Spiritualität, das ist ja ein Modewort oder ein Containerbegriff. Ich gebrauche den trotzdem sehr gerne, weil ich glaube, dass er etwa im Vergleich zu dem traditionellen Begriff Frömmigkeit etwas Anziehendes hat. Also viele Menschen in unserer Gesellschaft, in Europa, gerade auch im Osten Deutschlands, die glauben, das Christentum hat ja hundertelang seine Chance gehabt, aber jetzt ist es abgelebt. Die haben ja Schwierigkeit mit dem Begriff Frömmigkeit. Der klingt irgendwie Altbacken in ihren Ohren. Auch mit dem Begriff Glauben können sie, glaube ich,
sehr wenig anfangen, weil sie unter Glauben eben das verstehen, was Herr Zimmer vorhin gesagt hat, also was nicht darunter zu verstehen ist, irgendwie ein bestimmtes Glaubenswissen, das man so im Paket akzeptieren muss, um als guter Christ zu gelten. Also auch gegenüber dem Begriff Glaube hat man eine gewisse Aversion. Bei dem Begriff Spiritualität, da sieht es erstaunlicherweise anders aus. Wahrscheinlich natürlich deswegen, weil er offener ist, unbestimmter. Also er legt nicht so fest, er lädt vielleicht ein, sich mit ihm zu beschäftigen oder mit der Sache, die er zum Ausdruck bringt, sich zu beschäftigen. Also um auch nochmal das Wort von Herrn Zimmer aufzunehmen, er verlockt dazu, er lädt ein, sich mit der Sache, die er zum Ausdruck bringt, auseinanderzusetzen.
Ich finde das positiv. Ich habe bei Jürgen Moltmann promoviert und er hat in seinem Buch über den Heiligen Geist in dem Vorwort geschrieben, wir deutschen akademischen Theologen hätten eine Unart. Wir würden, bevor sich auch nur der erste Geist gezeigt habe, nach der Gabe der Geisterunterscheidung rufen. Und das führt unweigerlich dazu, dass sich eben gar kein Geist häufig zeigt. Und dass deswegen die akademische Theologie im Bewusstsein vieler Menschen durch auch viele Christen eine irgendwie abgehobene Angelegenheit darstellt. Ich merke das bei Referaten, Vorträgen in den evangelischen Akademien, da reden ja Nicht-Theologen vor allem. Und es muss aber natürlich, weil es eine kirchliche Akademie ist, dann auch ein Theologe reden, dass bei den Nicht-Theologen alle erwartungsvoll
gestimmt sind, bevor er anfängt oder sie. Und wenn ich dann komme, meist zum Schluss, dann ist es so, ja es ist wie eine Wand zunächst einmal. Man sieht in starre Gesichter, ist ja bei Ihnen hier ganz anders, aber das muss man erst durchbrechen. Und das fordert eine gewisse Kraftanstrengung von Seiten des Redners. Und ich finde das sehr bedenklich, dass offensichtlich viele Menschen in unserem Land mit dem Vorurteil herumlaufen, Theologie und Glaube und Frömmigkeit, das ist eigentlich etwas, vor dem man sich irgendwie in Acht nehmen muss oder bestenfalls vielleicht auch das mit meinem Leben nichts zu tun hat. Also irgendetwas Abständiges. Und dies alles wird glaube ich, also dieser Radarschirm,
der bei einem normalen Mitglied unserer Gesellschaft ja ausgespannt wird sofort bei diesen Themen, der wird hier bei dem Begriff Spiritualität eben nicht ausgespannt. Woran das liegt, außer dem Phänomen, dass der Begriff unbestimmter ist als Glaube, Frömmigkeit. Es liegt wohl auch daran, dass er ein irgendwie neuer Begriff ist. Es gibt ihn ja noch nicht so lange in der Diskussion, wir können das genau sagen sogar, seit wann er im Raum der evangelischen Kirche rezipiert worden ist. Das ist 1975 gewesen und zwar im Anschluss an die fünfte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi. Und da hat man im Schlusskommunikä zum ersten Mal in einem kirchenamtlichen
Dokument den Begriff Spiritualität positiv aufgenommen. Man hat gesagt, dass die zukünftige Herausforderung der Christenheit darin bestünde, Spiritualität und politisches Engagement zusammenzubringen. Also dass sich beides nicht mehr wie zwei feindliche Schwestern gewissermaßen gegenüberstehen darf, sondern dass beides zusammengehört, sich gegenseitig sozusagen bedingt sogar. Das ist dann weitergegangen, kurze Zeit später, nach vier Jahren ist von der EKD, also der evangelischen Kirche in Deutschland, eine Denkschrift herausgegeben worden, die hatte den Titel evangelische Spiritualität. Sie hat innerhalb eines Jahres eine zweite Auflage erlebt. Da werden Sie vielleicht sagen, was ist eine zweite Auflage? Ich habe schon Bücher geschrieben, die haben vier oder fünf Auflagen. Aber das ist bei einer Denkschrift viel, wenn sie eine zweite Auflage
erlebt. Es zeigt, dass sie eine gewisse Wirkung in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat. Und das Interessante ist, dass diese Schrift wesentlich von zwei erzkonservativen Theologieprofessoren geschrieben worden ist. Also man muss ein bisschen vorsichtig sein, habe ich daraus gelernt, mit diesen Zuschreibungen. Konservativ und progressiv. Es kann manchmal sein, dass die konservativsten Knochen sich im Nachhinein als die progressivsten herausstellen. Zumindest war das bei diesen beiden Professoren im Hinblick auf diese Denkschrift der Fall. Die evangelische Kirche hat damals tatsächlich zum ersten Mal das Thema Spiritualität als ein für das Christsein in der modernen Welt wesentliche Fragestellung entdeckt. Ich versuche ja sozusagen dieses Thema am Laufen
zu halten. Manchmal habe ich den Eindruck, meine Kollegen finden das gut, dass ich das mache. Aber sie sind gleichzeitig froh, dass es jemand gibt, der es macht und sie es deswegen nicht selber machen müssen. Aber gut, ich versuche sie einzubeziehen, zu gewinnen, dabei mitzutun. Was verstehe ich unter dem Begriff evangelische Spiritualität oder etwas allgemeiner Spiritualität? Das möchte ich noch sagen, bevor ich dann zu Luther komme. Spiritualität ist für mich in Aufnahme von Überlegungen dieser Denkschrift von 1979, evangelische Spiritualität, ist für mich ja so wie ein Kleeblatt mit drei Blättern. Einmal umfasst für mich Spiritualität, jetzt speziell auch evangelische Spiritualität,
das was wir traditionellerweise unter Glauben verstehen, also durchaus auch Inhalte des Glaubens. Als zweiten Aspekt, zweites Kleeblatt sozusagen, verstehe ich darunter Frömmigkeitsübungen. Ich bin also der Meinung, dass zur Spiritualität gehört, dass dieser Glaube auch eingeübt wird. Es geht nicht ohne Übung mit dem Glauben. Und das dritte Kleeblatt sozusagen ist ja das ethische Handeln im Alltag, in der Gesellschaft, in der Familie, am Arbeitsplatz, wo auch immer. Also diese drei Dimensionen, könnte man auch sagen, gehören für mich beim Begriff Spiritualität zusammen. Also die Inhalte des Glaubens, die Frömmigkeitsübungen und schließlich dann das Handeln, das ethische
Handeln im Alltag der Welt. Luther hat den Begriff Spiritualität in der Weise natürlich nicht gekannt. Er spricht vom Glauben gewöhnlich und der Begriff Frömmigkeit hat damals auch eine andere Bedeutung gehabt, als er heute ihn hat. Und dennoch natürlich, das ist jetzt sozusagen meine These gleich zu Beginn, sonst müsste ich ja hier aufhören, hat Luther vieles zur Spiritualität zu sagen. Und das möchte ich Ihnen im Folgenden hier zu beweisen versuchen, wobei Spiritualität bei Luther viele Fremdheitsmomente hat, wie ja Luther überhaupt uns, das ist ja eine Binsenweisheit,
uns fremd geworden ist. Und das war für mich auch, muss ich sagen, der Hauptgrund, zu zu sagen, zu Ihnen zu kommen, weil ich das fantastisch finde, dass so viele Menschen sich so ernsthaft über einen längeren Zeitraum mit Martin Luther und seiner Theologie und Spiritualität beschäftigen. Das werden Sie nicht so häufig finden. Und ich bin ein bisschen beunruhigt, muss ich sagen, darüber, wie wenig eigentlich in den vergangenen neun Jahren der Luther-Dekade es unsere Kirche, auch die Theologie, auch die Gemeinden geschafft haben, zum Kern von Luthers Anliegen vorzudringen. Und ich habe irgendwie ja den Eindruck, dass das hier versucht wird über Pfingsten. Und darum ging es eigentlich, wenn man schon die Reformation feiert, dass man sich mit den Inhalten der
Reformation stärker beschäftigt. Und damit meine ich natürlich mit den spirituellen Inhalten, aus denen meiner Meinung nach alles andere, also die Konsequenzen sozusagen in der Welt, im Handeln der Welt geflossen sind. Nehmen Sie die Spiritualität, nehmen Sie die theologischen Neuentdeckungen Luthers weg, dann bleibt gar nichts übrig. Dann verstehen Sie auch überhaupt nicht, wie Luther eine derart sprachschöpferische Bedeutung gewinnen konnte. Es ist ja aus seiner Spiritualität herausgewachsen. Natürlich ist er auch ein sprachliches Genie gewesen. Das ist klar. Aber dass sozusagen dieses sprachliche Genie gewissermaßen wirksam werden konnte, das hängt natürlich an seiner Spiritualität und an seinen theologischen Neuentdeckungen. Also insofern freue ich mich besonders, dass wir hier miteinander über diesen
Glutkern von Luthers Theologie und Spiritualität nachdenken. Und dass die zunächst mal fremd sind uns in vielerlei Hinsicht, das ist ja vielleicht gut, weil nur Fremdheit uns vielleicht dazu bringt, dann auch etwas Neues zu lernen. Es gibt ja diesen schönen Begriff von der Wut des Verstehens, der die Gegenwart prägt. Dahinter steht natürlich auch das Bestreben, alles was fremd ist, uns irgendwie anzuverwandeln und es gleich damit auch irgendwie zu domestizieren, unschädlich zu machen. Also dass es uns nicht mehr in Frage stellt und dadurch weiterbringt. Also keine neuen Wirklichkeitsräume uns zu erschließen vermag und wir eben bei dem Altgewohnten bleiben
können. Ich bin schon der Überzeugung, dass die Beschäftigung mit Luther uns, unseren Glauben, unsere Spiritualität, unsere Theologie verändern wird. Eben weil Luther ein großer Fremder geworden ist für unsere Gesellschaft. Mein erster Punkt, Luthers Spiritualität ist orientiert an der Erfahrung. Gleichzeitig öffnet er den Erfahrungsbegriff für die Anfechtung. Also das heißt, Luthers Spiritualität ist von ihrem Ursprung her erfahrungsbezogene Spiritualität. Es gab eine längere Tradition im vergangenen Jahrhundert, die diese Dimension seiner Spiritualität ganz anders interpretiert hat. Als ob die Rechtfertigungslehre keinen Raum für die Erfahrung des Glaubens lassen
würde. Zu dieser Auslegungstradition hat der dänische Philosoph Søren Kierkegaard beigetragen. Er verstand den Glauben als tausend Klafter über dem Abgrunde erbaut. Der Glaube, so sagt Kierkegaard, ist tausend Klafter über dem Abgrunde erbaut. Also böse interpretiert, der Glaube hängt irgendwie in der Luft. Er gewinnt nirgends Erdhaftung. Er wird nirgends zur Erfahrung. Er muss auch als Glaube geglaubt werden. Das ist sozusagen das Problem dieses Verständnisses von Kierkegaards Glaube. Und dieses Verständnis Kierkegaards hat sich im 20. Jahrhundert in der sogenannten dialektischen
Theologie, das ist die Theologie Karl Barthes und seiner Freunde, der wir viel zu verdanken haben, etwa die Barmher Theologische Erklärung während des Kampfes der bekennenden Kirche im Dritten Reich, hat sich in dieser Theologie, wie ich meine, äußerst negativ ausgewirkt. Für Barthes, zumindest für den frühen Barthes, bekommt der Glaube nirgends Bodenhaftung. Wird er nirgends zur Erfahrung. Das ist das berühmte Erfahrungsdefizit der evangelischen Theologie. Das hat unter anderem dazu geführt, dass 1968 gerade hier in Heidelberg sehr viele Theologie Studierenden zu den revolutionierenden Studierenden mutiert sind, weil sie dieses Wirklichkeitsdefizit des Glaubens bemängelt haben. Zu Recht, wie ich finde. Und sie meinten, das muss durch politisches Handeln
sozusagen ersetzt werden. Richtig an dieser Interpretation ist, wie immer hat auch dieses Ding zwei Seiten, ist, dass Luther davon ausgeht, dass der Mensch durch den Heiligen Geist keine neue sittliche Qualität verlieren bekommt. Also das Gute, das wir tun als Christen, das entspringt nicht aus einer menschlichen Qualität. Das können wir sozusagen uns nicht selber zurechnen. Es ist vom Geist Gottes in uns gewirkt. Aber Luther hält eben fest, dass der Glaube tatsächlich im Menschen zur gelebten Erfahrung wird. Also der Glaube ist nicht in sich selber Erfahrung. Es geht nicht darum,
den Glauben auch noch zu glauben, sondern dem Glauben wird im Leben Erfahrung zuteil. Als Christ erfährt man, dass ich im Glauben an Gottes Wort wirklich Christus erfahre. Und zwar mit seiner Macht, die Sünde, den Teufel, die Todesangst zu überwinden. Also das heißt, die Gnade Gottes, das große Geschenk an den Menschen, wir kommen darauf noch mal zu sprechen, was da eigentlich genau darunter zu verstehen ist. Die ist wohl verborgen und muss deswegen geglaubt werden. Aber ihre Wirkungen bleiben nicht verborgen, sondern ihre Wirkungen sind erfahrbar. Wir feiern ja gerade Pfingsten. Der Heilige Geist ist eigentlich die Person in Gott, im dreieinigen Gott, die dieses
Erfahrungsmoment, könnte man sagen, repräsentiert. Der Heilige Geist hat die Aufgabe, den Glauben im konkreten Leben zur Erfahrung werden zu lassen. Jetzt können Sie vielleicht sagen, naja, das sind ganz hübsche Gedanken, die ich hier vortrage, aber haben die denn bei Luther wirklich auch selber anhalt? Und ich habe einige Belege dafür gefunden. Einen davon möchte ich Ihnen vortragen. Luther schreibt, da muss nun angehen die Erfahrung, sagt er so, dass ein Christ sagen kann, bisher habe ich gehört und geglaubt, dass Christus mein Heiland sei, so meine Sünden und den Tod überwunden habe. Nun, jetzt kommt was Neues, bisher habe ich gehört und geglaubt, nun erfahre ich es auch, dass es also
sei. Denn ich bin jetzt und oft in des Todes Angst und des Teufels stricken gewesen. Aber er, Christus, hat mir herausgeholfen und offenbart sich mir so, dass ich nun sehe und weiß, dass er mich lieb hat und dass es wahr ist, wie was ich glaube. Jedem evangelischen Theologen wird es hier etwas blümerant, weil Luther in diesem Zitat etwas gegenüberstellt, was eigentlich in der evangelisch lutherischen Theologie nicht vorgesehen ist. Er stellt nämlich Hören und Glauben und Sehen und Wissen gegenüber. Aber nicht etwa im Modus der Ausschließlichkeit, des sich gegenseitig
ausschließens, sondern ganz anders. Er behauptet, dass aus dem Hören und Glauben immer wieder das Sehen und Wissen kommen muss. Das ist eine große Herausforderung. Beides bedingt sich offensichtlich gegenseitig. Das Hören und Glauben setzt aus sich heraus einen Prozess des Wissens, des Sehens und Wissens. Wie wir Menschen so sind, auch Intellektuelle, wir schaffen es ganz schwer, zwei Gedanken miteinander zu denken, die in einer gewissen Spannung zueinander stehen. Und je länger ich das Geschäft der Theologie betreibe, desto mehr habe ich den Eindruck, dass die meisten
Theologen, ich wahrscheinlich auch, im Höchstfall es schaffen, einen Gedanken ihr Leben lang von den unterschiedlichsten Seiten, sage ich mal, zu beleuchten. Aber bei zwei Gedanken wird es schon schwer. Da finden Sie nicht sehr viele Theologen, die das geschafft haben. Bei Luther denke ich, und das unterscheidet ihn von vielen anderen, deswegen kann man sich auch nie an ihm abarbeiten sozusagen oder man kann sich abarbeiten sein Leben lang, Luther hat es geschafft, sehr unterschiedliche Gedanken, die sich offensichtlich widersprechen, in eine spannungsreiche Beziehung zueinander zu setzen und sie in diesem Interdependenzverhältnis, wie man heute so etwas hochgestochen sagt, zu erhalten. Und es ist gerade das Feld, das Spannungsfeld, das durch diese sich scheinbar
widersprechenden Aussagen entsteht, indem sich die Wirklichkeit und das Leben findet. Und in dem Moment, wo man sozusagen nur eine Seite bedenkt, hat man das dann zwar irgendwie schneller im Griff, aber das Leben, die Dynamik ist damit auch verloren gegangen. Und man merkt irgendwie, so ist es eigentlich gar nicht, wenn man nur den einen Gedanken denkt. Und das meine ich, ist hier so ein klassisches Zitat dafür, für die Wahrheit dieser Aussage, dass eigentlich kontradiktorische Aussagen sich gegenüberstehende ausschließende Aussagen zusammengenommen erst die Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. Also natürlich ist für den Glauben, Hören und Glauben, für die Spiritualität
wollte ich sagen, ist Hören und Glauben konstitutiv. Aber es bleibt nicht dabei, sondern dieses Hören und Glauben muss sozusagen offen gehalten werden für das Sehen und Wissen. Und erst dadurch wird sozusagen etwas Lebendiges, etwas Dynamisches daraus. Noch ein zweites Zitat von Luther, das das belegen soll. Luther schreibt, das christliche Leben, Sie kennen das Zitat vielleicht, weil es sehr berühmt ist, ist nicht fromm sein, sondern ein fromm werden. Nicht gesund sein, sondern ein gesund werden. Nicht sein, sondern ein werden. Nicht Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind es noch nicht, wir werden es aber. Es ist noch nicht getan und geschehen. Es ist aber im Gang und
Schwange. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles. Ein ungewöhnliches Zitat, wenn man so die Lutherdeutungen vieler Jahrzehnte im letzten Jahrhundert liest. Also diese Dynamik, die hier dem Spiritualitätsbegriff sozusagen zugewiesen wird, die passt irgendwie furchtbar schlecht zu den Lutherdenkmälern des 19. Jahrhunderts. Die gibt es also überall in Deutschland, hier ganz in der Nähe in Worms. Da wird Luther oder da wird suggeriert, dass Luther eben so ein feststehender,
matzialischer, germanischer Recke war. Und wie es bei Denkmälern grundsätzlich ja das Problem ist, wenn Sie jemand auf einen Sockel stellen, dann sind Sie ihn los. Dann können Sie ihn verehren, aber er hat mit Ihrem Leben nichts mehr zu tun. Er gehört ja, weil er auf einem Sockel steht, einer anderen Sphäre an als Sie selber. Und das ist genau mit Luther passiert. Man hat ihn sozusagen im 19. Jahrhundert als nationalen Heros immer mehr auf einen Sockel gestellt und damit war man ihn los. Er war in einer anderen Sphäre versetzt worden. Er hatte eine gewisse Apotheose erlebt. Und jetzt erleben wir im Reformationsjubiläum im Grunde genommen, dass unsere Kirche ihn wie einen Übervater versucht zu ermorden. Das ist die logische Konsequenz, wenn man ihn apotheosiert hat,
meiner Meinung nach. Und das ist gefährlich, denn die evangelische Kirche, auch die evangelische Theologie kann nicht gut ohne Luther eine Zukunft haben, weil er ja der große Inspirator sozusagen von ihr war. Luthers erfahrungsbezogene Spiritualität ist heute aktuell und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst mal schlicht aufgrund einer gewissen spirituellen Auszehrung des Protestantismus. Immerhin hat der frühere Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, von der Selbstsäkularisierung unserer Kirche gesprochen. Also das bis sozusagen in die Kerngemeinde hinein Menschen dem Glauben äußerst distanziert gegenüberstehen und auch vieles einfach gar nicht wissen, auch keine Frömmigkeitsübungen vollziehen. Wenn es gut geht,
versuchen in ihrem Beruf, auch vielleicht noch in ihrer Familie, nach bestimmten christlichen Geboten, christlichen Werten könnten wir auch sagen, sich zu verhalten. Und wie sieht es bei vielen Menschen unserer Gesellschaft aus, die sich für spirituelle Fragen interessieren? Die erwarten häufig auch von der Kirche, von den Großkirchen keine Antworten mehr. Sie suchen woanders ihre spirituellen Bedürfnisse zu erfüllen. Da ist übrigens der Dalai Lama immer ganz verblüfft, dass in Deutschland da 10.000 Leute kommen, wenn er spricht und interessanterweise sagt er ihnen manchmal, sie sollen doch erst mal auf die Suche gehen in ihren eigenen spirituellen Traditionen. Weil es sehr schwer ist, spirituelle Traditionen, die in einem ganz anderen Kulturkreis wie der
Buddhismus entstanden sind, sich anzuverwandeln, also da wirklich Heimat zu finden. Natürlich rein jetzt von außen betrachtet. Aber finde ich interessant, dass hier also der Dalai Lama gewissermaßen zum Verbündeten von Wolfgang Huber wird. Es wäre sinnvoller, zunächst einmal den christlichen spirituellen Traditionen eine Chance zu geben. Allerdings natürlich drohen einer erfahrungsorientierten Spiritualität auch Gefahren. Das hängt mit unserer Erlebnisgesellschaft zusammen. Einerseits droht einer solchen erfahrungsorientierten Spiritualität eine Überbetonung der Rolle von Erfahrungen für den Glauben und andererseits eine falsche Interpretation geistlicher Erfahrungen. Wir alle wahrscheinlich wollen ja heute Leid vermeiden, um Zeit zu sparen,
um das Leben voll auskosten zu können. Und entsprechend wird der geistliche Gehalt von Erfahrungen des Leids und des Verzichts verkannt. Und da meine ich, könnte Luthers Erfahrungsbegriff uns weiterhelfen. Luthers Erfahrungsbegriff schließt dem gegenüber nämlich Erfahrungen des Leids und des Verzichts ein. Luther gebraucht hier einen aus der Mode bekommenen Begriff. Er spricht von Anfechtungen und ist sogar der Meinung, dass diese Anfechtungen der primäre Ort sind, an dem Gott uns Menschen begegnet. Das ist ein, wie ich finde, zunächst einmal ziemlich verblüffender Gedanke. Luther ist tatsächlich der Meinung, Schwierigkeiten im
Leben, das ist gewissermaßen die große Chance für uns Gott zu erfahren. Die Anfechtung als primärer Ort der Gotteserfahrung. Warum? Luther erklärt es zunächst theologisch, indem er sagt, das Kreuz Christi ist der Maßstab für die rechte Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes. Warum? Weil eben am Kreuz Christi Gott sich am deutlichsten in seinem Wesen dem Menschen offenbart hat. Das ist heute ziemlich abgedrehter Gedanke, würde ich sagen. Und wir tun uns arg schwer damit, das Kreuz als Zeichen der Liebe Gottes zu interpretieren. Für uns steht gleich sozusagen der Gedanke im
Vordergrund, es ist ein Folterinstrument und Gott hat sozusagen seinem Sohn dieser Folter, diesem schrecklichen Sterben, preisgegeben. Es wird übersehen oft in der theologischen Diskussion, dass es ja nicht etwa so ist, dass Gott seinen Sohn dazu gezwungen hat, sondern das war ja der ureigenste Wille Jesu Christi selber dieses Kreuz zu tragen. Und offensichtlich, und da ist tatsächlich die Ratio an einer bestimmten Grenze meiner Meinung nach angekommen, gab es für Gott keinen anderen Weg, die Beziehung, sage ich mal, zwischen ihm und der Menschheit in Ordnung zu bringen als dieses Kreuz. Wenn es stimmt, dass Gott die Liebe ist, dann hätte er seinem Sohn
diesen schrecklichen Tod am Kreuz sicherlich erspart. Offensichtlich gab es aber keinen anderen Weg. Das ist sozusagen ein gewisses Opfer des Verstandes, das Luther auch im Hinblick auf die Tatsache des Kreuzes Todes bringt. Also Anfechtungen, die sind für Luther die Weise, Jesus am Nächsten zu kommen. Zweiter Punkt. Luther ist der erste neuzeitliche Weihnachtskrist. Gleichzeitig hält er am altkirchlichen christologischen Dogma fest. Ich habe eben stark betont, dass das Kreuz für Luther entscheidend ist. Ich glaube, Michael Welker hat ja über die
Heidelberger Disputation gesprochen. Das ist eben nur die eine Seite. Und es gibt noch eine andere Seite bei Luther und ich denke manchmal, die ist mindestens genauso wichtig wie die Konzentration auf das Kreuz. Ein Grunddatum von Luthers Spiritualität ist nämlich die Geburt des Sohnes Gottes als Kind in der Krippe von Bethlehem. Und deswegen sage ich, Luther ist der erste moderne Weihnachtskrist. Es ist ja merkwürdig, dass in Deutschland und von Deutschland sage ich mal das westliche Ausland immer stärker in den letzten Jahrzehnten das Weihnachtsfest ins Zentrum des Jahreskreises gerückt hat. Also für viele Christen oder sagen wir mal vorsichtiger für viele
Kirchenmitglieder ist ja das Kirchenjahr zusammengeschrumpft auf den Heiligabend. Es hat, deswegen sprechen Beobachter der religiösen Szene in unserem Land von einer weit verbreiteten Heiligabendspiritualität. Es gibt ja alle zehn Jahre sogenannte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen und da werden also inzwischen auch Nicht-Kirchenmitglieder nach allen möglichen Dingen befragt. Zum Beispiel auch nach ihrem Gottesdienstverhalten, also Teilnahmeverhalten am Gottesdienst. Und bei einer dieser Untersuchungen vor einigen Jahrzehnten schon, da ist herausgekommen, dass ein unheimlich großer Prozentsatz der Kirchenmitglieder bei der Frage, ob regelmäßiger Gottesdienstbesuch oder nicht, regelmäßigen Gottesdienstbesuch ankreuzt. Obwohl ja nur
ungefähr vier Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder an jedem Sonntag oder relativ regelmäßig den Gottesdienst besuchen. Sie ahnen schon, was da passiert ist. Im Bewusstsein offensichtlich eines großen Teils der Kirchenmitglieder der evangelischen Kirchen ist es so, dass der Gottesdienst am Heiligen Abend, den sie regelmäßig besuchen, einmal im Jahr ein regelmäßiger Gottesdienstbesuch ist. Also der Wochenrhythmus hat sich verschoben zum Heiligabendrhythmus. Es ist in Leipzig so, ich bin der Universitätsprediger, dass der Universitätsprediger den Heiligabendgottesdienst gewöhnlich halten muss. Und am Anfang habe ich gedacht, ach naja, da kann ich noch mal
halten, ein bisschen natürlich ans frische Wasser geführt, die Predigt, die ich vor zwei, drei Jahren gehalten hatte. Ich war gerade ziemlich in Druck und sprach dann mit dem Universitätsmusikdirektor darüber, weil er so ist, dass in Sachsen-Sittet, er ist zuständig für die Liturgie, für die liturgische Gestaltung und da hat er nebenbei so fallen lassen, was ich drei Jahre vorher gesagt hatte. Und da ist mir also gedämmert, dass offensichtlich die Leute sehr genau zuhören, was am Heiligen Abend da gepredigt wird. Das ist ja auch klar, wenn man nur eine Predigt im Jahr hört, da weiß man noch ungefähr, was der Pfarrer oder die Pfarrerin gesagt hat, die Jahre vorher. Also von daher gesehen, warum betone ich das so? Ich glaube, dass diese neuzeitliche Veränderung des christlichen Glaubens in Richtung
auf eine Heiligabendspiritualität tatsächlich letztlich in Luther begründet ist. Er hat natürlich sich das nie so vorstellen können, dass das so werden würde. Aber warum? Was sind die Gründe dafür? Warum, meine ich, ist Luther der erste neuzeitliche Weihnachtskrist? Denn in der Geschichte der christlichen Kirchen ist natürlich Ostern das entscheidende christliche Fest von Anfang an. Also die Auferstehung, das neue Leben, das neue verwandelte Leben. Warum Weihnachten für Luther? Sie kennen wahrscheinlich alle das Lied vom Himmel hoch, da komme ich her. Das ist ja Luthers volkstümlichstes Lied. Da kann man irgendwie etwas von seiner Spiritualität schwören. Hier kann man
sogar sagen, schlägt das Herz von Luthers Glauben. Und wahrscheinlich ist das auch für Erwachsene, obwohl es eigentlich ein Kinderlied ist, besonders anrührend, weil man sich in diesem Lied so ein bisschen in das Paradies seiner Kinderzeit zurückträumen kann. Das ist ja für je älter man wird, besonders wichtig, dass man dieses Kinderland, das ganz verklärt so im Hintergrund der Existenz mitgeführt wird, dass man immer wieder in dieses Kinderland zurückkehrt. Und ich glaube, dass das an Heiligabend bei vielen Menschen passiert. Ich habe mich früher neben Bemerkungen immer gewundert, warum solch unheimlich viele Leute etwa in Mannheim, da habe ich einige Jahre gewohnt, auf den Weihnachtsmarkt gehen. Also da schiebt man sich doch so durch, also man tritt sich auf die Füße und ich konnte überhaupt nichts damit anfangen. Bis mir das mal klar wurde, dass ist für viele
Menschen ein Abtauchen oder ein Zurücktauchen in das Land ihrer Kindheit. Durch die Gerüche, die da zu riechen sind, auch natürlich durch die Melodien, die da gespielt werden, durch den Licht der Glanz. Also das alles trägt meiner Meinung nach dazu bei, dass heute unsere volkskirchliche Spiritualität im Wesentlichen Weihnachtsspiritualität ist. Aber das ist natürlich jetzt nicht für Luther der entscheidende Gesichtspunkt. Für ihn ist der entscheidende Gesichtspunkt, dass im Kind, in der Krippe, Gott dem Menschen unüberbietbar nahe gekommen ist. Man kann sogar sagen, im Kind, in der Krippe ist Gott anfassbar geworden. Deswegen dichtet Luther in dem genannten Lied vom Himmel hoch, da komme ich her. Ach Herr, du Schöpfer aller Dingen, wie bist du worden so gering,
dass du da liegst auf dürrem Gras, davon ein Rind und Esel aß. Oder jetzt an anderer Stelle, nicht im Lied, sagt Luther unter allen Geboten Gottes ist das Höchste, dass man seinen lieben Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, sich vorbilden soll. Der soll unseres Herzens täglicher und vornehmster Spiegel sein, darin wir sehen, wie lieb uns Gott hat und wie er so hoch als ein frommer Gott für uns hat gesorgt, dass er auch seinen lieben Sohn für uns gegeben hat. Wir kennen das alle, Herr Zimmer hat es ja vorhin in seiner Rede-Einleitung auch gesagt. Ein Baby,
das weckt selbst in harten Männern merkwürdige Gefühle. Ich war vorgestern Abend bei einem Doktoranden von mir, die haben gerade ihre ersten Kinder, Zwillinge gleich bekommen. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass Zwillinge nochmal eine kleinere Sorte Mensch sind als normale Babys und ich muss sagen, nicht nur wie sie mit ihren Kindern umgehen, hat mich zutiefst irgendwie angerührt, sondern ich konnte mich selber gar nicht sozusagen innerlich davon distanzieren. Als ich die kleine Tochter in den Arm gelegt bekam. Also ich denke, dass das natürlich für
Luther eine wesentliche Rolle spielt, Sie müssen sich immer klar machen, Luther war ja zunächst einmal lange Zeit Zölibatär lebend, also Mönch und hat ja relativ spät erst geheiratet. Und hat wahrscheinlich auch nochmal ganz anders als ein jüngerer Mann in dem Fall, die Erfahrung der Ehe und die Erfahrung des Vaterwerdens da erlebt. Natürlich, er war ein hoch intellektueller und gleichzeitig sehr empfindsamer Mann und ich denke, dass auf diesem Hintergrund er auch dann nochmal eine Veränderung in seiner Theologie durchgemacht hat. Und dass dieses Weihnachtskristensein sicher auch zu tun hat mit dieser persönlichen Erfahrung des Vater geworden seins. Ja, und dass
er da eben zu Aussagen auch kommt, die bis dahin, soweit ich das wenigstens weiß, in der Christen heit noch höchstens in der Mystik, aber sonst noch nicht ja so publik waren. Luther sagt, Gott ist, kennen Sie vielleicht, ein glühender Backofen vor Liebe. Ein glühender Backofen vor Liebe, das wird ihm eben am Kind in der Krippe in Bethlehem deutlich. Und wie ist das mit einem Backofen? Wir haben es ja hier schon mehrfach mit der Wärme gehabt. Wenn Sie sich einem Backofen nähern, so ein richtig schöner, großer, wie es das früher auf den Dörfern gab, da wird man selber erwärmt. Je näher man dem Backofen kommt, desto wärmer, desto stärker erwärmt wird man selber. Und das
ist im Grunde genommen das Bild, das Luther hier verwendet. Also je näher wir Gott kommen, desto wärmer wird es uns ums Herz mit allem, was das sozusagen als Konsequenz mit sich bringt. Im Mittelalter hatte man ja ein anderes Gottesbild. Im Mittelalter war ja Gott der entfernte Rächer Gott. Wenn Sie die Dome hier in Worms, Speyer, Mainz besuchen, da ist im Tümpanon normalerweise der wiederkommende Christus abgebildet mit einem zweischneidigen Schwert im Mund. Das ist sozusagen das Gottesbild, das das Mittelalter in der Breite geprägt hat. Vor Gott muss man sich irgendwie in Acht nehmen. Und da hat man natürlich Lösungen gefunden im Mittelalter, wie man damit umgehen kann, indem man eben die Heiligen als Schutzschild zwischen uns und Gott gesetzt hat. Und vor allem
natürlich Maria. Christus ist dann nur noch oben in der Kuppel der Kirche und in der Absis viel näher sozusagen. Am Kirchenvolk ist Maria als die primärste, vornehmste Heilige. Sie ist sozusagen die Fürsprecherin gegenüber Christus. Also das neutestamentliche Christusbild ist im Laufe der 1500-jährigen Kirchengeschichte immer mehr verschoben worden in Richtung auf ein rächender Gott, ein zorniger Gott, der besänftigt werden muss. Und da war man im Mittelalter bereit, das werden wir heute Nachmittag sehen, sehr viel Geld dafür zu investieren, um vor diesem zornigen Gott sich zu schützen. Das war der schwunghafteste Wertpapierhandel, den Sie sich vorstellen können,
der Ablasshandel. Der hatte die gleiche Bedeutung wie bei uns heute die Aktien. Da haben Sie ungefähr die emotionale Bedeutsamkeit von beiden. Drittens, Freude und Dankbarkeit zeichnet Luther Spiritualität aus. Gleichzeitig betont er die Schwere und den Ernst der Sünde. Freude und Dankbarkeit. Ich habe das ja eben schon angedeutet. Für Luther ist entscheidend die Nähe Gottes und die Liebe Gottes. Er kommt allerdings von diesem anderen Gottesbild her. Und das hat ihn ja im Kloster so umgeworfen. Die Frage, wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Wie kann ich mit diesem zornigen Gott, vor dem ich mich in Acht nehmen muss, klarkommen? Das ist die Grundfrage. Luther
vermochte zunächst in Gott nur einen tyrannischen Herrn zu sehen, der auch im Evangelium dem Menschen ein neues Gesetz auferlegt. Das Zimmer hat uns das, wie ich finde, wunderbar vor Augen geführt, dass der Glaube nicht primär als sozusagen neues Gesetz verstanden werden darf. Denn das hat Luther im Grunde genommen an sich selber im Mittelalter, im Spätmittelalter durchaus erlebt. Auch das Evangelium war im Bewusstsein der Theologie und der Kirche ein neues Gesetz, das aber unerfüllbar bleiben muss. Und Luther hat dann in einem längeren Prozess, auch mit Hilfe von seinem Ordnsoberen Staupitz, das war sein Seelsorger, den er die Zeit seines Lebens sehr verehrt hat, begriffen, dass Gottes Gerechtigkeit nicht etwa Gottes Forderung an uns Menschen ist, sondern
dass es Gottes uns ohne Vorleistungen gewährte Geschenk darstellt. Also wir können Gottes Gerechtigkeit nicht erwerben, wir können sie nur aus seinen Händen als Geschenk annehmen. Und das bedeutet natürlich auch, dass niemand sich den Himmel verdienen kann. Und darum tut, wenn es gut geht, niemand von uns gute Werke, um Gott zu gefallen, sondern aus Freude und Dankbarkeit über die empfangene Liebe Gottes, dass Gott an uns wohlgefallen hat. Das ist sozusagen die radikale Kehrtwende gegenüber der spätmittelalterlichen Frömmigkeit. Im Zentrum von Luthers Spiritualität
steht der in Christus offenbar gewordene liebende Gott. Man kann sagen, dass gegenüber der mittelalterlichen Spiritualität, die so landläufig die Menschen geprägt hat, wie gesagt nicht die Mystiker und Mystikerinnen, die waren eine Ausnahme, aber das war doch eine Minderheit, eine kleine. Normalerweise war die mittelalterliche Spiritualität durch Ängstlichkeit und Skrupulosität geprägt. Und jetzt kommt eine ganz neue Wärme in die Beziehung zwischen Gott und Mensch hinein. Es ist ein positiver, lebensbejahender Grundton, den Luthers Spiritualität ausmacht. Allerdings, und das ist jetzt der fremde Luther, den ich auch nicht verschweigen darf und möchte, paradoxerweise ist dieser positive Grundton von Luthers Spiritualität mit seiner Rede vom Ernst
und von der Schwere der Sünde ursächlich verknüpft. Luther geht davon aus, je größer die Sünde, je kraftvoller die Erfahrung der Vergebung. Das ist etwas ganz Unmodernes. Luther ist der Meinung, man muss die Sünde groß machen. Das ist sein entscheidender Gedanke. Die Summe des Briefes sagt er in seiner Römerbrief Vorlesung von 1515-16. Die Summe dieses Briefes ist, zu zerstören, auszurotten, zu vernichten alle Weisheit und Gerechtigkeit des Fleisches, dafür aber einzupflanzen, festzustellen und groß zu machen die Sünde. Also Luther meint, man muss als evangelischer Christ seine Sünde groß machen. Magnificare peccatum steht da im Lateinischen. Nun, man muss natürlich diese
Rede Luthers gegenüber Missverständnissen in Schutz nehmen, sonst wird sie ganz verquer. Und sie ist auch jahrhundertelang, meine ich, missbraucht worden. Der Weg Gottes Gnade zu erfahren, das haben wir im ersten Vortrag gehört, ist der Glaube. Im Glauben trete ich auf die Seite Gottes, in dem Sinne, dass ich Gottes Urteil über mich bejahe. Und indem ich Gottes Urteil über mich bejahe, trete ich auf die Seite der Wahrheit. Christus ist die Wahrheit, wenigstens behauptet das das Johannes-Evangelium. Und das heißt, indem ich sozusagen auf die Seite der Wahrheit trete, trete ich nicht nur auf die Seite Christi, sondern ich gerate in seinen Machtbereich. Und das ist mein
Glück. Denn indem ich auf die Seite der Wahrheit, in den Machtbereich der Wahrheit, in den Machtbereich Jesu Christi trete, werde ich gerecht. Ich gebe Gott Recht. Ich kann aufhören in dem Moment gegen irgendetwas anzukämpfen in mir. Das ist ja wahrscheinlich der Grund, warum sehr viele Menschen, nicht nur, aber einer der Gründe, Therapien machen. Weil sie aus welchen Gründen auch immer mit sich selbst im Unfrieden leben. Und Luther ist nun der Meinung, der Mensch ist nun mal von Natur aus jemand, der sich gegen Gott auflehnt. Und darunter versteht Luther nicht so sehr moralische
Verfehlungen, sondern Luther versteht darunter den Versuch des Menschen, ob er will oder nicht, wie Gott zu sein. Das ist sozusagen das Verhängnis, das uns alle auszeichnet. Jeder von uns will ob er es will oder nicht, er muss wollen wie Gott sein. Und da gibt es ein Problem an dieser Stelle, dass der Mensch eben Mensch ist und nicht Gott. Und das heißt, dass er permanent irgendwie mit sich selber im Unfrieden leben muss, weil er ja etwas will, was er nicht ist und nicht sein kann. Deswegen kann Luther sagen, die ganze Theologie besteht eigentlich in nichts anderem als dafür
zu sorgen, dass Gott Gott und der Mensch Mensch ist. Ich weiß nicht, ob Sie diesen Kern von Luthers Denken verstehen, meiner Meinung nach, diesen Kern von Luthers Denken verstehen können. Gott ist von seinem Wesen her Gott. Da kann er auch nichts dagegen machen. Nur deswegen ist er mit sich selber ja im Einklang. Und da sagt nun Luther im Hinblick auf den Menschen, seit dem Sündenfall, wie man sich das konkret vorzustellen hat, ist es sozusagen dem Menschen eingestiftet, das ist die Rede von der Erbsünde. Letztlich, er muss wie Gott sein wollen. Und das kann nur geändert werden durch den Glauben. Und selbst durch den Glauben wird es nicht endgültig geändert.
Sie kennen das berühmte Wort Luthers. Der alte Adam muss täglich neu ersäuft werden, denn das Biest kann schwimmen. Also diese Sehnsucht, diese uns wie eine zweite Natur anhängende Bestrebung, wie Gott sein zu müssen, die kann nicht ein für alle Mal überwunden werden, sondern das begleitet uns wie ein Schatten, wie eine zweite Haut oder wie immer Sie das nennen wollen, bis an unser Lebensende. Und das ist das Grundproblem des Menschen, dass er dadurch gegen sich, gegen seine eigene Bestimmung, gegen sein eigenes Wesen in permanenter Auflehnung existiert. Aber Gott ist Gott. Und von daher gesehen ist klar, dass sich das reibt, dass das permanent
aufeinander knallt. Weil Gott vom Wesen her Gott ist und der Mensch vom Wesen her geschöpft ist. Und da der Mensch sozusagen dieses sein Wesen von Natur aus nicht akzeptieren kann, muss es zu diesem permanenten Grundkonflikt zwischen Gott und Mensch kommen. Und da gibt es nur eine Möglichkeit nach Luther. Der Mensch muss diesen seinen Grundkonflikt mit Gott erkennen. Immer wieder neu nicht nur erkennen, sondern sogar bekennen. Und indem er ihn bekennt, erkennt und bekennt, in dem Moment und nur auf diese Weise wird er von diesem Grundkonflikt frei und kann bei sich selber heilsam einkehren. Also hinter dieser Idee Luthers, dass man die Sünde groß machen muss,
da steckt sozusagen eine unglaublich heilsame, entspannende Erkenntnis. Indem ich das tue, in dem Moment kann ich aufhören, gegen mich selber sozusagen anzukämpfen. Ich habe viele Leute, junge Menschen begleitet, seelsorgerlich, denen ich von Zeit zu Zeit gesagt habe, haben sie schon einmal gemerkt, sie leben in einer permanenten Form der Selbstsabotage. Und das, denke ich, passiert sozusagen uns allen permanent, dass wir in dieser permanenten Selbstsabotage leben. Und von daher gesehen, es keinen anderen Weg gibt, daraus herauszukommen, indem wir sozusagen diesen Grundkonflikt, der unser Wesen ausmacht, erkennen und eingestehen. Und in dem Moment wird
sozusagen dieses Eingeständnis kein Ausdruck einer entmündigenden, zerknirschenden, kleinmachenden Erfahrung, sondern einer heilsam rettenden Erfahrung. Also letztlich ist das Stehen zu meinem Sündersein die Möglichkeit bei mir in eine Selbstbegrenzung einzugehören, die mir zugutekommt. Ich muss nicht länger mehr sein als ein heilsam vor Gott und von Gott und natürlich auch vor meinen Mitmenschen, meiner Mitwelt und mir selbst begrenzter Mensch. Also die Grenze ist sozusagen mein Heil. Deswegen hat Dietrich Bonhoeffer das nur als Nebenbemerkung, den Baum der Erkenntnis,
im Paradies als die heilsame Grenze aufgefasst. Also das Gott Adam und Eva verbietet, von diesem Baum der Erkenntnis zu essen, das ist sozusagen die äußerlich sichtbare Markierung, dass der Mensch Geschöpf ist und Gott Gott ist. Es ist sozusagen eine Einweisung in seine Grenze. Das Eingeständnis des Sünderseins, um es noch mal zusammenzufassen, war den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Vorderpunkt können Sie noch? Wie sind das gewohnt? Ich habe leider die Zeit vergessen. Gut, dann würde ich jetzt, einen Punkt kann ich noch machen. Dann nehme ich den Wichtigeren zum Schluss. Luther's Spiritualität öffnet die Kirche zur Welt hin, gleichzeitig
bleibt seine Frömmigkeit orientiert an der Ewigkeit. Das ist ja, wenn Sie so wollen, allgemein bekannt. Luther's Spiritualität ist eine Spiritualität, die sich durch eine grenzüberschreitende Bewegung auszeichnet. Also Luther hat ja das Kloster verlassen und er hat eine Frau geheiratet, der er geholfen hat, das Kloster auch zu verlassen bei Nacht und Nebel. Er wollte sie ja übrigens gar nicht heiraten, sie war ihm zuvor laut, sie konnte etwas Latein und er wollte ja auch reden und von daher gesehen, passte das zunächst nicht und er hat also redlich versucht, die anderen, die da mit ihr entlaufen sind, ich habe jetzt die genaue Zahl vergessen, unterzubringen bei geachteten Wittenberger Bürger, Bürgern und das ist auch gelungen und die Katharina
ist also übrig geblieben. Und da er verantwortlich war, dass sie das Kloster verlassen hat und es damals noch nicht so möglich war, als Frau ohne weiteres unverheiratet einigermaßen bürgerliches Leben zu führen, fühlte er sich dann verpflichtet, sie zu heiraten. Er hat sie später auch lieben gelernt, darauf haben sie ja jetzt gewartet und es ist sogar, könnte man sagen, in vielerlei Hinsicht die erste moderne Ehe gewesen. Luther hat ja dafür gesorgt, das kommt selten in der Geschichte vor, es kommt gelegentlich mal vor, dass der Kurfürst ein Gesetz geändert hat, damit sie sozusagen ohne Vormund über das Vermögen nach seinem Tod bestimmen konnte. Es ist also ein extra Gesetz zu ihren Gunsten vom Kurfürsten verändert worden.
Ich sagte, Martin Luthers Spiritualität öffnet sich zur Welt hin, man muss allerdings sich immer klarmachen, Luther hat ja das Kloster jetzt rein räumlich gesehen, nicht verlassen. Der Kurfürst hat ihm nämlich das Kloster als Wohnhaus geschenkt. Das ist bis heute das berühmte Lutherhaus in Wittenberg. Als ich da das erste Mal einen Vortrag gehalten habe, fiel mir das plötzlich schlagartig auf. Das ist ja der Ort, wo er als Mönch schon gelebt hat. Also er hat sozusagen versucht von ihnen heraus die mittelalterliche Frömmigkeit zu überwinden, um zu prägen und hat nicht etwa, das ist ja so die landläufige Meinung heute in unserer Gesellschaft, so ein Christentum Leid etablieren wollen. Ja, das denken ja die meisten Menschen unserer Gesellschaft. Das ist auch ein
wichtiger Grund, warum viele die katholische Kirche verlassen und evangelisch werden, weil evangelischer Glaube Christ sein Leid, also Leid wie Cola-Leid, darstellen würde. Das ist aber das Gegenteil von dem, was Luther wollte. Luther hat im Grunde genommen das Christsein sehr anspruchsvoll gestaltet. Bis dahin war es nämlich so, wenn man wirklich anspruchsvoll Christ sein wollte, dann ging man ins Kloster. Und diese Möglichkeit hat Luther abgeschnitten, weil er daran selber gescheitert war, im Grunde genommen, und hat in gewisser Weise die Welt verklösterlicht. Alle sollten gewissermaßen wie ein Mönch und eine Nonne leben, natürlich in übertragenem Sinn. Und von daher gesehen ist das ganz konsequent, dass er auch Zeit seines Lebens mit seiner Familie dann
im Kloster wohnen blieb. Jeder Mensch hat fortan einen Beruf. Das war bis dahin ein Wort, das bezogen war allein auf die Berufung ins Kloster. Durch Luther wird das Wort Beruf endgültig zu einem Begriff, der, was wir heute darunter verstehen, allerdings wir verstehen ihn ja mehr säkular. Also Beruf meint, ich habe auch in meinem ganz normalen beruflichen Handeln die Möglichkeit, ein gottwohl gefälliges Leben zu führen. Im Mittelalter, im Spätmittelalter war man der Überzeugung, außer in der Mystik, dass das Mönchen und Nonnen vorbehalten ist. Und nicht etwa im weltlichen Leben, im weltlichen Beruf. Da hatte man keinen Beruf. Beruf hatte man nur als Nonne und als Mönch. Und bei Luther wird das radikal verändert. Es ist gerade sozusagen die Familie,
der Beruf, das Handeln in der Gesellschaft, wo ich Gottes Willen erfülle und nicht im Kloster. Obwohl man sagen muss, Luther hat durchaus auch differenzierte Aussagen zu dem Klosterleben später gekannt. Es kommt dadurch zu einer, so nenne ich das, Demokratisierung der Spiritualität, also zu ihrer Befreiung aus der Usurpation durch religiöse Eliten. Evangelischer Glaube ist eine Spiritualität, beinhaltet eine Spiritualität für jedermann und jede Frau. Das ist sozusagen das Revolutionäre. Sie müssen nicht einen besonderen Stand einnehmen, Zölibatärleben. Luther ist der erste Theologe von Weltrang, der verheiratet war. Das müssen Sie sich klar machen. Jesus, wenn man
ihn als Theologen bezeichnen will, Paulus und alle anderen, die ihnen folgten, waren unverheiratet. 1500 Jahre lang, auch an der Stelle hat Luther einen revolutionären Bruch vollzogen. Er hat übrigens am Anfang bis immerhin 1525 wie ein Mönch gelebt, bis zu seiner Heirat. Er hat sogar den Habib noch getragen. Im Grunde genommen hat er nur geheiratet, weil man ihm vorgeworfen hat, du willst dir ein kleines Hintertürchen offen lassen. Denn seine Mitstreiter, die waren schon verheiratet im Wesentlichen und er war sozusagen der letzte, der nicht geheiratet hat. Und dann hat man ihm vorgeworfen, du willst mit der alten Kirche sozusagen dir noch ein Hintertürchen offenhalten.
Und daraufhin hat er sozusagen die Ehe, ist er die Ehe eingegangen, auch als ein Zeichen gewissermaßen, dass er ganz und gar hinter seinen reformatorischen Neuentdeckungen steht. Und fortan kann man sagen, ist das evangelische Pfarrhaus das Vorbild geworden für ein modernes christliches Leben. Jahrhundertelang hat im Pfarrhaus, in den protestantischen Gebieten natürlich, in jedem Dorf, in jeder Stadt eine Veranschaulichungsinstanz existiert dafür, wie evangelisches Christsein, evangelische Spiritualität im ganz normalen Alltag gelebt werden kann. Das war sozusagen das kulturprägende, dass Luthers eigenes Pfarrhaus gewissermaßen in Serie gegangen ist. Da konnte
man es sehen, wie man als evangelischer Christ im Alltag lebt. Neben dieser Demokratisierung der Spiritualität war die Spiritualität Luthers der Reformation alltagstauglich. Das ist noch sehr wichtig. Eine alltagstaugliche Spiritualität. Ich war ja sieben Jahre Pfarrer einer Kommunität und da haben wir kurz nach der Wende viele humanitäre Hilfe in Russland geleistet, vor allem bei orthodoxen Partnern. Und das war mir interessant, die orthodoxen Partner, die baten uns, wir sollen ihnen doch gedanklich helfen, wie es möglich ist, sozusagen nicht klösterlich in der modernen Gesellschaft als Christ zu leben. Das war ihre große Frage, wie das gehen kann. Und sie meinten, wie ich finde, zu Recht, wenigstens ansatzweise,
da kann man von evangelischen Christen auch als Orthodoxer etwas lernen. Aber, und ich bitte Sie noch um fünf Minuten Geduld, jetzt kommt die große Spannung. Also Hinwendung zur Welt, Öffnung zur Welt, Öffnung des Klosters zur Welt hin, das ist die eine Seite. Aber auf der anderen Seite gibt es als starkes Gegengewicht von Luthers Spiritualität ihre esiatologische Orientierung, wie wir Theologen sagen. Also ihre Orientierung an der Ewigkeit. Und das ist nicht etwa ein konventioneller Anhang an Luthers Spiritualität, sondern man kann sagen, es ist sogar auch bei Luther das entscheidende Stück seiner Spiritualität. Luther hat jung und alt Lust auf den Himmel gemacht. Das wird in einem Brief an seinen Söhnlein Hans von der Feste
Coburg am 19. Juni 1530 wunderbar sichtbar. Da schreibt er diesem Söhnlein, ich weiß, einen hübschen, schönen, lustigen Garten. Da gehen viel Kinder drinnen, haben goldene Röcklein und lesen schöne Äpfel unter den Bäumen und Birnen, Kirschen, Spilling und Pflaumen, singen, springen und sind fröhlich. Haben auch schöne kleine Pferdlein mit goldenen Zäumen und silbernen Sätteln. Da fragte ich den Mann, des der Garten ist, wes die Kinder wären. Da sprach er, es sind die Kinder, die gern beten, lernen und fromm seien. Ich weiß schon, was sie denken. Aber erinnern sie sich daran, ein Aspekt evangelischer Spiritualität ist die Übung. Da ist Luther
sich ganz klar und jeder Pädagoge weiß das. Gut, da sprach ich, lieber Mann, ich habe auch einen Sohn, heißt Hensichen Luther. Mocht er nicht auch in den Garten kommen, dass er auch solche schönen Äpfel und Birnen essen möchte und solche feinen Pferdlein reiten und mit diesen Kindern spielen? Da sprach der Mann, wenn er gerne betet, lernt und fromm ist, so soll er auch in den Garten kommen. Lippus und Joost sind seine Freunde auch. Und wenn sie alle zusammenkommen, so werden sie auch Pfeifen, Pauken, Lauten und allerlei andere Seitenspiel haben. Auch tanzen und mit kleinen Armbrüstlein schießen. Also ohne mich hier auf die Wahl des Kinderspielzeugs von den Eltern unter
uns einlassen zu wollen. Luther ist viel zu sehr Mensch und sieht den Realitäten ins Auge, wie sie nun mal sind, als die Menschen umerziehen zu wollen. Er ist also offensichtlich der Meinung, oder ich muss anders sagen, er bietet hier alles auf, was nur möglich ist, um seinem Sönlein Lust, wenn sie so wollen, auf den Himmel zu machen. Und kann ganz sozusagen in die Vorstellungswelt seines Sohnes eintauchen. Dass er offensichtlich weiß, dass dieser Sohn gerne mit Armbrüsten schießt. Und das heißt ja noch nicht, dass man damit gleich jemanden tot schießen muss. Und er weiß auch, dass er offensichtlich gerne reitet und er weiß, dass er bestimmte Obstsorten gerne hat. Und das
wird hier alles aufgeboten von ihm, um ihm Lust zu machen, dass in den Himmel kommen. Und wenn sie so wollen, ist Luther ja in der Zeit seines Lebens ein kindlicher Mensch geblieben. Sehr oft bei genialen Menschen, dass sie eine kindliche Seite behalten. Und die ist bei ihm ganz besonders auffällig in seinen Seelsorgebriefen. Da kommen wir heute Mittag drauf zu sprechen. Und er kann im Grunde genommen dann natürlich mehr auf das jeweilige Lebensalter orientiert, auch später älteren Menschen diese ungeheure plastische Lust am Himmel machen. Also da scheut er sich nicht, davon zu schreiben, dass die Hunde goldene Schnauzen haben. Also es ist ihm offensichtlich selbstverständlich, dass im Himmel nicht bloß Menschen sind, sondern dass auch die Kreatur in
den Himmel kommt. Natürlich auch in verwandelter Weise. Also diese Ewigkeitsorientierung von Luther Spiritualität ist leider in der Geschichte der evangelischen Spiritualität im letzten Jahrhundert mehr und mehr zurückgetreten. Und wahrscheinlich der wichtigste evangelische Theologe Eberhard Jüngel hat ja diesen schönen Satz geprägt. Wir sind aus diesseits vergessenen Schülern des Jenseits in jenseitsvergessene Jünger des Diesseits mutiert. Sie verstehen, was er damit sagen will. Also wir haben jedenfalls ganz und da die Orientierung unseres Lebens an der Ewigkeit verloren. Dass das eigentlich ein essentieller Bestandteil christlicher Spiritualität ist, sozusagen den Himmel als Orientierungspunkt zu haben. Ich lebe jetzt seit elf Jahren im Osten Deutschlands und mir ist
aufgefallen, dass tatsächlich der Sozialismus, Kommunismus es fertiggebracht hat, uns diese Ewigkeitsorientierung zu diskreditieren. Mit dem Vorwurf, die christlichen Kirchen hätten damit generationenlang Menschen in Armut und unterdrückt, vertröstet. Billig vertröstet, indem sie sie davon abgehalten haben sozusagen für gerechte gesellschaftliche Verhältnisse zu kämpfen. Aber das Problem ist, dass wir diesen Vorwurf uns haben nicht nur sagen lassen, sondern damit tatsächlich auch die Ewigkeitsorientierung unseres Glaubens weithin verloren haben. Aber ein Christentum ohne Ewigkeitsorientierung, das ist eine Unmöglichkeit. Christsein heißt für Luther Leben unter dem
geöffneten Himmel Gottes. Das ist eigentlich, was wenn man so will, das Geheimnis auch seines Lebens ausmacht. Dass er sich eigentlich natürlich mit großen Schwankungen und Anfechtungen, dass er Zeit seines Lebens sich in diesem Bewusstsein gesehen hat.
Luthers Spiritualität als Herausforderung für heute | 6.4.2
Christentum – das klingt altmodisch, langweilig, naiv. Spiritualität aber klingt modern, entspannend, ein bisschen exotisch. Spirituelle Menschen werden bewundert, Christen werden belächelt. Dabei meint Spiritualität nichts anderes, als den Glauben an etwas, der eingeübt wird und ethisches Handeln im Alltag verlangt. Nichts anderes tun Christen. Sie suchen die Nähe zu Gott und versuchen, ihren Glauben in den Alltag zu integrieren. Das versuchte auch Martin Luther. Er war spirituell, lebte seinen Glauben, wollte ihn erfahren. Und wie so oft in Luthers Theologie hatte seine Spiritualität, sein Verständnis eines lebendigen Glaubens, auch mit Sünde und Vergebung zu tun. Der Leipziger Theologe Peter Zimmerling erklärt, was der christliche Glaube mit Spiritualität zu tun hat, wie der Glaube erfahrbar wird und warum schwierige Lebenssituationen das beste sind, was uns für unseren Glauben und unsere Spiritualität passieren kann.