent. Von Advent kommt Adventura. Advent will, dass wir eine Abenteuer-Existenz leben. Keine Spaßgesellschaft, Abenteuer. Es geht mir um den tiefen, den wurzeltiefen, anthropologischen Rang des Abenteuers. Und das reicht bis an die Wurzel. Und deswegen, ihr Lieben, finde ich es gut. Erster Advent, zweiter Advent, dritter Advent, vierter Advent. Ist doch irgendwie komisch. Wir sollen Ostern adventlich leben, Pfingsten adventlich leben, Erntedank adventlich leben,
an den Tod adventlich herantreten und Weihnachten adventlich feiern. Der Advent hat eine breitere, jahrtausendlange Ausstrahlung. Breiter als Weihnachten. Weihnachten kommt auf Platz eins erst im 19. Jahrhundert mit Adventskranz, Adventskalender und anderen solchen Adventsgebräuchen. Die kommen alle erst im 19. Jahrhundert. Aber Advent jedes Kirchenjahr. Also, ihr Lieben, hier und zu Hause, ich appelliere an euch in eurem eigenen Interesse, lebt eine Adventura-Existenz. Lebt adventlich. Ich will zum Schluss einen wunderbaren Satz von Heinrich Böll sagen, den ich nie wieder vergessen kann.
Ich finde ihn so was von treffend mitten hinein in Schwarze. Heinrich Böll hat einmal gesagt, stellen wir uns eine Welt vor, in die Jesus nie gekommen wäre. Stellen wir uns eine Welt vor, in der die Sätze, die nur Jesus gesagt hat, niemals gesagt worden wären. Ich glaube, sagt Heinrich Böll, in einer solchen Welt würden auch Atheisten zu Adventisten. Wohl wahr. Copyright WDR 2020
Advent | 14.10.1
Wir feiern den Advent nur nebenbei – wenn überhaupt. Es sind schließlich die hektischen Wochen vor Weihnachten: Geschenke kaufen, Feiertagsbesuche planen, Festessen organisieren, dazwischen Weihnachtsfeiern und bitte auch etwas Besinnlichkeit. Ach ja, und wieder eine Kerze anzünden, wie die Zeit vergeht! Dabei hat der Advent wenig mit Weihnachten zu tun. Und viel damit, wie wir durchs Leben gehen. In der Antike – und auch heute noch – schaute man auf das Bewährte, erklärt Siegfried Zimmer. Gut war, was schon lange funktionierte. Neues machte Angst, die Zukunft war ungewiss. Jesus aber war ein Revolutionär – er blickte nach vorn. Er versprach den Leidenden künftigen Trost und den Trauernden das Reich Gottes. Das Gute kommt noch. Und wer zurückblickt, so sagte es Jesus, der ist nicht geschaffen für das Reich Gottes, der erstarrt im Hier und Jetzt. Damit uns das nicht passiert, gibt es den Advent.