Die Dichtung des Glaubens In der Hier-Dichtung wird dargestellt, wie ein Mensch im Leid sich Gott gegenüber verhält und gegenüber Freunden, die ihn trösten wollen. Von der Zeit der Entstehungszeit der Hier-Dichtung bis in unsere Gegenwart haben viele gläubige Menschen die Worte des Hier als sehr irritierend und provozierend empfunden. Sowohl im Judentum als auch im Christentum hat es sich immer wieder herausgestellt, dass sich das Verhalten Hiops nur schwer in Einklang bringen lässt mit den anerkannten Formen der Frömmigkeit.
Die Einschätzung der Freunde Hiops, dass die Reden Hiops, Zitat, die Andacht und die Ehrfurcht vor Gott zerstören, hat vielfache Bestätigung gefunden. In der Geschichte der Christenheit, bei den großen Lehren der Christenheit, wird auch beim Thema Leid die Hier-Dichtung so gut wie nie zitiert. Zitiert wird nur die Hier-Novelle mit dem Hiop, der im Leid ganz treu bleibt. Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Aber die Hier-Dichtung, dieser wilde rebellische Hier ist in der ganzen Geschichte des Christentums kaum vorgekommen. Erst im 20. Jahrhundert hat die Hier-Dichtung zahlreiche Zustimmung gefunden.
Nach den beiden Weltkriegen, dem Holocaust, nach Auschwitz und Hiroshima und den ganzen großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, da wurde der rebellische Hier eigentlich erst entdeckt. Fragen wir uns mal, welches Ziel hatte eigentlich der Autor der Hier-Dichtung mit seiner sehr schwer verdaulichen Hier-Darstellung? Welches Ziel hat er verfolgt? Und wir müssen auch fragen, wie berechtigt ist dieses Ziel? Wenn wir diese beiden Fragen beantworten wollen, dann müssen wir als erstes die Ausgangslage des Hiops genau beachten,
aus der heraus Hiop so gehandelt hat, reagiert hat, wie er reagiert hat. Ich will also als erstes versuchen, die Ausgangslage, die Situation des Hiop möglichst genau zu beschreiben. Also erstens die Ausgangslage Hiops. Hiop befand sich in schwerem Leid. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um eine für unheilbar gehaltene Krankheit, die auch das Aussehen Hiop sehr unvorteilhaft verändert hat und die ihn von den Menschen isoliert hat. Vermutlich können wir davon ausgehen, dass es sich um Aussatz handelt, obwohl das in der Hier-Dichtung nie genau geklärt wird.
Hiop wird ständig von Schmerzen gequält. Weder am Tag noch in der Nacht findet er Ruhe. Er ekelt sich vor sich selber und vor dem Leben, das er führen muss. Für die Menschen in seiner Umgebung, also die Bediensteten seiner Familie und seine Familienmitglieder selber, für die war Hiop wie ein Fremder geworden. Und dementsprechend behandelten sie ihn auch. Sie nehmen sich ihm gegenüber Dinge heraus, die sie sich früher niemals herausgenommen hätten. Man begegnet Hiop ohne Respekt. Hiop besitzt keine Autorität mehr. Vor allem die jungen Leute nehmen ihn nicht mehr ernst.
Zu dieser medizinischen und psychologischen Situation kommt in der Antike noch ein religiöser Aspekt erschwerend hinzu. Die Antike geht davon aus, dass alles Leid mit Gott zu tun hat. Die gesamte Antike ist davon überzeugt, dass Krankheiten eine Strafe der Götter sind bzw. eine Strafe Gottes ist, nämlich für falsches Verhalten der Betreffenden oder seiner Vorfahren. Das gilt auch für Israel. Ich habe ja in einer der früheren Vorlesungen auf Psalm 88 hingewiesen. Martin hat diesem Psalm teilweise zitiert. Da merkt man das also auch. Schwere Krankheit ist eine Strafe Gottes.
Das war auch im Alten Testament so. Für chronisch Kranke, dauerhaft Kranke oder für Körperbehinderte war diese Überzeugung natürlich niederschmetternd. Man konnte deshalb die Krankheit gar nicht so produktiv annehmen, wie man es heute kann, wo wir nicht mehr der Überzeugung sind, dass Krankheit eine Strafe der Götter ist. Aber so ging es in der Antike nicht, vor allem gerade beim Aussatz, der die Menschen besonders isoliert hat. Ich erinnere mich an eine Begegnheit. Ich habe mal bei dem vorletzten Kirchentag in Stuttgart ein Erzählseminar gehalten. Im Haus der Wirtschaft waren vielleicht 400, 500 Leute da. Und da erzählte ich eine Heilungsgeschichte.
Jesus heilt die zehn Aussätzigen, aber nur ein einziger kehrt um. Und dann nach dieser Erzählung habe ich gesagt, wir sind zwar ein paar hundert Leute, aber traut euch, wie hat die Erzählung auf euch gewirkt? Und es kam dann durchaus so an Art Gespräch zustande. Aber der erste Fragesteller, den werde ich nie vergessen. Er saß ganz hinten in der letzten Reihe. Damals habe ich noch normal sehen können, es war ein Mann im mittleren Alter. Ich habe ihn nie vorher und nie nachher wieder gesehen. Der meldete sich und sagte, Herr Zimmer, ich finde es saublöd, was Sie da machen. Da kommt der tolle Jesus und schnickelt die Bumm, heilt er mal die Leute so. Was ist denn das für ein Mist? Können Sie nicht besser erzählen, dass ein Kranker in seiner Krankheit auch reifen kann?
Dass er sensibler wird, dass man aus seiner Krankheit was lernen kann? Auf die Idee sind Sie scheinbar nicht gekommen. Er war wirklich sehr provokant. Ich habe in Sekundenschnelle vermutet, dass er selber oder in seinem Umfeld Krankheitsprobleme aufgetreten sind und die Betreffenden diese Krankheit tapfer angenommen haben, in ihr gereift sind, sensibler geworden sind. Und dann habe ich zu ihm gesagt, ich finde Ihren Beitrag ganz richtig. Er ist zwar ein bisschen scharf vorgetragen, aber ich darf Ihnen versichern, ich denke genauso wie Sie. Aber dass Sie so denken können, wie Sie jetzt denken, das verdanken Sie dem 19. und 20. Jahrhundert, denn wir sehen Krankheit nicht mehr als Strafe Gottes an.
Dann können wir mit dieser Krankheit viel produktiver umgehen. Aber in der Antike war das nicht möglich, denn der schlimmste Aspekt der Krankheit, schlimmer als die körperlichen und seelischen Qualen, war die Überzeugung, ich bin von Gott verstoßen. Und dann kann man in der Krankheit nicht reifen. Er hat dann nichts mehr gesagt und so war es eben. Also ich finde diesen Beitrag gut. Ja, aber damals eben kam dieser Aspekt noch erschwerender zu. Und deswegen kann man in der Antike in einer schweren, dauerhaften Krankheit ist man fix und fertig. Also Hiob hatte seine menschliche Würde verloren und seinen Halt in Gott.
Er fühlte sich von Gott und von den Menschen verraten und war enttäuscht. Er konnte das alles auch gar nicht begreifen. Das Ausmaß an körperlichem, seelischem und religiösem Leid überforderte ihn und er ist daran zerbrochen. Zitat, ich lebte ungehindert oder ich lebte unerschrocken oder ich lebte glücklich. Da zerbrach er mich. Er packte mich bei meinem Nacken und zerschmetterte mich. Die Verfassung, in der Hiob war, kommt gut dadurch zum Ausdruck, dass Hiob den Tag seiner Geburt verflucht hat und dass er seinem Leben ein Ende wünscht,
dass er sterben will. Das ist so seine Verfassung. Und Hiob sah seine Krankheit nicht als sein Privatangelegenheit an. Er wusste, dass er kein Einzelfall war. Es gab so viele Leidende, mit denen fühlte er sich verbunden. Alle Leidenden, die von ihrer Krankheit überfordert waren, die sie weder bewältigen konnten noch überwinden konnten, die sich nach dem Tod sehnten, die waren in seiner Situation. Und er erhob auch seine Stimme für sie und er klagte zu Gott im Namen aller Leidenden, die ihre Krankheit nicht begreifen und nicht bewältigen konnten,
sondern ihren Tod wünschten. Das war die Ausgangslage von Hiob. Hiob war der Meinung, dass sowohl bei den anderen Leidenden als auch bei ihm, dass nicht ihre Sünden der Grund für diese schlimme Krankheit war. Hiob selber hielt sich keineswegs für sündlos. Es gibt also Stellen, wo ihm völlig klar ist, er sündigt jeden Tag, aber die anderen ja auch. Aber die Sünden der Schwerleidenden eignen sich überhaupt nicht als Erklärungsgrund für ihr dermaßen schweres Leid. Das stand ja in keinerlei Verhältnis zu dem, was man ihnen vorwerfen kann. Und dann kommt noch dazu, dass es den rücksichtslosen und brutalen und skrupellosen Menschen oft viel besser geht.
Also an dem Ausmaß ihres Leids sind die Leidenden und er nicht persönlich schuld. Diese Unschuldsgewissheit, die hat Hiob von Anfang bis zum Ende ohne jedes Schwanken durchgehalten. Und er hat seinen drei Freunden nicht einen einzigen Millimeter nachgegeben. Es war das Missverhältnis zwischen Leid und Gerechtigkeit in der Welt und in seinem Leben, das die Empörung des Hiob hervorgerufen hat. Wer diese Empörung nicht kennt und nicht innerlich nachvollziehen kann, kann die Hiob-Dichtung nicht verstehen. Die Art, wie Hiob seine Empörung ausgedrückt hat, hat zwei Seiten.
Auf der einen Seite sind es ganz die typisch menschlichen Merkmale, die für alle Menschen gelten, für alle Leidenden. Aber auf der anderen Seite war der Hiob eine sehr spezielle Situation, die seine Klagen spezifisch gefärbt haben. Hiob war nämlich nach der Textanalyse eindeutig ein Mitglied der Oberschicht. Er hatte ein patriarchales Bewusstsein gehabt, aber das ist ihm verloren gegangen. Für Mitglieder der Oberschicht ist eine langwierige, schwere Krankheit, die als unheilbar eingestuft wird, gleichbedeutend mit einem sozialen, katastrophalen Abstieg.
Das war bei Hiob auch so. Dieses Leid hat seinen gesellschaftlichen Status dermaßen verändert, dass er, wie er selber ausdrückt, sich vorkommt, wie wenn er jetzt ein Tagelöhner oder ein Sklave oder ein Fronarbeiter ist. Die Leute haben völlig ihren Respekt verloren. Das muss man jetzt bei Hiob speziell bedenken. Deswegen genügt es nicht, wenn man Hiob nur als ein Mitglied der Menschheit behandelt oder als einer der vielen Hunderttausend Leidenden dieser Welt. Man muss seinen gesellschaftlichen Status mitberücksichtigen. Wenn Hiob nicht gerade von der Verzweiflung überspült war, trat er sehr selbstbewusst auf und klagte in scharfen Worten.
Und er stellte Gott Fragen und forderte ihn dazu auf, nun mal überzeugende Antworten zu liefern. Es ist undenkbar, dass ein Mitglied der Unterschicht, ein Tagelöhner oder ein Kleinbauer oder ein Kleinhandwerker, so geklagt hätten wie Hiob. Nein, es ist typisch Oberschicht. Und dann fällt auch auf, dass der Autor der Hiob-Dichtung auch hundertprozentig ein Mitglied der Oberschicht war. Seine gebildete poetische Sprache und auch die Art, wie er Hiob in seine Perspektive einbaut, zeigt völlig klar, ein Mitglied der Oberschicht schildert jetzt das Leiden eines Mitglieds der Oberschicht. Der Dichter, der Autor der Hiob-Novelle hat natürlich
das Phänomen Klage gekannt. Es gab ja das Buch der Psalmen schon mit seinen vielen Plageliedern. Und die Art der Klage ist eigentlich im ganzen Orient sehr ähnlich. Und da übernimmt jetzt der Autor die allgemein menschlichen Merkmale. Hiob ist schon auch ein Mensch wie alle anderen, aber er ist auch Mitglied der Oberschicht. Und als Mensch wie alle anderen stellt er in der Darstellung des Autors die gleichen typischen Fragen, wie sie alle Menschen stellen, nämlich warum und wie lange noch. Aber bei den Klagepsalmen, wenn man die mal vergleicht, ist ein sehr wichtiger Baustein in den Klagepsalmen des Psalters die Bitte, nämlich die Bitte an Gott, die Not zu beendigen,
in der die Betenden sind. Und wie geht das Mitglied der Oberschicht Hiob mit Bitten um? Ist er überhaupt gewohnt zu bitten? Das musste er ja in seinem Leben wohl kaum jemals. Da fällt also auf, dass in den beiden wichtigsten Klagen, nämlich in der Eröffnungsklage Hiob 3 und in der Abschlussklage Hiob 29 bis 30, keine einzige Bitte vorkommt. Und in den anderen Klagen auch auffallend selten. Meistens wird die Bitte bei Hiob zurückgenommen in einen Wunsch, er äußert einen Wunsch. Aber es fällt ihm wohl auch aus Statusgründen irgendwie schwer zu bitten. Und wenn man diese wenigen Bitten mal anschaut,
dann merkt man einmal, bittet er wirklich Gott, dass er noch vor dem Tod eine kleine Phase des Glücks durchleben kann. So eine Bitte gibt es an einer Stelle. Aber bei den anderen wenigen Bitten, die Hiob äußert, ist es gerade andersrum wie in den Klagepsalmen. In den Klagepsalmen bitten die Menschen, schau her zu mir, eile zu mir und solche Bitten. Aber das verkehrt Hiob in sein Gegenteil. Hiob bittet, lass ab von mir, halte dich fern von mir. So bittet Hiob. Also das ist schon eigenartig. Das hat sicher aus soziologischen Gründen. Ja, und dann kann man allgemein feststellen, Hiobs Klagen sind wesentlich schärfer als die Klagepsalmen.
Obwohl die Klagepsalmen wirklich auch nicht zimperlich sind. Die legen auch ganz schön los, sodass wir das in der heutigen Kirche gar nicht mehr gewohnt sind. Wir kennen in der Kirche eigentlich nur noch Bittgebeete. Aber so saftige Klagen. Die Kirche hat leider das Verhältnis zur Klage ein großes Stück verloren. Das habe ich ja schon ein paar Mal betont. Wir müssen die Bedeutung der Klage wieder gewinnen. Ja, also auf jeden Fall, die Klagen des Hiob sind viel schärfer. Hiob klagt nicht nur, er klagt an. Er tobt, er flucht, er schimpft, er hönt, er lästert. Ja, und dort, wo die Klagepsalmen von den Feinden reden, da werden sie ja am schärfsten in der Feindklage. Haben wir ja schon mal behandelt.
So redet Hiob von Gott. Gott ist für Hiob sein Feind. Also, das ist die Ausgangslage des Hiob. Die muss man sich so ganz sorgfältig klarmachen. Jetzt kommt der zweite Baustein. Wir untersuchen jetzt Hiobs Anklage. Also, zweiter Baustein, Hiobs Anklage. Hiob versteht seine Situation, sein Leid nicht als Einzelfall, als sein Privatproblem, sondern er stellt aufgrund seines Leids an Gott sehr grundsätzliche Fragen. Und er erwartet von Gott sachlich überzeugende Antworten.
Und diese Anklagen des Hiob berühren zwei Themenbereiche, die eng miteinander verflochten sind. Der erste Themenbereich ist die Grundstruktur dieser Welt, der Schöpfung Gottes. Und der zweite Themenbereich ist das Wesen Gottes. Und beides sieht nach Hiobs Überzeugung schlecht aus. Beides ist sehr dunkel. Er verweist auf schwerwiegende Erfahrungen, dass es keine gute Schöpfung gibt und keinen guten Schöpfer. Also wenden wir uns mal zum ersten Themenbereich, die Grundstruktur der Welt Gottes. Hiob ist der Überzeugung, in der Welt Gottes geht es ungerecht
und unmoralisch zu. Und zwar nicht bloß hin und wieder, sondern strukturell und grundsätzlich. Hiobs Leid ist ja kein seltener Ausnahmefall in einer Welt, die ansonsten eigentlich ganz in Ordnung ist. Nein, sondern es gibt viel zu viele Leidenden in der Welt. Und die müssen sich die Unberechenbarkeit Gottes alle gefallen lassen, ohne sich wehren zu können. Und das, sagt er, das ist in der Verantwortung des Schöpfers. Die Welt ist ein Chaos. Ich kann keinen sinnvollen Weltenplan und, Zitat, keinen weisen Ratschluss erkennen. Und der Schöpfer dieser Welt ist verantwortlich
für die Grundstruktur seiner Welt. Und das zweite ist das Wesen Gottes. Wenn der Schöpfer eine Welt geschaffen hat und noch immer erhält, in der es ungerecht und unmoralisch zugeht, dann ist der Schöpfer dieser Welt ungerecht und unmoralisch. Er gehört auf die Anklage, Dank. Er gehört vor Gericht gestellt. Er handelt nirgendwo nach gerechten Ordnungsprinzipien. Er handelt willkürlich, vor allem bei den Leidenden, die sich ihr seine Unberechenbarkeit gefallen lassen müssen, ohne sich wehren zu können. Gott ist ein Feind der Leidenden. Was er ihnen immer wieder zumutet, das zeigt seine Bosheit und seine Schadenfreude.
Was er den Leidenden zumutet, da tobt er sich aus. Da setzt er alle seine Fantasie und seine Machtmittel ein. Offensichtlich hat Gott eine gewisse Lust am Quälen. Und da ist er kreativ. Er fragt hier, brauchst du das zu deinem Lebensglück? Brauchst du solche Zielscheiben, wie ich es bin, dass du auf diese Zielscheiben zu deinem Zeitvertreib einen Giftweil nach dem anderen abschießt? Brauchst du das? Und hier fragt Gott, ob er nichts Sinnvolleres zu tun hat als Schöpfer und Wichtigeres, als die Leidenden zu schikanieren.
Und hier hält es für ziemlich geschmacklos, bei Schwerleidenden nach irgendwelchen Sünden herumzustochern. Ja, Gott ist offensichtlich bösartig. Gott ist ein Schuft. Die Erde befindet sich in der Hand eines Verbrechers. Was meint ihr wohl, wie diese Anklagen auf einen antiken israelitischen Bürger gewirkt haben? Was meint ihr wohl? Noch niemals hat ein Israelit so etwas zu sagen gewagt. Die Anklagen des Hiob sind von einer tabulosen Schärfe und Ehrlichkeit.
Seine Gebete passen in keine Gebetserziehung und seine Reden passen in keinen Katechismus. Und man muss sich schon fragen, darf ein Mensch so zu Gott reden? Die Klagepsalmen sind sicher nicht zimperlich. Für unsere Ohren sind die schon hammerhart. Aber die Klagepsalmen waren eine Grenze, die Hiob überschreitet. Und wir müssen schon ganz grundsätzlich fragen, darf ein Mensch diese Grenze überschreiten? Darf ein Mensch gegenüber Gott so reden? Der Autor der Hiob-Dichtung wollte aber ganz sicher zeigen, dass schweres Leid in einem Menschen so etwas hervorrufen kann.
Dass schweres und unbegriffenes Leid solche Formen annehmen kann. Interessant ist auch, wenn man wieder bedenkt, dass Hiob ja ein Mitglied der Oberschicht ist, dass aber der Autor, der ja selber Mitglied der Oberschicht ist, nirgendwo den Eindruck erweckt, dass ein Mitglied der Oberschicht bei Gott besondere Rechte hatte. Gott erscheint in der Hiob-Dichtung nirgendwo als Günstling der Oberschicht. Nirgendwo. Das vermeidet der Autor, der ja selber ein Mitglied der Oberschicht ist, ganz genau, ganz sorgfältig. Allerdings lässt er auch klar durchblicken, dass Gott nicht nur Verständnis hat für leidende Arme und Elende
und für Menschen aus der Unterschicht, sondern dass auch ein leidendes Mitglied der Oberschicht hoffen darf, dass er bei Gott Verständnis findet. Die Hiob-Dichtung ist bewusst so gestaltet, dass ein Mitglied der Oberschicht weder Vorteile hat, aber auch keine Nachteile bei Gott. Und das ist schon bemerkenswert in der Exodus-Bibel. Der Gott, der die Zwangsarbeiter aus Ägypten befreit hat. Der Gott, der die Propheten schickt mit ihrer Sozialkritik, die die Herrschenden kritisieren scharf und sich auf die Seite der Kleinbauern, der Tagelöhner stellen. Und wenn man an die armen Frömmigkeit in den Psalmen denkt und an das Erbarmensrecht der Thora, die ganz auf Seiten der Fremden, der Tagelöhner, der Sklaven steht,
ist es schon bemerkenswert, dass das Mitglied der Oberschicht auch keine Nachteile hat. Also, das alles gilt es zu bedenken. Aber die Klagen, die Hiob auf Gott loslässt, sind ungeheuerlich. Und Hiob erwartet Antworten. Jetzt kommen wir zum dritten Punkt. Hiobs Forderung nach einem Streitgespräch mit Gott. Hiob wird von Anfang an und immer wieder neu klar, dass er bei seinen Freunden keine Solidarität und keine Hilfe finden wird. Mühsam ringt er sich dazu durch, die Hoffnung auf seine Freunde aufzugeben.
Und Hiob wird immer wieder klar, dass Hiob mehrfach mitten in einer Antwortrede auf einen Freund wechselt, er auf einmal in ein Gebet zu Gott. Und er sagt zu Gott, ich würde mal gerne mit dir über die Fragen reden, über alle die Fragen reden, über die ich mit meinen Freunden nicht reden kann. Zitat von Hiob, ich will mit Gott sprechen. Er verdammt mich nicht, sondern er beantwortet doch meine Fragen. Und dieser Wunsch nach einem klärenden Aufklärungsgespräch mit Gott, dieser Wunsch nimmt im ersten Redegang schon immer mehr zu.
Und in Kapitel 14 ist das Ende vom ersten Redegang, ist aus dem Wunsch ein starkes Verlangen geworden und eine Forderung. Ich möchte mit dem Allmächtigen reden und ich will mit Gott rechten. Rechten meint ein Streitgespräch führen, ein Rechtsstreit führen. Und bis zum Ende des dritten Redegangs nimmt es immer mehr zu. Es wird das Wichtigste, was Hiob noch will im Leben, ein Streitgespräch mit Gott, ein faires Aufklärungsgespräch. Er sagt in hier 23, wenn ich doch herausfinden könnte, wo er sich aufhält, wenn ich doch einen Zugang zu seinem Thron finden könnte, dann würde ich ihm meine Sache vortragen und ich würde meinen Mund mit Beweisen füllen.
Und dann würde ich gern sehen, wie er Rede und Antwort steht. Also die Hoffnung, die hat Hiob, dass Gott anstandshalber ihm dieses Gespräch gewährt, bevor er zugrunde geht. Er will nicht ohne so ein Gespräch zugrunde gehen. Ja, und im letzten Kapitel des Redeteils, Kapitel 31, fordert Hiob nach einem Reinigungseid, den ich schon kurz angesprochen habe, fordert er Gott offiziell zu einem Streitgespräch über alle strittigen Fragen auf. Damit ist der Höhepunkt erreicht. Der Leser, Leserinnen gab es damals wohl noch kaum oder gar nicht, der Leser ist jetzt sehr gespannt, wie wird Jahwe reagieren.
Ja, also aber auf jeden Fall, Hiob fordert Jahwe zu einem Streitgespräch heraus. Das ist seine Hoffnung. Seine Hoffnung ist nicht, dass er nochmal gesund wird. Diese Bitte gibt es nie. Damit rechnet er gar nicht mehr. Aber dass Gott ihm vorher nochmal so ein Gespräch gönnt, da ist Hiob der Meinung, da ist Gott anstandshalber dazu verpflichtet. Eigentlich ist er dazu verpflichtet. Und er will Gottes Antwort hören. Er will Gottes Antwort nicht hören über religiöse Traditionen, da hat er genug. Hiob will sich nicht mehr an irgendwelchen religiösen Traditionen orientieren, die sind ihm alle suspekt geworden. Er will die Antwort von ihm selber haben.
Jetzt kommt der vierte Baustein. Hiobs Schwanken zwischen Zuversicht und nackter Verzweiflung. Hiobs Schwanken zwischen Zuversicht und panischer Verzweiflung. Hiobs Stimmungslage ist nicht stabil. Und sie wird auch niemals stabil im ganzen Redegang nicht. Es gibt zwar wenige Lichtblicke, denen ich mich gleich zuwende, aber auch diese wenigen Lichtblicke verleihen Hiob keine emotionale Geborgenheit. Er kann in diesen Lichtblicken nicht ruhig werden. Warum nicht?
Ja, einmal, er ist an Gott nach wie vor enttäuscht, fühlt sich verraten. Aber wenn er seine eigene Forderung an Gott richtet zu einem Rechtsstreit, dann kommen ihm manchmal auch urenkste, kreatürliche urenkste hoch. Hiob weiß, dass Gott ihm ungeheuerlich überlegen ist. Und hier weiß, dass man in Israel der Überzeugung ist, kein Mensch kann Gott sehen, ohne zu sterben. Also er wird dann auch wieder, er kriegt dann kreatürliche urenkste. Was fordere ich hier wirklich? Aber immerhin, es gibt vier Texte in der Hiob-Dichtung, alles nur kurze Texte, wo Hiob zuversichtlich ist. Das ist Hiob 14, 13 bis 17. Ich kann nur einen dieser Texte kurz ansprechen, nämlich den letzten.
Also das sind die einzigen kleinen Zuversichtstexte. Hiob 14, 13 bis 17, Hiob 16, 19 bis 21, Hiob 17, Vers 3 und Hiob 19, Vers 25 bis 27. Es gibt also Augenblicke der Zuversicht. Hier erkennt nur derjenige, kann meine Klage aufheben, der der Grund meiner Klage ist, nur der. Obwohl sich hier von den Freunden total verraten fühlt und enttäuscht ist und von Gott auch, setzt er doch viel mehr Hoffnung auf Gott, wie auf seine Freunde. Er gibt auch in den härtesten Verzweiflungsausbrüchen den Kontakt zu Gott nie auf.
Aber Zuversicht hat er auch nur in vier kleinen Texten. Und die gehen ungefähr so, nur der, der der Grund meiner Klage ist, kann die Klage aufheben. Gott ist eigentlich der einzige, der für mich gegen Gott eintreten kann. Ist Gott eigentlich auch der einzige? Nur Gott kann mich gegen Gott verteidigen. Und manchmal ganz kurz, nur sehr kurz ist hier sicher im Himmel lebt ein Zeuge und der kennt mein unschuldiges Leiden. Und einmal sagt er zu Gott, hey du, mein Feind, bist du vielleicht nicht doch auch mein Freund. Und jetzt lesen wir mal den letzten Zuversichtstext.
Danach kommt keiner mehr. Das sind auch die berühmtesten Hiob-Verse. Die sind allein berühmt in den ganzen 30 Kapitel Hiob-Dichtung. Man kennt den Frommen hier, der treu im Leid zu Gott steht. Der wird ständig zitiert. Die Hiob-Dichtung führt ein Schatten-Dasein, sie wird übergangen. Und aber diese drei Verse, die Luther auf eine bestimmte Weise übersetzt, die sind weltberühmt. Nämlich der letzte Zuversichtstext, nachdem es sofort wieder katastrophal nach unten geht. Das zitiert man dann schon nicht mehr. Also nach diesen Zuversichtstexten, dicht daneben, stehen wieder die härtesten Anklagen. Also gehen wir mal zu dem letzten Zuversichtstext, Hiob 19, 25 bis 27.
Doch ich, ich weiß, mein Erlöser lebt. Als Letzter erhebt er sich über dem Staub. Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen. Ihn selber werde ich dann für mich schauen. Meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd. Meine Nieren verzehren sich in meinem Inneren. Jetzt kommt schon wieder der Absturz. Ja, also diese Verse, die hat man herausgepickt. Leider muss ich jetzt sagen, dieser Vers ist auch völlig falsch übersetzt. Luther übersetzt, ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Eigentlich weiß man aus der gesamten Hiob-Dichtung, so im normalen Kirchenpublikum, nur diesen Satz. Aber es heißt im Hebräischen, ich weiß, dass mein Goel lebt.
Und Goel hat nun wirklich gar nichts mit Erlöser zu tun. Das ist auch eine christliche Usurpation eines jüdischen Textes. Man hat in diesen Text einfach christliche Interessen hineingepresst. Aber Verfälschung eines wichtigen Bibeltextes. Also ich weiß, dass mein Goel lebt. Das weiß er aber auch nur ganz kurz, danach weiß er es schon wieder nicht mehr. Was ist ein Goel? Es gibt im Sozialrecht, in der Thora wird es lang und breit geklärt, gibt es Texte, die sich auf folgendes Problem beziehen. Wenn in einer Sippe, eine Sippe kann durchaus 50 bis 100 Leute umfassen, ist noch mehr wie eine Großfamilie. Wenn es in einer Sippe vielleicht durch Dürrezeiten, Hungersnöte oder irgendwas dazu kommt,
dass Menschen Sippenmitglieder völlig verarmen, sodass sie in größte Gefahr geraten. Oder dann sagen, ich muss jetzt auswandern, ich verhungere hier, sind ja auch viele Israeliten ausgewandert. Dann, wenn in so einer Sippe ein wohlhabender Mensch ist, der noch über sehr starke Finanzmittel, große Herden und andere guten Dinge verfügt, sind diese reichen, wohlhabenden Sippenmitglieder moralisch verpflichtet, den verarmten Sippenmitglieder kräftig unter die Arme zu greifen und ihnen einen neuen Start zu gewähren. Im Buch Ruth, wo ja die Ruth auch nach Moab ausgewandert ist wegen einer Hungersnot und dann kommt sie wieder zurück, ist Boaz ein Sippenmitglied, der reich ist
und der Ruth unter die Arme greift. Boaz ist im Buch Ruth ein Goel. Also hier meint Folgendes. Ich glaube, also wenigstens mal drei Minuten lang, es sind alles kurze Lichtblicke, die zu keinerlei Stabilität führen. Also der Autor der Hier-Dichtung will auch sagen, in schwerem Leid bist du nicht mehr stabil. Da erlebst du eine Achterbahn, rauf und runter. Erst dann kann man von Leid reden. Ich habe ja gesagt, verwechsel Klage niemals mit Wehleidigkeit oder Selbstmitleid oder Jammerei. Klagen hat nichts mit Wehleidigkeit zu tun, sondern mit schwerstem Leid, wo du keinerlei seelische Stabilität mehr hast. Aber in diesen kurzen Lichtblicken sagt hier Sapulot,
wenn es schon auf der Erde einen Goel gibt für die verarmten elenden Leute, wäre es eigentlich doch auch gut, es wäre doch eigentlich auch moralisch angemessen, wenn es im Himmel wenigstens einen Goel gäbe, der mir raushilft. Ich glaube, es muss doch im Himmel wenigstens einen Goel geben. Aber dann sagt er gleich wieder meine Augen und meine Haut. Dieser Text hier 1925 bis 1927 ist leider ein Text, der vielfach ständig überarbeitet wurde. Da fand richtig eine Interpretationsschlacht statt. Wer hat die Deutungshoheit? Und dieser Text ist so schwer beschädigt, dass man den ursprünglichen Sinn nicht mehr sicher rekonstruieren kann.
Aber der Satz, ich weiß, dass mein Goel lebt, der ist gut, der ist sicher. Aber die folgenden Sätze sind sehr schwer zu rekonstruieren. Aber klar ist, hier geht auf den Tod zu und er will noch einmal vor dem Tod Gott schauen. Wie er sich das vorstellt, sagt er nicht. Aber wichtig ist, in diesen Zuversichtstexten geschieht etwas, was noch niemals in der Bibel bisher geschehen ist. Hier wendet sich an Gott gegen Gott. Er schreit zu dem Gott, wie er sein sollte, dass er ihm hilft gegen den Gott, wie er sich gezeigt hat. Und das ist schon sehr berührend. Gott kann der einzige sein, ist der einzig Denkbare,
der mir gegen Gott beistehen kann. Und so fordert er Gott nach einem Reinigungseid letztmalig zu einem offiziellen Streitgespräch auf. Aber bevor Martin das zum Schluss liest, die letzten Worte Hirobs möchte ich noch sagen. Also Hirob hat keinerlei Geborgenheit. Viel öfters als diese Lichtblicke fällt er in folgende Anfechtung. Die kommt ständig, die beherrscht ihn grausam. Nämlich, du kannst Gott so nichts zwingen. Wenn Gott nicht will, kannst du nichts machen. Und bei mir will er offensichtlich nicht. Und bei den meisten Leidenden will er auch nicht. Aber es gibt keine übergeordnete Behörde. Es gibt keine neutrale Instanz über Gott,
wo man ihn anklagen könnte und mal vor Gericht bringen könnte. Es ist furchtbar, du kannst Gott so nichts bringen. Du kannst Gott so nichts verpflichten. Und dann, wenn er bei diesen Gedanken ist, dann stürzt er völlig ab und sagt, ich bin ja sowieso völlig unwichtig. Wie die vielen Menschen. Gott braucht sich doch gar nicht, um die Probleme zu kümmern, die die Menschen mit seiner Schöpfung haben. Das braucht doch Gott gar nicht zu kümmern. Ich bin ja völlig unwichtig. Der wird sich sowieso nicht melden. Ich bin dem natürlich gar nicht wichtig genug. Und jetzt hören wir die letzten Worte des Hiob. Hiob 31, 35 bis 37. Gäbe es doch einen, der mich hört. Hier ist mein Zeichen.
Der Allmächtige antwortet mir. Hier die Anklageschrift, die mein Gegner geschrieben hat. Auf meinen Schultern wollte ich sie heben, als Kranz um den Kopf mir winden. Ich täte die Zahl meiner Schritte ihm kund. Ich nahte mich ihm wie ein Fürst. Ja, was für Sätze. Zwischen Verzweiflung, oh, dass ich doch einen hätte, der mich anhört. Aber dann wieder der ganze Stolz eines Mitglieds der Oberschicht. Ich würde ihm nahen wie ein Fürst. Ja, und wie wird wohl Gott auf diese Herausforderung antworten? Mit dieser Spannung wird der Leser jetzt entlassen.
Hiobs Verhältnis zu Gott – Hiob Vorlesung Teil 6 | 10.12.1
Stell Dir vor, Du bist fromm. Also so richtig strenggläubig. Du weißt, was richtig und was falsch ist, wie man zu beten hat und was sich Gott gegenüber gehört. Und dann kommt da einer, und hält sich an keine dieser Regeln. Schimpft drauflos und redet mit Gott wie mit einem Freund, der gerade richtig Mist gebaut hat. Und nun? Da musst Du wahrscheinlich Deinen eigenen Ärger runterschlucken – oder rauslassen.
So ging es Gläubigen jahrhundertelang, wenn sie Hiobs Wutrede gegen Gott lasen. Juden wie Christen waren irritiert, verständnislos, sogar wütend. Erst nach dem Elend der Weltkriege, nach Shoa und Porajmos, nach Spanischer Grippe und Weltwirtschaftskrisen entdeckten auch die Frommen und Theologen das Geschenk, dass ihnen die Autoren der Hiob-Dichtung mit Hiobs Klagerede gemacht haben. Siegfried Zimmer untersucht in diesem sechsten Teil der Hiob-Reihe diese Klagerede. Was sagen sie über das Leid in der Welt aus? Über das Wesen Gottes? Und was über Hiob selbst, der irgendwie für alle Leidenden dieser Welt steht?
Dieser Vortrag gehört zu der 10-teilige Hiob-Vorlesung von Prof. Dr. Siegfried Zimmer, die durch die Lesung des gesamten Hiobbuchs als Hiobnovelle (11.5.1) und Hiobdichtung (11.5.2) ergänzt wird.