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Auf seinen Reisen durch die römische Provinz Asien sieht Paulus prominent platzierte Inschriften zur julianischen Kalenderreform. Seit 45 v. Chr. galt der 365-Tage-Kalender. Alle Uhren im römischen Reich sollten sich am Kaiser orientieren. Die Provinz Asien ließ sich nun etwas Besonderes einfallen, um Rom und dem Kaiser zu schmeicheln. Mit dem Geburtstag des göttlichen Kaisers Augustus am 23. September soll das Jahr beginnen. Stolz und staatstragend wird die Reform auf den Marktplätzen in allen bedeutenden Städten der Provinz veröffentlicht.

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Ich zitiere aus einer Inschrift aus Priene. Dieser Tag, der Geburtstag des Kaisers, hat der Welt ein anderes Gesicht gegeben. Sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem heute Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Heil aufgestrahlt wäre. Nun endlich ist die Zeit vorbei, da man bereuen müsste, geboren zu sein. Wer richtig urteilt, wird in diesem Geburtstag den Anfang des Lebens und der Lebenskräfte für sich erkennen. Es ist unmöglich, in gebührender Weise für so große Wohltaten zu danken, die dieser Tag uns gebracht hat. Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heil der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, dass er uns und den kommenden Geschlechtern als Retter gesamt ist. Der Geburtstag des Gottes aber war für die Welt Anfang der von ihm

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ausgehenden guten Botschaften, nämlich Evangelien. Die Geistideologie stand Paulus vor Augen, wenn er mit den Menschen ins Gespräch kommt, wenn er predigt, wenn er seine Briefe schreibt. Der Geburtstag des Gottes Sohns verändert die Welt. Er ist der Ausgangspunkt aller guten Nachrichten, also aller Evangelien. Er erinnert an das Heil, das der Weltenretter verkörpert. Natürlich waren solche Ideen für ihn mehr als ein attraktiver Anknüpfungspunkt. Sie waren zugleich eine krasse Provokation für ihn als Juden. Ihm, der große Teile der griechischen Bibel auswendig kennt und der sich gerade mit prophetischen Traditionen identifiziert, für ihn ergibt sich wie von selbst eine Verbindung zu Sätzen aus Jesaja. Wie lieblich klingen die Schritte des Freudenboten, also des Evangelisten auf den Bergen, der Frieden verkündet, der

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gute Botschaft bringt, der Rettung verkündet, der zu Zion spricht, dein Gott ist König geworden Jesaja 52 Vers 7. Paulus schafft daraus seine eigene Provokation. Er, Paulus, ist der Gesandte, der Apostel, der die frohe Botschaft verkündet. Inhalt des Evangeliums ist der Sohn Gottes, nicht der Gottessohn aus der Kaiserdynastie, sondern aus dem Königshaus David. So stellt er sich und sein Evangelium den Römern vor und damit setzt er auch den Ton des Briefs. Römer 1.1 folgende. Paulus, im Dienste des Christus Jesus, zum Apostel berufen, abgeordnet für das Evangelium Gottes, dass er ihm voraus verheißen hat durch seine Propheten in heiligen Schriften, das Evangelium von seinem Sohn nach dem Fleisch von David bestimmt, von David abstammend, nach dem Geist der Heiligkeit zum Sohn Gottes erklärt und mit Machtfülle ausgestattet Kraft der Totenauferweckung. Jesus Christus, unser Herr, durch den wir

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gnädigerweise den Auftrag erhielten, für ihn zum Gehorsam des Glaubens aufzurufen unter allen Weltvölkern. Ziel seines Apostelats, also seines ganzen Engagements, ist es also, Paulus ganz am Anfang des Römerbriefs, Glaubensgehorsam zu schaffen. Kurz darauf wird er die römischen Jesusnachfolger dafür loben, dass man von ihrem Glauben in aller Welt bereits spricht. Der Glaube war ja, wie gesagt, schon ohne sein Zutun auf den Handelsrouten nach Rom gelangt. Der Glaube ist damit ein globales Phänomen. Uns braucht hier nicht zu interessieren, dass Paulus hier im Sinne einer Captatio Benevolentiae etwas dick aufträgt, also ein bisschen schmeichelt. Interessanter ist, das und wie er hier den Glauben ins Spiel bringt. Paulus wäre wohl verblüfft, wenn er uns heute vom Glauben sprechen hörte. In unserer religiös-kirchlichen

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Sprache haben wir das Wort Glaube immer voller geladen, bis das Wort Glaube schließlich identisch wurde mit Christentum, ja mit Religion überhaupt. Wir sprechen sogar von jüdischem Glauben, von muslimischem Glauben, von buddhistischem Glauben. Das entspricht nicht unbedingt dem Selbstverständnis dieser Religion. In unserer Alltagssprache hat Platos Glaubensverständnis das des Paulus verschluckt. Glaube, Pistis auf Griechisch, ist für Plato eine bestimmte und zwar eine minderwertige Form der Erkenntnis. Ich glaube, dass morgen die Sonne scheint, so ein Beispiel platonischer Verwendungsweise. Glauben heißt nicht wissen. Im ersten Kapitel des Römerbriefs befinden wir uns in einer ganz anderen Sprachwelt. Wenn Paulus schreibt, dass sein Ziel der Glaubensgehorsam der Völker sei und dass die römischen Christusgruppen

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darin vorbildlich seien, dann hat er etwas anderes im Sinn. Im Griechischen ist nämlich Pistis ein sehr breiter, schillernder Begriff. Er kann ganz viel bedeuten. Glaube, Vertrauen, Zutrauen, Gehorsam, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Loyalität, Treue und vieles mehr. Die Botschaft, die Paulus in die Welt hinausträgt, hat nicht bloß Kopfschütteln oder Kopfnicken zufolge, sondern sie nimmt den ganzen Menschen in Beschlag. Sein Evangelium vom Gottessohn aus der Dynastie Javits, der nicht im Tod blieb, sondern auferstand, der ein Imperium errichtet, das von Gerechtigkeit und Heil geprägt ist. Glaube heißt hier, sich davon überzeugen zu lassen und sein Leben auf dieses revolutionäre, kosmisch transformierende Geschehen einzulassen. Wie Paulus mit dem Begriff des Evangeliums einen kräftigen Seitenhieb in Richtung des Imperiums austeilt, so ist

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auch seine Rede vom Glauben, Pistis, nicht unpolitisch. Pistis, lateinisch fides, ist das, was das Imperium im Innersten zusammenhält. Sie bindet die Hausgenossen in einer Großfamilie zusammen. Sie ist der höchste Wert in einem Freundschaftsverhältnis. Pistis hält Patron und Klient zusammen. Sie prägt das gesellschaftliche Leben, das Gemeinschaftsleben, das Geschäftsleben. Sie ist auch Garant für politische Stabilität. Fast alle Arten von Bindungen, alle Abhängigkeits- und Loyalitätsverbindungen werden durch die Fides oder Pistis bestimmt. Kurz, sie ist das Identitätsmerkmal römischer Kultur und Gesellschaft. Paulus weiß das natürlich. Vielleicht weiß er auch, jetzt wo er den Brief aus Korinth schreibt, dass auf dem

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Kapitol in Rom ein Heiligtum der vergöttlichten Fides steht, direkt neben dem Jupiter-Tempel, also sehr zentral. Ein Zeitgenosse des Paulus, Valerius Maximus, schreibt über sie, über die Göttin, nun reicht uns die ehrwürdige Gottheit der Fides ihre rechte Hand, diese sicherste Unterpfand menschlichen Heils. Die Göttin der Treue streckt den Menschen also die rechte Hand entgegen und sorgt dafür, dass es ihnen an Leib und Seele gut geht. Sicher weiß und spürt Paulus auch, dass der Fides-Zusammenhalt in der römischen Gesellschaft seit einiger Zeit brüchig geworden ist, dass die Menschen am eigenen Leib erfahren, wie manipulierbar die Fides ist, jeden Tag aufs Neue der Gefahr ausgesetzt, durch Lügen, Neid, Streitsucht, Verschwörung beschädigt zu werden. Die Menschen waren offen für neue

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Impulse, für neue religiöse Angebote, auch abseits der imperialen Politik, auch abseits der Kaisideologie. Und wieder provoziert Paulus, er stellt den Glauben in den Mittelpunkt des Briefs. Im Vergleich zu seinen anderen Briefen verwendet er Glaubensterminologie in überproportionaler Dichte. Das ist geschickte Adressatenorientierung, die sicher nicht ohne Resonanz blieb. Hier ist von einem neuen Glauben die Rede, von einem anderen Zusammenhalt. Mit dem Messias Jesus ist der Christusglaube als kosmisches Ereignis in die Welt eingebrochen. Und er will die ganze Welt, den ganzen Kosmos verändern. Darin liegt der tiefere Sinn der Übertreibung von eurem Glauben, wird nämlich in der ganzen Welt gesprochen. Der Christusglaube ist das Identitätsmerkmal, das die Jesusbewegung nach innen verbindet und zugleich auch nach

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außen abgrenzt. Er verbirgt das Heil der Christusglaube und nicht die Fides, die neben dem Jupiter auf dem Kapitol steht. Nicht alle glauben gleich und nicht alle glauben das Gleiche. Das wird im weiteren Verlauf des Briefes noch deutlich. Aber alle, die sich vom Ereignis des Christusglaubens ergreifen lassen und sich verändern lassen, werden hineingenommen in Gottes Rettungshandeln. Und damit sind wir wieder beim Themasatz des Römerbriefs angelangt. Römer 1, 16 und 17. Ich schäme mich des Evangeliums nicht. Eine Kraft Gottes ist es nämlich zum Heil für jeden, der glaubt. Für die Juden zuerst und auch für die Griechen. Gottes Gerechtigkeit wird nämlich in ihm, dem Evangelium offenbart, aus Glauben zu kommen, wie geschrieben steht, der aus Glauben Gerechte aber wird leben. Plötzlich wird

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es nun ruhig um den Glauben und um die Gerechtigkeit. Eigentlich wäre jetzt nach diesen Themasätzen doch zu erwarten, dass Paulus etwas näher darauf eingeht, was bedeutet Glaube, was bedeutet Gerechtigkeit. Doch zuerst schafft er ein beklemmendes Vakuum. Er beschreibt die Realität einer Christus- und Glaubenslosen-Sphäre, die vom Zorn Gottes und der Sünde der Menschen geprägt sind. Es ist eine große Klammerbemerkung, fast zwei Kapitel lang. Und sie beschreibt den globalen Unheilszustand der gesamten Menschheit. Hier fallen auch die in jüngster Zeit wieder so heiß diskutierten Aussagen zur Homosexualität. Römer 1,25 folgen wir. Die Menschen dienten dem Geschöpf statt dem Schöpfer. Darum hat Gott sie würdelosen Leidenschaften übergeben. Ebenso wie die Weiblichen von ihnen den natürlichen Gebrauch durch den wiedernatürlichen ersetzt

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haben, genauso haben auch die Männlichen den natürlichen Gebrauch des Weiblichen aufgegeben und sind entbrannt durch ihr Verlangen nacheinander. Männliche bringen mit männlichen Schande hervor und so erhalten sie die notwendige Gegenleistung, wie ihre Verirrung durch sich selbst zurückerstattet. Es gibt ja nun kaum eine Streitfrage, die stärker polarisiert und eher stärker polemisiert wird, als die Frage der Homosexualität. Wir können hier nicht auf Details eingehen, geschweige denn die Frage lösen, aber wir können versuchen, die Aussagen des Paulus nachzuvollziehen. Und dazu ist der gesamte Zusammenhang wichtig. Paulus beginnt diesen Abschnitt, 1.18 folgende, mit einem Frontalangriff gegen die Heidenwelt. Einmal in Fahrt spult Paulus das ganze Arsenal der antihaitischen Polemik herunter. 1.29 folgende. Heiden sind angefüllt mit jeglicher Ungerechtigkeit, Bosheit, Habsucht, Schlechtigkeit, voller Neid, Mord, Streit, Tücke, Bösartigkeit,

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Ohrenblässe, Verleumde, Gotteshasser, Gewalttäter, überhebliche Prahlhänse, Erfinder von Schlechtern, Eltern, Ungehorsame, Unverständige, Ungetreue, zuliebe, Unfähige, Unbarmherzige. Wer wie die Heiden den wahren Gott verkennt, versinkt im Morass der Unmoral. Wer den Schöpfer mit der Schöpfung vertauscht, lebt verkehrt und verkehrt die Natur, auch die geschlechtliche Natur, so die Logik des Paulus. Die theologische Spitze des Abschnitts liegt in der Aussage, dass alle unter der Sünde sind. Wer im schwarzen Loch des Unglaubens und der Sünde ist, verhält sich so, denkt Paulus, gegen die Natur. Auf das Thema Homosexualität legt er kein eigenes Gewicht, weil er davon ausgehen kann, dass ihm niemand widersprechen wird, niemand seiner Adressatinnen und Adressaten. Das identische Argument gegen die Natur findet sich übrigens auch beim jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien oder beim römischen Stoiker

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Seneca. Paulus kannte mit einiger Wahrscheinlichkeit verschiedene Formen homosexueller Partnerschaften, aus der Literatur, aus eigener Anschauung, vielleicht auch aus dem Klatschen und Dratschen der High Society. Doch er hat beim Diktieren des Römerbriefs keine konkrete Situation im Blick. Auch in Rom ist das Thema im Schwange. Homosexuelle Neigungen wurden in unterschiedlicher Form und teils recht freizügig ausgelebt. Der vor kurzem an die Macht gekommene Nero sollte bald seinen Lustgabens Sporus kastrieren und in Brautkleidern öffentlich heiraten. Solche konkreten Aspekte sind Paulus hier aber völlig gleichgültig. Was nicht heißt, dass nicht wir darüber zu diskutieren haben. Aber mit dem Lasterkatalog will er illustrieren, was aus seiner Sicht geschieht, wenn Menschen ihren Schöpfer vergessen. Und dazu baut er,

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das ist auch wichtig fürs Verständnis dieser Passage, rhetorisch eine Spannung auf. Er kann nämlich davon ausgehen, dass seine jüdischen Gesprächspartner einhellig beipflichten und applaudieren. Ja, so schlimm steht es um die heidnische Welt. Doch gerade wenn sie sich in Sicherheit wiegen, dreht er den Spieß um und die rhetorisch gestellte Falle schnappt zu. Römer 2.1 Darum gibt es keine Entschuldigung für dich, Mensch, wer immer du bist, der du urteilst. Worin du über einen anderen urteilst, darin verurteilst du dich selbst. Denn du, der du urteilst, tust dir dasselbe. Wer mit dem Finger auf die anderen zeigt, verurteilt am Ende sich selbst. Darauf zielt Paulus, auf dieses Vakuum, in dem keine Luft mehr zum Atmen ist, in dem sich kein Mensch gegenüber einem anderen Menschen überlegen fühlen kann. Römer 3.11 folgende Es gibt keinen, der versteht, es gibt keinen, der

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nach Gott fragt. Alle haben sie sich abgewandt. Allesamt sind sie nichtsnutzig geworden. Es gibt keinen, der Güte übt. Es gibt nicht einmal einen. Ein geöffnetes Grab ist ihr Hals. Mit ihren Zungen haben sie betrogen. Otterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll von Fluch und Bitterkeit. Schnell sind ihre Füße, Blut zu vergießen. In diesem Vakuum gibt es keine Gerechtigkeit, keinen Glauben, keine Gottesfurcht, kein Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit, keine Moral, keinen Verstand. Adolf Deismann schrieb Anfang des letzten Jahrhunderts einmal plastisch. Der Mensch machtet in dem Finstern vielfach ummauerten Kerke von sieben Unheilssphären im Fleisch, in den Sünden, in Adam und seinem Todes Schicksal, im Gesetz, in der Welt, in den Leiden. Und ich glaube, Deismann hat die Gedanken des

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Paulus hier richtig erfasst. Paulus selbst hat diese Lehre nicht am eigenen Leib gespürt, bevor ihm Christus vor Damaskus begegnete. Sein Gewissen war robust. Er schmachtete nicht in diesem Kerke. Dazu war er sich seiner Sache als Christenverfolger allzu sicher. Jetzt sieht er die Realität auf der anderen Seite umso klarer. Vom Standpunkt des Glaubens schaut er zurück auf diesen luftleeren Hohlraum. Er rationalisiert sozusagen rückwärts. Und es ist dieses grelle Licht vor Damaskus, das die dunklen Schatten auf die Vergangenheit und die andere Seite der Macht wirft. 3, 9 Juden wie Griechen sind allesamt unter der Sünde. 23 Alle haben gesündigt und entbehren der Herrlichkeit Gottes. Es ist für Paulus eine Welt, die Gott den Rücken zukehrt. Grund genug eigentlich, dass Gott nun der Welt

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den Rücken zukehrt und sie aufgibt. Doch Gott kann und wird in seiner Treue, Pistis, die Welt nicht aufgeben. Das hat nun Paulus am eigenen Leib und in seiner Christusbegegnung erfahren. Gott schreibt seine Geschichte mit der Welt weiter mit der Überschrift Jetzt aber beginnt nun nicht einfach das nächste Kapitel der Geschichte, sondern das letzte, das letzte Kapitel, das große Finale. Jetzt aber lautet die Einleitung zu diesem Kapitel in 3, 21. Es ist eine pointierte Wendung bei Paulus. Jetzt aber. Wie im Themavers zu Beginn seines Briefs packt Paulus nun wieder alles in diese Verse 3, 21 und 22. Wieder seine Genitiv Theologie, Gottes Gerechtigkeit, Christus Glaube, wieder die Rede von der Offenbarung.

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Nun aber ist außerhalb des Gesetzes Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden. Gottes Gerechtigkeit durch Jesus Christus Glauben zu allen, die glauben. Der leere Raum füllt sich nun jetzt aber wieder mit Licht. Wo vorher die Sünde alles in Beschlag nahm, ist jetzt Gerechtigkeit, Glaube, Gnade, Erlösung. In der messianischen Jetztzeit, im Christusereignis, würde die Gottes Gerechtigkeit offenbart. Paulus lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Welt, die Wirklichkeit nicht nur für ihn individuell, sondern insgesamt radikal gewandelt hat, für alle. Natürlich tun sich auch in diesem Vers zahlreiche exegetische und theologische Probleme auf. Die Deutung der Gottes Gerechtigkeit hat uns ja schon kurz beschäftigt. Nun stehen

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wir mit der Wendung Christus Glaube wieder vor einem Genitivproblem. Seit fast 40 Jahren beschäftigt dieser Genitiv Christus Glaube die Gemüter der Paulus-Forscherinnen und Forscher. Gottes Gerechtigkeit offenbart durch Jesus Christus Glaube. Was meint Paulus damit? Hätte er sich hier nicht ein bisschen präziser ausdrücken können, ein paar Worte mehr verlieren können? Vier verschiedene Optionen sind derzeit im Gespräch, die sich wieder an Genitivkategorien orientieren, genitivus subjektivus oder genitivus objektivus. Wir müssen uns kurz damit auseinandersetzen. Immerhin geht es für manche bei dieser Frage des Jesus Christus Glaubens um Leben oder Tod. J.L. Martin, ein amerikanischer Exeget, meint es, sei a matter of life or death. Die erste Option. Dachte Paulus mit Christus Glaube an unseren Glauben, der sich das Geschehene,

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also die Gottes Gerechtigkeit, aneignet und erkennt, dass Gott in Christus zum Heil der Menschen gehandelt hat. Die Zürcher Bibel übersetzt die Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an Jesus Christus für alle da ist, die glauben. Das ist sicher nicht falsch, aber es steht einfach nicht da. Durch den Christus Glauben wurde offenbart, heißt es. Wurde offenbart. Da stellt sich die Frage, inwiefern ist menschlicher Glaube verantwortlich zu machen ausschlaggebend für eine göttliche Offenbarung? Kann eine individuelle Haltung, also die Haltung des Glaubens, ausschlaggebend sein für ein heißgeschichtliches Geschehen? Die zweite Variante. Dachte Paulus an die Treue Gottes, die sich in Jesus Christus zeigt.

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Gottes Gerechtigkeit ist offenbart durch die Treue Gottes in Christus. Auch das ist ein Gedanke, der Paulus nicht fremd ist. Karl Barth hat Römer 3,22 so verstanden. Gottes Treue in Christus. Aber hätten die römischen Adressatinnen und Adressaten das so verstehen können? Ich wage es zu bezweifeln. Drittens hatte Paulus die Treue Christi im Sinn, nämlich seine Treue und seinen Gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Er würde damit zum Ausdruck bringen, dass die Offenbarung der Gottes Gerechtigkeit eben nicht auf das menschliche Glauben zurückzuführen ist, sondern auf die Treue und den Gehorsam Jesu. Diese Sicht ist in der angesächsischen Exegese weit verbreitet. Sie ist mittlerweile dort zur Mainstream Option aufgestiegen. In

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deutschsprachigen Veröffentlichungen wird diese Option zumeist nur noch in Fußnoten verhandelt, relativ kurz beiseite geschoben. Kaum bekannt ist, dass es zwei illustre deutsche Gelehrte waren, die diese Sicht im Jahr 1831 unabhängig voneinander in die Diskussion warfen. Der Rationalist Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und ein Hobbytheologe und Handelsschriftsteller Wilhelm Benecke. Paulus, der Rationalist, schreibt und paraphrasiert durch Überzeugungstreue, also Christusglaube wird als Überzeugungstreue gefasst, wie Jesus als Messias sie selbst hatte, lehrte, übte und bis zum grausamsten Tode alle Menschen möglich bewies. Das Problem ist, dass Paulus, jetzt der Apostel, Jesu irdischen Gehorsam nirgendwo im Römerbrief, noch auch sonst in seinen Schriften mit dem Wort Pistis bezeichnet, mit Ausnahme eben

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dieser Stellen, die uns gerade beschäftigen. Viertens, meiner Meinung nach, dachte Paulus zuallererst weder an den individuellen Glauben, noch an die Treue Gottes, noch an die Treue Jesu, sondern an das Ereignis des Glaubens. Was heißt das? Der Glaube wurde offenbart, schreibt Paulus im Gallaterbrief. Mit dem Kommen Christi offenbarte sich, zeigte sich, manifestierte sich eine neue Wirklichkeit, Glaubenswirklichkeit. Sie löst die vorige Realität, die Gesetzeswirklichkeit ab. So stelle ich mir die Logik des Paulus vor. Wer sich in der Gesetzeswirklichkeit befindet, beharrt auf Gesetzeswerken, also Beschneidung, Speisegebote, Feiertage. Wer in der Glaubenswirklichkeit ist, erfährt und erhält das Heil abseits vom Gesetz. Christus brachte für Paulus eine radikale Zeitenwende. Jetzt aber, und dadurch,

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dass sich jetzt aber mit dem Jesus-Christus-Glauben eine neue Wirklichkeit breitmacht, wird Gottesgerechtigkeit offenbar für diejenigen, die sich in diese Wirklichkeit hineinnehmen lassen, also Glauben. Das ist meines Erachtens der Gedanke bei Paulus an dieser Stelle. Die selbe Formulierung durch Glauben fügt Paulus auch in eine andere Stelle ein, in das gleich darauf folgende Textstück, das er wohl nicht selbst formuliert hat, sondern aus judenkristlicher Tradition übernommen hat. Es gibt nur wenige Texte im Römerbrief, über die so viel nachgedacht und geschwitzt wurde, wie über diese Verse. Das kann nicht verwundern, denn dort wird der Tod Jesu im Licht des großen Versöhnungstages gedeutet. Dem einen Tag im Jahr also, in dem

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der hohe Priester im Allerheiligsten, also im Allerheiligsten des Tempels, das Blut eines Ziegenbocks auf den Deckel der Bundeslade spritzt. Auf diesem Deckel, Hylasterion auf Griechisch, berühren sich Himmel und Erde. Hier ist Gott gegenwärtig und gewährt Israel Vergebung der Sünden. Römer 3,25, ihn, Jesus Christus, hat Gott durch den Glauben als einen Ort seiner Gegenwart, nämlich Hylasterion, präsentiert in seinem Blut. In der neuen Wirklichkeit des Glaubens, so Paulus, wird aus Karfreitag der große Versöhnungstag, nicht nur für Israel, sondern für alle, die glauben. Nicht nur im Allerheiligsten des Tempels, sondern für alle erfahrbar und nicht nur einmal jährlich, wie am großen Versöhnungstag,

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sondern ein für alle Mal. Und nun stellt sich für Paulus die Frage, wie ein Mensch nun Anteil gewinnt an dieser neuen Wirklichkeit. Und seine Antwort, Abraham. Nirgendwo in seinen Briefen äußert sich Paulus so ausführlich zu einem Vers aus der Schrift wie in Römer 4. Es geht um die Abraham-Geschichte, genauer um den Glauben Abrahams. Paulus zitiert Genesis 15, Vers 6. Abraham glaubte Gott und das würde ihm als Gerechtigkeit angerechnet. Warum investiert Paulus nun so viel Scharfsinn und so viel Tinte in die Auslegung dieses einen Satzes? Übrigens nicht nur im Römerbrief, sondern zuvor schon im Galaterbrief. Es ist für ihn völlig unvorstellbar, dass er seine Glaubenstheologie jenseits der Schrift, also dem, was wir Altes

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Testament nennen, entwickelt. Es ist für ihn unvorstellbar, dass er die Familie der Glaubenden nicht bei Sarah und Abraham beginnen lässt. Das entspricht einer seiner Maximen, dass er die Thora, also die fünf Bücher Mose, durch den Glauben nicht aufhebt, sondern an ihr festhält. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Paulus kräftig in der Thora wühlen musste, um einen Beleg für seine Überzeugung zu finden, das der Glaube gerecht macht. Glauben und Gerechtigkeit tauchen in der Thora eben nur an dieser einen Stelle auf, in Genesis 15, 6. Mit seiner Interpretation dieser Stelle provoziert er wieder. Er stellt das Abraham-Bild, das er kannte, auf den Kopf und konzentriert seine ganze Argumentation auf das Glauben,

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das Vertrauen des Abrahams, der in einer verzweifelten Lage, nämlich alt und kinderlos, auf das Versprechen Gottes vertraute, dass er so viele Nachkommen haben werde, wie Sterne im Himmel sind. Darauf, nämlich auf dieses Glauben und Vertrauen, fokussiert sich Paulus und klammert die weiteren Episoden der Abraham-Erzählung aus. Genesis 17, die Beschneidung und Genesis 22, die Opferung Isaacs. Sie haben mit dem Glauben Abrahams, so Paulus, zunächst nichts zu tun. Mehr noch, gilt im Judentum das Leben des Abraham als einziger Weg des Glaubens und Gehorsams, schreibt Paulus ihm nun kurzerhand Gottlosigkeit zu. Das ist nicht nur für jüdische Ohren geradezu ein blasphemischer Vorgang. Der gottlose Abraham, nicht der schon immer

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gehorsame, treue, gerechte, vorbildliche Abraham, vertraute Gott und wird von Gott gerecht gesprochen und zum Vater einer weltumspannenden Glaubensgemeinschaft. Etwas abstrakter, theologischer formuliert, Gottes Gerechtsprechung ist kein deskriptives Geschehen, das gerechtes Verhalten bestätigt und legitimiert, sondern ein kreativer Vorgang, in dem Gott das, was gottlos und tot ist, recht und lebendig macht. Prämo 4, 4 folgende, dem, der Werke tut, wird der Lohn nicht aus Gnade, sondern aus Schuldigkeit zugerechnet. Dem jedoch, der keine Werke tut, aber an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet. Paulus stellt sich damit ganz vehement gegen eine gängige, gebräuchliche, alternative

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Bedeutung von Genesis 15, 6. Dieses setzt schon innerbiblisch an, wenn nämlich der Verfasser des Geschichts, Psalm 106, wohl gar nicht so lange nachdem der Text von Genesis 15 in Umlauf war, dem religiösen Eifer des Pinhas denselben Ausgang zuschreibt wie Abrahams Glauben. Dort heißt es in Psalm 106, doch Pinhas trat auf und hielt Gericht, er tötete nämlich einen Israeliten, der eine Midianiterin zur Frau genommen hatte und wendete so Gottes Zorn von Israel ab. Diese Geschichte wird erzählt in Nummer 25. Und nun heißt es weit in diesem Psalmvers und dies, nämlich sein Eifern, das Töten des Israeliten, würde ihm als Gerechtigkeit angerechnet. Also da wird Genesis 15, 6 zitiert. Von Generation zu Generation. Eine kurze Rückblende

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in die Biografie des Paulus. Pinhas war das Paulus' großes Vorbild. Paulus nennt sich selbst einen Eiferer, wenn er auf die Zeit vor seiner Christusbegegnung zurückblickt. Eifer ist natürlich nicht nur eine Emotion oder die Begeisterung eines Thora-Studenten. Eifer ist mit dem Einsatz von Gewalt verbunden. Ein religiöser Eiferer kämpft mit allen Mitteln für die Reinheit Israels. Paulus war der Auffassung, dass die neue christliche Bewegung ein Schandfleck ist. Dieser Schandfleck muss mit allen Mitteln ausgemerzt werden. Nicht durch Argumente, sondern durch Mord. Und das wird, so dachte Paulus, als Gerechtigkeit angerechnet werden. Er war unterwegs im Auftrag des Herrn nach Damaskus, um zu töten und dann überrumpelte ihn die überragende Erkenntnis Jesu Christi, wie er später schreibt. Pinhas

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war auch das Vorbild der makabeischen Unabhängigkeitskämpfe im zweiten Jahrhundert vor Christus. Matthias, Judas Makabeus, Simon. Auch sie setzten alles daran, um das Vermischen von Kulturen zu verhindern. Im ersten Makabeobuch wird erzählt, wie der Vater Matthias im hohen Alter seinen Söhnen Folgendes mit auf den Weg gibt. Nun, Kinder, zeigt Eifer für die Weisung und gebt euer Leben für den Bund unserer Vorfahren. Erinnert euch der Taten unserer Vorfahren, die sie in ihren Generationen vollbracht haben und erlangt große Anerkennung und einen immerwährenden Namen. Und jetzt wird wieder Genesis 15 zitiert. Abraham würde er nicht treu befunden in der Versuchung und würde

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ihm das nicht zur Gerechtigkeit angerechnet? Das ist eine bemerkenswertere Lektur von Genesis 15,6. Glaube heißt Eifer, Zellotismus, Bereitschaft zum Martyrium. Die Erzählung über Abrahams Glaube wird mit der Erzählung von Abrahams Versuchung parallel gesetzt, verschmolzen. Abraham wurde in der Versuchung treu befunden und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet. Paulus kannte diese Texte und weitere Texte in und auswendig. Es waren seine Texte, sein Lebenselixier. Abraham, der wahre und vollkommene, fromme, pinnars voller Eifer und deshalb von Gott belohnt, von Generation zu Generation. Jetzt ließ Paulus die Texte anders und er durchbricht die durchgängige Interpretationslinie des Judentums. Jetzt rückt Abraham als Gottloser

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in den Fokus, als ein Gottloser, der Gott vertraut. Es wird Paulus nicht gewundert haben, dass seine Gegner ihm die Abrahams Texte um die Ohren schlagen werden. So darf man über unseren Stammvater nicht reden. Du kannst deinen Glauben nicht von seinem Gehorsam und von seinen Werken trennen. Schau doch auf die Beschneidung, schau doch auf die Opferung Isaacs. Im Jakobusbrief zeigt sich genau diese Interpretationslinie. Wurde Abraham, unser Vater, nicht aus Werken gerecht, da er seinen Sohn Isaac auf den Altar legte? Du siehst, der Glaube wirkt mit den Werken zusammen und aus den Werken wurde der Glaube vollkommen. So hat sich die Schrift erfüllt, die sagt, Abraham glaubte Gott und das würde ihm als Gerechtigkeit angerechnet und er würde Freund Gottes genannt. Ihr seht also, so der Autor des Jakobusbriefs, dass der Mensch aus Werken gerecht wird, nicht aus Glauben allein. Jakobus

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lehnt die radikale Sicht des Paulus offen ab. Martin Luther hat ja bekanntlich demjenigen seinen Doktorhut versprochen, der Paulus und Jakobus wieder in Harmonie bringen könne. Paulus würde sich wohl die Augen reiben, wenn er unsere Versuche anschaut, wie er und Jakobus in Einklang zu bringen sind. Dass der Glaube eine völlig neue Wirklichkeit schafft, die auch die konkrete Lebensführung umgreift, stand für ihn außer Frage. Darum geht es ihm auch im weiteren Teil seines Briefs. Hier im Abraham-Kapitel illustriert er, wie Abraham gewissermaßen Morgenluft schnuppert, wie er aus seiner Gottlosigkeit in eine Gottesbeziehung tritt. Ein Abraham zeigt sich, wie es sich anfühlt, wenn ein Mensch diesen luftleeren Raum verlässt und der Verheißung Gottes vertraut. Abraham vertraute Gott und das wurde ihm zur

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Gerechtigkeit angerechnet. Das steht für sich nach Paulus. Die Beschneidung kommt später, auch in Kapitel 4 des Römerbriefs. Das Gesetz kommt noch später. Abrahams Gehorsam, die Opferung Isaacs, wird von Paulus mit keiner Silbe erwähnt. Abraham ist für Paulus Vorbild und Urbild des Glaubens. Er ist Vater aller Glaubenden, weil er sich von der Macht des Glaubens ergreifen ließ, bevor sich die Welt in Juden und Heiden aufteilte. Mit ihm können sich also alle Menschen identifizieren. Römer 4,11, Darum ist er Vater all derer, die als unbeschnittene glauben, so dass ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet wird, so wie als Vater der Beschneidung für diejenigen, die nicht allein aus der Beschneidung sind, sondern die auch in den Fußstapfen des Unbeschnittenheitsglaubens unseres Vaters Abraham wandeln. Im zweiten

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Hauptteil des Römerbriefs, Römer 5 bis 8, folgt nun eine Art Ringkomposition, die durch die neuen Zentralbegriffe Hoffnung, Leben, Liebe und Geist eingerahmt ist. Jetzt kommt Paulus auf das Leben auf der anderen Seite zu sprechen, jenseits des Christus und glaubenslosen Vakuums, jenseits dieses Kerkers der Unheilssphären. Römer 5,1 und 2, Da wir nun aus Glauben gerechtfertigt sind, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir auch im Glaubenzugang erhalten haben in diese Gnade, in der wir stehen und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. Wer sich wie Abraham, so Paulus, vom Ereignis des Glaubens ergreifen lässt, tritt aus der Sphäre der Gottlosigkeit in die Sphäre der Gnade. In

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immer neuen Anläufen illustriert Paulus in diesen Kapiteln den fröhlichen Sphärenwechsel. In jedem Abschnitt will er zeigen, was es heißt, Teil der Familie Abrahams zu sein. Was haben die Glaubenden hinter sich gelassen und in welcher neuen Realität leben sie nun? Jeden Gedankengang führt Paulus konsequent auf den Messias Jesus zurück. Paulus legt einige Energie in sein Anliegen, die Dynamik dieses Wechsels eindrücklich vor Augen zu malen. Der Kontrast ist für ihn radikal. Die alte Realität, die neue Realität, damals, war Christ, entweder oder, schwarz, weiß. Paulus ist kein Freund der Grautöne. Im ersten Abschnitt, Römer 5, 1 bis 11, geht es ihm um die Bewegung weg von unserer Gottlosigkeit

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hin zur Versöhnung in Christus. Im zweiten Abschnitt, 5, 12 bis 21, um die Bewegung von Adam, mit dem die Sünde in die Welt kam, zu Christus, mit dem für alle Menschen die Rechtfertigung kam. Im dritten Abschnitt, 6, 1 bis 23, um die Bewegung vom Leben unter der Sünde, das in den Tod führt, zum Leben in Christus, das ins ewige Leben führt. Im vierten Abschnitt, 7, 1 bis 25, um die Bewegung von der zerspaltenen Existenz unter dem Gesetz, die eigentlich das Gute will, aber es nicht vermag, hin zur Rettung aus dem Todesleib. Im fünften Abschnitt, 8, 1 bis 17, um die Bewegung von der Sklaverei unter dem Gesetz bis hin zur Gotteskindschaft im Geist. In all diesen Abschnitten, wie könnte es anders sein, stecken unzählige Detailprobleme, die wir hier natürlich nicht vertiefen können. Der zentrale Gedanke des Paulus aber scheint klar. Er verortet den Menschen in umfassenden,

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gegeneinander wirkenden Kraftfeldern Machtbereichen, von denen der eine Bereich von Adam und der andere Bereich von Christus bestimmt wird. Entweder ist der Mensch Teil der Adamsphäre oder er ist Teil der Christusphäre. Es sind für Paulus geradezu kosmische Wirklichkeiten, die den Status eines Menschen vor Gott bestimmen. Mit der Seite Adams verbindet Paulus Fleisch, Erde und Tod. Mit der Seite Christi Geist, Gnade, Gerechtigkeit und Leben. Erlösung von den Wirkungszusammenhängen des adamitischen Machtbereichs vollzieht sich nach Paulus durch den Übertritt in die Christusphäre. Morna Hooker, eine der bedeutendsten Neutestamentlerinnen, sie lehrte in Cambridge, schrieb einmal, menschliche Erlösung ist ein Wechsel von der Adamsphäre in die Christusphäre. Paulus geht davon aus, dass der Mensch einen solchen Wechsel vollziehen

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kann, weil der Sohn Gottes in Gestalt des sündhaften Fleisches Adams kam und denen, die in Adams sind, Gottes Kindschaft ermöglichte. Wie bereits gesagt, der Kontrast zwischen Adam und Christus, zwischen Alt und Neu, zwischen damals und jetzt, ist für Paulus grundlegend. Ein Hin und Her schwanken ist für ihn prinzipiell ausgeschlossen. Der alte Mensch ist tot, gekreuzigt, wie Paulus in dem Abschnitt schreibt, der neue Mensch lebt Gott in Christus. Das klingt radikal und fundamentalistisch. Paulus ist kein Freund der leisen Töne. Der ehemalige pharisäische Zylot ist nun ein Eifer für die Jesus-Sache. Sein Charakter hat sich dabei nicht geändert. Und doch weiß er, dass er mit einer solchen Friss- oder Stirbstrategie am Ende nicht weiterkommt. Eine solche Strategie würde auch dem Evangelium widersprechen. Deshalb unternimmt er so viele Anläufe, um diesen Macht- und Herrschaftswechsel zu illustrieren.

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Paulus bemüht sich intensiv, seine Theologie an die Schrift zu binden und sie gleichzeitig an die griechische Denkwelt anzuschließen. Und er kann auch emphatisch auf menschliche Schwäche und erfahrene Unerlöstheit der Welt Rücksicht nehmen. Ja, ihr seid schon Kinder Gottes. Eure Rettung ist real. Aber noch habt ihr das alles im Modus der Hoffnung. Am Ende dieses Hauptabschnitts formuliert er ein fulminantes Finale, das in der gesamten frühchristlichen Literatur an Dichte und Kraft wohl unübertroffen ist. Römer 8, 31 fortfolgende. Was wollen wir nun hier zu sagen? Ist Gott für uns? Wer kann wieder uns sein? Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? In all dem überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn

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ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. Nach diesem Blick in den offenen Himmel wird Paulus nun, und so kennen wir ihn bisher nicht, im dritten Teil des Römerbriefs, nämlich in Kapiteln 9 bis 11, persönlich und verletzlich. Eben hatte er die glaubenden Kinder Gottes genannt und Auserwählte Gottes. Das sind eigentlich Prädikate, die Jüdinnen und Juden auszeichnen. Jetzt wendet er sich einem Paradox zu, das ihn betroffen und traurig macht, wie er schreibt. Israel will auf der Seite des Gesetzes verharren und bleibt von dem Ereignis des Christusglaubens so merkwürdig unberührt.

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Das Volk Gottes lehnt den Messias Gottes ab. Sieht nicht, dass mit dem Messias das Ende und Ziel des Gesetzes gekommen ist. Was Paulus jetzt in die Feder des Terzius diktiert, ist keine theologische Spekulation, sondern ein existenzielles Ringen mit der Frage, wie es um Gottes Treue Pistis steht, wenn sein Volk offensichtlich untreu ist. Untreu heißt hier für Paulus ganz spezifisch, dass Israel nicht an den Messias Jesus glaubt. Im Hinterkopf steht sicher seine eigene Geschichte, die er der Christusgruppe in Philippi erzählt hatte. Wie die persönliche Begegnung mit Christus sein Leben auf den Kopf stellte, seine Werte umwertete, wie er seine vorigen Privilegien und Errungenschaften für Unrat, Scheiße hielt. Dort im Philippabrief fällt das drastischste Wort des Neuen Testament.

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Hier im Römerbrief kann er solch deutliche Worte nicht verwenden. Er kennt die Gemeinde noch nicht, sie kennt ihn noch nicht. Er bewahrt sich das vielleicht für die persönliche Begegnung auf. Und doch lässt er in den geschriebenen Zeilen erkennen, wie dramatisch und herausfordernd für ihn der Glaube Israels ist, der Unglaube Israels ist. Er wünscht sich, dass ganz Israel seine Geschichte, seine persönliche Geschichte nacherleben könnte und dabei sieht, dass die Geschichte Gottes mit dem Messias Jesus am Höhepunkt angekommen ist. 10.1 Der Wunsch meines Herzens und mein Flehen zu Gott haben nur das eine Ziel, ihre Rettung. Wieder stellt Paulus vor ein radikales Entweder-oder. Entweder ist Jesus auch Israels Messias oder er ist ein Scharlatan und Gotteslästerer, so wie auch seine Anhängerinnen und Anhänger. Allen Voran Paulus selbst. Und wieder gibt es kein Dazwischen. Mitten hinein in die drei aufreibenden

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Kapitel stellt Paulus folgenden Satz über den Glauben. 10.9 Denn wenn du mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der Herr ist und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden. Die Geschichte Gottes kann auf keinen Fall ohne Israel zu Ende geschrieben werden. Oder etwa doch? Es ist ein Gedanke, der vielleicht schon einigen Gemeindegliedern in Rom nach der Vertreibung der Juden aus Rom durch Claudius durch den Kopf schiesst und einige Jahrzehnte später durch Markion salonfähig würde. Markion, Reeder oder Seekaufmann aus Sinope am Schwarzen Meer, hatte sich durch seine Geschäfte ein Vermögen angehäuft und sich mit mehreren Hunderttausend Zesterzen in die römische Gemeinde gewissermaßen eingekauft. Die Briefe des Paulus und das Evangelium des Lukas zu

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reinigen, das war sein Projekt. Die Wurzeln zum Alten Testament zu kappen, Zitate aus dem Alten Testament zu streichen. Markion konnte sich mit seiner radikalen Theologie nicht durchsetzen. Er wurde im Jahr 144 aus der römischen Gemeinde ausgeschlossen. Sein Geld wurde ihm nachgeworfen, sein geistiges Erbe blieb aber. Paulus spürt die Gefahr, dass sich der nicht-jüdische Teil der römischen Christusgruppen gegenüber dem jüdischen Teil überlegen fühlen könnte. Paulus wehrt sich massiv dagegen und warnt vor dieser Überlegenheit. Nur wer sich seiner jüdischen Wurzeln bewusst ist, darf den Messias Kyrios Herrn nennen. Diese Warnung des Paulus wurde in der Geschichte des Christentums nicht immer beherzigt. Markions

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Schatten ist lang und reicht bis in die Gegenwart. Dietrich Bonhoeffer verschärfte die Warnung des Paulus in einem Satz, den er nirgendwo aufgeschrieben hat, der sich aber seinen Schülerinnen und Schülern tief ins Gedächtnis eingeprägt hat. Nur wer für die Juden schreit, darf auch grigorianisch singen. Paulus malt ein Bild von einem Olivenbaum, an dem ein Bauer arbeitet. Der Bauer bricht einige Zweige aus dem edlen, kultivierten Baum ab und setzt frische, wilde Zweige auf. Warum? Weil etwa die wilden Zweige besser sind? Paulus löst das Bild so auf. Römer 1,18 ff. Nicht du, du Heidenchrist, trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Du wirst vielleicht sagen, es würden doch Zweige herausgebrochen,

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damit ich eingepfropft würde. Gut, wegen ihres Unglaubens würden sie herausgebrochen. Du aber stehst aufgrund des Glaubens. Bilde dir nichts darauf ein, sondern fürchte dich. Jene aber werden, wenn sie nicht im Unglauben verharren, wieder eingepfropft werden. Gott hat ja die Macht, sie wieder einzupfropfen. Denn wenn du aus dem wilden Ölbaum, dem du von Natur aus zugehörst, herausgeschnitten und gegen die Natur, dem edlen Ölbaum, eingepfropft würdest, dann werden diese ursprünglichen Zweige dem eigenen Ölbaum erst recht wieder eingepfropft werden. Ganz Israel wird gerettet werden. Es ist nicht alles logisch und folgerichtig, was Paulus hier schreibt. Zwischen den drei Sätzen entsteht eine krasse Spannung. Gerettet wird, wer im Herzen glaubt, dass Jesus der Messias ist. Israel ist untreu. Ganz Israel

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wird gerettet werden. In der Forschung herrscht häufig Ratlosigkeit, wie diese Spannung aufzulösen ist und wie mit diesen persönlichen und aufwühlenden Gedanken des Paulus umzugehen ist. Ist es nicht eigentlich ein unmögliches Unterfangen, bei dem er konstruieren, rationalisieren und spekulieren muss, um argumentativ nicht völlig aus der Bahn geworfen zu werden, so Udo Schnelle? Ist Paulus an der Israelfrage letztlich gescheitert und in eine theologische Aporie gestürzt, die er argumentativ nicht lösen kann, so Michael Wolter? Oder rechnet Paulus mit einem Sonderweg für Israel, nachdem Israel erst am Ende der Zeiten durch den wiederkommenden Christus von seinem Unglauben ablässt, so Franz Musner? Paulus löst diese Spannung nicht auf. Er maßt sich nicht an, die Logik Gottes zu durchschauen. Er spekuliert nicht darüber, was wann geschehen

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soll. Vielmehr betont er wieder die Treue Gottes. Das eigentliche Wunder ist doch, sagt er zu den Heidnchristen, dass Gott den Unglauben seines Volkes benutzte, damit ihr profitiert. Römer 11,11. Durch ihren, also Israels, Fehltritt kommt das Heil zu den Völkern. Am Ende dieses Hauptabschnitts bleiben ihm ein Stoßseufze und ein Bekenntnis. Wie unergründlich sind seine Entscheidungen und unerforschtlich seine Wege. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen. Und nun könnte der Brief eigentlich zu Ende sein, aber Paulus fügt noch einen vierten Abschnitt an. Römer 12 bis 16, Glaubenskonkretionen. Die letzten fünf Kapitel des Römerbriefs, also der vierte Hauptteil, werden oft als

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bloßer Anhang angesehen. Jetzt steigt Paulus von den Höhen seiner Rechtfertigungstheologie hinab in konkrete Lebensgestaltung, in die Situation der Gemeinde. Das Interesse am Römerbrief endet meist mit Kapitel 8, vielleicht mit Kapitel 11. Jetzt wo es konkret und greifbar wird, lässt jedenfalls bei den Theologinnen und Theologen häufig die Aufmerksamkeitsspanne nach. Doch Paulus trennt nicht die Theorie des Glaubens von der Praxis des Glaubens. Glaube ist Haltung und Inhalt. Glaube ist, wie Martin Luther sagte, ein lebendig, tätig, geschäftig, mächtig Ding. Er verändert den ganzen Menschen, die Gemeinschaft der Glaubenden, die Gesellschaft. Der Satz Glaube ist Privatsache hat mit dem Glaubensverständnis des frühen Christentums nichts zu tun. Römer 12, 1 Bringt euern Leib da, als lebendiges, heiliges,

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gottwohlgefälliges Opfer. Dies sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und lasst euch nicht gleichschalten mit dem Stil dieser Weltzeit, sondern lasst euch umgestalten durch die Erneuerung eures Denkens, damit ihr herausfinden könnt, was der Wille Gottes ist, das Gute, Überzeugende und Vollkommene. Paulus bleibt sich seiner Maxime durch alle Briefe treu, wo auch immer auf der Welt die Christusgläubigen sind, ob jetzt in Korinth, Philippi oder Rom. Sie sollen so leben wie im helllichten Tag, dem Tag der Gegenwart Gottes, weil der Morden schon angebrochen ist. Gott hat die Welt, wie Karl Barth im Anschluss an Paulus schreiben wird, objektiv, real, ontologisch verwandelt. Und so soll sich auch das Leben und Denken der Glaubenden verwandeln. Am Ende läuft es, wie so häufig bei Paulus, auf die Liebe hinaus. Alle Lebensbereiche sind in diese Transformation hineingezogen, das Miteinander in der Gemeinde,

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aber auch die Einstellung zur Politik. Römer 13,1 ff. Jeder Einzelne hat sich über den über ihm stehenden Ämtern unterzuordnen. Denn alle Ämter unterstehen Gott, und die vorhandenen beruhen auf Gottes Anordnung. Wer sich also dem Imperium widersetzt, ist ein erklärter Gegner der Anordnung Gottes. Die Widerständler müssen mit Strafverfolgung rechnen. Mit diesen Sätzen öffnet sich die Büchse der Pandora. Was um Himmels Willen hat sich Paulus dabei gedacht? Sah er unter den Judenchristen in Rom vielleicht eine Tendenz wie bei den Zeloten in Palästina, dass sie sich gegen die Macht haben, auch mit Gewalt aufzulehnen? Immerhin war ja Kaiser Claudius dafür verantwortlich, dass Judenchristen wie Aquila und Priska

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aus Rom vertrieben wurden. Andererseits wiederum war die Religionspolitik des Claudius durchaus tolerant. Oder wendet sich Paulus gegen eine apolitische Spiritualität, die quasi über der Erde schwebt und sich die Hände nicht dreckig machen will? Der exegetische Streit zu dieser Stelle wird heftig geführt. Er wird genährt durch Situationen, in denen diese Stelle zum Missbrauch von Macht herangezogen wird. Im 19. Jahrhundert wurde damit die Sklaverei verteidigt. Im 20. Jahrhundert wurde damit ein unhinterfragter Untertan im Geist heraufbeschworen. Im 21. Jahrhundert rechtfertigt der US-amerikanische Justizminister damit die Trennung hunderter Immigrantenkinder von ihren Familien. Paulus geht es nicht um eine grundsätzliche, immergültige

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Verhältnisbestimmung von Christ und Welt, Glaube und Politik. Wer Verantwortung trägt, hat ein Mandat von Gott und zwar auf Widerruf. Und er ist Gott gegenüber Rechenschaftspflichtig. Für die Glaubenden heißt das konkret, dass sie dies akzeptieren sollen. Und sie sollen sich wie Paulus zuvorschrieb an eine Maxime halten, die auch mit dem römischen Staatsverständnis und der Pax Romana, also dem römischen Frieden, durchaus kompatibel ist. 1218, nach Möglichkeit, soweit es an euch liegt, lebt mit allen Menschen im Frieden. Trotz seiner heilsphären Dichotomie, also dort die Adamsphäre und hier die Christusphäre, schert Paulus die Jesusgläubigen nicht übereinen kann. Es gibt eine Individualität im Glauben, insofern Gott allen Glaubenden ein Maß im Glauben gegeben hat. Auch Paulus ist sich bewusst, dass nicht alle im gleichen Maß glauben,

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dass sich die Lebensgeschichte der einzelnen Glaubenden auf die Intensität und Realität des Glaubens auswirkt. Paulus lässt die Existentialität des Glaubens nicht außer Acht. Das Maß des Glaubens, von dem er in Römer 12.3 spricht, ist das von Gott anvertraute Maß in Bezug auf die Weise der Partizipation im Glauben, ob die nun geprägt sei von Stärke oder Schwäche. Der vermeintlich Starke ist zur Selbstprüfung aufgerufen. Darum, wer zu stehen meint, sehe zu, dass er nicht falle. Der vermeintlich Schwache soll sich erinnern, er aber wird stehen, denn der Herr vermag, ihm Stand zu geben. Einzelethische Entscheidungen, und dessen ist sich Paulus durchaus bewusst, werden nach Maßgabe des Glaubens divergieren, ebenso wie entsprechend der Maßgabe des Glaubens verschiedene Aufgaben in der Gemeinde wahrgenommen werden. In dem Schlusskapitel nun zeigt sich das konkret. Dort zeigt sich, wie mit unterschiedlichen

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Glaubensmaßen umzugehen ist. Paulus richtet sich an zerstrittene Christusgläubige in Rom. Sie sind sich über die Gültigkeit von Speisevorschriften uneins. Paulus nennt eben die einen im Glauben schwach und die anderen die im Glauben starken. Wieder steht also der Glaube im Mittelpunkt und mit Sicherheit ist der Konflikt real und nicht fingiert. Paulus hat inside Informationen und er mischt sich kräftig in die Angelegenheiten der römischen Gemeinde ein. Die primären Adressaten, und das scheint mir wichtig in dieser Passage, sind die Starken. Denn es geht ihm darum, die Starken in die Verantwortung zu nehmen, ihre Stärke zum Wohl der Gemeinschaft einzusetzen und auf Einheit hinzuwirken. Die Starken tragen

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die Hauptlast der paulinischen Konfliktlösung. Natürlich stärkt deren liberale Haltung nicht ihre Kompetenz in Sachen Konfliktmanagement, aber ihre Stärke erlaubt ihnen einen großzügigeren Umgang mit gegensätzlichen Meinungen. Wer aber sind nun die im Glauben Schwachen? Worin sind sie schwach? Kaum zu bestreiten ist, dass die Charakterisierung Schwäche nicht dem Selbstverständnis dieser Gruppe entspricht, sondern das Urteil zusammenfasst, dass sich die Stärkeren über die Schwachen gebildet haben. Zu Recht identifiziert die Mehrheit der Forschung die sogenannten Schwachen mit Anhängern einer strikten jüdischen Halacha, also einer jüdischen Lebensweise, die sich aus religiösen Gründen von Fleisch- und Weinkonsum fernhält. Sie wollten sich nicht versehentlich durch kultisch kontaminierte Produkte verunreinigen. Die Gruppe der Schwachen wird sich also mehrheitlich aus Juden-Christen zusammengesetzt haben.

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Sie waren ja in Folge des Claudius-Edicts in der römischen Gemeinde in der Minderheit. Gut möglich ist natürlich, dass die Fremdzuschreibung Schwach der Selbstwahrnehmung der Schwachen diametral widersprach. Die Schwachen mögen sich in ihrer Haltung durchaus als stark empfunden haben, also als standhaft und vortrefflich, selbstbewusst. Paulus übernimmt die Zuschreibung Schwach als theologisches Urteil und ergibt im Standpunkt der Starken sachlich Recht. Über die psychische, intellektuelle, charakterliche oder moralische Disposition dieser Gruppe ist damit keine Aussage gemacht. Allerdings zeigt ein Blick in die Auslegungsgeschichte, dass das Adjektiv Schwach eben solche Assoziationen ausgelöst hat. Die Schwachen im Glauben wurden unter der Hand zu Schwächlingen, von Zweifeln und Skruppeln geplagt, von Gewissensnöten gepeinigt und stets gefährdet gegen ihre Überzeugungen zu handeln. Paulus macht die Schwäche den

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Schwachen nicht zum Vorwurf, ebenso wenig wie er die Stärke der Starken lobt. Stärke wie Schwäche korrespondieren für Paulus mit dem Maß des Glaubens, das Gott verleiht. Nirgends erklärt er die Schwachen wegen ihrer Schwachheit für schuldig. Auch er muss ja, wie er im Korintherbrief schreibt, mit eigener Schwäche kämpfen und sie akzeptieren. Schwäche entzieht sich zunächst dem menschlichen Einflussvermögen. Am Ende kommt Paulus auf den Anfang und seine Vision als Botschafter des Christusglaubens zurück. Römer 15,19, so habe ich von Jerusalem aus ringsumher bis nach Illyrien das Evangelium von Christus voll ausgerichtet. Ich mag der

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Schluss des Jesaja-Buchs vor Augen gestanden haben. Dort ist davon die Rede, dass die nicht-jüdischen Völker alle Nationen und Zungen Gottes Herrlichkeit sehen werden. Gesandte werden losgeschickt, sieben Stationen werden genannt, ein abgeschlossenes Rundesganses. Die Regionen, die im Prophetentext genannt werden, könnten durchaus eine Bewegung von Jerusalem in einem nordwestlichen Halbkreis bis zum äußersten Westen zeichnen und damit diesem Satz aus Römer 15,19 entsprechen. Paulus hätte sich damit als endzeitliche Gestalt verstanden der Völkermission und seine Missionsstationen an der Prophetie des Jesaja orientiert. Es zieht ihn von Rom aus dann auch noch weiter in den Westen. Zuvor muss er allerdings nach Jerusalem, um die Kollekte, die er eingesammelt hat auf seinen Reisen, abzugeben. Dass sein Projekt letztlich Gottes Projekt ist, macht er am Ende klar. Es hat kosmische Ausmaße. Römer 16,20, aber der Gott des Friedens wird

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den Satan in Kürze zerschmettern, dass er unter euren Füßen am Boden liegt. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch. Paulus ist in Eile. Die Destruktion des Destruktiven soll bald geschehen. Die heutige Zeit gibt, so Klaus Hage in seinem Römerbriefkommentar, Anlass genug, diese Dimension des urchristlichen Wirklichkeitsverständnisses theologisch wieder ernst zu nehmen. Wieder ernster zu nehmen, als unter den optimistischen Vorzeichen der Aufklärung im protestantischen Bildungsbürgertum üblich gewesen ist. Dass das in Kürze sich nicht bewahrheitet hat, ist kein Grund, sich über seinen existenziellen Gehalt erhaben zu fühlen. Was als Verheißung nachzusprechen schwerfällt, könnte als Gebet gerade heute an der Zeit sein. Was bleibt? Schauen wir nochmals zurück. Wer ist dieser Mann, der

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einen solch wirkungsvollen Brief geschrieben hat? Was treibt ihn an? Worum geht es ihm? Paulus meint es nicht an Selbstbewusstsein oder nennen wir es Sendungsbewusstsein. Er war und ist charakterlich ein Eiferer. Wenn es um den Kern seiner Missionsbotschaft geht, ist er kompromisslos. Er scheut sich nicht, Petrus, immerhin Leiter der Jerusalemer Urgemeinde, eine Standpauke zu halten, wie er im Gallaterbrief schreibt. Er veräppelt in der Korinther Korrespondenz die konkurrierenden Missionare als Superapostel. Der ihm noch unbekannten Gemeinde in Rom schreibt er im Ton nüchtern und aufgeräumt in der Sache radikal. Und er scheut sich nicht, sich als Unbekannter in ihre Konflikte einzumischen. Zweitens, Römerbrieftheologie ist Glaubenstheologie. Paulus ist ein Theologie und Botschafter des Glaubens. Die zentralen Aussagen seines Briefs

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sind auf den Glauben hin orientiert. Der Christusglaube ist der Identity Marker des frühen Christentums. Wer bekennt und glaubt, streitet Paulus, dass Jesus der Herr ist und dass er von Gott auferweckt wurde, ist schon Teil der neuen Bewegung. Ohne Wenn und Aber. Der Christusglaube ist aber auch der Boundary Marker. Eine Gemeinschaft, die dies bekennt und glaubt, setzt sich von der umgebenden Kultur ab und wird zwangsläufig politisch. Evangelium ist eben nicht die in Stein gemeißelte Frohbotschaft des Kaisergeburtstags, sondern Kraft des einen Gottes Israels zum Heil. Friede ist nicht die Pax Romana, sondern Friede mit Gott. Glaube, Treue kann nicht von der Göttin garantiert werden, die auf dem Kapitol ihre rechte Hand ausstreckt, sondern ist ein neues umwälzendes Ereignis. Nicht Cäsar Nero noch irgendein Kaiser ist Herr Kyrios, sondern Jesus. Drittens, Römerbrief Theologie ist

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Kosmologie. Paulus ist ein Apokalyptiker, der in Raumzeitlichen Kategorien denkt. Auf der einen Seite, drüben in dieser dunklen, luftleeren Gefängniszelle herrscht die Sünde das Gesetz der Tod. Das ist für Paulus ein theologisches Urteil, zunächst einmal unabhängig davon, ob Menschen das Vakuum wahrnehmen, ob sie einen Lufthunger verspüren. Aus dieser prekären Situation kann für Paulus nur ein Herrschaftswechsel führen. Jetzt aber. In Christus nämlich sind neue messianische Zeiten angebrochen, in denen Gerechtigkeit, Heil, Treue, Friede, Geist dominieren. Auch das ist für Paulus ein theologisches Urteil zunächst und mag von der Lebensrealität der Menschen weit entfernt liegen. Doch die Christus-Wirklichkeit ist die neue, eigentliche, wirkliche Wirklichkeit, objektiv, real und theologisch. Paulus kann

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es nicht nachvollziehen, wenn Menschen sich nicht auf diese neue Wirklichkeit einlassen und nicht glauben. Glaube wäre so einfach. Karl Barth hat das im Anschluss an Paulus so auf den Punkt gebracht. Glaube ist das wunderbarste und das einfachste zugleich. Es geschieht in ihm, dass der Mensch die Augen aufschlägt, sieht, wie alles objektiv, real, theologisch ist und nun eben alles nimmt, wie es ist. Glaube ist die simple Entdeckung des Kindes, dass er sich im Hause seines Vaters oder auf dem Schoß seiner Mutter befindet. Viertens. Am Ende soll Martin Luther zu Wort kommen. Seine nach wie vor unübertroffene Vorrede zum Römerbrief aus dem Jahr 1521. Diese Epistel ist das eigentliche Hauptstück

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des Neuen Testaments und das allerlauteste Evangelium. Sie ist es wohl würdig und wert, dass sie einen Christen Mensch nicht nur von Wort zu Wort auswendig wisse, sondern dass er auch täglich damit als mit täglichem Brot der Seele umgeht. Denn sie kann nicht mehr zu viel und zu gründlich gelesen oder betrachtet werden. Je mehr sie behandelt wird, umso köstlicher wird sie und schmeckt sie.

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Der Römerbrief – Teil 2 | 10.8.3

Worthaus Pop-Up – Tübingen: 14. November 2020 von Prof. Dr. Benjamin Schließer

Die Provinz Asia wollte dem Kaiser ganz besonders schmeicheln und ließ das Kalenderjahr fortan mit dem Geburtstag des Herrschers beginnen. Schließlich sei er ja der Heilsbringer, ein Gottessohn. Was für eine Provokation müssen die Inschriften und Ausrufe auf den Marktplätzen für Paulus gewesen sei. Für ihn gab es nur einen Heiland, nur einen Gottessohn. Und der stammte aus keiner Kaiserdynastie, sondern aus dem Hause Davids. Und daran galt es wohl auch die Gemeinde in Rom zu erinnern. Hier lässt Paulus sich eine besondere Schmeichelei einfallen: Er lobt ihren Glauben, von dem in der ganzen Welt gesprochen werde. Und noch eine Parallele zwischen Brief und Imperium: In Rom stand im Zentrum der Stadt das Heiligtum der Fides, Göttin der Treue und des Glaubens. Paulus dagegen stellt den Glauben an Gott ins Zentrum seines Briefs. Und er meint damit nicht diese lasche Art zu glauben, wie wir sie heute leben, dieser Glaube, der lediglich „nicht wissen“ bedeutet, betont Benjamin Schließer. Es geht um mehr. Paulus steigert den Begriff noch, es geht ihm um den „Christusglauben“. Seit Jahrzehnten beschäftigt Paulus-Forschende die Frage, was Paulus damit gemeint haben könnte. Schließer erklärt, was es mit diesem wahren Glauben auf sich hat, warum ausgerechnet Abraham in seinem schwächsten Moment das größte Vorbild ist und was es bedeutet, wirklich zu glauben.

Dieser Vortrag gehört zur Reihe »Vorworte: Einführungsvorträge zu jedem biblischen Buch«.