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Stellt euch vor, wir hätten uns Anfang der 70er Jahre nach Christus nicht hier, sondern in Rom versammelt, um etwa knapp zwei Stunden, genauer einer Stunde und 50 Minuten, in einem Stück die Ohren aufzusperren und zu lauschen. Nicht mir, nicht meinem Vortrag, sondern einer Erzählung über Jesus von Nazareth. Der ersten vollständigen Erzählung, die über sein Wirken, seine Wunder, seine Worte, seinen Gang ans Kreuz bis hin zu seiner Auferstehung berichtet. Nicht

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wie bisher, nur einzelne Geschichtchen über Jesus. Hier ein Wunder, dort ein Gleichnis. Nicht nur eine Spruchssammlung von ihm, wie er das Gesetz auslegt oder wie er das Ende Jerusalems ankündigt oder seine Worte zum letzten Abendmahl, sondern wir hörten seine vollständige Geschichte in einem Go, in einem Zusammenhang, in einem Spannungsbogen, der uns knapp zwei Stunden im Atem hielte. Dann säßen wir dort und würden zu den ersten Hörerinnen und Hörern des Evangeliums Jesu Christi nach Markus gehören. Wir würden die ersten sein, die einer zusammenhängenden Erzählung über Jesu Wirken in der Geschichte des frühen Christentums lauschen würden. Fast schade,

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dass wir hier nicht versammelt sind, um der Premiere-Lesung des Markus-Evangeliums mit großen Ohren zu lauschen. Doch die Perspektive, knapp 2000 Jahre später in einer großen Menge an Pfingsten in einer deutschen Universitätsstadt versammelt über einen Erzählentwurf nachzudenken, der sich zum Rekordschlager entwickelt hat und sich als solcher über diese lange Zeit hinweg immer noch hält, ist auch sehr attraktiv, wie ich finde. Was hören wir heute, wenn wir dieser Evangeliums Erzählung nach Markus lauschen? Und was hörten die Menschen lebend im Römischen Reich damals? Ich suche als Einstieg ein paar Hörerlebnisse als Beispiele heraus, um eine

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Orientierung dafür zu geben, in welcher politischen Zeit und in welchem politischen Klima das Markus-Evangelium verfasst wurde. Winden und Wettern kann er gebieten, sodass sie ihm zu Willen sind. Diese eindrucksvolle Eigenschaft, den Seesturm zu stillen, verbinden wir mit Jesus, einer Erzählung aus dem Markus-Evangelium in Kapitel 4. Ein blinder Mann wird sehend, indem seine Augen mit Speichel bestrichen werden. Auch hiervon berichtet uns das Markus-Evangelium über Jesus in Kapitel 8. Wie einem Mann seine verdorrte Hand geheilt wird, auch da haben wir Jesus in Kapitel 3 des Markus-Evangeliums vor Augen. Die meisten Menschen des ersten Jahrhunderts nach

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Christus im Römischen Reich dachten bei diesen wundersamen Erzählungen nicht nur an Jesus Christus, sondern auch an prominente und potente Personen, an Feldherren und Kaisern des Römischen Reiches. Hören Sie selbst, wie es Cassius Dio in seiner römischen Geschichte beschreibt. Vespasian selbst heilte zwei Männer, einen blinden und einen, der eine verdorrte Hand hatte. Beide kamen auf Traumgesichte hin zu ihm und er trat dem einen auf die Hand, während er dem anderen in die Augen speicheltat. Noch ausführlicher berichten von diesen Wundern auch Sueton in seinen Kaiserviten und Tacitus in seinen Historien. Diese Heilungswunder Vespasians

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wurden überall propagiert und waren daher Land auf, Land ab bekannt. Dass Markus zwei Wunder Jesu so parallel zu Vespasians bekannten Wundertaten schildert und seine Sturmstillung in den bekannten Formulierungen von der Macht römischer Feldherren einfärbt, gibt uns Hinweise, in welche historischen Rahmendaten die Abfassung des Markusevangeliums einzuordnen ist. Vespasian wurde im Jahr 69 im Osten von den Truppen zum Kaiser ausgerufen und kurz darauf vom Senat anerkannt. Er kam jedoch als Bankierssohn ursprünglich nicht aus Senatorenrängen und arbeitete daher an seiner Imagepflege. Der neue Kaiser zeigte sich gern mit religiösem Heiligenschein. Vespasian warb unter anderem damit für sich, dass ihm und seinem Sohn Titus messianische Weissagungen des jüdischen Volkes

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in ihnen in Erfüllung gegangen seien. Er sah die Erfüllung in der Pax Romana, die im Reich nach dem Vier-Kaiser-Jahr und in Israel nach dem jüdischen Aufstand wiederhergestellt worden sei. Sogar der jüdische Geschichtsschreiber Josefus ist von diesen Messiasansprüchen des Vespasian überzeugt. Messiasansprüchen, auch Sueton und Tacitus berichteten von diesen Messiasansprüchen. Der Markus-Evangelist hingegen wehrt solche Messiasansprüche des römischen Kaisers ab. Er warnt vor Pseudo-Messiasen, Markus 13, Vers 21 bis 22, wobei der Plural Pseudo-Messiasse gut zu Vespasian und seinem Sohn Titus passt, die in der Tat im Doppelpack als Erfüller der jüdischen

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Messias-Erwartungen propagiert wurden. Markus wehrt sich gegen solche Kaiserpropaganda. So schreibt er die Wunder, die von Vespasian berichtet werden, Jesus zu, die freilich insgesamt nur wenige von zahlreichen Wundern Jesu darstellen. Auch der kaiserliche Titel Divi Filius, Gottessohn, den die Bewohner des römischen Reiches für Oktavian, Tiberius, Nero und später auch von Titus und Domitian von ihren Münzen in der Tasche kannten, überträgt der Markus-Evangelist auf Jesus und lässt ihn unter Jesu Kreuz von einem römischen Hauptmann aussprechen. Markus schreibt das nieder zu einer Zeit, als dem Kaiser Vespasian als Sohn des ägyptischen Gottes Amon gehuldigt wurde.

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Weiter. Vespasian hatte in der Stadt in Israels Norden in Caesarea Philippi mit ihrem monumentalen Augustustempel sich festlich von Agrippa im Jahre 67 bewirten lassen. Und Titus feierte in der Kaiserstadt Philippi Siegesfeiern nach seiner Eroberung Jerusalems. Petrus nun befindet sich mit Jesus und den anderen Jüngern ausgerechnet dort in Caesarea Philippi, wenn er in Markus 8 Jesus als Messias, als den Christus bekennt. Dass er just in dieser Stadt das Messias-Bekennnis ausspricht, zeugt wiederum von einem Gegenprogramm. Nicht etwa dieser Kaiser und mit ihm andere politisch

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Potente erfüllen messianische Erwartungen, sondern dieser Jesus aus Nazareth. Er erfüllt sie. Die Zeit, in der der Markus-Evangelist schreibt, Anfang der 70er Jahre nach Christus, war also für Israel Verbundene besonders aufwühlend. Jerusalem und in seinem Herzen der Tempel waren von Titus und seinen Truppen eingenommen und zerstört worden. Das hatte zur Folge, dass Christusgläubige, dass die Christusgläubige Gemeinde in Jerusalem nun zerstreut war. Zu der Jerusalemer Gemeinde hatten die Zwölfer Postel maßgeblich gehört und mit ihnen weitere Jesusjüngerinnen und Jünger sowie wichtige Führungsfiguren wie Jakobus, der Herrenbruder. Die Jerusalemer Gemeinde

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war für die frühen christlichen Gemeinden, die sich in dieser Zeit überall im ganzen Reich bereits gebildet hatten, ein Orientierungspunkt gewesen, gewissermaßen eine autoritative Institution. Sie war Knotenpunkt für die Überlieferungen über Jesu, Jesus und sein Wirken. Dieser Ort war nun aufgelöst. Die Augenzeugen selbst, die Apostel und die weiteren Jesusjüngerinnen und Jünger waren nun in den 70er Jahren zum größten Teil verstorben. Insgesamt also eine Situation, die danach ruft, die Jesus-Tradition zu sammeln und in einem Gesamtentwurf festzuhalten, um die weitere Tradierung zu sichern. Hinzu kam, dass Jesus ja die Tempelzerstörung vorausgesagt hatte. Die

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tatsächliche Zerstörung des Tempels war ein Beweis nach außen über Jesu prophetische messianische Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Die Gemeinde, an die Markus in erster Linie sein Evangelium schrieb, mag dies aus der Ferne beobachtet haben. Entweder vom Nachbarland Syrien aus, davon geht etwa die Hälfte der neustestamentlichen Forschung aus, oder eben von Rom aus. Im Falle Roms, den wir uns in diesem Vortrag näher vorstellen, ist die Gemeinde selbst noch extrem geschüttelt und traumatisiert von den politischen Ereignissen in Rom. Erstmals und plötzlich hatte Nero hier die Christusgläubigen als eine eigene Gruppe ausgemacht und als Sündenbock für den Stadtbrand verantwortlich gemacht. Mit härtester Verfolgung und grausamsten Strafen, wie es Tacitus in seinen Analen berichtet,

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Kreuzigungen und Verbrennungen in Neros Gärten, Spott und Hohn durch Zerfleischung von Tieren mussten die Christusgläubigen erleiden. Um sie auszumachen, werden Verhöre, Verhaftungen und Verrat auch untereinander sich ereignet haben. Selbst erlebt und durch solche Ereignisse traumatisiert, hören sich die entsprechenden Erzählungen in der Passionsgeschichte, in denen Judas aus dem Inner Circle Jesus verrät, Petrus ihn dreimal verleugnet, anders an. Dreimaliges Fragen nach der Zugehörigkeit zu Jesus Christus im Prozessverlauf sind im Pleniusbrief an

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Kaiser Trajan 110 nach Christus überliefert. Dieses Verhörverfahren ist natürlich auch schon vor dieser Zeit gut denkbar, auch wenn uns über die Strafverfahren Neros keine Quellenberichte zur Verfügung stehen. Dafür, dass Verrat aus den eigenen Reihen kam, geben uns schon frühe Verfolgungsberichte Beispiele an die Hand. Die noch frisch erinnerte Verfolgungssituation in Rom ist zum einen in der Erzählweise der markinischen Passionsgeschichte spürbar. Sie mag darüber hinaus aber auch in der Voraussage Jesu über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem sich spiegeln. In Markus 13, 9 bis 13 ist von Prozessen die Rede, von Schlägen und Schmach sowie von innerfamiliärem Verrat. Besonders auffällig ist die Formulierung und ihr werdet gehasst werden

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von jedermann um meines Namens willen. Da auch Tacitus davon spricht, dass die Christen von jedermann gehasst wurden. Das Markus-Evangelium mag hier also die Vision Jesu über die Zerstörung Jerusalems mit den traumatischen Erfahrungen seiner christusgläubigen Gemeinde in Rom parallelisiert haben. So kann die Hörerschaft von damals immer wieder ihre eigenen Erfahrungen in der Erzählung über Jesu Geschick miterleben. Sie kann Jesus in seinem Geschick näher sein und sich als seine Nachfolgenden auch in einer Zeit verstehen, in der er nicht mehr unter ihnen ist. Jesu Leben und Wirken wird dadurch transparent für die Glaubenserfahrungen der Gemeinde. Solche Erfahrungen mögen einigen von uns zunächst vielleicht wie aus einer anderen,

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vergangenen, dunklen Welt erscheinen. Andererseits werden diejenigen unter uns, die aus den neuen Bundesländern sind, wohl etliche Parallelen zur politischen Bedrängnissituation auf grund ihres Glaubens und ihrer Kirchenzugehörigkeit kennen, Erfahrungen gemacht haben, auch mit Bekenntnis und Bedrängnis und Verrat von Nahestehenden. Weltweit haben Verfolgungen aufgrund von religiösen Überzeugungen erschreckende Dimensionen angenommen. Der Bezug zu uns ist somit aktueller, als wir vielleicht zunächst meinen. Nach diesen ersten Vorüberlegungen möchte ich mit Ihnen nun direkt in die Evangeliumserzählung selbst gehen. Ich darf

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Sie dafür in die Mitte der Erzählung entführen. Von der Mitte aus möchte ich die Erzählung dann nach vorne und nach hinten hin ausrollen. Passend zur Mitte werden wir dafür auf einen hohen Berg mitgenommen. Jesus besteigt ihn mit seinem engsten Jüngerkreis, mit Petrus, Jakobus und Johannes. Auf der Bergspitze verwandelt sich Jesus in eine esiatologische Gestalt. Gleisend weiß strahlt er nun. Neben dem strahlenden Jesus erscheinen die führenden Propheten Israels, Mose und Elia. Die Jünger sind begeistert. Sie wollen diese Erscheinung festhalten. In diesem esiatologischen Glanz ist vergessen, was sie gerade noch vor dem Bergaufstieg von Jesus gesagt bekommen haben. Dass er leiden

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werde, verspottet werde, sterben müsse und dann auferstehen werde. Solch ein Leiden und Sterben passt nicht zu den Messias Erwartungen der Jünger, die alle Bezüge ihres bisherigen Lebens gekappt haben und aufgebrochen sind, um diesem Jesus zu folgen. Jesu Leidens- und Sterbensankündigungen wollen sie nicht wahrhaben. Gerade eben kurz vor dem Bergaufstieg hatte Petrus sein Christusbekenntnis ausgesprochen. Endlich, nachdem Jesus in Galiläa viele große Wunder getan hatte und das Kommen des Reiches Gottes verkündet hatte. Diesem Jesus der Wundertaten und des vollmächtigen Wortes, diesem Messias wollen die Jünger folgen, Teil und verlängerter Arm seines Wirkens sein. Lang genug

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hat es gedauert, geradezu die Hälfte der Erzählzeit, bis Petrus und mit ihm alle Jünger schließlich verstanden hatten, dass dieser Jesus, dem sie gefolgt waren, der Messias ist. Jesu Worte und Wunder tatsächlich als den Christus auswiesen. Jesus ergänzt dieses Bekenntnis zum Messias der Worte und der Wundertaten mit dem Messias Verständnis des leidenden und sterbenden Menschensohnes, der verspottet wird von den Ältesten des Volkes und von ihnen getötet wird und dadurch sein Leben hingibt als Lösegeld für viele. Ohne diesen Teil des messianischen Wirkens, das ins Leid und in den Tod geht, möchte Jesus nicht, dass er als Messias verkündigt wird.

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Deswegen heißt er die Jünger über seine Identität zu schweigen. Sie sollen es nicht weiter sagen, dass er der Messias ist, bis er von den Toten aufersteht, 9.9. Sprich, bis er in vollständiger Weise sein messianisches Werk vollbracht haben wird. Damit macht der Markus-Evangelist klar, dass Jesu Messianität aus diesen zwei Blöcken besteht. Zum einen aus dem Komplex der kraftvollen Verkündigung und Wunder. Dies ist der erste Komplex der Messianität Jesu, der das Reich Gottes als Anbruch des Heils zeigt, in dem Krankheit, böse Mächte und Schuld aufgehoben werden und Gottes Wort machtvoll wirkt. Diese Erzählungen passieren vor allem in der ersten Hälfte der Evangeliumserzählung,

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in der Zeit vor dem Bergaustieg Jesu mit seinen Jüngern. Zum anderen aus dem Komplex des Leidens und Sterbens und Auferstehens für die Menschen, der in der zweiten Hälfte der Erzählung seinen Schwerpunkt findet. Das Leiden und Sterben Jesu für die Menschen ist bedeutungsschwer. Es trägt mehrere Bedeutungsdimensionen in sich. Lassen Sie sie uns näher für das Markus-Evangelium bedenken. Erstens die Dimension der Solidarität. In seinem Leiden und Sterben zeigt sich Jesus als Sohn Gottes, der sich mit dem Leid der Menschen solidarisiert. Als Sohn Gottes ist sich Jesus nicht zu schade, sich in diese Tiefen des Menschseins hineinzubegeben. Und er geht bis an

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den tiefsten Punkt des Leidens und der Angst des Menschen bis in den Tod, weiter sogar noch. Jesus stirbt keinen sanften Tod, sondern den schändlichsten und schmerzhaftesten, der im römischen Reich denkbar war. Den Verbrechertod am Kreuz. Heute haben wir uns an das Kreuzesymbol gewöhnt. Sein Anstoß wird nicht mehr verspürt. Harmlos baumelt es als Schmuck um den Hals. Bischöfe tragen es auf dem Bauch, nicht auf dem Rücken. Aber der antike Mensch empfand da anders. Abscheu, Ekel rief das Kreuz hervor als Ort der Schande und des Elends. Wir können hier den

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Christushymnus des Philippabriefes im Hintergrund hören. Er, der in göttlicher Gestalt war, entäußerte sich selbst, ward den Menschen gleich. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode. Ja, zum Tode am Kreuz. Schon diese frühe liturgische Form betont diesen Tiefpunkt, der durch die Schande am Kreuz noch tiefer erscheint, als der Tod es schon selbst ist. Auch der Markus-Evangelist macht diesen schändlichen Aspekt des Kreuzes stark, indem er ihn immer wieder in die Erzählung einspielt. Durch die dreimalige Leidensankündigung in den Kapiteln 8 bis 10 verleiht er ihm proportional ein Schwergewicht und wirkt damit dem Verdrängungspotenzial der Jünger entgegen. Die Erzählung der Kreuzigung selbst

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bezieht den Spott der Leute ganz bis zum Schluss immer wieder ein. So wird es für die mit dem leidenden Jesus mitfühlende Hörerschaft unerträglich die Schande auszuhalten, die mit ihm bis zum Todespunkt getrieben wird. Mit dem Gang des Gottessohnes in das Leid der Menschheit hinein, in tiefes Leid von körperlichen Schmerzen, die sich lange hinziehen und bis zum Äußersten gehen, die zudem in Scham und Schande erlitten werden, integriert die markinische Theologie, die Theodicee, in das Gottesbild. Höchste emotionale Nöte, Angst vor dem Tod, Verlassensein, Verrat und Verleugnung von nahen Menschen, das Ertragen von Schmach und Spott der

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religiösen und politischen Autoritäten bis in den letzten Moment des Todespunktes hinein. Der Messias selbst erlebt sie. Im Tode selbst erlebt Jesus gar die Gottverlassenheit. Seine ergreifenden Worte am Kreuz, mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bringen den tiefsten Punkt des Todes zum Ausdruck. So wird das, was später die Theodiceefrage genannt wurde, hier in Markus 15,34, vom Gottessohn selbst, nicht abstrakt, nicht intellektuell, sondern in höchster existenzieller Not ausgerufen. Markus integriert damit die Zweifel und die steilen

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Anfragen an Gott an die Religion in die Religion selbst. Mit religiöser Sprache wird formuliert, was das große Fragezeichen an der Religion immer wieder ist. Indem es Jesus, der Sohn Gottes, selbst ausspricht, es selbst ausruft. Und der Markus-Evangelist lässt die Hörerinnen und Hörer diesen Punkt der Gottverlassenheit aushalten. Jesus geht mit diesem Ausruf der Gottverlassenheit unaufgelöst in den Tod. Stark ist die markinische Theologie mit diesem Punkt. Sie trägt durch Krankheit, Anstoß, Anfeindungen und Verlassenheit. Sie trägt durch Gottes Zweifel. Sie erträgt, ohne zu beschönigen. Die existenziellen Dimensionen

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dieser Kreuzestoddeutung ist vielleicht diejenige, die unsere heutigen Bedürfnisse am stärksten anspricht. Wir standen im vergangenen Jahrhundert mit unseren Weltkriegen an unerträglichen Abgründen des Leides, des Todes und der Gottverlassenheit. Die Frage, wo Gott war in all diesem Leid, wurde und wird immer wieder existenziell gestellt. Kommen wir zum zweiten Aspekt, der sich in der Kreuzigung Jesu zeigt. Wir haben ihn vielleicht eben schon antizipiert in den Ausführungen über das Leid. Die zweite Dimension der Kreuzestoddeutung ist die Sichtbarkeit menschlicher Schuld, die den Gottessohn, statt ihn als Heilsbringer zu empfangen, grob zu Unrecht ans Kreuz bringt. Dabei sind die Mächtigen in Religion und Politik, die Theologen Jesu eigener Religion

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und seines Volkes, die einflussreichen Pharisäer, Schriftgelehrten und Priester, aber auch die römischen Übermächtigen in besonderer Weise bezichtigt. Die Einflussreichen aus Jesu eigenem Volk planen bereits ab Kapitel 3, also nach nur 12 Minuten Erzählzeit, ihn zu Tode zu bringen. Ihre Tötungspläne verdichten sich im Laufe der Erzählung und offenbaren immer stärker ihre Schuld und ihre Verstrickung, den Sohn Gottes, den sie als solchen natürlich nicht anerkennen, unschuldig zu töten. Aber nicht nur die Mächtigen sind Schuld, sondern auch das Volk, das sich in entscheidenden Momenten von ihnen steuern lässt. Und selbst die Jünger, die Jesus am nächsten sind, versagen. Einer aus dem engsten Kreis,

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Judas, verrät Jesus und überliefert ihm seinen Heschang. Petrus, der Jesus noch unlängst als Christus bekannt hatte, leugnet, dass er ihn überhaupt kenne. Es sind letztlich die Menschen insgesamt, die Jesus Christus, Gottes Sohn, ans Kreuz bringen. Das bringt die zweite Leidensankündigung in Markus 9, 31 zum Ausdruck, wenn sie eben nicht nur, wie die anderen beiden Leidensankündigungen von den Schriftgelehrten spricht, sondern ganz allgemein von den Menschen. Ein dritter Aspekt der Kreuzes-Totdeutung ist seine Funktion als Lösegeld, die explizit nur an einer Stelle in Markus 10, 45 genannt wird. Sie passt zu dem Kelchwort in Markus 14, 24 im Abendmahl. In beiden Reden spricht Jesus aus, dass er

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für die vielen gestorben ist. Sein Tod übernimmt demnach eine erlösende Funktion für viele Menschen. Die Metapher des Lösegeldes bedeutet in alttestamentlichen und allgemeinen antiken Kontext den Freikauf von verschiedenen Zwängen und Strafen. Das Lösegeld ist ein Ausgleich für Strafen, ein Sühnemittel. In seiner Rede in Markus 10 stellt Jesus seinen Tod, den er stellvertretend als Söhne für die Strafen von vielen übernommen hat, in den Kontext des Dienstes am nächsten. Mit seinem Tod als Lösegeld für die vielen zeigt Jesus eindrücklich, dass der Dienst des Menschensohnes an den Menschen einen Selbstverzicht bedeutet.

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Er geht hier bis zum Äußersten, bis in den Tod. Darin übernimmt Jesus als Menschensohn Vorbildfunktion für den einzelnen Gläubigen, der für den Nächsten ebenfalls eine Selbstentäußerung in Kauf nehmen soll, wie es auch der bereits erwähnte Christushymnus in Philippa 2 schildert. Und damit sind wir bei der vierten Dimension der Todesdeutung Jesu, die im Dienst am nächsten durch Selbstentäußerung steht. Im Unterschied zu der stellvertretenden erlösenden Funktion des Sühnetodes Jesu ist der selbstentäußernde Dienst am nächsten vorbildhaft gemeint, wie das Gebot zur Kreuzesnachfolge zeigt. Sein Gang ans Kreuz als Dienst an der Menschheit soll auf dieser Spur imitiert werden. Die erlösende Funktion seines Kreuzes Todes kann

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hingegen natürlich nicht imitiert werden. Betrachten wir also die Kreuzesnachfolge, in die Jesus ruft, als letzte Bedeutungsdimension des Kreuzes Todes Jesu ausführlicher. Gleich nach seiner ersten Leidensankündigung fordert Jesus die Jünger und die Volksmenge dazu auf, dass sie ihm nachfolgend das Kreuz auf sich nehmen sollen. Betrachten wir das Nachfolgegebot in Markus 8, 34, folgende. Jesus richtet sich aus einer privaten Lehrsituation mit den Jüngern heraus unvermittelt an die Volksmenge. Damit markiert er Öffentlichkeitscharakter seiner folgenden Worte und spricht auch die markinische Hörerschaft direkt an. Thematisch

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eng bleibt er am vorangehenden und spricht in 8,34 bis 38 grundsätzlich und allgemein gültige Sätze. Der Ausgangssatz in Vers 34 formuliert drei Imperative an diejenigen, die Jesus nachfolgen wollen. Er oder sie verleugne sich selbst. Nehme das Kreuz auf sich, folge mir nach. Zu gestalten ist die Nachfolge durch Selbstverleugnung und durch Kreuztragen. Die drei Imperative sind aufeinander bezogen. Sich selbst zu verleugnen bedeutet, sein Kreuz zu tragen. Dies wiederum charakterisiert die Nachfolge Jesu. Die Imperative lassen die Aufforderung zur Nachfolge in der Kreuzesexistenz Geburtsform annehmen. Sehen wir uns die Bedeutung

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des ersten Imperatives genauer an. Das Verb sich selbst zu verleugnen, wie es in der Luther Übersetzung heißt, im griechischen apaneumai, bringt eine sich versagende Haltung zum Ausdruck. Das Vorgegebene soll bestritten werden. Spezieller kann es auch das Auflösen einer Bindungsgemeinschaft bedeuten. Mit dieser spezielleren Bedeutung möchte ich gerne weiterarbeiten. Auflösen einer Bindungsgemeinschaft. Das Verleugne dich ist auf das Selbst bezogen. Es geht also darum, eine Bindungsgemeinschaft mit dem eigenen bisherigen Ich zu lösen. Stattdessen soll es zu einer neuen Identität kommen, in dem eine neue Bindungsgemeinschaft eingegangen

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wird. Da es hier um die Nachfolge Jesu geht, ist diese neue Bindungsgemeinschaft auf Jesus zu beziehen. Jesus nennt sich in Vers 34 und im folgenden Vers 35 als Bezugspunkt. In Vers 35 in einem Atemzug mit dem Evangelium. Die Jünger Berufungserzählungen haben knapp gezeigt, wie sich die Jünger von ihrem bisherigen Selbst gelöst haben. Sie haben ihre Netze verlassen. Die Netze stehen für jede bisherige berufliche und familiäre Bindung in Markus 1, 18. Sie haben sich von ihrer bisherigen Identität gelöst und damit von dem, was ihr Ich ausgemacht hatte. Sie haben eine neue Identität übernommen, in der sie Jesus folgen

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und mitwirken an seiner Verkündigung des Evangeliums und an seiner Arbeit im Reichgottes. Der zweite Imperativ des Nachfolgegebotes Jesu, das Kreuztragen, malt den Charakter der neuen Identität genauer aus. Die Aufforderung zum Kreuztragen ergänzt die bisherige Nachfolgeidentität der Jünger bis Markus 8, 30 mit dem Leidenselement, dem die Jünger ja widerständig gegenüberstehen. Markus 8, 32. Was soll das Bild des Kreuztragens genauer aussagen? Das Kreuztragen war der Vorlauf zur Kreuzigung selbst. Öffentlich trug der Verurteilte seine Strafe zur Schau. Wie die Kreuzigung selbst ist das Kreuztragen ein Zeichen der

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Schande und des Statusverlustes innerhalb der Gesellschaft. Es ist der Ausschluss von der Gesellschaft, der Welt. Der Kreuzträger entäußert sich in der Nachfolge Jesu vor der Welt. Er nimmt in Kauf vor der Gesellschaft als ein mit Schande Geschlagener dazustehen. Denken Sie nur zurück an Tacitus Worte, dass die Christen vom Volk wegen ihrer angeblichen Schandtaten gehasst wurden. Doch der Aspekt der Schande ist natürlich kein Ziel an sich. Es geht ja nicht darum, sich einfach nur des Martyriums zu erfreuen. Das wäre viel zu kurz gegriffen und würde auch das Anliegen verdrehen. Wie es in den Kapiteln 8 bis 10 entfaltet wird, geht es beim Kreuztragen ethisch um den Dienst am Nächsten, der bis

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zum Äußersten geht. Eine Nächstenliebe, die bereit ist, Statusverlust und Schande in Kauf zu nehmen, Eigeninteressen hinanzustellen, nicht zu fragen, ob ich besser bin als andere, sondern anderen zu dienen, ja sogar das eigene Leben für diese Nächsten hinzugeben. So interpretieren Markus 9,34 und auch 10,43 nach der zweiten und dritten Leidensankündigung das Kreuzesnachfolgewort. Jesu Weg stellt auf diese Art und Weise ein Vorbild für das Kreuztragen seiner Anhängerschaft dar. Wie wird dieses Kreuztragegebot in der Erzählung aufgenommen? Die Jünger wollen das, wofür das Kreuz steht, nicht wahrhaben, Markus 8,32,

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und repräsentieren somit die Widerständigkeit gegenüber dem Kreuztragegebot. Bis zum Schluss der Erzählung bleiben sie gegenüber dem Element des Leidens widerständig, das die markinische Erzählung theologisch ja stark integriert sehen will in das Gottesbild. Und dem Gottesbild auch in das Glaubensleben der Christusnachfolgenden. Das zeigt sich zum einen durch ihre unverständigen Reaktionen nach jeder der drei Leidensankündigungen. Nichts haben sie kapiert. Zum anderen auch gesteigert in entscheidenden Situationen der Passionsgeschichte, wenn Jesus in Gethsemane vor Angst, zitternd betet, dass Gott den Kelch des Leidens an ihm vorübergehen lassen will, die intimste Erzählung der ganzen Evangeliumserzählung

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und seine drei engsten Jünger bittet, bei ihm zu wachen, schlafen sie, schalten ab. Sie schließen im wahrsten Sinne des Wortes die Augen vor dem Leid. Verdrängung statt Verständnis und Empathie. Während Jesus vor dem Hohen Rat auf der Anklagebank sitzt, leugnet Petrus dreimal, Jesus gekannt zu haben. Dass die Jünger gegenüber dem Kreuztragegebot widerständig sind, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie Jesu physisches Kreuz ihm auch nicht abnehmen, es ihm nicht tragen. Die Jünger sind auf diesem Weg nicht dabei, verschwunden sind sie von der Bildfläche. Jesu Kreuz trägt nicht einer der zwölf, sondern

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Simon von Kürine, ein Gelegenheitshelfer, der vom Felde kam. Unter Jesu Kreuz in seiner letzten Stunde stehen die Jünger nicht. Das Gottessohn-Bekennnis unter dem Kreuz spricht wieder ein Fremder. Das Versagen der Jünger löst sich bis zum Schluss der Erzählung nicht auf. Dass die Botschaft des Auferstandenen sie wieder in Galiläa erreichen wird und Jesus nun als Auferstandener vor ihnen hergehen wird, ist verheißende Perspektive. Als verheißende Perspektive ist sie nach allem, was die Jünger nicht getan haben, als Gnade zu verstehen. Dass die Jünger dann die Kurve in diejenige Nachfolge noch bekommen haben, die das Kreuztragen

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meint, weiß die frühchristliche Gemeinde. Die Jünger leiten Gemeinde, waren in der Verkündigung des Evangeliums in aller Welt unterwegs. Sie haben ihr ganzes Leben dafür eingesetzt. Petrus ist wahrscheinlich in der neuronischen Verfolgung selbst gekreuzigt worden. Auch die Zibedaiden, Jakobus und Johannes starben den Märtyrertod. Die Spannung zwischen ihrer gelebten Kreuzesnachfolge nachher in der frühchristlichen Gemeinde und ihrem Versagen in der Nachfolge der Erzählung bewirkt zweierlei, denke ich. Zum einen ist ihr Versagen tröstlich für alle Situationen des eigenen Versagens. Es ermutigt, nicht die Flinte ins Korn zu werfen, sondern sich von der Gnade Gottes getragen zu wissen und doch weiterzumachen.

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Zum anderen motiviert der frustrierende Effekt, der sich beim Lesen des wiederholten und oft gesteigerten Jüngerunverständnisses einstellt, dazu, es besser machen zu wollen als die Jünger in der Erzählung. Für mich zeigt sich hier, wie wunderbar der Markus-Evangelist versteht, zu mahnen und zu trösten, zu motivieren. Halten wir an dieser Stelle noch einmal ein und fragen, wer dieser Markus-Evangelist wohl gewesen sein mag, der es so bewegend versteht, seine Hörerschaft theologisch zu sensibilisieren, sie kreuzestheologisch zu schulen. Ob der Autor Markus hieß, wissen wir nicht, weil das Evangelium ja anonym verfasst wurde. Die

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Zuschreibung Evangelium nach Markus ist erst später hinzugefügt worden. Wir wissen also über den Autor nur, was der Text, den er geschrieben hat, indirekt über ihn aussagt. Genau genommen wissen wir also noch nicht einmal, ob das Evangelium von einem Mann oder einer Frau verfasst wurde. Der Hinweis auf Frauen als Traditionsträgerinnen wird am Schluss der Evangeliumserzählung konkret. Die Frauen in Kapitel 16 sind die einzigen Zeuginnen der Auferstehungsbotschaft des Engels am Grabe. An dieser Scharnierstelle liegt die Weitergabe des Evangeliums ganz in den Händen dieser Frauen. Zwar endet die Evangeliumserzählung damit, dass sie zittern und in Furcht schweigen, doch die Tatsache, dass das Evangelium erzählt

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werden kann, setzt ja voraus, dass sie doch geredet haben und es den Jüngern weitergesagt haben. Interessant auch die Frau in Betanien in Kapitel 14. Im Unterschied zu den Aposteln hat die Frau, die Jesus salbt, verstanden, dass Jesus leiden und sterben muss. Sie lässt sich mit ihrer vorweggenommenen Totensalbung auf sein Leid ein. Auch es ist eine Frau aus Syrophoenizien in Kapitel 7, die Jesus dazu bewegt, sein messianisches Heil nicht nur den Kindern Israels, sondern auch den anderen Nationen zu bringen. Jesus hört auf sie. So kommen Frauen an Scharnierstellen mit theologischen Schwerpunktthemen des Markus-Evangeliums

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vor. Für Überlegungen zur Autorinenschaft ist das nicht uninteressant, wenn auch nicht belastbar. Wir wissen es also nicht. In gleicher Weise interessant, aber nicht belastbar, ist die Spur, die der später dem Evangelium zugeschriebene Autorname Markus legt. Er ist der einzige Name, den die Tradition diesem Evangelium zugewiesen hat. Damit bleibt er konkurrenzlos. Da dieser Name keine apostolische Autorität aufweist, gibt es erst mal keinen offensichtlichen Grund, dass man das Evangelium mit diesem Namen bewusst hätte schmücken wollen. Das macht einen Markus als Verfasser immerhin recht wahrscheinlich. Der Name Markus bzw. im Doppelnamen Johannes Markus kommt achtmal im Neuen Testament vor.

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In allen acht Vorkommnissen ist Markus ein Gemeindemitarbeiter. Die Textstellen bringen ihn entweder in die Nähe zu Petrus, der Apostelgeschichte 12 und auch ersten Petrus 5, oder eben auch zu Paulus, das wäre Apostelgeschichte 13 und 15 und auch zweiter Timotheus 4, 11, Kolosser 4, 10 und Philemon, Vers 24. Ihm wird außerdem Nähe zu Barnabas attestiert, Apostelgeschichte 15. Nach Kolosser 4, 10 ist er sogar der Vetter des Barnabas. Die Nähe von Markus zu Petrus wird auch von Papias von Herapolis, zweites Jahrhundert nach Christus genannt. Markus sei Hermeneutes, also Interpret, Dolmetscher des Petrus gewesen und diesem bei Lehrvorträgen gefolgt. Nichts spricht dagegen, dass die unterschiedlichen Quellen, also diese achtmal,

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denselben Mann mit dem Namen Markus bzw. Johannes Markus meinen. Doch ist bei der Häufigkeit des lateinischen Namens Markus ist das eben nicht gewährleistet. Wenn die acht Stellen denselben Mann nennen sollten und dieser Mann obendrein der Autor der anonymen Evangelienschrift sein sollte, dann wäre Johannes Markus ein aus Jerusalem stammender Judenchrist. Dem Argument, dass keine der acht neuntestamentlichen Stellen darauf verweist, dass Markus ja ein Evangelium geschrieben habe, kann man schlagfertig gegenüberstellen, dass die Apostelgeschichte auch kein einziges Mal darauf verweist, dass Paulus Briefe geschrieben hat. Warum sie das nicht tut, ist mir ein Rätsel, aber sie tut es nicht.

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Dennoch bleibt es insgesamt dabei, dass die Identifizierung der Belege mit dem Namen Markus nicht gewährleisten, dass von dem gleichen Mann die Rede ist, sodass wir daraus letztlich keine Schlüsse ziehen können. Es bleibt, wie angekündigt, interessant, aber nicht belastbar. Wir folgen im Weiteren dennoch der Tradition mit der Benennung und Reden von Markus oder dem Markus Evangelisten. Machen wir also an dem Punkt mit unseren Überlegungen über den Autor weiter, dass er die Gattung der Evangeliumserzählung schuf. Wie schon in meiner Einleitung angedeutet, war er der erste, der einen Gesamtentwurf des Wirkens Jesu zu Papier bzw. auf den Papyrus brachte. Zuvor hatte es bereits Sammlungen gegeben, wie die sogenannte Redequelle Jesu oder wohl auch Formen der Passionsgeschichten. Doch noch

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keinen Gesamtentwurf, der Jesu Wort und Wunder wirken und seiner Passion theologisch zusammenbindet und damit die Geschichte des Messias Jesus theologisch zusammenhängend erzählt. Darin besteht die große Leistung unseres Verfassers, die dann ja breit gehört wurde und in weitere Evangeliumsproduktionen mündete. Matthäus, Lukas und Johannes bauten darauf auf. Nach Paulus, der den Gemeindebrief als erste frühchristliche literarische Gattung schuf, war der Markus Evangelist nun der zweite christliche Pionier einer Gattung, die weiter Schule machte. So prägten diese beiden, Paulus und Markus, die beiden wesentlichen Gattungen, die Briefe und die Evangelien, die das Neue Testament dann ausmachten. Angelehnt hat unser Verfasser

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seine neue Gattung Evangelium an die antike personenorientierte Hysteriographie, also die Geschichtsschreibung. Die antike Historiographie spannte in erzählender Form historische Ereignisse in eine zeitliche Reihenfolge und in kausale Zusammenhänge ein. Dabei hat der Verfasser seine theologische Geschichtsteutung an das alttestamentlich jüdische Geschichtsverständnis angeschlossen. In ihm ist Gott der Handelnde der Geschichte. Der jüdische Kontext mag auch ein Grund sein, warum sich der Autor nicht zu Beginn des Buches vorgestellt hat, wie das bei der griechisch-römischen Erzählliteratur üblich war. Die anonyme Verfasserschaft hingegen ist typisch für die alttestamentliche Geschichtsschreibung. Wenn hier ein Titel eine Person nennt, ist es in der Regel die Person,

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um die es in der Erzählung geht und nicht der Autor. Dieses Prinzip trifft für Markus 1.1 zu. Dies ist der Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes. Mit diesem Evangeliumsbegriff am Anfang seiner Erzählung prägt der Verfasser im Laufe der Wirkungsgeschichte auch die Bezeichnung der gesamten Gattung als Evangelium. Auch wenn unser Verfasser nicht in erster Linie den Begriff Evangelium als Gattung verstanden hat, er hat mit ihm den gesamten Inhalt seiner Erzählung bezeichnet, nämlich das Wirken Jesu als heilsbringendem Gottessohn für die ganze Welt. Matthäus und Lukas haben diesen Begriff für die Bezeichnung ihrer Erzählungen interessanterweise

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nicht übernommen. Matthäus spricht von Buch, Biblos, und Lukas von Erzählung, die Jägesis. Überlegen wir noch einmal, in welcher Rolle unser Verfasser seine Evangeliumsschrift schrieb. Er selbst bringt sich nicht direkt in seine Literatur ein, anders als Paulus in seinen Briefen, der sich als Apostel Jesu Christi selbst in seine Schriften einbringt und autoritative Aussagen macht, nennt sich der Verfasser des Markusevangeliums ja selbst eben nicht. Dennoch muss er sich mit Autorität ausgestattet wissen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, wie er als Erzähler die zwölf Apostel profiliert, die ja große Autoritäten in den Gemeinden waren. Er scheut sich nicht, diese

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zwar einerseits auch als Autoritäten und Ängsten nach Volker Jesu darzustellen, andererseits aber eben auch als hochgradig Unverständige. Kritischer noch geht der Verfasser mit der Familie Jesu um. In Kapitel 3 hält er fest, dass die Familie Jesus für verrückt erklärt. Zu den Brüdern Jesu zählt der Herrenbruder Jakobus, der in der Jerusalemer Gemeinde Ansehen genoss. Unser Verfasser scheint sich nicht zu scheuen, ihn in die Opposition zu stellen. Gleiches gilt übrigens auch für Paulus in Galater 2. Unser Verfasser kennt auch die innersten Bewegungen Jesu. In Kapitel 13 schildert er mitnehmend, wie Jesus voller Angst zu seinem Vater betet, den Kelchern ihn vorüberziehen zu

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lassen. Unser Verfasser zeigt sich hier und auch an anderen Stellen als ein sogenannter allwissender Erzähler. Die Erzählweise des Markus Evangelisten zeigt, dass er einen gewissen Bildungsstand haben musste. Er war in der Lage, die ihm verschiedentlich vorliegenden Quellen schriftlicher und mündlicher Art zu einem histiografisch und theologisch angelegten Gesamtentwurf zusammenzuführen. Sein sprachliches Niveau liegt unter dem der meisten anderen neustestamentlichen Autoren. Er bedient einen recht mündlichen, volkstümlichen Stil. Zum Beispiel kommen unzählige Uns vor, bei denen er sich nicht um sprachliche Abwechslung bemüht hat. Aber er geht in diesem schlichten Stil mit Sprache auch bewusst um. Aramäische Zitate übersetzt er kundig für

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seine Hörerschaft. Das bekannteste Beispiel sind Jesu bewegende letzte Worte am Kreuz in Kapitel 16, wo er schreibt, Eloi, Eloi, Lema, Sabachthani, der Markus Evangelist erklärt, das heißt übersetzt, mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Auch von einigen Latinismen macht er Gebrauch, zum Beispiel Centurion, Praetorium. Auch übersetzt er für seine Hörerschaft den palästinischen Münzwert von zwei Lepta in die italische, besonders römische Währung des Quadrants. Die geografischen Kenntnisse von Israel des Markus Evangelisten entsprechen nicht der damaligen Lehrbuchlandkarte. Es kommen handfeste geografische Fehler vor. Hatte wohl auch keine

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bessere Orientierung als ich. Offensichtlich stand eben eine solche Landkarte nach damaligen Standards auch nicht zur Verfügung. Vielleicht zeugt diese Lücke in den geografischen Kenntnissen auch davon, dass er bereits längere Zeit nicht mehr in Israel unterwegs war. Der Markus Evangelist berücksichtigt, dass sich unter seiner Hörerschaft etliche nicht-jüdische Christusgläubige befinden, die von spezifischeren jüdischen Sitten nicht viel wissen. Für sie fügt er Erklärungen über jüdische Bräuche hinzu. Zum Beispiel in Kapitel 7 erklärt er den Gebrauch über das Händewaschen vor dem Essen. Das Evangelium, das Jesus schon zu seiner Wirkzeit auf Erden predigt, versteht der Markus Evangelist universal. Das heißt, dass es global ausgerichtet ist. Gottes Erwählung bezieht sich also sowohl auf die Juden als langen erwählten Volke Gottes,

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als auch jetzt auf den ganzen Rest der Welt. Sowohl Juden als auch alle anderen Nationen, also Pagane, soll das Evangelium erreichen. Für die frühe Christus-Bewegung war es eine Herausforderung, die nicht-jüdischen, also Paganen Christusgläubigen einzubeziehen, und zwar auf theologischer und auf gemeindepraktischer Ebene. Wie fügten sich die Paganen Menschen in das messianische Heil ein? Das messianische Heil war ja aus der jüdischen Religion gekommen und auch theologisch in deren Koordinaten begriffen und vermittelt worden. An diesem Punkt wurde im frühen Christentum gerungen. Sie kennen alle den Streit

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in Antiochia, in dem Paulus eine andere Position als die Anhänger des Herrenbruders Jakobus vertritt und auch Petrus Vorwürfe macht. Es war nicht selbstverständlich klar, in welches Verhältnis die Paganen sich zum Judentum stellen sollten und vollständig um vollständig und gleichauf zur christlichen Gemeinde dazuzugehören. Lassen Sie uns betrachten, wie der Markus-Evangelist mit dieser Thematik in seiner Evangeliumserzählung umgeht, konzeptionell theologisch umgeht. In welcher Weise werden die Paganen in der markinischen Erzählung in das messianische Heil integriert? Markus füllt den Begriff des Evangeliums ganz klar universal. In Markus 13,10 und 14,9. Das

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Evangelium soll allen Nationen beziehungsweise in aller Welt gepredigt werden. In der Evangeliumserzählung wird diese universelle Perspektive aber erst sukzessive Schritt für Schritt entwickelt. So richtet sich Jesus mit seiner Evangeliums-Predigt erst einmal an die Juden. Gleiches gilt für seine messianischen Wundertaten. Seine Zwölfer Postel beruft Jesus nur aus Israel. Ihre Zwölfzahl bildet die Stämme Israels ab. Doch Menschen aus nichtjüdischen Paganengegenden, Tyrus und Sidon, sind früh in der markinischen Erzählung unter dem Volk dabei, das sich um Jesus drängt. Sie werden bereits erstmalig in Kapitel 3 genannt. Unmittelbar zuvor hatten kontrastreich sich in 3,6 die jüdischen Autoritäten beraten, wie sie Jesus zu Tode bringen könnten. Diese

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gegensätzliche Bewegung setzt sich im Verlauf der Erzählung fort. Wenn jüdische Autoritäten Jesus ablehnen oder sogar seine Jünger ihm Unverständnis entgegenbringen, wird oftmals von Paganen erzählt, die auf Jesus zugehen und seine Messianität erkennen. Auf der einen Seite haben wir also das starke Bedürfnis Paganer Menschen nach jesu messianischen Heil. Sie verstehen seine Taten. Auf der anderen Seite, im scharfen Kontrast, steht die feindselige Ablehnung Jesu durch die jüdischen Autoritäten und zuweilen sogar auch durch das Unverständnis seiner Jünger. Dieses kontrastreiche Erzählmuster gipfelt darin, dass ein Paganer Centurio als einziger Mensch in der gesamten

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Evangeliumserzählung das Gottessohnbekenntnis über Jesus unter seinem Kreuz ausspricht. 1539. Im Kontrast zu diesem Bekenntnis hatten die Jünger Jesus verraten und verleugnet, so wie die jüdischen Autoritäten, aber auch Pagane Machthaber ihn des Todes schuldig gesprochen. Die Annäherung Jesu an die Paganen schlägt sich erzählerisch in der Form nieder, dass sich Jesus insgesamt viermal in Paganes Gebiet aufmacht. Diese Bewegung hin zu den Paganen geschieht in den Kapiteln fünf bis neun. Dann ist sie abgeschlossen. In den Kapiteln sechs bis acht verdichtet sie sich. Verdichtet sich, dass Jesus die Paganen in sein messianisches Heil integriert. Schauen wir uns hier einmal die Erzählarchitektur genauer an, um dem theologischen Konzept des

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Markus Evangelisten hier näher auf die Spur zu kommen. Als übergeordnetes Thema steht in diesen Kapiteln die Sättigung vor allem durch Brot. Das Brot steht symbolisch für das Heil, das durch Jesus den Messias erlangt wird. Der Bogen des Speisemotivs reicht von der ersten Speisung der 5000 auf jüdischem Gebiet bis hin zu der Speisung der 4000 auf nicht jüdischem Paganen Gebiet und zu einem Nachgespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern in 814 bis 21. Diese beiden analogen Speisungen tragen die Architektur dieser Einheit wie zwei Säulen. Sie bilden jeweils den Höhepunkt des messianischen Wirkens Jesu erst auf jüdischem Gebiet, dann auf Paganem Gebiet. Mit dem Motiv der

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Speise läuft für die markinische Hörerschaft ein für sie aktuelles Thema mit, das sie immer wieder in ihren Gemeinden beschäftigt. An der Speise zeigte sich nämlich die Grenze zwischen den zwei Gruppierungen von Juden und Paganen am deutlichsten. Der antijochenische Konflikt in Galata 2, der nun einige Jahre zurück lag, mag für Gerede auch in den frühen christlichen Gemeinden gesorgt haben. Er hat Diskussionen über die Tourarregelung bezüglich der Speisen nach sich gezogen. Sie finden in dem lukanischen Bericht über das Apostelkonzil ihr Echo in Apostelgeschichte 15. In Markus 7,15 hört die markinische Gemeinde nun, wie Jesus klare Position zur Speisefrage bezieht. Der Grundsatz, dass alle Speisen rein sind, wird in diesem kurzen Text zwei weitere Male wiederholt,

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Verse 17 und 18. In Kapitel 7 der Erzählung hören sie, wie Jesus selbst die Grenze mit der Aufhebung der Speisegesetze überwindet. Im Blick ist nach dieser Aufhebung der Speisegesetze mit den zweiten Speisungswunder der 4000 in Kapitel 8 eine universelle Tisch- und Heilsgemeinschaft, also eine Gemeinschaft, in der alle Juden und Pagane in gleicher Weise teilhaben können. Schauen wir uns also diese Erzählung kurz einmal näher an. Die zwei Speisungen sollen zumindest auch allegorisch gedeutet werden. Jesus selbst gibt in Markus 8,19 bis 21 den Deutungshinweis für eine übertragene Bedeutung, wenn er seine Jünger nach der Bedeutung der übriggebliebenen

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Körbe der beiden Brotwunder fragt. Die Doppelung der Erzählung, zweimal ein sehr ähnliches Speisungswunder, will aus ihren jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschieden heraus erklärt werden. Ihre reiche Zahlensymbolik, mit der beide Erzählungen angefüllt sind, möchte aufgeschlüsselt werden. Die zahlreichen Anspielungen auf das Alte Testament und andere bekannte Motive wollen allegorisch verstanden werden. Wenn Jesus die Frage in 8,19 bis 21 auf beide Speisungen bezieht, wird die Hörerschaft dazu ermuntert, die beiden Speisungen zusammen zu sehen und als Rahmen für das zu verstehen, was sich zwischen den Speisungen ereignet hat. Die beiden Speisungen sind parallel gegliedert in Einleitung, erbarmen Jesus über die Menschenmenge, eine Essensbestandaufnahme und jeweils der Einwand der Jünger, dann wird die Speisung

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ausgeführt und der Erfolg der Speisung festgestellt. Die erste Speisung auf jüdischem Gebiet findet genauer am jüdisch besiedelten Westufer des Sees Genezaret statt. Die zweite Speisung spielt sich in der Decapolis ab, welche vorwiegend Paganesgebiet ist. Vor der ersten Speisung ziehen sich Jesus und seine Jünger in die Wüste zurück. Statt hier die ersehnte Einsamkeit genießen zu können, folgen ihnen große Menschenmengen. Die wiederholt erwähnte Kulisse lässt an die Wüstenwanderung Israels denken. Mose hatte das Manna verteilt. Jesus hat Mitleid mit der Menge, weil er sie als Schafe wahrnimmt, die keinen Hirten haben. Die Schafherde ist deutliches Symbol für Israel. Wenn sie in 639 auf grünem Gras dort die Gruppen lagern, lässt die Erzählung

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unüberhörbar die Exodus-Tradition und den 23. Psalm anklingen. Die Volksmenge in der zweiten Speisung wird in Markus 8,3 hingegen dadurch charakterisiert, dass sie aus der Ferne kommen. Die Ferne passt zur jüdischen Perspektive auf die nicht-jüdischen Nationen. Die Zahlen der Erzählung dominieren und unterscheiden sich in den beiden Erzählungen auffällig voneinander. In der ersten Brotvermehrung kreisen sie um 5 und 12. Der jüdische Kontext lässt bei den fünf Broten sofort an die fünf Bücher Mose der Thora denken. Gottes Wort und Weisheit wurden oft als Brot symbolisiert. Sprüche 9, die Weisheit, Deuteronomie um 8, auch in Philo. Die zwölf übriggebliebenen Körbe stehen für das in der Erzählung bereits präsente Volk Israel und symbolisieren durch

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den Rest das messianische Heil, das in Überfülle vorhanden ist. Die Anzahl der Speisenden mit 5000 passt wiederum zur Fünfzahl. Die zweite Erzählung kreist um die Zahlen 4 und 7. Die Anzahl der Speisenden mit 4000, die Zahl der Brote als 7 und der übriggebliebenen Körbe ebenfalls als 7, enthalten allesamt die Bedeutung von Universalität. Vier Winde und Himmelsrichtungen repräsentieren die Welt als Ganzes. 7 ist schlechthin die Zahl für den Universalismus und für eserologisch umfassende Fülle. Die Jünger, die das Neue Israel repräsentieren, und Jesus selbst, nehmen an der Speisung der Paganen selber teil. Wir haben es hier also

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nun mit einer universalen Tischgemeinschaft zu tun. Dazu passt die liturgische Danksagung in Markus 8,6 mit eucheres Dein, also danken, während in der ersten Speisung das jüdische Eulogäen, also Segnen formuliert wird. Die Abfolge des Dankens, Brotsegnens und Brotbrechens erinnert unwillkürlich an die gottesdienstliche eucharistische Tischgemeinschaft. Die Rahmung von 6,45 bis 7,37 durch die jüdische und universelle Speisung lässt uns jetzt neugierig werden, wie wir die dazwischenliegenden Erzählungen in dieser Hinsicht deuten können. Dass Hindernisse überwunden werden mussten, damit die Nichtjuden in Jesu messianisches Heil integriert wurden, zeigt besonders deutlich die Erzählung von der Syrophynizierin. Ging es in 7,1 bis 23 gerade

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konkret um die Reinheit von Speisen, geht es jetzt in 7,24 bis 30 in der Erzählung von der Syrophynizierin um die Reinheit von Menschen, konkret von Paganenmenschen. Die Frau wird in der Erzählung dezidiert als Griechin bezeichnet. Verstärkend wird ihr Herkunftsgebiet Syrophynizien genannt. Das ist Paganes Gebiet. Damit ist sie der einzige Pagane Mensch in der ganzen Evangeliumserzählung, der dezidiert als solcher bezeichnet wird. Das zeigt, dass sie eine paradigmatische Rolle für die Nichtjuden einnimmt. Sie ist außerdem der erste Pagane Mensch, mit dem Jesus in der Erzählung dialogisiert. Die hellenistische Mutter bittet Jesus, den Dämon aus ihrer Tochter

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auszutreiben. Jesus antwortet zunächst abweisend. Er sei zuerst zu den Kindern Israels gekommen und bezeichnet die Paganen schroff und despektierlich als Hunde. Der Hund steht für Unreinheit. Mit dem Motiv der Unreinheit ist der Bezug zur vorherigen Perigruppe geschaffen. Mit dem zuerst zu den Kindern Israels steht trotz aller Schroffheit in dieser Aussage eine Tür offen. Denn Jesus formuliert nicht ein exklusives nur zu den Kindern Israels. Die Syrophynizierin ergreift diese Chance der geöffneten Tür. Das Bildwort, in dem die beiden dialogisieren, bringt erneut die Tissituation in den Blick. In dem Bildwort kommen das Brot, Krumen sowie der Tisch mit der Dimension

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unter dem Tisch vor. In 727, ich lese es einmal vor, unterstracht zu ihr, lasst zuerst die Kinder satt werden, denn es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen. Sie aber antwortete und spricht zu ihm, ja Herr, auch die Hunde essen unter dem Tisch von den Krumen der Kinder. Und er sprach zu ihr, um dieses Wortes willen geh hin, der Dämon ist aus deiner Tochter ausgefahren. Das messianische Heil Jesu wird in dem Bildwort also durch die Metapher des Brotes ausgedrückt. Das Brot zieht sich ja als Leitmotiv durch die ganze Erzähleinheit von Markus 6 bis 8. Es ist eine von insgesamt drei Metaphern in der bildhaften Antwort Jesu. Neben

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dem Brot spielen das Kind und die Hunde eine Rolle. Die drei Metaphern interagieren miteinander und lösen folgende Dynamik aus. Es geht darum, Anteil an dem Brot zu erlangen. Die positiv bedeuteten Kinder, also die Juden, werden den negativ bedeuteten Hunden, also den Nichtjuden, den Paganen, im Anrecht auf das Brot vorgeordnet. Zuerst. Die Syrophinizierin greift Jesu vorgebrachte Metaphern auf und akzeptiert zunächst diese Dynamik und Hierarchie. Sie stellt sie nicht in Frage. Jedoch ist die Syrophinizierin geschickt, eine kluge Frau. Sie führt eine vierte Metapher ein, die sie von dem Brot ableitet, nämlich die Krumen des Brotes. So überlässt sie das Brot den

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Kindern, spricht die Vorrangstellung den Juden nicht ab, stellt jedoch mit dem Brot, mit den vom Brot abfallenden Krumen ein Komplementär für die Hunde bereit. Die Krumen wiederum kennen wir aus den Speisungsgeschichten. Sie sind die Überbleibsel nach beiden Speisungen in großer Menge und stehen damit für die Fülle des messianischen Heils. Durch diesen Erzählkontext ist die Bedeutung der Krumen aufgewertet, stark aufgewertet. Die Krumen stehen dem Brot nicht mehr nach und entsprechend werden im Erzählverlauf auch die Hunde aufgewertet. Die Hunde stehen ja den Kindern noch in 727 negativ gegenüber, der Letzteren als Gottesvolk, das Heil zu steht, den Nichtjuden hingegen zunächst nicht. Als Kind wird dann aber in 37 die Tochter der Syrophinizierin

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bezeichnet, die in dem Bildwort von 727 bis 28 noch zu den Hunden zählte. So wird auch dieser Kontrast zum Ende der Erzählung aufgelöst. Mit dem Bildwort Jesu, das die Syrophinizierin aufgreift und weiter spinnt, ist auch die Stellung der Paganen am Tisch in den Blick gekommen. Die Syrophinizierin hatte in ihrer bildhaften Rede die Hunde unter dem Tisch platziert und damit die Hierarchie, dass die Juden vor den Nichtjuden am Zuge sind, akzeptiert. Dieses Bild wird für die Frage nach der Tischgemeinschaft der markinischen Gemeinde transparent. Die von der Syrophinizierin akzeptierte Hierarchie wird in der nachfolgenden Erzählung der heidnischen Speisung der 4000

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überwunden. Denn in Markus 8, 1 bis 9 lagern die Paganen nicht an einem untergeordneten Ort, sie lagern da nicht unter dem Tisch, sondern genauso wie in der Speisung der jüdischen 5000 auf dem Boden, sich sattessend an der Überfülle des Brotes Jesu. Mit diesem integrativen Bild möchte ich meine Überlegungen zum Markusevangelium gerne abschließen. Es ist für mich ein wunderbares Bild der Einheit in Gleichheit, die erst errungen werden musste, sukzessive. Es musste eines zum anderen kommen, bis alle integriert sind. Die Frau hat sich getraut, sich für das Heil ihrer Leute einzusetzen und das messianische Heil Jesus abzuringen. Und sie war

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erfolgreich. Sie hat errungen, dass Jesus sich nun in gleicher Weise mit seinem messianischen Heil Juden sowie Paganen zuwendet. Universal alle Menschen mit seinem messianischen Heil versorgt, ohne Ansehen der Person. 4000 Menschen speisen darauf hin zusammen, erzählt uns der Markusevangelist. Es sind Menschen aus Paganem Gebiet und es sind mit Jesus und den Jüngern Juden. Sie alle werden daraufhin nach der Speisung hören, was wahre Nachfolge Jesu bedeutet. Sie werden in Kapitel 9 alle in die Nachfolge gerufen, ob Juden oder nicht Juden. Für mich klingt hier noch eine andere Stelle im Neuen Testament an, meine ganz persönliche Lieblingsstelle. Sie steht

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im Kontext einer zerbrochenen Tischgemeinschaft, in der Juden und Pagane nicht mehr in gleicher Gemeinschaft miteinander am Tisch saßen. Paulus hält dieser zerbrochenen Tischgemeinschaft in Antiochia Galata 3 27 bis 28 entgegen. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche. Hier ist nicht Sklave noch Freier. Hier ist nicht Mann noch Frau. Denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Diese Botschaft, für die sich in ähnlicher Weise auch die Syrophynizierin im Markusevangelium eingesetzt hat und mit der sie erfolgreich war, kann uns heute zu Pfingsten erneut bewegen, in Bewegung setzen, aufeinander zu.

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Gottes Geist wirkt Einheit und Gleichheit vor Gott durch alle unsere Verschiedenheiten hindurch, durch die wir bestimmt sind. Vereint sind wir in der Nachfolge Jesu, die dem Nächsten dienen will, jeder Nächsten und jedem Nächsten.

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Das Markus Evangelium | 9.3.1

Worthaus 9 – Tübingen: 9. Juni 2019 von Dr. Heidrun Mader

Seit Jesu Tod sind erst wenige Jahrzehnte vergangen. In Rom lässt Kaiser Nero die ersten Christen verbrennen, kreuzigen, den Löwen vorwerfen. Geschichten machen die Runde über einen Kaiser, der Kranke heilt und dem Wind gebietet. In dieser Zeit wurden auch jene Erzählungen gesammelt, die von einem anderen Krankenheiler und Wundertäter berichten: Das Markus-Evangelium. Die Theologin Heidrun Mader nimmt die Zuhörer mitten hinein in diese Geschichtensammlung. Sie erklärt, was die Berichte von von Jesu Leben, Leiden und Sterben für die Menschen damals bedeuteten, was sie auch uns heute noch sagen und wer das eigentlich war, dieser Markus, der ein ganzes Evangelium geschrieben haben soll.
Dieser Vortrag ist der erste in unserer Reihe VORWORTE. Hier sammeln wir Vorträge, die in ein biblisches Buch einführen. Zuerst also: Das Markus-Evangelium.