Das Thema, das ich jetzt behandeln möchte, heißt Europa Reformata. Was sagen uns 48 Reformationsstädte über die Anliegen der Reformation? Ich sagte schon, in den letzten Jahren haben wir ein großes Buch vorbereitet, Europa Reformata, europäische Reformationsstädte und ihre Reformatoren, auch fünf Reformatorinnen. Wir konnten 47 ausgewiesene Historiker und Historikerinnen gewinnen, 48 Reformationsstädte von Spanien bis Finnland und von Schottland bis Südosteuropa in Wort und Bild zu porträtieren, immer ungefähr zehn Seiten pro Stadt. Und im
nächsten Monat wird der Band bei der EVA erscheinen, auch in einem trotz 500 Seiten zu einem erschwinglichen Preis. Die englische Übersetzung ist abgeschlossen und die koreanische ist in Vorbereitung. Und die Frage ist, was können uns diese Städte über die Reformation vor 500 Jahren sagen? Und ich werde sie mit 13 Punkten, die zum Teil aber kurz sind, überfallen. Und ich benenne diese 13 Punkte schon mal jetzt. Erstens der geistliche Kern der Reformation, Vertrauen auf Gott und Gottes Offenbarung. Zweitens Vertrauen auf Gottes machtvolle und barmherzige Nähe in Jesus Christus. Drittens Konzentration auf einen allgemein zugänglichen und doch mündigen Glauben.
Viertens die Bedeutung von Buchdruck und Sprachgewalt für die Reformation. Fünftens die Reformation als Bewegung, die sich auch institutionell für Bildung und Befreiung einsetzt. Sechstens Reformation und Gewaltenteilung, Kirche, Politik, Recht, Wissenschaft. Siebtens öffentliche Theologie, das Gewicht der Predigt und der Disputationen. Achtens Katechismen, Kirchenordnungen und lebenspraktische Erneuerungen. Neuntens Fürstinnen, Reformatorinnen, junge Theologen und Juristen in Führungsrollen. Zehntens Reformation und europäische Internationalität. Elftens Konfliktthemen mit der
Römischen Kirche. Zwölftens innerprotestantische Konfliktthemen und dreizehntens dankbares Gedenken auch an die Vorreformatoren. Also erstens der geistliche Kern der Reformation, Vertrauen auf Gott und Gottes Offenbarung. Im wohl berühmtesten Reformationslied von Martin Luther im Anschluss an den 46. Psalm heißt es, ein feste Burg ist unser Gott, eine gute Wehr und Waffen, er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen. Ganz entscheidend und zentral für die Reformation ist die Konzentration auf Gott und Gottes Offenbarung in der Geschichte und in menschlicher Erfahrung.
Die Wirklichkeit Gottes, unsere feste Burg und unsere gute Wehr und Waffen gibt uns Halt und Trost und nicht mehr oder weniger interessante Gottesgedanken oder religiöse Emotionen. Heidelberger Disputation. Auf dieser festen Grundlage ist die Botschaft der Reformation geprägt von tiefem Gottvertrauen und von Furchtlosigkeit gegenüber menschlicher Macht. Sie formuliert klare Alternativen Gottes Wort vor Menschen Wort, notfalls gegen Menschen Wort, biblische Zeugnisse vor menschlichen Lehren, Wahrheit Gottes gegen Gewissheiten oder Meinungen
der Menschen und der Glaube an die nicht durch eigenes Tun zu verdienende Erlösung durch Gott gegen ein Vertrauen auf den Ablass und die eigenen Werke. Zweitens, Vertrauen auf Gottes machtvolle und barmherzige Nähe in Jesus Christus. Das berühmte Reformationslied lautet weiter Mit unserer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren. Es streit für uns der rechte Mann, den Gott selbst hat erkoren. Fragst du, wer er ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebraod und ist kein anderer Gott. Das Feld muss er behalten. Die Reformation betont die barmherzige Zuwendung
Gottes zu den Menschen, die in Jesus Christus offenbar und im Glauben ergriffen wird. Gott, Gottes Wort und Gottes Wahrheit kommen den Menschen in Jesus Christus nahe und wollen sie trösten, aufrichten und erheben. Im menschlichen, barmherzigen, leidenden und am Kreuz hingerichteten Jesus Christus gibt Gott sich selbst zu erkennen. Theologie des Kreuzes, unser Thema am heutigen Morgen. Jesus Christus ergreift in der Kraft seines Heiligen Geistes seine Zeuginnen und Zeugen und gibt ihnen Anteil an seinem Leben und seiner Autorität, auch gegen die Macht des Papstes und
des Kaisers. Ganz starke Botschaft. Die niedrige Christologie, wie wir sagen, Theologie des Kreuzes, Gott geht ein in Leid und Not und Elend und die sogenannte hohe Christologie Jesus Christus, auf dem Gottes Geist ruht, behält ihn nicht für sich, sondern gießt ihn aus auf die Seinen und gibt ihm seinen Anteil an seinem Leben und seinen Kräften. Was für eine Botschaft. Drittens, Konzentration auf einen allgemein zugänglichen und doch mündigen Glauben. Mit der Konzentration auf Gottes Offenbarung in Jesus Christus und in der Geschichte Gottes mit den Menschen wendet sich die Reformation gegen spekulative Gottesgedanken, die nur religiösen Eliten und akademischen
Spezialisten zugänglich sind. Wie der geniale Mathematiker und Philosoph Alfred North Whited erkannt hat, erreicht die Reformation auf der Ebene des Geistigen und Geistlichen, was etwas später auch die modernen Naturwissenschaften tun werden. Die Suche nach Erkenntnis der Wirklichkeit und Wahrheit muss durch Erfahrung bestätigt werden. Durch kritische und selbstkritische Erfahrung. Das ist revolutionär und führt zu einer großen Bildungsbewegung und Befreiungsbewegung. Viertens, die Bedeutung von Buchdruck, Druck überhaupt und Sprachgewalt für die Reformation. Die große Rolle der damals noch relativ neuen bewegliche Lettern einsetzenden Druckkunst mit
ihrer Produktion von Flugschriften und Büchern in der Volkssprache kann für den Erfolg der Reformation gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Allein in Augsburg erschienen zwischen 1518 und 1530, also in zwölf Jahren, nicht weniger als 457 Drucke von Schriften Luthers mit einer halben Million Exemplare vor der Zeit elektronischer Werbemedien. Aber Augsburg ist nur ein Standort unter vielen. In Basel, Emden, Hamburg, Herborn, Hermannstadt, Sibiu, Kronstadt, Leiden, Nürnberg, Speyer, Stockholm, Ulm, Urach, Wien, Worms und an anderen Orten waren Verleger und Druckereien
mit ganz großem Erfolg tätig. Flugschriften, oft mit packenden Bildern, rüttelten die Menschen auf. Gedruckte Predigten und Traktate brachten die reformatorische Botschaft unter das Volk. Katechismen fassten die wichtigsten Glaubensinhalte zusammen und wurden weit, zum Teil weltweit, verbreitet. In vielen Ländern entstanden Bibelübersetzungen in der Volkssprache. Neue Gemeindelieder und Gesangbücher wurden gedruckt. Viele Reformatoren zeichneten sich durch große Sprachgewalt und Kreativität aus. Sie wirkten manchmal unterstützt von Übersetzungsteams mit
ihren Bibelübersetzungen prägend auf die Entwicklung der Landessprachen. In Umgebungen, wo viele Dialekte herrschten, wurde dann durch die Bibelübersetzung gearbeitet an einer Landessprache. Martin Luther in Deutschland, William Tyndale in England, Pierre-Robert Olivetan in Frankreich, Casiodoro de Reynas in Spanien, die Brüder Petri in Schweden, Michael Agricola in Finnland, Caspar Caroli in Ungarn, Primus Trubar in Slowenien, Johannes Buchenhagens niederdeutsche Bibelübersetzung wurde Vorbild für die dänische Bibel und vieles mehr. Das muss man sich mal vorstellen. An vielen Orten, geniale Sprachschöpfer bringen eine Bibelübersetzung und kreieren Landessprache
und Zugänglichkeit zur Bibel für breite Öffentlichkeit. Was für eine Bewegung. Fünftens, und das hängt damit zusammen, die Reformation als Bewegung, die sich auch institutionell für Bildung und Befreiung einsetzt. Die Begeisterung der Reformation wurde damals vor allem von einer gebildeten und emanzipatorisch eingestellten Mittelschicht getragen. Große Städte als Nachrichten- und Kommunikationszentren waren schon vor der Reformation Schauplatz von Bildungsbewegungen. Zum Beispiel konnten etwa 40 Prozent der Nürnberger Bevölkerung lesen. In den Städten trafen sich Zirkel von Gebildeten, die den humanistischen Idealen des Erasmus von Rotterdam zum Beispiel anhingen, aber auch offen für die Reformation waren. Zugespitzt kann man
mit dem Göttinger Historiker durchaus sagen, ohne Humanismus keine Reformation. Also die humanistische Bewegung war ein ganz wichtiges Saatbeet für die Reformation. Diese Kreise, die oft ein weites Korrespondenten-Netzwerk unterhielten, verbreiteten die reformatorische Lehre und beförderten sie. Aber nicht nur in den Städten konnte die Reformation Fuß fassen. Auch fromme Fürsten schlossen sich hier an und unterstützten sie auf ihren Territorien. Die Reformation erfasste schließlich alle Bevölkerungsschichten. Die Reformation als Bildungsbewegung legte großen Wert darauf, dass Schulen und hohe Schulen gegründet wurden und dass das Schulwesen grundlegend erneuert wurde. Triebkraft für dieses starke Engagement war der Wille, den Zugang aller
Menschen zu Gott in Jesus Christus und zur Bibel als Wort Gottes mit der Bildung aller Menschen, nicht nur des geistlichen Standes zu fördern. Wort Gottes haben wir heute im ersten Vortrag gehört. Wort Gottes in Jesus Christus, in den Zeugnissen der Heiligen Schrift. Sodus Christus, sodas Skriptura. Und das aber damit verbunden, allen Menschen einen Zugang zu erschließen. Gott nicht in irgendwelchen verstiegenen Prinzipien suchen, sondern in seiner Selbstoffenbarung, in seiner Nähe zu den Menschen. Triebkraft für dieses Engagement war eben die Bildung des Menschen,
nicht nur des geistlichen Standes und damit auch ein gutes Gemeinwesen und die Freiheit der Menschen zu fördern. Johannes Brenz in Schwäbisch Hall zum Beispiel lehrte in seinen Schriften die Hochschätzung des Kindes und forderte eine einfühlsame Pädagogik. Er gründete, wie von Luther in seiner Schrift, an die Ratsherren von 1524 gefordert, deutsche und lateinische Schulen für Jungen und Mädchen aus allen Ständen. 1526 wurde in Nürnberg von Melanchthon inspiriert, ein neuer Schultyp geschaffen, das Gymnasium. 1541 wurde vom Reformator Honterus in Kronstadt das erste humanistische Gymnasium ganz Südosteuropas gegründet. 1527 gründete Philipp von Hessen in
Marburg die erste evangelische Universität. Die Hochschule von Herborn wurde als Bildungsstätte nicht nur für Theologie, sondern auch für philosophische und rechtswissenschaftliche Forschung und Lehre aufgebaut. Junge und dynamische Wissenschaftler, bahnbrechend in Herborn Caspar Oliwian und Gelehrte aus anderen europäischen Ländern wurden an diese Universitäten berufen. Entsprechend groß war die europaweite Anziehung und die interdisziplinäre Ausstrahlung der Institutionen. Die Reformation wurde zu einer langfristig auf Theologie, Philologie, Geschichtswissenschaften, auf Rechts- und Politikwissenschaft ausstrahlende Kraftquelle der frühneuzeitlichen Universität. Die Reformation als eine Impulsgebung für die frühneuzeitliche Universität eben auch über Theologie und Religionsfragen weit hinaus. Die intensivierte
und vertiefte Bildung und der Bildungswille gingen einher mit einem gestärkten Selbstbewusstsein der Menschen, das zumindest langfristig auch freiheitlich politische Früchte trug. Geistliche begeisterten sich für die neuen kirchlichen und theologischen Freiheiten. Juristisch gebildete sahen die politischen Freiheitspotenziale und wollten sie in die Praxis umsetzen. Aber auch die kaufmännische Oberschicht, die Handwerker und die Zünfte nahmen an den reformatorischen Aufbrüchen aktiv Anteil und wollten dazu beitragen, neu gewonnene Freiheiten zu sichern. Viele Orts wurden dabei antiklerikale Haltungen verstärkt, die in den verschiedenen Gesellschaftsschichten bereits bestanden. Politische, wirtschaftliche und steuerliche Privilegien des Klerus wurden
angegriffen und abgeschafft. Die Sehnsucht nach radikaler Erneuerung der Kirche sollte nicht länger unterdrückt werden. Wie nicht anders zu erwarten, kam es vor allem dort, wo die Reformatoren keinen landeshärlichen Schutz genießen konnten, zu vielfältigem Widerstand gegen die Reformatoren und ihre Anhänger, zu deren Verfolgung und sogar zu öffentlichen Hinrichtungen. Die Bewegung der Reformation war, wie auch die der Vorreformatoren, von Anfang an auch eine Bewegung von Märtyrern. An manchen Orten, vor allem im Süden Europas, hier Venedig und an anderen Orten, konnten sich die Evangelischen nur als Kryptoprotestanten,
als Protestanten im Verborgenen halten und mussten sich in geheimen Netzwerken organisieren. Sechstens, Reformation und Gewaltenteilung, Kirche, Politik, Recht, Wissenschaft. Schon vor der Reformation war die weltliche Obrigkeit zunehmend daran interessiert, Aufsicht über kirchliche Bereiche und Belange auszuüben. An manchen Orten wurde sie dabei sogar vom Papst unterstützt oder zumindest geduldet. So überließ der Papst zum Beispiel vor der Reformation, schon vor der Reformation, dem Rat der Stadt Bern das Recht, geistliche Amtsträger selbst einzusetzen. Also es gab da auch schon in der Kirche Selbstzirkularisierungstendenzen. An vielen Orten nutzen die politisch Verantwortlichen die Erfolge der Reformation,
um den eigenen Einflussbereich auszudehnen. Deshalb sagen auch manche Kollegen, ach Herr Welker, also mit der Gewaltenteilung, das sehen wir nicht ganz so, hat nicht die Politik da auch sehr zugenommen. Ich denke, das Thema Gewaltenteilung ist ein ganz, ganz wichtiges Thema, auch in der Reformation. In Augsburg zum Beispiel, wo 90 Prozent der Bürger schon bald evangelisch wurden, übernahmen der Rat und die Laien die Aufgabe, geistliche Ämter zu besetzen, Streitfragen in Glaubensangelegenheiten zu schlichten und dafür zu sorgen, dass die Predigt schriftgebunden und evangelisch war. Das war immer ein Thema, wir wollen schriftgebundene Predigt und evangelische Predigt. Das behutsame Taktieren des Rates zum Beispiel in Augsburg, in Speyer, in Worms,
aber auch in Schweizer Städten, Zürich, Bern, in Liefland, Riga, Tallinn. Das behutsame Taktieren des Rates angesichts reichsrechtlicher Unsicherheit konnte auf Strecken friedliche und sogar bikonfessionelle Entwicklungen, also die Koexistenz von evangelischen und damals, sagte man ja, nicht katholischen, sondern altgläubigen Gruppen und Gemeinden fördern, manchmal sogar langfristig. Also da, wo der Stadtrat eine sehr behutsame Politik gemacht hat, konnte langfristig sogar sowas wie ein ökumenisches Klima entwickelt werden. An einzelnen Orten wurde eine zögerlich de facto einsetzende Gewaltenteilung zwischen Kirche und Politik, aber auch Recht und Wissenschaft, allerdings monarchisch behindert. So nutzte in Kopenhagen und Stockholm der König die
reformatorische Stimmung, um sich gegen seine Widersacher im Adel und im gehobenen Bürgertum zu wenden, sich ihrer zu entledigen und sich selbst mit quasi-religiösem Wein ausstatten und autorisieren zu lassen. In Lyon versuchten Huguenotten unter dem Einfluss von Pierre Viret die Stadt mit Gewalt zu einem zweiten Genf zu machen. Also es gab auch da dunkle Seiten. Solche Entwicklungen wecken vor allem bei einigen römisch-katholischen Autoren die Meinung, die Reformation habe die Kirche völlig entmachtet und der politischen Herrschaft unterworfen. Doch faktisch wurde ein langfristiger Prozess der Gewaltenteilung nicht nur zwischen Religion und Politik, sondern auch zwischen Religion, Politik, Recht, Wissenschaft und Bildung sowie ein langer Prozess ökumenischer Wahrheitssuche ausgelöst, der einer weltoffenen Frömmigkeit und freiheitlich
demokratischen Entwicklungen zuträglich war und auch weiter zuträglich ist. Ich denke, das ist eine faszinierende Entwicklung. Es ist für viele Menschen schwierig mit diesen Gewaltenteilungen umzugehen, weil wir sehr geneigt sind, monistisch oder dualistisch zu denken. Und wenn sie über zwei oder einstellige Strukturen hinausdenken, dann haben die Menschen das Gefühl, es wird unübersichtlich und ungemütlich. Aber ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt, auch wenn sie theologisch tiefer nachdenken, über den Leib Christi nachdenken mit den verschiedenen Gliedern, über die Ausgießung des Geistes auf Männer und Frauen, Alte und Junge, sogar die Herrschenden und die Knechte und Mägde oder die verschiedenen Pfingsten, die verschiedenen Völker in sehr stark stammesorientierten oder nationalorientierten
Kulturen. Dann sehen sie, sie müssen einfach einen Schritt weiter gehen und müssen sehen, diese Differenzierungsprozesse sind anspruchsvoll. Sie können ins Chaos gehen, aber sie sind in sich auch sehr freiheitsfördernd und wenn sie richtig gesteuert sind, ausgesprochen segensreich und auch theologisch sehr von hoher Bedeutung. Also der Leib Christi mit den verschiedenen Gliedern, die da zusammenarbeiten, um der besseren Christeserkenntnis willen und um der Erbauung der Gemeinde willen, das ist einfach eine ganz, ganz großartige Figur. Dagegen sind diese pyraminalen Hierarchien oder nur die zweistelligen Figuren wesentlich, wesentlich schwächer und problematischer. Punkt sieben, die öffentliche Theologie, das Gewicht der Predigt und der
Disputation. Die Reformation war, wie der Erlanger Kirchenhistoriker Bernd Hamm schön formuliert hat, eine Lesebewegung und eine Predigtbewegung. Auch der Gottesdienst sollte nun der geistlichen, ethischen und politischen Bildung dienen. Über Glaubensfragen und kirchlich-politische Verhältnisse sollte frei und öffentlich gesprochen und diskutiert werden können. An vielen Orten nahm der Rat der Stadt starkes Interesse an der reformatorischen Botschaft und förderte die theologisch und biblisch gebildete Predigt nach Gottes Wort. Die Resonanz in der Öffentlichkeit war groß. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der neuen Gedanken kam den Disputationen zu. Als Vorbild dafür kann die berühmte Heidelberger Disputation von 1518 gelten, durch die Luther
die Konzentration auf Gottes Offenbarung in Jesus Christus einschärfte und zahlreiche zukünftige Reformatoren begeisterte und gewann, wie am heute Morgen davon gehört. Aber natürlich, diese Disputation war noch im universitären Kreis, während dann viele der im Folgenden genannten Disputationen an eine breite Öffentlichkeit gingen. Wichtige öffentliche Disputationen waren die in Zürich 1523, in Breslau 1524 zur Einführung der Reformation dort. Das Religionsgespräch in Memmingen auch 24, 1525 das Nürnberger Religionsgespräch, Disputationen in Hamburg 27 und 28, 1527 in Stockholm, 1528 in Bern, 1529 in Flinsburg. Sie sehen eine richtige
Welle, die alle Reformationsstädte ergriffen. Der Städtentag in Ulm 1524 bot mit seinem Schreiben an den Kaiser das erste reformatorische Bekenntnis auf Reichsebene. 1530 stimmten in Ulm von 1865 abstimmungsberechtigten Bürgern, 1621 für die Einführung der Reformation. Der Kollege Peter Blickle im Blick auf die Stadt Memmingen berichtet, in allen öffentlich oder halböffentlich geführten Disputationen in den 1520er Jahren verließen die Altgläubigen, die am alten Glauben festhalten, geschlagen das Feld. Also eine ganz erfolgsträchtige Entwicklung. Punkt 8, Katechismen, Kirchenordnungen, lebenspraktische Erneuerungen. Mit der Einführung der Reformation
entstanden an vielen Orten Kirchenordnungen. Die erste schon 1525 von Johannes Epinus in Stralsund. Es entstanden Katechismen, Zusammenfassungen der wichtigsten Inhalte des Glaubens, um das Leben und die Lehre zuverlässig zu orientieren. Luthers kleiner Katechismus und sein großer Katechismus 1528, 1529 sowie der Heidelberger Katechismus später 1563, aber auch Thomas Cranmers Book of Common Prayer 1549 wurden im Lauf der Zeit auf der ganzen Welt verbreitete Long und Bestseller. Auch heute weniger bekannte Katechismen erzielten große Wirkung. Der wichtigste der drei Katechismen von Johannes Brenz aus Schwäbisch Hall von 1535 wurde in
sage und schreibe 500 Auflagen verbreitet. Also große Erfolge auch von Katechismen, die uns heute nicht mehr gegenwärtig sind. Die Reformatoren strebten nicht nur eine Erneuerung des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Lehre an, sondern auch eine Verbesserung der Kultur des Helfens, der Diakonie, zum Beispiel der Armenfürsorge, des Dienstes an den Kranken und der Betreuung von Weisen. Sie entwickelten an vielen Orten sogenannte Almosenordnungen. Die Reformatoren transferierten die Armenfürsorge weitgehend aus dem kirchlichen Bereich in den weltlichen. In Hamburg und an anderen Orten wurde eine Kasse eingerichtet zur Versorgung Armer und Kranker, beaufsichtigt von zwölf bürgerlichen Diakonen. Ein christlich-genossenschaftlicher Geist trug die Neuordnung
der kirchlichen Verhältnisse, des Schulwesens, der diakonischen Einrichtungen, Spitäler zum Beispiel. Ambrosius Blare entwarf in Konstanz in vorbildlicher Weise Ordnungen zur Neugestaltung des Klosterlebens und zur Durchführung schriftgemäßer Gottesdienste 1535-36. Ob in Umgestaltung oder in neuen Formen, an vielen Orten entstanden Initiativen zu konkreter Armenhilfe, oft auch in Reaktion auf akute Krisen, zum Beispiel in der niedergehenden Textilindustrie, in Leiden, in Memmingen oder nach Sturmfluten in Wittmarsum. Also sowohl strukturell langfristige als auch akut kurzfristige Aktionen der Hilfe wurden eingeleitet. Punkt 9. Fürstinnen, Reformatorinnen und junge Theologen und Juristen
in Führungsräumen. Theologisch und geistlich engagierte Fürstinnen und gebildete Frauen aus dem gehobenen Bürgertum gaben der Reformation wichtige Impulse. Die Königin von Navarre, Margarete von Angoulême und ihre Tochter, die Herzogin von Albrey im Fürsten-Tourbären, Pau, im Po, Jeanne d'Aubret, förderten Simultankirchen, die römisch-katholische Kirchengebäude evangelischen Predigern öffneten. Im Kontakt mit Reformatoren in Genf betrieben sie den Aufbau eines reformierten Kirchentums und Fürstentums und engagierten sich in Bemühungen, den, wie es hieß, römischen Götzendienst zu reinigen. Im weltstädtischen Emden berief Gräfin Anna von Ostfriesland den
polnischen Humanisten und reformatorischen Theologen Johannes Alaska in das geistliche Leitungsamt, um das ganze Kirchenwesen in Ostfriesland neu zu organisieren. Neue synodale Leitungsgremien wurden geschaffen. Auch wurden in Emden Religionsgespräche mit den Altgläubigen und den friedfertigen Täufern organisiert. Also schon richtig ökumenische Gespräche. Am Hof von Ferrara förderte René de France in einem Kreis adliger Damen und Herren das Interesse am protestantischen Ideen. In Konstanz war eine der vornehmsten Familien, die Familie Blara, vom Bildungsideal des Humanismus und vom protestantischen Geist erfüllt. Befreundet mit Melanchthon und Luther arbeiteten die Geschwister Blara an der Erneuerung der Kirche, des Schulwesens, der Verbesserung der Armenfürsorge. Margarete Blara, von Erasmus von Rotterdam öffentlich gelobt, trat in gelehrten
brieflichen Austausch mit Martin Butzer und engagierte sich diakonisch für verarmte Frauen und verwaiste Kinder sowie in der Krankenpflege. In Straßburg wurde Katharina Zell 1523 nicht nur als Ehefrau des Predigers am Straßburger Münster eine der ersten evangelischen Pfarrfrauen, sondern auch eine bedeutende reformatorische Publizistin. Sie verteidigte öffentlich die Aufhebung des Solibats und unter Berufung auf die biblischen Zeugnisse vom Wirken des Heiligen Geistes das Recht der Frauen auf Rede und Mitwirkung in geistlichen Angelegenheiten. Also nicht erst eine Frucht des 20. Jahrhunderts. Sie engagierte sich für Glaubensflüchtlinge nicht nur durch praktische
Hilfe, sondern auch mit Trostbriefen. Sie veröffentlichte ein Liederbuch, das von der Spiritualität der böhmischen Brüder geprägt war und verteidigte die friedfertigen Täufer gegen öffentliche Hetze. Charakteristisch für den Geist der Reformation war schließlich der große Einfluss junger Theologen und Juristen, die oft direkt nach der Universitätsausbildung wichtige Führungsrollen in der Lehre, der Verkündigung und der Kirchenleitung übernahmen. Herausragende Beispiele sind natürlich Philipp Melanchthon und Johannes Kalvin. Aber auch zahlreiche andere junge Reformatoren sind hier zu nennen. So Martin Kalmanchetschi-Santa in Debrecen, vermutlich spreche ich das nicht richtig aus, Johannes Honterus und Valentin Wagner in Kronstadt, Johannes Brenz in Schwäbisch Hall, Michael Diller in Speyer, Michael Agricola in Turku, Hans Tausen in Wieburg, Huldreich-Zwingli
und Heinrich Bullinger in Zürich. Also viele ganz junge Reformatoren, frisch aus der Ausbildung, dürfen nun schon in Führungsrollen gehen, müssen nicht erst das Pensionsalter erreichen. Punkt 10 Reformation und europäische Internationalität. Die kleine Stadt Wittenberg wurde zum Mittelpunkt der zivilisierten Welt und zum Ausgangsort einer neuen religiösen Kultur. Die erst 1502 gegründete Universität zog mit ihren großen Lehrern Luther und Melanchthon in zehn Jahren zwischen 1535 und 1545 mehr als 4.700 Studierende aus ganz Europa an. In zehn Jahren mehr als 4.700 Studierende aus ganz Europa und war so die am stärksten besuchte Universität im Reich.
Aber auch bedeutende Künstler, vor allem die der Kranerschule, trugen zur weit über Deutschland hinausgehenden Ausstrahlung der Reformation bei. Auch andere Hochschulorte, an denen die reformatorische Lehre vertreten wurde, zogen gleichermaßen Gelehrte und Studierende aus ganz Europa an. Heidelberg, Marburg, Herborn, aber auch Cambridge sind hier vor allem zu nennen. Wir waren ganz erstaunt, als wir zurückblickten und sahen, wie international Heidelberg von den Studierenden, aber auch von den Lehrenden her war in jener Zeit. Neben der Anziehungskraft der theologischen, juristischen und humanistischen Bildung waren es aber auch die Verfolgungen und die Flüchtlingsströme, die über die Grenzen hinweg zu Bildung und Austausch und zu internationaler
Vernetzung der Lebensverhältnisse beitrugen. Städte wie Emden und Frankfurter Main steigerten durch die Aufnahme der Flüchtlinge aus anderen Ländern ihre wirtschaftliche und kosmopolitische Ausstrahlung. Studierende und akademische Lehrer, aber auch im Dienst der Kirche stehende, die wegen ihrer Glaubensüberzeugung ihr Land verlassen und fliehen mussten, erwarben weitergehende kulturelle, sprachliche Kompetenzen und verbreiteten in den verschiedenen Umgebungen neue Erkenntnisse. Kosmopolitische Orte mit langer Tradition und großer Macht, wie die Republik Venedig oder Edimburg, aber auch von vielen ethnischen Gruppen geprägte Orte wie Kronstadt und Toku, erhielten durch die Auseinandersetzung mit dem reformatorischen Geist neue Impulse. Sie waren manchmal auch konstruktiven Belastungsproben für die Traditionspflege und die kulturellen Routinen
ausgesetzt. Es musste dann an den guten alten bewährten Ordnungen ein bisschen nachgebessert werden. Nun, nicht zu vermeiden, elftens Konfliktthemen mit der römischen Kirche. Zahlreich waren die Konfliktthemen der Reformation mit der römischen Kirche. Vielen Menschen heute gilt der Ablasshandel als das die Reformation auslösende Ereignis. Doch er ist nur ein Thema unter vielen. Als Zentral für den neuen religiösen Aufbruch ist die Auseinandersetzung der Reformatoren mit der herrschenden, spekulativen und mit der physischen Theologie und ihren abgehobenen Gottesgedanken anzusehen. Heute Morgen Theologie der Glorie gegen Theologie der Kukis. Luthers Heidelberger Disputation von 1518 war bahnbrechend für die Kritik an einer Theologie, die der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und der
Orientierung an den biblischen Zeugnissen nicht den absoluten normativen Vorrang gibt. Die neue an Jesus Christus und der Heiligen Schrift ausgerichtete Theologie wollte allen Menschen den Zugang öffnen zu den Quellen der Gotteserkenntnis, wohingegen die spekulative und metaphysische Theologie als eine Theologie der Herrschenden oder der Herrschsüchtigen erschien. In Frage gestellt wurde auch die mächtige Beichtpraxis und der Zölibat. Auch das haben wir heute Morgen ja angesprochen. Es kann natürlich seelsorglich sehr hilfreich sein, wenn Menschen einem anderen Menschen oder auch einem geistlichen ihres Vertrauens ihr Herz eröffnen können. Aber eine befohlene Gewissenskontrolle, beständige Gewissenskontrolle durch institutionalisierte Beichtpraxen stieß in der Reformation auf Widerstand.
Ein weiteres kontrovers diskutiertes Thema für die Riffmatoren war die Weigerung der traditionellen Kirche der Gemeinde das Abendmahl in beiderlei Gestalt, Brot und Wein, Subutraque, auszuteilen. Das widerspreche klar den Aussagen der Schrift. Auch Marienverehrung, Heiligenkult und die Tradierung von heiligen Legenden, die Rosenkranzfrömmigkeit und die Lehre vom Fegefeuer wurden als nichtbiblisch oder als bibelferne Übertreibungen abgelehnt. Die Abschaffung der lateinisch gehaltenen Messe und der Prozessionen, die Bilderflut in den Kirchen und der oft in großer Zahl vorhandenen Nebenaltäre wurde gefordert. Besonders heftig gestalteten sich die Auseinandersetzungen dort, wo ungerechtfertigte wirtschaftliche Privilegien
und offensichtliche Doppelmoral mit klerikaler Herrschaft verbunden waren. Konflikte ergaben sich auch, wenn soziale Probleme und schlechte Bildungsverhältnisse den mangelnden Führungskompetenzen der Kirche angelastet wurden. Ob das dann im Einzelfall immer berechtigt war und ob da nicht auch dann viel Propaganda sich eingeschlossen hat, das muss man jeweils im Einzelfall untersuchen. Aber insgesamt war eben der Eindruck, die herrschende kirchliche Oberschicht ist auch in vieler Hinsicht selbstbereichernd und dysfunktional und mit Doppelmoralen versehen, an denen wir Kritik üben müssen. Die Kritik an der fragwürdigen Autorität des Papstes, die Kritik am hierarchischen Klerus und an der Machtstellung der Klöster, berief sich auf das Priestertum aller Getauften. Eine auf die Heilige Schrift konzentrierte Lehre und Verkündigung sollte das Dunkelmännertum aus der Kirche vertreiben. Die Vorherrschaft
der Juristik- tion der Rechtsprechung der Kirche wurde in Frage gestellt und in vielen Bereichen wurde das kanonische Recht und die kirchliche Rechtsprechung ersetzt durch säkularobrigkeitliche Rechtsprechung, Gewaltenteilung. Die Reformation bereitete in vielen Entwicklungen Freiheit durch Gewaltenteilung vor. Das heißt, dass individueller und gesellschaftlicher Freiheit am besten gedient ist, wenn Politik, Rechtsprechung, Wissenschaft und Leitung kirchlich-religiöse Angelegenheiten nicht in einer Hand liegen. Zwölftens innerprotestantische Konfliktthemen. Schon 1520 kam es zu Konflikten zwischen Luther und dem Mann, der neben Luther vielen zwischen 1518 und 1522
als einer der wichtigsten Repräsentanten der reformatorischen Theologie Wittenbergs galt. Luthers Doktorvater Andreas Rudolf Bodenstein genannt Karlstadt aus dem fränkischen Karlstadt. Es ging zunächst um die Unantastbarkeit des biblischen Kanons. Luther hatte die kanonische Gültigkeit des Jakobusbriefes, der eine Werkgerechtigkeit vertrete, in Frage gestellt. Gehört der Jakobusbrief überhaupt in dem biblischen Kanon? Er redet doch von der Gerechtigkeit aus Werken. Sein Kollege Karlstadt sah darin eine Gefährdung der Autorität der Heiligen Schrift. Fangen wir erst mal an, eine Schrift rauszunehmen. Im Nu findet jeder an irgendeiner biblischen Schrift dann irgendwas, was ihn nicht überzeugt. Und wo kommen wir dahin? Es kam auch zu Differenzen über Kindertaufe und Taufalter, aber auch über die Gegenwart von Jesus Christus im Abendmahl.
Von mystischer Theologie beeindruckt, betonte Karlstadt radikaler als Luther, die Mündigkeit jedes einzelnen Christenmenschen und die Autorität der Gemeinde. Auch ohne die für Luther und Melanchthon so wichtige Bildung. In seiner Gemeinde Orla-Münde entwickelte er als Bruder Andreas eine die Bedeutung allerlei stärkende Praxis. Also Karlstadt hat eben die Betonung der Mündigkeit aller radikalisiert und hat nicht so stark wie Luther und Melanchthon dann auch die biblische Bildung hochgehalten. Alle diese Themen wurden zu innerprotestantischen Konfliktthemen. Soziale Konflikte und Spannungen verstärkten und verschärften die Auseinandersetzungen. Der Streit um die Gegenwart Christi im Abendmahl wurde zu einem Zentralkonflikt zwischen Lutheranern und Reformierten. Philipp von Hessen suchte in
Marburg 1529 nach einer über Streitschriften geführten Debatte, die schon 26 begann, eine, wie er sagte, Mittelstraße zwischen Lutherischen und Zwinglischen, was allerdings scheiterte. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war die sogenannte Wittenberger Konkordie von 1536 von Butzer und Melanchthon. Aber erst die Leuenberger Konkordie von 1973 gelang die innerprotestantische Einigung. 1973 Leuenberger Konkordie, Einigung zwischen Lutheranern und Reformierten, eine so junge Entwicklung. Ebenso scharfe Konflikte bereiteten spiritualistische Bewegungen, die sich unter Verweis auf das innere Geisteswort, auf die theologische Autorität jedes einzelnen
Christenmenschen beriefen, zum Beispiel Sebastian Frank und Kaspar von Schwenkfeld in Ulm. Und die zentrale Glaubensinhalte, zum Beispiel die Lehre von der Dreieinigkeit, die Lehre von der Gottheit Christi in Frage stellten, zum Beispiel die Antitrinitarier in Venedig, in Polen, in Siebenbürgen, Serviet in Genf. Konflikte entstanden aus der Ablehnung der Kindertaufe und dem Vollzug der Erwachsenentaufe, die nicht selten mit einer Bereitschaft zur Wiedertaufe einhergingen. Diese Konflikte spitzen sich im Rahmen emanzipatorischer und schließlich gewaltbereiter Protestbewegungen zu, die sich auch gegen wirtschaftlich und existenziell bedrängende Miss- und Notstände richteten. Also wenn dann die ökonomischen Konflikte dazu kamen, dann entfachte sich das Feuer. Mühlhausen, Münster, Memmingen und andere Orte wurden zu Zentren solcher Radikalisierung.
Im Frühjahr 1525 kam es in Oberschwaben mit dem Gravitationszentrum Memmingen zum größten Aufstand, den es in Europa vor der Französischen Revolution gab. Vermutlich 50.000 aufständische Bauern verlangten in zwölf Artikeln die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Wahl der Pfarrer durch die Gemeinden, Ersetzung der Herrschaft des Adels und der Kirchenfürsten durch, wie es hieß, gemeines Regiment und die Durchsetzung anderer Freiheitsrechte. Tausende von Bauern kamen in den Schlachten mit den Truppen der Adligen um. Der Reformationshistoriker Heiko Obermann wollte in Memmingen ein viertes Zentrum der Reformation sehen, neben Wittenberg, Zürich und Genf.
Radikale, täuferische Richtungen. In Münster zum Beispiel ließ sich der Schneider Jan van Leiden zum König ausrufen, schaffte unter anderem das Geld ab, verhängte die Todesstrafe bei Verstößen gegen die zehn Gebote und beanspruchte für sich das Recht, den Namen für jedes neugeborene Kind auszusuchen. Solche extreme blieben zwar Einzelerscheinungen, belasteten aber das Ansehen der Reformation. Es gibt ja den schönen Spruch, eine Kette ist immer so stark wie das schwächste Glied in ihr. Ich habe mir dann gesagt, ja, das sieht man, was da in Münster gelaufen ist mit dem Typ, der also da Todesstrafe für Verstöße gegen zehn Gebote eingeführt hat und Geld abgeschafft hat und ähnliche Unsinn. Das waren auch Probleme. Bis heute zählen die unbefriedigende Auseinandersetzung mit den Täufern, das Versagen der Reformatoren in der Not der Bauern, aber auch
immer wieder der immer wieder aufflackernde Anti-Judaismus zu den dunklen Seiten der Reformation. Und sie werden deutlich 2017 medial ausgebreitet werden. Wir haben ja in den Medien, gerade weil die Medien viele Rollen der Religion gerne selbst übernehmen, immer so eine Hassliebe zur Religion und deshalb werden die Konflikte auch intensiv genutzt, die Konfliktthemen. Und man muss sich dazu stellen. Hier hat die Reformation einfach auch dunkle Seiten, der Anti-Judaismus, der ja auch in vielen Wellen immer wieder kam, hat auch einen Teil der Reformatoren belastet. Die Auseinandersetzung mit den Bauern ist ihnen völlig außer Kontrolle geraten. Das ist nicht gelungen. Und in den sozialen Konflikten haben sie nicht eindeutig Partei genommen. Was allerdings
auch daran lag, viele sagen, die Reformatoren waren Fürstenknechte, aber muss sagen, da wo sie nicht einen gewissen Schutz durch die Fürsten hatten, sind sie eben auch dann zu Märtyrern geworden. Sie brauchten auch diese politische Unterstützung, um ihre Botschaft überhaupt durchzusetzen. Aber das waren Spannungen, das waren Konflikte, die man nicht herunter dimmen darf, sondern da muss man sagen, da sind eben offene Flanken, offene Probleme auch der Reformation. Von den gewaltbereiten Bauern und Täufern und ihren gewaltbereiten Gegnern unterscheiden sich besonders die Bewegung der Mennoniten, die bis heute eine konsequente Friedenstheologie und Friedensethik vertritt, zum Beispiel Meno Simons in Wittmarsow. Auch zahlreiche andere Zeugnisse des gewaltlosen Widerstands und der Wege in ein friedliches ökumenisches Miteinander gehören zu den
Glanzlichtern der Reformation. Viele Orte wurden nach dramatischen Schauprozessen, öffentlichen Hinrichtungen und Verbrennungen bis hin zu posthumen Verurteilungen mit öffentlicher Verbrennung der Särge, Antwerpen, Augsburg, Edinburgh, Ferrara, Oxford, also das war keine Einzelerscheinung von irgendwelchen pathologischen Richtern, sondern das wurde dann offenbar zu einer Moderscheinung. Viele Orte mit solchen extremen, bedauerlichen, schrecklichen Entwicklungen wurden dann zeitweilig oder langfristig zu Städten, in denen Glaubensflüchtlinge aus vielen Ländern Aufnahme fanden. Also es wurde auch aus schrecklichen Erfahrungen dann gelernt und eine bessere Entwicklung in Gang gebracht. Die Protestanten in Augsburg feierten, nachdem ihnen nach großen anfänglichen Erfolgen, 90 Prozent wurde evangelisch, nach großen anfänglichen Erfolgen
alle Kirchen genommen worden waren, sie feierten 14 Jahre lang geduldig und friedlich Gottesdienste unter freiem Himmel. Auch andere Orte berichten vom sogenannten Auslaufen zum Gottesdienst der Evangelischen. Es gibt noch einen schönen Stich von mehreren Jahren, von Wien 1649 vom Auslaufen der Protestanten zum Gottesdienst. Dem stürmischen reformatorischen Aufbruch und der stürmischen Gegenbewegung folgten in manchen Ländern lange Zeiten der Bedrängnis und Geduld auf dem Weg in ein von der Reformation nachhaltig inspiriertes, friedliches, ökumenisches Leben. Mein letzter Punkt dankbares Gedenken auch an die Vorreformatoren. Die mitreißenden theologischen Einsichten und die das Leben verändernden Impulse der Reformation werden heute vor allem mit den Orten Wittenberg, Lothar Melanchthon, Zürich, Zwingli und Bullinger und Genf, Kalvin und Theodor
Bezer und mit der Entwicklung nach 1517, Thesenanschlag, Heidelberger Disputation und so weiter verbunden. Doch bereits mehr als 100 Jahre vor der Reformation in Deutschland, in der Schweiz und in anderen Ländern Europas gab es Reformansätze und wurden verschiedene ihrer zentralen Erkenntnisse gewonnen und entsprechende Reformforderungen erhoben, besonders im Umkreis der Universitäten Oxford und Prag. Oxford vor allem John Wycliffe 1320 bis 1384 und Prag Jan Hus 1372 bis 1415, früher noch von Petrus Waldes aus Lyon und den Waldensern. Hervorgehoben wurde schon damals, dass allein
Gottes Gnade der grundmenschlichen Heils ist, dass die Heilige Schrift höher steht als alle kirchliche Lehren, dass die Bibel allen Menschen zugänglich gemacht und dass in der Landessprache der Menschen gepredigt und gelehrt werden müsse, die Mündigkeit der Menschen in geistlichen Angelegenheiten wurde betont und es wurde die Austeilung von Brot und Wein im Abendmahl an alle Gemeindeglieder gefordert. Nicht erst etliche der Reformatoren, auch sogenannte Vorreformatoren, wurden dafür, dass sie diese befreienden, aber als heretisch ketzerisch angesehenen Erkenntnisse verbreiteten, öffentlich hingerichtet. Wir denken in aller Welt bis heute an sie in dankbarer Verbundenheit.
EUROPA REFORMATA: Was sagen uns 48 Reformationsstädte über die Anliegen der Reformation? | 6.2.3
Nun wird es vielseitig und international – aber richtig. Michael Welker reist einmal quer durch Europa, durch 48 Städte, von Spanien bis Finnland, von denen aus die Reformation Kirche und Kontinent verändert hat. Die meisten Menschen verbinden die Reformation mit Martin Luthers Kampf gegen den Ablasshandel, mit der Entstehung der evangelischen Kirche und einem veränderten Gottesbild. Doch die Reformation brachte noch viel mehr. Sie machte die Christen zu mündigen Gläubigen, die die Bibel selbst lesen und für sich interpretieren konnten. Sie revolutionierte die Bildung, stellte kirchliche Ordnungen infrage, sie brachte sogar einige Reformatorinnen hervor, die für Frauenrechte eintraten. In 13 knappen Punkten wirft Welker mehrere solcher Schlaglichter auf die Reformation und zeigt, dass Martin Luther nicht nur die Kirche, sondern die halbe Welt verändert hat.