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Heute Morgen geht es um das schöne Thema Gelassenheit. Gelassenheit ist ja ein Modethema. Ein Hype wäre zu viel, aber es ist modisch, es ist dran, es ist überall. Man kann mal gucken, gibt es denn da Bücher dazu? Ja, genug, um davon erschlagen zu werden. Also, reicht. Und allein die Titel sind sehr lehrreich. Worum geht es? Wege zur Gelassenheit. Es geht darum, innere Ausgeglichenheit zu gewinnen. Klingt auch schön. Nicht nur Ausgeglichenheit, sondern innere Ausgeglichenheit. Sehr beliebt ist auch innere Ruhe. Das ist schön. Man kriegt auch schon in den Titeln mit, was man gerne weniger hätte. Gefühlt am häufigsten Stress. Stress ist doch ein Ding.

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Stress ist irgendwie das Gegenteil von Gelassenheit, Ausgeglichenheit. Und es scheint Stress vorhanden zu sein, so in der Menschheit, in der heutigen Zeit, dass sich Menschen getrieben fühlen oder gehetzt oder unter Druck oder erschöpft. Manche haben im Titel auch bereits negative Gedanken. Das wäre man auch ganz gern los. Innerer Frieden wäre auch sehr schön. Und man möchte eben auf all diesen Wegen Gelassenheit gewinnen. Die Buchcover sind auch sehr interessant. Ich glaube, meistens waren Frauen abgebildet. Aber jetzt nicht so eine Frau vorm Schnitzel, mit Glas Bier in der Hand oder so. Also meistens Frau, die so in die Ferne starrt auf irgendwie wunderschöne Berge. Am besten in Sitzpositionen, wo 90 Prozent der Bevölkerung sagen,

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mein Knie wird das nicht mitmachen oder ich hab Kreuz und so. Ja, ich kann das nicht. Aber man sieht es irgendwie ganz gern, wenn so Frauen, die oft gar nicht auch so alt waren, verknotet irgendwie in die Ferne schauen und einfach so die Tiefenentspanntheit ausstrahlen, die man so wahnsinnig vermisst im eigenen Stress und in der Erschöpfung und so weiter. Gern das Ganze auch mit bisschen Yoga, immer mit Atemübungen und immer auch, dass man so den eigenen Körper entdeckt und sagt: "Sollen wir Freunde werden, das bringt doch alles sonst nichts." Wenn das jetzt so ein bisschen lustig klang - nein, Respekt, das ist total so. Also das ist ja auch 2023 ein großes Thema bei der Sommerakademie Worthaus: sich mit dem eigenen Körper befreunden, atmen,

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so in den eigenen Leib finden und sich in Vollzüge einlassen, die ja ruhiger machen, dass man bei sich ankommt, dass man bei sich spürt, dass man Gedankenketten auch mal kappt und insgesamt so rauskommt aus hochtourigem Funktionieren und so. Ist gut. Ist gut. Also das ist schön. Nichts gegen diese Bücher. Ich bin sicher, sie haben Menschen geholfen, sie tun es und sie werden es weiterhin tun. Das ist kein Aber. Die Bücher wissen selbst auch, dass man jetzt auch nicht restlos alles wegatmet. Also die Idee, zu sagen: "Ich hab so einen Superstressjob, der bringt mich fast um und meine Familie hasst mich schon.

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Gibt's da Yoga-Übungen, dass ich mich darüber nicht mehr so aufrege?" - das ist der falsche Weg. Man kann auf die Idee kommen, dass man vielleicht auch mehr ändern müsste. Manchmal müsste man äußere Verhältnisse ändern, manchmal müsste man eigene Gedanken oder innere Antreiber oder so viel viel kritischer noch betrachten, oft beides. Ich möchte heute in dieses Thema etwas tiefer eintauchen aus christlicher Perspektive. Nicht in dem Sinne wie "Lasst die da alle mal ihre komischen Sachen machen, jetzt kommt die christliche Wahrheit und die fegt das vom Tisch." Nein, so nicht. Aber einfach in dem Bewusstsein, dass wir eine wertvolle Tradition haben, eine hilfreiche, eine inspirierende, eine spannende, und die möchte ich da einspielen. Die möchte ich auf das Thema beziehen und mal ein bisschen schauen, was da kommt. Das Ganze möchte ich verweben mit einer christlichen Gesamtsicht

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von Leben, von Existenz, von Nachfolge Jesu, von Leben, Glauben, Handeln in der heutigen Zeit, in der heutigen Gesellschaft. So, und ich möchte das so machen, dass ich auch, wie ich es gerne tue, einen historischen Anmarschweg nehme. Man macht es ja ganz gern so, dass man sagt: Gelassenheit, was sagt denn die Bibel über Gelassenheit? Ja, ganz sicher gibt es wunderbare Übersetzungen, da hat man auf einmal 100 Treffer oder so. Aber ist Fake. Also was heißt Fake? Es ist dann der Versuch, moderne Wörter zu nehmen, um Sachverhalte zu bezeichnen, die mal ein anderes Gepräge hatten. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit sagbar, wo im Deutschen das Wort Gelassenheit seinen Ursprung hat, nämlich bei einem alten Bekannten der Worthaus-Historie, bei Meister Eckhart. Wenn ihr jetzt nicht sagt: "Ah ja", dann wart ihr letztes Mal nicht dabei.

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Letztes Mal habe ich auch über Meister Eckhart was gesagt. Und jetzt einfach nochmal eine kleine Wiederholungseinheit: Meister Eckhart und die Gelassenheit. Wir begeben uns also zu einem Dominikanermönch, ursprünglich aus Erfurt. Der hat verschiedene Karrieren gemacht im Orden und in der Wissenschaft, oft in Paris gelehrt, was eine Riesenehre war. Das war wirklich so der höchste Ort, wo man so reden können durfte. Ansonsten sehr stark dann aber auch an der Rheinschiene, Straßburg und so weiter unterwegs gewesen. Man spricht heute auch gern von rheinischer Mystik. Das umfasst dann Eckhart und Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Und das ist sehr, sehr spannend, sich damit ein bisschen zu beschäftigen

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im Zusammenhang von Spiritualität, Mystik und anderen Themen auch. Jetzt möchte ich nicht in Eckhart insgesamt einführen, sondern einfach schlicht mal schauen, so gut es geht, was können wir denn bei ihm ausmachen? Warum hat er so ein Wort wie Gelassenheit geprägt oder begründet oder in die deutsche Sprache eingeführt? Eckhart steht in einer langen, mystischen Tradition. Er macht das gern auch ein bisschen unsichtbar. Also er kann sehr stark diese Seite des Übens und des Weges und so weiter ignorieren. Trotzdem merkt man, er steht da in der Tradition der Kontemplation, also eines geistlichen christlichen Bewusstseins, was sehr stark betont: Wir sind vor Gott nicht das, was wir tun. Gott sieht uns nicht in dem, was wir leisten, was wir machen, was wir schaffen,

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dem, was wir an religiöser Übung tun. Das ist bei Eckhart sehr interessant. Sein Jahrhundert ist ja durchaus eins, wo das zählte, wo sehr klar war: Die Gnade Gottes ist das eine. Das andere ist, dass wir der Gnade Gottes gleichförmig werden. Wir werden der Gnade Gottes gleichförmig dadurch, dass wir die Gnadenmittel, die Sakramente, das Abendmahl, die Beichte, wo wir immer den Segen Gottes finden, uns zu eigen machen, uns dem aussetzen. Wir werden der Gnade Gottes dann aber auch teilhaftig, indem wir sie leben. Indem wir die Liebe Gottes, die Gott uns zuwendet, selbst umsetzen, in Liebe zu Gott und in Liebe zum Nächsten. Und das heißt, indem wir geben, spenden, opfern, Gutes tun, uns um andere kümmern,

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aber auch, indem wir Gott Gutes tun. Ja, wie soll man das denn machen? Die Kirche hat sich freundlicherweise angeboten, Dinge entgegenzunehmen. Ist ja auch sehr schön, war sehr nett gemeint. Also man sollte auch Danke sagen, dass man da wirklich der Kirche viel stiften kann. Ja, aber auch natürlich Gott direkt durch Gebetszeit und durch Fasten. Manche dachten: Bestimmt freut sich Gott auch sehr, wenn ich mich selbst feste haue mit einer Peitsche. Ah, oder auch nicht, aber kam alles vor. Oder Fasten, da dachte man auch, ja, der liebe Gott freut sich sehr. Die Klugen haben gesagt: Nee, es geht nicht darum, dass er sich freut, es geht darum, dass wir Platz schaffen. Das sind geistliche Werke, wo wir im Grunde Raum geben, wo wir Platz schaffen.

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Wir geben Gott Zeit, wir geben unser Herz. Und das ist eben eine Art innere Weise, gegenüber Gott gnadenempfänglich zu werden. Das ist doch ein bisschen eine Alltagsfrömmigkeit. Und auch das meinte ich jetzt deskriptiv. Das hat alles auch seinen Sinn und seinen Wert. So, und Eckhart gehört zu denjenigen, die früher als viele andere diese Grundhaltung radikal hinterfragt haben. Grundbeobachtung von ihm, und das ist erwachsen aus Kontemplation, aus betrachtendem, schweigendem Gebet, ist bei ihm die: Gott sieht nicht auf unser Werk, auf unser Tun, auf das, was wir machen, sondern Gott sieht auf unser Sein, auf das, was wir sind. So, und das Entscheidende ist, das quasi zu verinnerlichen, sich das durch die Gehirnwindungen zu ziehen,

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dass man eben selbst auch nicht mehr schaut, was tue ich für Gott, und was mache ich und was gebe ich und was opfere ich und was spende ich, sondern dass ich all mein Sinnen darauf setze, dass Gott mir groß wird und dass ich dessen innewerde, dass ich immer schon Geschöpf Gottes bin und in dieser Kreatürlichkeit von ihm ungetrennt, ich bin von ihm ungeschieden, ich bin unterschieden. Eckhart hat keine Position wie "alles ist eins, ich bin Gott, Gott bin ich" - das ist nicht das Ding. Aber es ist auch kein Dualismus, es ist keine radikale Trennung, und Eckharts Empfehlung war, Abgeschiedenheit neu zu entdecken. Es gab eine Abgeschiedenheit der Volksfrömmigkeit, die sagte: Ja, das ist ganz wichtig, dass wir abgeschieden leben von der Welt

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und ihren Versuchungen und ihren Verlockungen und von all dem, was uns da so nervös macht und so, wir müssen in die Abgeschiedenheit. Es ist erstmal stressig; der Seele, der ist das unangenehm, aber sie wird da offen und empfänglich für Gott. Und Eckharts Vorschlag ist: Lasst uns Abgeschiedenheit aber mal radikalisieren. In der Abgeschiedenheit tun wir nicht etwas, um Gott irgendwie näherzukommen oder ihm zu gefallen. In der Abgeschiedenheit lassen wir. Wir lassen uns selbst, wir lassen all das Weltliche, wir lassen alles eigene los, und darin werden wir unserer Ungeschiedenheit von Gott inne. Das ist eine Erleuchtung, Erkenntnis, eine Einsicht,

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die uns in der Abgeschiedenheit widerfahren kann. Und der Effekt dabei ist: In dieser Abgeschiedenheit mache ich mich, modern würden wir sagen, mein Wert oder meine Identität - das ist noch nicht seine Sprache -, aber so das, was ich bin, nicht mehr abhängig von meinem Tun, von meinem Status, von was auch immer, sondern ich ruhe in göttlicher Liebe, in göttlicher Zuneigung. Ich bin von ihr ungeschieden und lebe aus dieser Ruhe, ohne irgendein drängendes, drückendes Bewusstsein, Gott in irgendeiner Weise gefallen zu müssen durch was auch immer, ich lebe aus diesem Sein mit Gott heraus. So, das ist so eine kleine Rahmenlogik, und innerhalb dieser Rahmenlogik liebte es Eckhart, das deutsche Wort "lassen" immer wieder zu verwenden.

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Ein kurzes Zitat heißt: "Wo immer du dich findest, lass von dir." Lass dich los, lass dich, lass dich los, lass ab von dir. Warum? Weil, wenn du dich um dich drehst, wenn du selbstbezüglich in irgendeiner Weise dich befragst nach deiner eigenen Frömmigkeit oder nach deiner eigenen Performance oder wie du so wirkst oder wie auch immer, trübst du dein Bewusstsein ein und fällst in eine Geschiedenheit von Gott. Du ruhst nicht mehr wahrhaft in göttlicher Liebe und im göttlichen Sein, darum lass dich. Und was Eckhart - und das hat wirklich frühreformatorische Züge - besonders ausführt:

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Lass von dem ganzen religiösen Stress - das ist nicht seine Sprache, aber man kann es gut so übersetzen -, also dieser ganze religiöse Stress, vor Gott was darstellen zu müssen, auf die Beine kriegen zu müssen, irgendwas, wo du dir immer den Puls fühlst oder so - lass einfach sein. Das brauchst du nicht, ist nicht nötig, du bist darin nicht da, wo du eigentlich bist. Du verfehlst dein wahres Selbst, wenn du es selbstbezüglich zum Projekt machst. Lass dich, und dann wirst du in Gott und in dir einkehren, dann wirst du - er hat dafür so Begriffe, die uns befremden, wie göttlicher Funke oder Gottes Geburt in der Seele, das ist so seine Sprache. Es geht ihm aber immer wieder darum, dass die Einheit mit Gott nicht etwas ist,

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was wir herstellen, sondern etwas, in dem wir uns vorfinden, wo wir uns lassen. Also "lass dich" ist das eine. Das ist im Grunde die Zuspitzung von "lass die Welt", lass diese ganzen Dinge, die Welt ausmachen. Das kann man durchdeklinieren, das ist jetzt am wenigsten spektakulär, weil das aber natürlich das ABC des Mönchtums ist. Also lass Besitz. Frag dich nicht, wäre es nicht schön, ein Eigenheim zu besitzen, man kann ja dann auch was vererben und so weiter - aber Kredit und Renovierungskosten ... Er würde sagen: Eine einfache Lösung ist doch: Komm, lass. Lass. Menschen, die was besitzen, sind doch ganz arme Schweine irgendwie, da müssen wir mal gucken: die Zinsen, die Erbschaftssteuern und so ... Komm, lass. Also Mönchtum heißt Besitzlosigkeit, ich brauch das gar nicht alles überall; was brauche ich Wurzeln hier, wenn ich in Gott und in aller Kreatur verwurzelt sein darf,

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wenn ich frei bin? "Lass die Welt" heißt auch: Lass die Leute doch reden, lass sie denken, lass sie urteilen, lohnt doch nicht, sich deswegen irgendwie einen Kopf zu machen oder so. Eckhart musste das am Ende seines Lebens auch ein bisschen durchprobieren, wo manche gesagt haben: Der Eckhart ist schon auch ein Ketzer. Gut, da hat man dann nicht gleich gesagt, den blockier ich, stelle ich auf Stumm oder so; schön war das damals nicht, Ketzer wurden ja ganz gern auch mal angezündet und so. Also man musste schon ein bisschen was überlegen, hat er dann auch gemacht, aber im Großen und Ganzen auch gesagt: Ja komm, ach, der Papst selbst auch, ja, da muss man schon was zu sagen. Aber deswegen jetzt komplett ruhelos zu sein, ist einfach übertrieben, was will man jetzt da irgendwie emotional werden oder so, das wäre übertrieben.

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- Eine besonders interessante Zuspitzung ist: "Lassen" gilt gegenüber dir selbst, gegenüber der Welt, auch gegenüber Gott. Es gibt von Eckhart das spannende Wort: "Ich bitte Gott darum, mich quitt von Gott zu machen." Ich bitte Gott darum, Gott lassen zu können. Klingt jetzt so ein bisschen ultra-buddhistisch, das finden viele auch total super und sagen: Ja, das ist ja wunderschön, man hofft immer, dass Christen das merken." Wie ist es bei Eckhart gemeint? Es ist bei ihm tatsächlich auf eine bleibende Spannung eingestellt. Also die These ist nicht, die höchste christliche Einsicht ist: Auch Gott ist eine Illusion und alles ist eins und das Sein ist alles.

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Es gibt auch Menschen, die das in diese Richtung steigern - aber wir üben uns heute hier in Gelassenheit, wir lassen uns von nichts schocken. Das ist aber nicht das, was Eckhart meint. Es ist schon ernst gemeint, dass er diesen Satz beginnt mit: "Ich bitte Gott darum." Ich bitte Gott darum, Gottes quitt zu werden oder Gott loszuwerden oder dass ich Gott lassen kann, so wie auch immer man das drehen und wenden möchte. Was meint er damit? Da drin steckt die tiefe Einsicht, dass der Gott der zweiten Satzhälfte ja immer auch der Gott im Sinne meiner Konstruktion ist. Da, wo ich mich auf Gott beziehe, beziehe ich mich so auf Gott, wie ich mir Gott zuvor aufgezogen habe als Bezugspunkt.

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Ist das kompliziert? Ich weiß nicht, spürt mal in euch rein, man kann es nochmal drehen und wenden. Also: Jeder Gott, auf den ich mich als Gegenstand beziehe, ist von mir zuvor dafür so vergegenständlicht worden. Dass ich so auf ihn Bezug nehmen kann, jede Art und Weise, nach Gott zu greifen, hat immer diese Implikation, ihn vorher greifbar gemacht zu haben. Die Pointe ist ganz schlicht: Das ist er nicht. Das ist er nicht. Er ist am Ende nie etwas, was ich vergegenständlichen kann. Er ist nicht verobjektivierbar, nicht zu vergegenständlichen, nicht greifbar. Diese Aussage ist nicht identisch mit "Gott an sich ist Illusion, Gott ist Fake, Gott ist reine Konstruktion".

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Das ist nicht dasselbe, sondern Gott ist nicht konstruierbar, nicht greifbar, nicht verobjektivierbar. Darum macht die erste Satzhälfte Sinn: "Ich bitte Gott darum." Und in der Dynamik dieses Satzes kann man sagen: Ja, aber wenn ich sage, ich bitte Gott darum, ist das nicht auch Konstruktion? Und Eckhart würde sagen: Applaus, Applaus. Ja, genau, genau. Auch das. Ja, aber du bist mittendrin. Und du kannst ja selbst die Matrix nur durchschauen innerhalb der Matrix. Dann tu das aber auch in aller Gelassenheit. Und wenn du Gott lässt, dann lässt du ihn ja nicht, um danach in irgendeinem, was weiß ich, materialistischen Universum zu landen oder in der Welt, wo es außerhalb deines Ichs gar nichts mehr gibt,

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sondern wenn du Gott lässt, sinkst du in Gott und kehrst ein in die wirkliche Ungeschiedenheit mit Gott und der göttlichen Liebe, die immer schon da war. Jetzt könnte man sagen: Gut, also ich soll mich lassen und ich soll die Welt lassen und ich soll Gott lassen. Aber bin ich am Ende des Tages nicht immer noch so befangen in dieser Bewegung des Lassens? Und Eckhart würde schon wieder Applaus geben und sagen: Ja genau, selbst das Lassen musst du lassen. Selbst das, also auch das Lassen ist jetzt nicht der finale Krampf, so der Endkampf oder so, sondern auch das Lassen lässt du lassend.

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So, und dann ist Ruhe. Dann, dann, dann ist Ruhe. Eckharts Sicht, die ist ein bisschen kompliziert, alles noch viel schlimmer, als ich jetzt hier so dargestellt habe, aber ich lasse euch mal damit in Ruhe. Aber ihr merkt so ein bisschen, es ist der radikale Ansatz, nicht dualistisch zu denken. Das normale Dualisieren, das Entgegensetzen, das Hantieren mit fixen Positionen wird immer schon unterlaufen von einem tiefen Bewusstsein der Grundeinheit. Diese Grundeinheit in Gott ist nicht unterschiedslos monistisch, um das ganz vornehm zu sagen, sondern sie ist unterschiedsreich. Das ist bei Eckhart - wie gesagt, es gibt andere religiöse Angebote -

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also nicht der Punkt, in eine völlige Unterschiedslosigkeit einzutauchen, wo am Ende dann tatsächlich nichts das höchste aller Ziele ist. Da, wo woanders nichts oder Leere ein letzter Begriff ist, ist Eckharts letzter Begriff immer Gott. Und Gott ist immer Liebe. Das ist ein großer Unterschied. Diese schönen westöstlichen Dialoge sind ganz fantastisch und wir werden alle noch viel lernen können. Aber es ist bei Eckhart so, dass er am Ende in dieser christlichen Tradition steht. Eckhart - da ist schon viel dran, da kann man viel mit machen, und seine Gelassenheitskonzeption arbeitet tatsächlich an der inneren Art und Weise, sich selbst Welt und Gott zu konstruieren.

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Also er betreibt Auflockerungsübungen und Gelassenheitsübungen für die mentale Konstruktion selbst, für die Kategorien, für die Hardware. Und er würde sagen: Also dass Menschen atmen und dass sie in die Natur gehen und dass sie Vögeln beim Singen zulauschen - alles ganz fantastisch. Haben wir alle nicht mal so angefangen? Aber am Ende des Tages, für die letzte Gelassenheit, da musst du auf Ebene eins zurück. Da musst du auf die Grundverschachtelung deiner geistigen Orientierung, deines mentalen Zugriffs auf die Welt, und da musst du dich durcharbeiten. Sonst wird die Gelassenheit immer etwas sein, was du auf Zeit erreichen kannst durch Übungen.

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Eckharts Gelassenheitsangebot reicht in die Grundfeste, der geistigen Ordnung des Menschseins. Es wäre jetzt auch ganz schön zu sagen: Mehr geht jetzt nicht. Will man das steigern, will man das toppen? Es ist jetzt Zeit für einen Shift. Ich mach es ja ganz gern - wenn man das Gefühl hat, man hätte jetzt vielleicht eine Lösung in Sicht und so, habe ich ja so Freude daran zu sagen: Nee, jetzt gehen wir nochmal auf Abstand und werfen da nochmal einen kritischen Blick drauf. Ich glaube, das ist bei Eckhart schon auch wichtig. Es ist natürlich immer ein bisschen popelig, sich jetzt so neben einen Riesen zu stellen und zu sagen: Ja, aber ich sehe, alles hast du auch nicht in den Griff gekriegt. Ich meine es jetzt nicht so schlimm, aber ich finde, es gibt manchmal auch Formen der Eckhart-Begeisterung oder Eckhart-Faszination. Man sollte andere Meinungen konsultiert haben

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und kritische Perspektiven einfach mal ein bisschen aufgesteckt haben. Und da muss man nun auch schauen; es wäre falsch, Eckhart mit den Werkzeugen zu traktieren, die man im Kampf gegen Skeptiker oder Stoiker immer schon mal braucht. Man könnte ja sagen: Du ziehst dich jetzt hier einfach in dich zurück und löst dich von der Welt. Und du bist wahrscheinlich auch so ein Schweigemonster, was seine Spiritualität so einfach durchziehen würde, und wenn die Welt brennt, ist dir auch alles egal. Nein, das ist Eckharts Ding nicht. Es gibt bei Eckhart zum Beispiel die schöne Stelle, wo er sagt: "Wenn du im Gebet tiefenversunken bist in Gott und göttlicher Liebe und dir fällt in diesem Moment ein, dass dein Nachbar krank ist und sich nichts zu essen holen kann und jetzt Hunger hat,

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dann sage nicht: Gut, aber jetzt bete ich erst mal zu Ende, weil es so schön gerade in Gott ist. Nein, Eckhart sagt: Dann hör auf zu beten. Steh sofort auf und geh und hol ein Süppchen und bring es deinem Nachbarn. Und das ist für ihn ganz, ganz wesentlich, weil er sagt: Du bist Gott im Gebet nicht näher als beim Putzen der Latrine. Du bist Gott überall gleich nah. Und wenn du glaubst, du bist Gott näher in der Kirche oder beim Gebet oder beim Bibellesen als beim, was weiß ich, Kartoffelschälen oder Autoreparieren oder das Erbrochene eines Kindes Aufwischen -

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schlecht, nicht gut, unerleuchtet. Das ist einfach nicht erleuchtet, wenn du das glaubst. Du bist an jedem möglichen Welt- und Lebenspunkt Gott gleichermaßen nah, so du dich lässt und in dieser Gelassenheit in Gott bist. Und Gelassenheit ist eben Gelassenheit in Gott und göttliche Liebe. Und der Gedanke, dass dein Nachbar eines Süppchens bedarf, muss jetzt nicht mehr exegetisiert werden oder so. Der Liebe ist dann klar, was Sache ist. Da muss er auch nicht mehr irgendwie klopfen und sagen: Ich komme in einer Viertelstunde oder so. Du machst es einfach. So, das zerstreut dich dann auch nicht, du verpasst auch keinen Schluck aus dem Gnadenkelch oder so. Das ist falsches Denken.

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Also Eckharts Mystik ist überhaupt nicht asozial. Das ist viel, das ist schön, das ist sehr, sehr gut. Eckharts Mystik hat ein anderes Problem, aus meiner Sicht, aus meiner höchst bescheidenen, aber andere sagen das auch. Eckharts Mystik, Eckharts Haltung - er mag, er benutzt das Wort Mystik gar nicht, es ist unsere Konstruktion, ihn in eine Mystikgeschichte zu stellen. Das müsste man gar nicht. Sagen wir Eckharts Glaube, Eckharts Gelassenheit ist nicht asozial. Sie hat einen Zug ins Apathische. Apathisch in welchem Sinne jetzt? Er ist nicht radikal apathisch, dass er im Grunde die Geistesklarheit gegen alle Gefühlswelten eintaucht. In der Liebe Gottes zu sein, in diesem Sinne eben auch in geistiger Freude sich zu befinden, damit ist er völlig fein. Das ist super.

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Er kann es aber dann auch zuspitzen und er tut es wirklich: Wer in diesem Sinne in der Einheit mit Gott lebt, den bekümmert nichts mehr. Der klagt auch nicht. Und was immer ihm widerfährt oder zustößt, welches Leid er erfahren muss oder was seinen Nächsten, seine Angehörigen und seine Freunde, was immer diese Welt in Aufruhr versetzt, das bekümmert den Gottseligen wahrhaftig nicht. Und er kennt kein Klagen und kein Trauern und kein Weinen. Und das, meine ich, das ist schon ein Ding, wo man, wenn man das mal zu Ende rechnet, sagen müsste: Meine Güte, da ist der Meister Eckhart also wahrhaft meisterlich, da ist der Herr Jesus noch auf dem Weg gewesen.

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Der hat noch geweint und so. Der hat Jerusalem gesehen und musste schon wieder weinen. Also da würde Eckhart sagen: Was ist denn mit dir? Oder Jesus hat noch Wut gekriegt, hat da seinen Klaus-Kinski-Moment gehabt und hat eine Peitsche genommen und hat den Leuten ... Das kann man sich bei Eckhart nicht vorstellen. Als man ihn zum Ketzer machen will, da macht er sich doch keine Peitsche mit Stricken und geht auf die los und so. Gar nicht. Und vielleicht ist das seine Grenze. Vielleicht ist das nicht die Champions League. Vielleicht ist das ein Modus der Übererlöstheit, der totalen Erlösung, in der, so empfinde ich es, viel Wahres und Faszinierendes berührt ist,

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die sich aber am Ende in eine Sphäre der Seligen hineintransponiert, die sich aus diesen Weltbezügen einfach herausnimmt. Ich glaube, man kann bei Eckhart viel lernen über Gelassenheit, über Glauben als Sein und Frömmigkeit nicht als Tun. Was man bei ihm nicht so lernen kann, ist diese ganze Achse "Das Wort ward Fleisch". Dieses Inkarnatorische, dieses Sich-Einlassen auf diese Welt in ihrer Zerbrochenheit, mit ihren Rissen und ihren Spannungen, um an denen teilzunehmen und sie in Liebe zu ertragen oder zu lösen. So, und das in aller Freundlichkeit als kritische Anfrage. Also möge er ruhen oder schweben, worin immer da die göttliche Liebe für ihn das Entsprechende findet.

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Aber ich glaube, die Erinnerung an Eckharts Gelassenheitssicht ist hilfreich. - Ich möchte es jetzt aber doch noch mal weitertransponieren und auf andere Fragen anwenden und hier auch noch mal neutestamentlich Maß nehmen. Also wir hatten die Lösung nicht. Wir müssen uns jetzt noch mal neu auf die Suche begeben. Ich möchte das mal auf heute anwenden. Es gibt ja das interessante Wort von Berthold Brecht: "Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin." Und wir wissen, wie es weitergeht: "Dann kommt der Krieg zu dir." Und teilweise hat Eckhart das ja im eigenen Leben erfahren müssen, dass man den Spannungen und Auseinandersetzungen einer Zeit nicht grenzenlos ausweichen kann.

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Man kann es probieren, man kann es versuchen. Dem Einzelnen ist es ja vielleicht auch zu gönnen, dass er irgendwie ein Exil findet, ein inneres und äußeres, wo er sagt: "Die Welt dreht durch und ich begehre nicht daran schuld zu sein." Aber im Großen und Ganzen sind wir ja in große Spannungen geworfen. Und das ist ja der Einladungstext hier auch für Worthaus und dieses ganze Panorama von großer Transformation, die wir verbocken, weil wir zu träge und zu stumpf sind, weil wir das, was wir wissen, in irgendeiner Weise nicht fühlen können und entsprechend nicht so handeln, wie wir wüssten, dass wir sollten und es faktisch auch könnten, und uns stattdessen weitertreiben lassen von Zwangslogiken unserer Wirtschaftsweise und unserem spätimperialen Machtgehabe und all diese ganzen Dinge, die sind ja real. So und die Flucht in den Seelenfunken, der Ausweg in den Rausch oder ins private Heim oder in den religiösen Rausch oder was weiß ich, in den Trip, zu sagen: Die Welt geht sowieso vor die Hunde,

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aber ich könnte noch viele Seelen für Jesus retten - all das sind ja Fluchtbewegungen vor dem, was uns alle betrifft und unsere Lebensgrundlagen ökologisch, wirtschaftlich, sozial anfrisst, zerstört und uns mit wer weiß welchen Folgelasten beladen wird. In diese Fragen hineinzugehen, das ist unser Alltagsauftrag, das ist christliche Sozialethik, soziale Verantwortung, all dies, wo viele von uns alle irgendwie politisch oder beruflich oder sozial ja auch dran sind.

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Auf dieser Tagung arbeiten wir daran. Mein Zyklus hat Haltungen identifiziert, Haltungen, die dafür, für diese Kämpfe, Ressourcen sind, Kraftquelle, Ausrichtung, Orientierung. Das ist so der rote Faden durch meine Themen, und insofern halte ich nichts von einer Gelassenheit, die apolitisch, asozial, apathisch, verantwortungslos, visionslos einfach die Welt mit ihren Krisen in ein großes spirituelles Egal beerdigt. So nicht. Was ich als Nächstes anbieten möchte, ist eine klitzekleine Bestandsaufnahme der Lage des Globus. Wo stehen wir? Was sind so die großen intellektuellen Spannungskrisen? Was sind so die Gegensätze unserer Zeit?

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In aller Kürze - also es ist ironisch gemeint und so, aber ein bisschen kann man ja schon sagen: Wir sind in einer Weltzeit im Moment, die durch Polarisierung bestimmt ist, die durch Lagerbildung, durch Blockbildung, durch gewachsene Gegensätze geprägt ist. Ich möchte die nächsten zehn Minuten versuchen, uns davon einen Grundbegriff zu vermitteln, um irgendwie zu schauen: Wo stehen wir denn? Bei dieser aktuellen Lage muss man, glaube ich, die etwas längere Vorgeschichte mindestens berücksichtigen. Die große Transformation, jetzt mal aus westlicher Sicht gesprochen - man muss es so relativieren -, ist ja die, dass wir im 17., 18. Jahrhundert eine umfassende Verwandlung der Welt erleben.

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Eine große Transformation, die alle Lebensbereiche bestimmt. Was findet statt in dieser großen Transformation? Dies, dass eine ständische und statische Gesellschaft erheblich durchgerüttelt wird. Gesellschaft war ständig und statisch. Was meint das? Also sie war sozial geschichtet. Sie war sehr klar geschichtet, so von Oberschicht bis Unterschicht, mit den vielfältigen Konfigurationen, König, Kaisertum, Adel, Oligarchie, Priesterkaste, Kirche und Staat als Großmächte. Dazwischen in irgendeiner Weise Ansätze dessen, was später mal Bürgertum heißen wird, große Mengen von Landbevölkerung, Landproletariat, die teilselbstständig sind und bis tief in Verelendung und Unfreiheit absinken.

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Frühkolonial ist das schon verbunden mit vielfältigen Formen der Ausbeutung, Entmenschlichung und Entrechtung, dies aber im Bewusstsein darin, eine ewige Ordnung vorfinden zu können. Also eine Naturordnung, die soziale Ordnung als Abbild einer Schöpfungsordnung, einer natürlichen Ordnung, einer nicht veränderbaren Seinshaftigkeit der Welt im Sozialen. Ja, ist super vereinfacht, aber im Großen und Ganzen so vereinfacht auch nicht. Ich fürchte, man kann das gut so beschreiben. Also eine ständische und statische Welt. Die große Revolution - westlich betrachtet - ist ja die, dass diese Ständeordnung hinterfragt wird. Sie bekommt ganz schlicht die Aufschrift "ungerecht" verpasst. Im Namen der Gleichheit und Freiheit aller Menschen wird die Herrschaft der Eliten über die vielen in Frage gestellt,

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der Adeligen über die Bürger, der Kleriker über die Laien, der Freien über die Versklavten, der Besitzenden über die Besitzlosen. All das wird in einer Gerechtigkeitsrevolte als ungerecht, als falsche Ordnung diskreditiert. Und dieser Aufstand gegenüber die ständische Ordnung setzt sich fort in der Infragestellung ihrer Statik, ihrer Naturordnung, ihrer Schöpfungsordnung, ihrer Gottgegebenheit oder ihrer Natürlichkeit. Und es entstehen vielfältige moderne Bewegungen, die menschliche Gesellschaft dynamisieren, insofern, dass sie sie geschichtlich lesen und sagen: Die Herrschaftsverhältnisse, in denen wir uns befinden, sind geschichtlich geworden

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und sie können geschichtlich überwunden werden. Und mit dieser Idee entstehen unterschiedliche Visionen, die sich in den neuzeitlichen Revolutionen so oder so durchsetzen. Das war jetzt der Inhalt von Geschichtsunterricht Klasse 5 bis 13 in sieben Minuten oder so. Bisschen abstrakt, ich gebe es alles zu. Und auch wirklich nur westlich. Klar, also das gehört ja zur Gegenwart, dass wir sagen: Das hat man in Indien nicht so erlebt. Aber was soll ich jetzt machen? Die westliche Variante ist diese: Dieser große Umsturz geht mit einer gewissen Pluralität einher und das ist ab dem 18. Jahrhundert greifbar. Dieser Umsturz setzt sich auf breiter Front erst mal grundsätzlich durch. Dann aber bringt er ein Spektrum hervor, was man so auf einer Achse von moderat bis radikal verteilen kann.

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Zu diesem Spektrum gehören ursprünglich auch radikale Feinde des Umschwungs insgesamt. Das wäre im Grunde der Begriff der Reaktion, der Versuch, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Im 19. Jahrhundert ist die Reaktion eine große Macht in allen europäischen Staaten und Ländern und so weiter. Das ganze Problem der Reaktion ist, dass die faktische Transformation der Welt zunehmend irreversibel wurde. Gerade die nordamerikanischen Kolonien sind ja schon wieder interessant, weil da die Revolution einen neuen Anfang des Staates markierte. Davor ist nichts. Also ein George aus London ist nichts, wohin man zurückwill.

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Es gibt ja fast alles in Amerika, aber ich wüsste jetzt keinen, der sagen würde: Wir könnten jederzeit auf Knien zu Charles zurück oder so. Aber es gibt kein Zurück, weil das Land ja eine andere Konstitution tatsächlich als Startbedingungen hat. Viel gravierender in der Folgezeit sind die Durchsetzung dieser Dynamisierungskräfte auf wirtschaftlichem Gebiet. Und das ist jetzt der ganze Prozess von der Frühindustrialisierung bis zum Fordismus. Ich will jetzt nicht alles vertiefen, das lernt man in Soziologie, Sachkunde - habt's gelernt, wo ihr wollt, oder lest nach. Aber das führt ja zu der großen Umwälzung, dass eine Welt, die lange Zeit 90 Prozent der Menschheit im Agrarsektor hat, zunehmend kippt in eine Welt der Urbanisierung, der Industrialisierung, der Verbürgerlichung, mit dieser Verbürgerlichung gleichzeitig aber auch der Entstehung eines großen Proletariats, eines Massenproletariats mit Verelendungsabhang,

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was wieder weiterkippt in eine neue Ausdifferenzierung des bürgerlichen Zeitraums. Wir müssen das jetzt nicht weiterführen, aber ihr versteht die Richtung. Und das ist ja gar nicht mehr rückgängig zu machen. Also reaktionär zu sein und zu sagen, mit der Aufklärung ist einfach alles schiefgelaufen, wir hätten gerne irgendwelche Bourbonen und Habsburger zurück und 90 Prozent der Menschheit melkt wieder Kühe oder sonst wie - ja, viel Spaß! Also das ist nicht mehr möglich irgendwann. Diese Dynamik setzt ein Spektrum am Ende aus sich heraus, wo echte Reaktion, echte Rückabwicklung der modernen Transformation unmöglich geworden ist. Aber in dem möglichen Spektrum hat man dann ganz schlicht eine Verteilung, eine breite Verteilung, wo man gewisse Pole aber durchaus benennen kann.

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Es gibt einen Pool, der diese moderne Situation erst zähneknirschend, dann irgendwann verdrängend akzeptiert, sich aber permanent um Traditionsverbundenheit bemüht. Moderner Konservatismus entsteht im 19. Jahrhundert. Wenn es heute Konservative gibt, die irgendwie das Gefühl haben, sie sind konservativ, und sich damit beziehen auf die Urgemeinde, oder ich weiß nicht, worauf man sich beziehen will, dann ist das einfach ein Illusionseffekt, der sich eingestellt hat bei einigen. Aber eigentlich kann man die Geschichte des Konservatismus nicht hinter das 19. Jahrhundert sinnvoll zurückerzählen, weil das gar nicht funktioniert, so gar nicht richtig möglich ist.

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Also richtig Monarchist sein macht ja auch erst Sinn, wenn Monarchie in Frage gestellt ist. Hat ja keiner im 16. Jahrhundert gesagt, ich bin Monarchist oder so. Andere hätten gesagt, ja ich will auch nicht sterben, so what, also was ist das für eine Idee irgendwie, da kommt man ja gar nicht drauf. Es gibt aber das Bewusstsein und Bedürfnis, konservativ zu sein im Sinne einer Traditionsverbundenheit. Wer einen Namen haben will: Edmund Burke. Edmund Burke ist ein großer britischer Theoretiker. Wir könnten weitere nennen, aber das müssen wir nicht so wild machen. Dieser moderne Konservatismus hat eine grundsätzliche Akzeptanz für die moderne Transformation in Richtung Freiheit und Gleichheit. Das ist für den modernen Konservatismus eigentlich selbstverständlich.

48:05
Das gehört dazu. Also er ist liberal-konservativ in diesem Sinne. Das ist zumindest das, was sich durchsetzt. In Deutschland dauert das ein bisschen länger. Da gibt es ja bis 1918 wirklich noch Monarchisten, für die das dann auch Sinn macht im Sinne eines robusteren, quasi reaktionären Konservatismus. Aber nach 1918 ist diese Option einfach gegessen. Und Wilhelm II. beim Holzhacken zuzugucken in den Niederlanden, hat es dann den Allermeisten irgendwie erklärt, dass es das wohl echt war und dass es nichts mehr wird. Auf der anderen Seite ist es ein bisschen bunter, ein bisschen interessanter, weil man hier von Anfang an eine innere Dualität des progressiven reformerischen Flügels entdecken kann.

49:02
Denn das allgemeine Streben nach Freiheit und Gleichheit konnte unterschiedlich akzentuiert werden. Man konnte sehr liberal akzentuieren und sagen: Das große Ding ist Freiheit. Das große Ding ist Liberalität, Freiheit, Chancengleichheit, Selbstbestimmung. Das ist das eine Ding. Das ist das goldene Ei. Das ist der heilige Gral, den wir Modernen erfunden haben. Und darauf schwören wir und dafür sterben wir. Die andere Möglichkeit, sich modern zu sortieren, war, zu sagen: Freiheit ist immer nur in sozialen Verhältnissen real. In sozialen Verhältnissen besteht die Möglichkeit zur Freiheit nicht einfach als Gegebenheit. Freiheit setzt soziale Positionen voraus, in denen Freiheit realisierbar ist.

50:05
Wenn du eine Gesellschaft hast, wo Bildungsfreiheit besteht, aber ein Studium so teuer ist, dass nur 10 Prozent der Bevölkerung das für ihre Kinder zahlen können - sagen die -, ist es keine freie Gesellschaft. Das ist eine oligarchische Gesellschaft, ist eine kapitalistische Verkleisterung einer alten Ständegesellschaft. Die Ständegesellschaft hat die Tapete gewechselt, aber arbeitet nach wie vor mit Obergeschoss und Meerblick und Souterrain, wo du im Dreck stehst. Es heißt jetzt nur liberale Gesellschaft. Aber das, was früher Name und Wappen war, ist jetzt einfach Besitz und sozialer Status geworden. Auf diesem Strang ist der entscheidende Kampf der für die Gleichheit aller Menschen, und das auch als radikales Ernstnehmen der großen Transformation.

51:06
Und das, was ursprünglich nah beieinander war, ist etwas, was sich im 19. Jahrhundert so stark auseinanderbewegt, dass es teils gegensätzlich werden kann, man könnte sagen, die große Auseinanderentwicklung von links und liberal. Das ist der große Prozess, den man im 19. Jahrhundert auf der reform- und fortschrittsorientierten Seite der Transformation hat. Das war jetzt ein bisschen Gesellschaftskunde, bisschen kleine Erinnerungen. Wofür ist das nützlich? In den Kirchen passiert dasselbe. Übertragen und durchgespielt ganz schlicht auf den Umgang mit Glaubens- und Lebensverhältnissen, um die Übertragung kurz anzudeuten. In den Kirchen finden diese Umschwünge auch statt. Es ist verschoben, aber man muss sich der Aufklärung irgendwie stellen. Staatskirchenregiment wird abgeschafft. Also dass Kirchen Kirchen werden, dass Gemeinden entstehen, das ist ja alles neu.

52:06
So was wie Kirchengemeinden, also Gemeinde, ist ein modernes Konstrukt. Früher waren es die Bürger von Wittenberg. Da hättest du nicht gesagt, ich bin hier Marktkirche-Gemeinde oder so. Das ist ja Quatsch. Man konnte ja gar nicht außerhalb sein. All diese modernen Dinge betreffen alle. Und innerhalb der kirchlichen Welt ist der eine Punkt Konfessionalismus. Konfessionalismus ist ein Schlüsselgedanke des 19. Jahrhunderts. Konfessionalismus heißt Traditionspflege, Identitätspflege. Konfessionalismus ist die große identitäre Bewegung des religiösen 19. Jahrhunderts. In irgendeiner Weise findet Akzeptanz mit der Entwicklung statt, römisch-katholisch beginnt es erst so richtig ab den 1960er Jahren. Aber nein, es beginnt natürlich im 18. Jahrhundert. Josephinismus, Österreich könnte man hier nennen.

53:01
Also große Geschichte. Überall findet das statt. Konfessionalismus bedeutet Identitätsausbildung, die auf moderne Verhältnisse eingestellt ist. Sonst gäbe es Konfessionalismus gar nicht. Sonst würde man alle anderen ja wieder verbrennen können. Aber kann man ja gar nicht mehr. Aber die innere Verfestigung und Verhärtung einer konfessionellen Identität, eines Kultes um die Bekenntnisse, so was wie Bekenntnistreue, das war denen im 18. Jahrhundert alles sehr langweilig. Auch Bischöfe und Kirchenfürsten und so fanden das alles übertrieben. Aber im 19. Jahrhundert explodiert das regelrecht wieder. Bekenntnistreu, die Dogmen, das Apostolikum und das Festhalten an der Tradition, an der Liturgie, an der wirklichen Liturgie, an der wahren, der Talar, die Zeichen, die Sakramente, das Kirchenjahr. Also all diese Dinge, den Alltag durchzugliedern und zu kneten und zu ordnen mit bestimmten Bannern

54:03
und Abzeichen einer präzisen christlichen Entwicklungsgeschichte und klarer Zugehörigkeit, die man als überlegen ansah gegenüber allen anderen Christentümern. Das war dieser Strang. Auf der anderen Seite stehen dann - die haben nicht so ein schönes Wort, das ist ein bisschen ein Problem - unterschiedliche Reformbewegungen. Diese Reformbewegungen konnten verschiedene Schwerpunkte setzen. Für manche war es einfach Ökomene. Also im Grunde war das Hauptziel Abschleifung scharfer Kanten, so Weichwaschen von Gegensätzen, aufeinander zugehen, miteinander reden und irgendwie mehr zusammenkommen. Für andere waren Reformen Radikalisierung moderner Impulse auch für das religiöse Leben, also noch individueller, noch privater, noch persönlicher. Weg von dieser ganzen Kirchenidee, weg von diesem Kirchen-Christentum, sondern wirklich Christsein als Traum für freie Menschen, die persönlich Religion als etwas Privates und Authentisches für sich entdecken und dafür eine Anstalt brauchen,

55:16
die im Großen und Ganzen Traditionspflege betreibt, aber einen ansonsten auch bitte komplett in Ruhe lässt und einem nicht ins Schlafzimmer reinquatscht und auch nicht in den Umgang mit Geld und nicht in die Politik und in gar nichts. Das ist das Spektrum. Konfessionalisierung heißt natürlich Durchordnung all dieser Lebensbereiche. Natürlich das Schlafzimmer - da fangen wir immer an, denn wer da nicht gehorcht, ist insgesamt auch nicht zuverlässig - und alles andere, religiös, politisch, kulturell, finanziell und so, das ergibt sich dann schon. In diesem Spektrum befinden wir uns - und ja, wenn die Weltverhältnisse nicht so schlimm sind, kann man so existieren. Also man kann so demokratische Entwicklungen haben, man kann so ein Spektrum abbilden, man kann Kirchenparlamente und Staatsparlamente bilden,

56:13
man gewöhnt sich aneinander, man trinkt schlechten Kaffee zusammen (oder vielleicht auch guten) und guckt und bildet Koalitionen und Ausschüsse und so. Also das muss man überhaupt nicht katastrophieren. Das sind Entwicklungen, die stattfinden, die dann auch viel zu tun haben mit Milieu und Herkunft und Biografie und Persönlichkeitsprägung, und man findet sich da. Was wir in der Gegenwart haben, sind meines Erachtens neue Radikalisierungen. Radikalisierung, man könnte auf der einen Seite sprechen von einer konservativen Revolution, und das, finde ich, ist das Unglück des modernen Konservatismus. Der reaktionäre Konservatismus ist durch die Geschichte ganz schlicht erübrigt worden. Der ist nicht mal mehr möglich. Der liberal-konservative Strang, na ja, ist bestimmend, also faktisch ja meistens mehrheitsgebend gewesen für die meisten westlichen Länder.

57:20
Das ist die Realität. Das ist in Deutschland so, das ist in Frankreich so, das ist in Großbritannien so, das ist in Italien so, das ist in der Schweiz so. Es war immer irgendwie so. Aber in diesem Spektrum hat sich zunehmend ein Widerwille, eine Aversion, eine tiefgehende Abneigung entwickelt gegen Entwicklung, gegen Reformgruppen, gegen alles, was irgendwie zu radikal und zu links und zu weiß was ist. So ist ein Konservatismus entstanden, der sich im Grunde nicht mehr sieht als Teil eines Spektrums, sondern der im Grunde versucht, eine Gegenposition, eine Alternative für das Ganze darzustellen,

58:10
und der als radikale Gegenthese jede Form der Kooperation, des Mitwirkens, des Ausgleichs, der Kompromissfähigkeit und so weiter für sich zunehmend als unmöglich erachtet. Das Problem dieses Konservatismus ist: Er ist nicht konservativ. Er verliert eigentlich alle Tugenden dessen, was mal konservativ war. Dieses Kunstwort "konservative Revolution" möchte ich historisch nicht vertiefen, wäre interessant, aber schon diese Kunstform, dass hier etwas konstruiert wird, was so eigentlich gar nicht greifbar ist, hat mit diesem Revolutionsbegriff tatsächlich etwas Entscheidendes. Also die Ablehnung wesentlicher Entwicklung der modernen Welt, ohne auch nur ansatzweise eine Vorstellung zu haben, was man an ihre Stelle setzen könnte, das gibt es heute. Das gibt es politisch und das gibt es religiös. Natürlich muss man das unterscheiden, das ist ja völlig klar.

59:13
Also es ist nicht so eine Zufallsunterscheidung, dass du, was weiß ich, religiös sehr gegen alles Neue sein kannst. Wenn du das bist, bist du ganz selten bei einer superprogressiven Partei und Richtung und einer woken und reformorientierten Kiste. In der Regel nicht. In der Regel nicht. Und umgekehrt bist du nicht in irgendeiner Bürgerrechtsbewegung und noch eine, und jeder CSD ist für dich ein Hochamt und sonst wie. Du bist aber dann politisch gebunden in Parteien, die sagen würden, das ganze woke-Gender-versiffte links-grüne Zeug muss alles raus, weil die deutsche Sprache so schön ist und so. Nee, bist du auch nicht. Also es gibt diese Verschachtelung, diese Dinge. Jetzt könnte man sagen: Und die sind das Problem. Die sind das Problem. Was machen wir denn jetzt? Kann man die bestechen? Kann man die beruhigen? Geht hier Appeasement?

60:12
Ich fürchte leider, dass es ein bisschen komplizierter ist. Ich fürchte, es gibt eine doppelte Radikalisierung jeweils auf den Flügeln. Das, was auf der konservativen Seite des Spektrums die konservative Revolution ist, möchte ich auf der anderen Seite des Spektrums den Jakobiner-Exzess nennen. Jakobiner. Französische Revolution ist ja so eins der zwei Themen, die jeder in der Schule mal hoffentlich hatte. Also Nazis und Französische Revolution. Französische Revolution und Nazis. Irgendwas war da mit Römern und Griechen, aber da war gerade Pubertät, man hat alles vergessen. Aber Nazis und Französische Revolution ist hoffentlich hängengeblieben. Robespierre, Danton, macht euch da irgendwelche warmen Erinnerungen an längst vergessenes Zeugs der Schule und so.

61:11
Es ist ja etwas, was aber im Grunde seither die Moderne begleitet, dass du Menschen hast, mit denen sitzt du abends beim Bier und du wirst einig, die Lage der Welt ist sehr ungerecht. Sehr ungerecht und sie ist auch grausam und es kann einen manchmal wütend machen. Und da muss man einfach was machen. Und man muss einstehen für Menschenwürde und Menschenrechte und für Gerechtigkeit und für die Freiheit. Hoch die Tassen, Prost! So, und du denkst: Super. Und es haben Menschen so angefangen und sich irgendwann dann auch gesagt: Das ist echt ein Schweinesystem, und natürlich kann auch geschossen werden. Natürlich müssen auch Köpfe rollen und natürlich muss auch Blut fließen, weil es ist ein solches Schweinesystem, dem ist mit Reformen nicht beizukommen. Und man kann in ganz düsteren Stimmungen sein, wo man Anflüge von Verständnis dafür entwickelt.

62:12
Ich würde empfehlen, spätestens dann innezuhalten, Atemübungen zu machen, in der Natur spazieren zu gehen. Die geschichtliche Erfahrung, dass du Prozesse der Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit, von Menschenliebe und Güte dadurch beflügelst, dass du alle, die Widerworte haben, von ihrem Kopf befreist, war ja damals auch nicht effektiv, muss man ja mal ganz nüchtern sagen, war ja keine Erfolgsgeschichte. Man kann ja nicht sagen: Die Französische Revolution, das war ganz schön Chaos. Dann kam Robespierre, hat viele tot gemacht, Gott sei Dank, endlich war Ruhe. Ne, Napoleon und so ... Also es hat ja nicht so dolle geklappt. Jetzt könnten wir diese ganze Linie weiterführen, man würde über Lenin und Mao Zedong reden, man würde immer trauriger und so. Also Kulturrevolution: Mao Zedong ist ja da schon auch der abgründigste Versuch. Jetzt könnte man mit Stalin noch kämpfen um den tiefsten Abgrund.

63:11
Aber es waren ja Ideen, eine neue Menschheit des Friedens und der Gerechtigkeit und der Gleichheit aller, so dass alles andere abgefackelt, ausgemerzt, weggeholzt, erniedrigt, beleidigt, zerstört und vernichtet wird. Und nie siehst du glorreiche Effekte, dass diese Exzesse, die vermeintlich Gerechtigkeit befördert haben, am Ende wie durch Wunder in Recht und Frieden mündeten. Da sind wir heute nicht, da sind wir definitiv nicht. Aber Jakobiner-Stimmungen gibt es. Es gibt Jakobiner-Stimmungen, in denen die Bereitschaft, alles Mögliche als Nazi niederzubrüllen, auch manchmal ein bisschen locker sitzt

64:14
und vielleicht ein bisschen Gelassenheit der Propagierung eigener Ideale und Anliegen hilfreich wäre. In dieser Weltsituation sehe ich uns kirchlich und religiös. Und in dieser Weltsituation ist Meister Eckhart jetzt kein strammer Ally, weil er einfach sagen würde: "Ja, du siehst das, weil du nicht abgeschieden genug bist." Ich würde sagen: Nein. Aber ich sehe es wirklich. Ich sehe das wirklich, und ich glaube nicht daran, dass, wenn wir alle nur tief genug schweigen, dass sich dann in den Tiefen der Ozeane wundervolle harmonische Kreaturen erheben und sagen: Jetzt wünschen wir der Welt auch Glück und Segen, und dann beruhigen sich alle und jeder sitzt auf seiner Scholle und singt "Kumbaya" oder so ...

65:13
Ich glaube, das ist nicht der Weg. Ich glaube, dass man an diesen Spannungen und Auseinandersetzungen Anteil nehmen muss, dass man sich nicht verweigern kann, dass man sich nicht rausziehen muss. Und jetzt liegt es mir völlig fern, auch nur ansatzweise zu empfehlen, hier auf der konservativen oder liberalen oder sozialen oder linken oder liberal- konservativen oder linksliberalen oder sozial ökologischen Seite. Das kann man, glaube ich, vielfältig mit Sinn und Verstand irgendwie machen. Die christliche Empfehlung finde ich tatsächlich, dies, wie auch immer man sich da geführt und geprägt weiß, in Respekt und mit Liebe und mit Bereitschaft zur Verständigung,

66:07
das heißt mit einer engagierten Gelassenheit oder einem gelassenen Engagement zu tun, was immer die eigenen Ideale für alle und mit allen anstreben - im Bewusstsein, dass dieses mit allen und für alle letztlich Gegenstand der Hoffnung ist, dass man aber diese Hoffnung nicht so hegen kann, dass man sie gleichzeitig darin verrät, in der gegenwärtigen Praxis nicht mit allen für alle denken zu wollen. In diesem Sinne brauchen wir eine inkarnierte, auf die Welt eingelassene, engagierte Form der Teilnahme an diesen Auseinandersetzungen und darin so viel christliche Gelassenheit, wie wir organisieren können.

67:05
Ich möchte dazu abschließend Nachfolgeworte Jesu meditieren. Das, was wir so schön finden bei Worthaus, dass wir dann erstmal historisch arbeiten und die jüdischen Traditionen anschauen etc. - ich kürze es alles, ich habe es gar nicht vorbereitet, ich mache es jetzt nicht. Das sind andere Auslegungen dessen; ich beziehe sofort diese Jesus-Worte als Gelassenheit auch nochmal eingelassener als Eckhart. Es sind ja Punkte, von denen Eckhart ausgeht. Ich glaube aber, dass man hiermit auch nochmal in eine andere Richtung kommt. Allein dieser Zusammenhang ist ja sehr schön, Selbstverleugnung, sich selbst lassen. Das ist ja so ein Eckhart'sches Thema, das ist ein spirituelles Thema, in der Spiritualitätsgeschichte auch sehr missbraucht im Sinne nicht nur einer Selbstverleugnung, sondern Selbstauslöschung. Dass, was Jesus hier sagt, nichts zu tun hat mit Selbstauslöschung, macht der Zusammenhang ja sehr, sehr klar.

68:33
Also wenn Jesus gesagt haben wollte: "Wer mir folgen will, der lösche sich selbst aus", macht es keinen Sinn zu sagen: "Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden (oder: erhalten)." Das ist ja die Pointe, dass das Lassen des eigenen Lebens gerade nicht dazu führt, wer sein Leben verlässt, der ist es los.

69:04
Nein, wer sein Leben verlässt, wird es finden, wird es erhalten, wird es gewinnen. Nächster Vers: "Denn welchen Nutzen hätte der Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst und nähme Schaden an sich selbst?" Auch hier wieder, das ist ja gerade die Pointe: lassen, sich selbst lassen, damit man sich nicht selbst verliert und nicht Schaden an sich nimmt. Um diese dialektische Gelassenheit, so taufe ich es jetzt mal, diese dialektische Gelassenheit geht es Jesus, es geht ihm darum, sich zu lassen, die Welt zu lassen. Und wir kennen Nachfolgesprüche, wie Vater und Mutter zurückzulassen, Verwandtschaft zu lassen, also es geht um Lassen, es geht aber eben nicht um Löschen. In diesem Lassen steht ja der Mensch in Beziehung zu Jesus, er lässt nicht einfach in einem reinen Lassen, sondern er lässt in Beziehung, also er folgt Jesus.

70:12
Er strebt nach dem Reich Gottes, er strebt nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes. Nicht Selbstlosigkeit, sondern ein Selbstleben ohne selbstisches Klammern an sich oder die Welt, das ist hier der Fokus. Und ich glaube, dass eine solche dialektische Gelassenheit das ist, worum es in der Bibel geht, worum es in höchst zugespitzter Weise irgendwie auch Meister Eckhart geht und die es heute gilt durchzuarbeiten und durchzudeklinieren durch die Spannungen, in denen wir uns befinden. In Lukas 9 legt Jesus nach, indem drei Geschichten erzählt werden. Es kommt jemand zu ihm, der sagt: "Ich will dir folgen, wohin du gehst."

71:08
Da möchte man so sagen: Super, toll, das ist klasse - der Bekehrungsaufruf kommt eigentlich erst gleich -, das will man machen, willkommen im Team. Aber Jesus hat da so ein Spezialwort für ihn: "Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann." Was ist gemeint? Man könnte sagen, und das ist Bonhoeffers Ding: die Kosten der Nachfolge. Es gibt religiöse Begeisterung, religiösen Überschwang, der sich das so vorstellt wie eine Worship-Night in Endlosschleife, so die Worship-Stimmung, "das schaffe ich bis zum Tod". Nie wieder muss ich aus dem Happy Clappy rausfallen. Gepriesen sei das 21. Jahrhundert. Ich kann mir immer einen Knopf ins Ohr schieben und habe Happy Clappy rund um die Uhr. Und wenn mich irgendeiner doof anmacht, kann ich mich ja abends bei Insta beschweren, bei meinen FollowerInnen, die werden mich aufbauen oder so.

72:14
Das ist kein Plan. Die Kosten der Nachfolge macht Jesus bewusst. Ich finde diese Kosten der Nachfolge für das Spektrum, was wir gerade beschrieben haben, ja spannend. Es ist eine große Versuchung der Neuzeit gewesen - ich nenne sie mal die identitäre Verfestigung in nationalistischer Begeisterung von sich selbst oder in konfessionalistischer Begeisterung des eigenen Profils. Und das ist ja das ursprünglich Identitäre: konfessionell, national eine Identität ausbauen, die man anderen gegenüber als überlegen und sozial gleichzeitig ausschließend konstruiert. Das, was Jesus hier anbietet, ist quasi Anti-Identität. Kein Nest, keine Grube.

73:12
Jesus nachfolgen ist für identitär gestimmte Menschen unbefriedigend, weil er sie auf eine dauerhafte Reise mitnimmt. Es ist eben tatsächlich kein Sich-zur-Ruhe-Setzen, sondern ein Im-ständigen-Aufbruch-Leben. Die Nachfolgesprüche gehen weiter. "Er sprach zu einem anderen: Folge mir nach. Der sagt: Erlaube mir zuvor, dass ich hingehe und meinen Vater begrabe." Jetzt hätte Jesus sagen können: Oh sorry for your loss oder irgendwas ganz Freundliches oder so, aber es folgt ein hartes Wort: "Lasst die Toten ihre Toten begraben. Du aber geh hin und folge mir nach." Auch hier ist Bonhoeffers Auslegung schon klassisch. Also das ist natürlich ein Schocker.

74:09
So ein Kommunikationsberater hätte Jesus beiseite genommen und gesagt: Jesus, du machst das nicht geschickt. Du haust den Leuten manchmal einen vor den Latz. Die kriegen einen Schrecken. Das ist nicht gut. Die spenden auch wahrscheinlich wenig. Frag den Judas mal. Das ist nicht gut. Ich vermute mal, Jesus hätte gesagt: Ruhig, Brauner. Ich weiß. Ich weiß. Und da steckt eine Absicht hinter. Denn viele schlafen einfach. Die Menschen schlafen. Sie sind nicht woke. Sie sind nicht da. Und vieles, was ich sage, ist erst mal so: Werdet wach. Hallo, seid ihr da? Man kann ja über alles reden. Um es kurz zu fassen: Es ist ja nicht Jesu Agenda: "Folge mir nach und werde ein asozialer Menschenverächter und fang bei deiner Family an."

75:07
Das ist ja nicht so der Grundstrang, der sich durchzieht. Das ist ja einfach nicht so; das Sich-umeinander-Kümmern und Füreinander-da-Sein ist ja durchaus nachfolgekompatibel, hat sich ja auch als Ethos durchgesetzt. Bonhoeffer trifft hier, glaube ich, auch das Ding, dieses "Erlaube mir zuvor". Erlaube mir zuvor. Er hätte ja einfach sagen können: Ja. Und es wäre doch in diesem Gefüge kein Ding gewesen, wer weiß was zu verhandeln oder so. Also die Idee, dass es im Widerspruch zu Jesu Willen oder zur Nachfolge oder zum Leben mit Gott stehen könnte, Beerdigung des Vaters oder da abzuwarten - man kann auch diskutieren: Vielleicht lebt der alte Vater, also man kann da viel diskutieren, wie es genau gemeint ist -, aber dieses "Erlaube mir zuvor", ist das Abzirkeln eines Gebietes, wo im Grunde klar dokumentiert wird: Hier, Jesus, ich bin voll für dich da. Es gibt Lebensbereiche, da weiß ich, glaube ich, selbst besser, was Sache ist, oder da gibt's bestimmte Dinge,

76:15
da ist einfach das, was du als Nachfolge bezeichnest, nicht für zuständig. Erlaube mir zuvor, dass ich mein Aktiendepot nochmal kurz aufstelle, Rüstungskonzerne schießen gerade durch die Decke. Ich habe da einen Tipp gekriegt und so - und dann ganz für den Herrn. Das wäre so ein Beispiel, wo man überlegen könnte: Haut das hin, Lebensbereiche abzuzirkeln und zu sagen, die haben nichts zu tun mit Nachfolge, mit Gott, mit Gerechtigkeit, mit dies oder das. Ich weiß es einfach besser. "Erlaube mir zuvor, dass ich es mache, wie es mir gerade gefällt" und gerade nicht sich auf Nachfolge einzulassen, dass Gerechtigkeit, Erbarmen, Menschenliebe, Zuwendung und Güte eine Matrix bilden, in der man mit dem allen gut umgehen kann.

77:10
Dritter Nachfolgespruch. Wieder kommt eine aktive Bewerbung: "Ich will dir folgen. Erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen in meinem Haus." Da ist es ein bisschen derselbe Fall. Und Jesus dreht es ein bisschen und sagt: "Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes." Also auch hier: eigentlich kein Ding, eigentlich eine Lappalie, dann sag doch Tschüss. Sag doch einfach Tschüss. Hättest du ja auch machen können. Ist dir jetzt gerade auf dem Weg eingefallen, dass du mir nachfolgen willst? Das hättest du ja erledigen können. Was denkst du, was wir machen, heute Nacht noch in Jerusalem ankommen wollen, weil wir sonst die Kreuzigung verpassen oder so? Das ist ja auch nicht realistisch, dass du nicht mal mehr Tschüss sagen kannst oder wir komplett aus der Welt sind. So, aber hier auch wieder dieselbe Logik. Und was in dieser dialektischen Gelassenheit deutlich wird, ist dieses Miteinander von Loslassen und Bindung.

78:17
Loslassen von Bezügen, und das in so Hallo-Wach-Zuspitzung. Lass los, dich selbst, die Familie, die Verpflichtungen, das, was du denkst, was andere sagen. Lass es los, lass es ruhen. Kralle nicht, krampfe nicht. Aber mach dieses Lassen nicht zu einem Sturz ins Nichts, sondern lass los auf das Reich Gottes hin. Lass los auf dieses Trachten nach dem Reich und seiner Gerechtigkeit. Lass los auf diese Nachfolge Jesu hin. Lass los auf dieses Mitleiden, Mittragen, Mitleben in der Gemeinschaft, Mitleben in diesem für andere, heilen, helfen, trösten, beistehen, unterwegs sein,

79:13
unterwegs sein in der Fülle dieser Aufgaben, die diese Gemeinschaft ausmachen. Diese Form eines, wie sollen wir es nennen, einer engagierten Gelassenheit, einer behutsamen Beharrlichkeit, einer beharrlichen Behutsamkeit, die sich einsetzt für Reich-Gottes-Werke, für Jesu Weg, für Jesu Praxis, für diese Ethik, Moral, Politik und Kultur des Reiches Gottes mit und für andere. Und darin nicht in einer Weise, dass du dich an dir festhältst oder aus mir ein Programm machst oder eine Ideologie oder irgendeine krampfhafte Identität, die du gegen andere wenden musst. In diese Richtung empfinde ich Gelassenheit als tief biblisch gegründet, als Sinn dieser Nachfolge-Worte Jesu.

80:31

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Gelassenheit | 13.7.1

Worthaus 11 – Tübingen: 29. Mai 2023 von Prof. Dr. Thorsten Dietz

In einer Zeit, in der die meisten Menschen durchs Leben hetzen, sich ständig erschöpft, unter Druck und überfordert fühlen, hat das Thema Gelassenheit allerhand Fans. Es gibt Ratgeber, Podcasts, Apps über innere Ausgeglichenheit, innere Ruhe, inneren Frieden und natürlich über Achtsamkeit. Der Trend zur plan- und lernbaren Gelassenheit scheint aus Asien zu kommen, doch auch in der Kirchengeschichte gab es Experten für Gelassenheit, allen voran der Dominikanermönch Meister Eckhart. Er predigte, das Müssen zu lassen, den Drang nach Besitz und Ansehen, den Druck, Gott und den Menschen gefallen zu wollen, sich sogar selbst ganz zu lassen.
Es ist eine Gelassenheit, die verlockend scheint, aber zur Realitätsflucht werden kann. »Man kann nicht alles wegatmen«, kritisiert daher Thorsten Dietz angesichts der Krisen dieser Welt und erklärt in seinem Vortrag auch, welche Art der Gelassenheit wir in der Gegenwart unserer Welt brauchen.