Themenbereich: Verständnis der Bibel
Wer aus der Geschichte lernen möchte, wird relativ neugierig an die uralten Texte herangehen, die Simone Paganini in diesem Vortrag unter die Lupe nimmt. Aber welche Aktualität haben diese Schriften noch für heute? Haben sie uns noch Wichtiges zu sagen? Und wenn ja: Was? Wer diesen Fragen auf den Grund geht, steht unweigerlich vor einigen Herausforderungen. Denn die Aussagen dieser Texte wurden in ganz konkreten Situationen vor tausenden Jahren gemacht. Ist es da nicht seltsam, diese auch in unserer, ganz anderen Zeit als relevanten Beitrag verwenden zu wollen?
Besonders problematisch ist zudem, dass die prophetischen Aussagen weder einheitlich noch eindeutig sind. Das macht schwer, absolute Lehr- und Glaubensaussagen mit ihnen zu begründen. Simone Paganini wirbt an dieser Stelle dafür, die Texte einer „Aktualisierung“ zu unterziehen. Er weist daraufhin, dass die Sozialkritik der Propheten von der Wirkung lebte, die sie erzielte. Die Botschaften wollten schockieren und haben deshalb oft keine sachliche Sprache benutzt. Es kommt also entscheidend auf die damalige Situationen an, in der diese Worte ihre Wirkung entfaltet haben. Heute werden diese Worte aber heute nur selten dieselben Reaktionen hervorrufen. Also wie sind die prophetischen Texte in unsere Zeit zu übertragen, um ihre ursprünglichen Aussagen erfahrbar zu machen?
Hier macht Paganini zunächst klar, dass wir nicht die ersten Adressaten dieser Texte sind. Und dass es Demut erfordert, sich als heutiger Hörer in die zweite Reihe zu stellen und nicht so zu tun, als wüsste man sofort, was die prophetische Botschaft bedeutet, nur weil man die deutschen Worte versteht. Aber wer mit dieser Grundhaltung startet, der wird Paganinis Einladung verstehen, die Interpretationslinien in den alten Texten zu ergründen und sich vielleicht sogar auf die Reise machen, ihnen bis in unsere Zeit zu folgen.
Simone Paganini präsentiert einen exegetischen Ansatz, der dem einen oder der anderen Zuhörenden durchaus »das Blut in den Adern gefrieren« lassen kann. Denn er negiert zunächst die historische Relevanz des Textes und konzentriert sich rein auf den literarischen Inhalt. Er macht klar, dass Propheten eigentlich immer ein ziemlich übles Los nach dem folgenden Muster gezogen haben: »Es gibt eine Notsituation. Deshalb beruft Gott einen Propheten. Der will aber nicht. Er bittet Gott dann aber um ein Zeichen, um den Job dann doch zu machen. Und am Ende scheitert er, weil niemand die Botschaft Gottes hören oder befolgen möchte.« Dieses Muster wird in der Regel mit den Worten »Und es erging das Wort des Herrn an« eingeleitet und der literarische Exeget weiß dann schon wie der Hase läuft – so ähnlich wie bei der Standard-Märchen-Eröffnung »Es war einmal«. Doch sind die prohetischen Erzählungen auch fiktive Geschichten? Und wäre es tragisch, wenn beispielsweise die Jona-Geschichte eine rein fiktive Erzählung ist? Steckt nicht auch in dem Text allein die entscheidende Botschaft?
Diesen Fragen geht Simone Paganini nach und macht dabei deutlich, dass der »Gott der Propheten« eine klare Vorstellung davon hat, wie eine Gesellschaft sein sollte: Solidarisch. Es geht um die Unterstützung der Armen und Unterdrückten, um Kritik an den Mächtigen und der damit verbundenen Ungleichheit. Und die ist leider keine Fiktion, sondern knallharte Realität – damals wie heute.
Mit Verve widmet sich Siegfried Zimmer dem Thema, das in der Christenheit in den letzten Jahren wahrscheinlich so intensiv und kontrovers diskutiert wurde und immer noch wird, wie kaum ein anderes. Und das Thema hat es ja auch in sich! Ein Blick in den Rückspiegel der Geschichte zeigt deutlich, dass Schwule und Lesben in christlich geprägten Gesellschaften genauso extremer Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt waren wie in fast allen Gesellschaften auch – nach dem Prinzip: Sozial geächtet, religiös verdammt.
Dieser Blick ist aber auch ein trauriges Lehrstück für einen im großen Stil betriebenen manipulativen, voreingenommen Umgang mit biblischen Texten. Siegfried Zimmer zeigt dies eindrücklich an der Geschichte von Sodom und Gomorra. Sie musste in der christlichen Welt jahrhundertelang herhalten, um eine homophobe Sicht zu untermauern, während ihr eigentlicher Inhalt komplett ausgeblendet wurde. Aber Siegfried Zimmer geht noch weiter: Alle – es sind überraschend wenige! – Bibelstellen, die sich mit gleichgeschlechtlicher Liebe befassen könnten, werden von ihm in ihrem Textumfeld und vor dem gesellschaftlichen Kontext ihrer Entstehung beleuchtet.
Dabei stellt er schließlich die berechtigte Frage, ob es ein Ausdruck von Gottes Liebe für seine Geschöpfe ist, wenn »seine Kinder« in den letzten 1.800 Jahren schweigend und tatenlos bei der Hinrichtung und Ächtung von Lesben und Schwulen zugesehen haben? Und ob es nicht an der Zeit ist, sich dafür zu schämen, dass Christen die Kernbotschaft des christlichen Glaubens, die Botschaft des liebenden Gottes, zugunsten von einem eigenen Unwohlsein gegenüber Menschen, die ihnen fremd sind, geopfert haben?
Die Basketball-Legende Charles Barkley brachte es in einer Debatte über Homophobie im April 2015 so auf den Punkt: »Die Konservativen verstecken sich hinter der Bibel. Sie mögen einfach keine Schwulen. Sie sollten das einfach zugeben.« Wenn man den Ausführungen von Siegfried Zimmer folgt, fällt es schwer Charles Barkley nicht zuzustimmen. Denn nüchtern betrachtet ist die Ablehnung von schwulen oder lesbischen Partnerschaften aus biblischer Perspektive nicht haltbar. Oder zugespitzt gesagt: Menschen aufgrund eines Persönlichkeitsmerkmals im Namen der Bibel und des Mannes aus Nazareth zu diskriminieren ist nicht nur unredlich, sondern auch ein schwerer Missbrauch.
Ist die Bibel göttlich, ist sie unfehlbar, ist sie vollkommen? Ja, würden viele Christen auf diese Frage antworten. Nein, antwortet Siegfried Zimmer. Er nimmt einer gut gemeinten, aber unangemessenen Sicht auf die Bibel den Wind aus den Segeln. Göttlich ist nur Gott, lautet Zimmers Credo. Schließlich sei die Bibel entstanden, Gott aber nicht, schließlich habe die Bibel einen Entwicklungsprozess, Gott aber nicht, schließlich sei Gott fehlerlos, die Bibel aber nicht. Zimmers Botschaft ist herausfordernd, steckt aber voller Aha-Momente.
Über Unterschiede reden Christen gemeinhin mehr als über Gemeinsamkeiten. Es hat etwas Befreiendes, dass Siegfried Zimmer den Spieß einmal umdreht und das Einende zum zentralen Thema macht, Brücken baut statt sie einzureißen. Erstaunlich ist, wie groß die Schnittmenge aller christlicher Gruppen bei genauem Hinsehen ist. Alle Christen akzeptieren die Bibel, alle Christen vertrauen auf Gott, lieben alle Gott, setzen ihre Hoffnung auf Gott, keinem Christen ist der Wille Gottes egal. Diese Gemeinsamkeiten deutet Zimmer als das, was sie sind: Ein Wunder.
Mit der Bibel ist das so eine Sache. Christen und Nichtchristen reiben sich an ihr, an ihren Widersprüchen, an ihrer herausfordernden Botschaft. Ohne die Bibel hätte der christliche Glaube vermutlich kaum überlebt. Aber ist die Bibel auch Gottes Wort? Ja, sagt Wilfried Härle, und zwar, in dem sie den Mann aus Nazareth bezeugt und indem sie Menschen im Leben und im Sterben Hoffnung schenkt. Wilfried Härle sieht zwar keine uneingeschränkte Autorität der Bibel, denn es gibt auch Botschaften der Bibel, denen man widersprechen müsse, trotzdem sei sie eine Instanz. Als Vermittlerin von Glauben, als Werk, das einstehe für das Wirken Gottes in der Welt.
Die Bibel ist merkwürdig. Wer das sagt, der mag es spöttisch meinen. Wilfried Härle sagt es voller Anerkennung. Denn das Buch der Bücher ist eigentlich gar kein Buch, sondern eine Bibliothek verschiedener Bücher in verschiedenen Sprachen, es ist innerhalb eines Zeitraums von 700 Jahren entstanden, ist verwirrend vielstimmig und vielperspektivisch, sich selbst widersprechend und bildet doch eine geheimnisvolle Einheit, ist nicht Alltagsgeschwätz und doch alltagstauglich. Wilfried Härle gibt einen eindrücklichen Überblick über die Bedeutung der Bibel für den Glauben, aber auch für Kultur und Gesellschaft.
Allein schon das Thema, dem sich Stefan Schreiber stellt, mag den ein oder anderen erstaunen. Der Jesus der Bibel – das muss doch wohl der historische Jesus sein? Nein, antwortet der Theologe. Er gibt Einblick in der Forschungsstand der modernen Bibelwissenschaft, die zwischen dem Jesus, den die vier Evangelien präsentieren und dem Jesus, wie er tatsächlich gelebt und gewirkt hat, unterscheidet. Eine spannende und bisweilen gar provokante Perspektive. Und Stefan Schreiber erläutert wie die moderne Bibelwissenschaft darauf gekommen ist, von historischen und nicht-historischen Jesus-Zitaten in der Bibel zu sprechen und Jesus ganz als Repräsentant der Königsherrschaft Gottes in den Blick zu nehmen.
Was wie ein Buch aussieht, ist eigentlich eine Sammlung von 27 Büchern. Wie ist daraus bloß das neue Testament entstanden? Stefan Schreiber eröffnet auf den Entstehungsprozess lauter überraschende Perspektiven. Er deutet die Evangelien als sich durchaus widersprechende Jesus-Biografien, erläutert warum und wie die neutestamentliche Forschung zwischen echten und nicht-originalen Paulus-Briefen unterscheidet, berichtet, wie das Christen- aus dem Judentum erwuchs. Sein Vortrag ist eine Reise in das Werden »des zweiten Teils« eines der meistgelesenen Bücher der Welt, die Neuentdeckung eines Jahrhunderte alten Buchs.
Obwohl die Geburtsgeschichte von Jesus aus Nazareth die wahrscheinlich berühmteste Geschichte des zweiten, neueren Teils der Bibel ist. Und obwohl diese Geschichte seit Jahrhunderten jedes Jahr in allen christlichen Kirchen der Welt gelesen wird, wird sie seltsamerweise nie bis zum Ende gelesen. Der letzte Vers wird immer weggelassen!
Warum das so ist und warum das Weglassen des Endes alles andere als eine akademische Randnotiz ist, erklärt Siegfried Zimmer mit Nachdruck und Verve. Dabei zeigt er nicht nur wie literarisch formvollendet diese Geburtsgeschichte gestaltet ist, wenn man sie vollständig liest. Er entlarvt auch die »zuckersüße Weihnacht« mit dem Kindlein in der Krippe als ein heimeliges, kleinbürgerliches Produkt der Neuzeit und öffnet den Blick für eine neue, ungeahnte Dimension dieser altbekannten Geschichte: Auf einmal geht es um die Verlierer der Weltpolitik und eine Gegenkraft, eine Hoffnung, die dem Angesicht einer brutalen Wirklichkeit standhält. Nicht weil sie wegschaut, sondern weil jemand genau hinschaut.
Was bedeuten die Dinge, die in der Bibel stehen? Dieser Frage geht Manfred Oeming nach. Seine überraschende Antwort: Vieles. Es kommt darauf an, wer den Text liest. Ein Gebildeter oder ein Ungebildeter, ein Alter oder ein Junger, eine Frau oder ein Mann, ein Reicher oder ein Armer, ein Europäer oder ein Araber. Die Bibel hat allen Menschen etwas zu sagen, aber sie sagt jedem etwas anderes. Heraus kommt kein Chaos an Deutungen, sondern ein Reichtum an Sichtweisen, eine Fülle des Verstehens, eine einmalige Multidimensionalität. Die Bibel spricht ins Leben von Menschen, sie zeigt auf ganzer Breite Auswege, Perspektiven, Hoffnungen. Manfred Oeming bringt es auf eine klare Formel: Bibelleser wissen mehr.
Für die Christenheit ist das Alte Testament von jeher eine einzige Herausforderung gewesen. Die ersten Christen überlegten, es komplett zu verwerfen, die Aufklärung verdammte es als ethisch inakzeptabel, die Romantik verklärte es als wahrhaft menschlich. Irgendwo dazwischen liegt vielleicht die Wahrheit, nach der sich Manfred Oeming auf die Suche macht. Dass der Alttestamentler eine Lanze für das Alte Testament bricht, überrascht vielleicht nicht so sehr, wie er das tut, dagegen schon. Er hat viel zu sagen dazu, dass die Bibel der Juden auch den Christen viel zu sagen hat. Über das Leben an sich, über die menschliche Existenz, über Liebe und Erotik, über Antworten auf Fragen, die das Leben stellt. Manfred Oeming zeigt das Alte Testament als das, was es ohne Zweifel ist: Ein gleichwertiger Gesprächspartner im Boot des Glaubens.