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Kommunikation mit dem Heiligen und Heiligkeit im Alltag. Das Buch Leviticus. Ihr sollt kein Unrecht in der Rechtsprechung im Längenmaß, im Gewicht- und Hohlmaß tun. Gerechte Wagen, gerechte Gewichtssteine, gerechtes Eva und gerechtes Hin sollt ihr haben. Ich bin Adonai, euer Gott, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgeführt habe. Und ihr sollt alle meine Satzungen und alle meine Vorschriften befolgen und ihr sollt nach ihnen handeln. Ich bin Adonai. Man kann schon einige Passagen aus dem Buch Leviticus heranziehen, um jemanden die Levitin zu lesen. Diese Redensart verwenden wir, wenn wir jemanden in einer längeren Rede ermahnen wollen,

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wieder anständig und nach den Regeln der Gemeinschaft zu leben. In unserem Beispiel werden die Angesprochenen ermahnt, vor Gericht kein Unrecht zu begehen und beim Handel nicht zu betrügen, etwa mit gefälschten Gewichten oder Hohlmaßen. Das Buch Leviticus enthält eine ganze Reihe solcher und ähnlicher Ermahnungen und Aufforderungen, darüber hinaus aber noch viel mehr. Der Name des Buches Leviticus kommt vom Stamm Levi. Levi ist einer der zwölf Söhne Jakobs, der auch Israel heißt. Und dieser Stamm Levi, also Levi's Nachfahren, werden von Gott erwählt, um die Priester des Volkes Israel zu stellen, so in Deuteronomium 18, Vers 1. Diese Priester formulieren unter anderem das Buch Leviticus.

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Sie erzählen davon, wie Gott dem Mose wichtige Dinge aufträgt. Mose soll den Israeliten ausrichten, wie sie Gottesdienst feiern sollen, wie sie mit Gott und untereinander ins Reine kommen sollen, wie sie miteinander umgehen sollen, damit ihr Leben gelegt. Die Priester aus dem Stamm Levi formulieren also eine Gedächtnisstütze, wie die Opfer da zu bringen sind und wie sie das Volk über ein anständiges Leben belehren sollen. Und damit sind wir schon bei den zwei großen Hälften des Buches Leviticus. Die erste Hälfte, Kapitel 1 bis 16, erzählt von den Anordnungen für den Gottesdienst, den Kult. Und dabei dreht sich alles um die Kommunikation mit dem Heiligen Gott. Die zweite Hälfte, Kapitel 17 bis 27, erzählt von den Weisungen für ein gelingendes Zusammenleben untereinander.

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Wie können die Israelitinnen und Israeliten so miteinander leben und umgehen, dass sie die im Gottesdienst erlebte Heiligkeit Gottes in ihrem Alltag umsetzen? Kult und Ethos, Gottesdienst und Alltagsleben sollen nicht auseinanderfallen. Gott, der sich den Menschen freundlich zuneigt, möchte, dass auch die Menschen untereinander menschenfreundlich handeln. Form, Erzähllinie und Aufbau des Buches Leviticus. Die Weisungen des Buches Leviticus sind in einen Erzählrahmen eingebettet. Das sieht man am Beginn des Buches Leviticus, wo es heißt. Und er rief Mose zu und Adonai sprach zu ihm vom Zelt der Begegnung her.

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Sprich zu den Israeliten und sag ihnen. So die ersten zwei Verse des Buches. Den Gottesnamen J.H.W.H. spreche ich nach guter Tradition nicht aus, sondern verwende als Ersatz Adonai. Es wird also erzählt, dass Gott Adonai Mose anspricht. Das ist die sogenannte Anredefarmung. Und dann trägt Adonai dem Mose auf, bestimmte Weisungen an die Israeliten weiterzugeben. Das nenne ich die Weitergabe-Formel. Und diese beiden einleitenden Formeln, Gott sprach zu Mose, sagt zu den Israeliten. Diese beiden einleitenden Formeln begegnen mehrfach im Buch, auch in leichten Variationen, und sie gliedern es. Die Grundidee ist dabei, die Vorschriften in der idealen Vergangenheit zu verankern, in der Mose die lebensförderliche Weisung, die Thora, von Gott erhalten hat.

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Die Erzähllinie der Thora beginnt bei der Erschaffung der Welt und setzt sich dann fort über die Erwählung Abrahams, Isaacs und Jakobs, der auch Israel genannt wird. Jakobs Nachkommen gelangen dann nach Ägypten, werden dort zu einem Volk und versklavt. Dieses Volk Israel zieht dann mit Mose aus der Sklaverei aus und gelangt bis kurz vor den Einzug ins von Gott versprochene Land, das sogenannte gelobte Land. In dieser Erzähllinie bildet die Gottesbegegnung des Volkes Israel am Sinai die Mitte. Das ist die sogenannte Sinai-Perikope von Exodus 19 bis Nummeri, Kapitel 10. Ihr Grundparadigma ist die Kombination von Erwählung, Befreiung und Bund.

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Gott Adonai erwählt aus Liebe und freien Stücken das Volk Israel für das Projekt der Errettung der Menschheit, befreit dieses Volk aus Unterdrückung und Sklaverei und lädt es zu einem Bund ein. Übrigens zu eben demselben Bund, den Gott schon am Anfang mit der Schöpfung und mit Noach geschlossen hat. In dieses Grundparadigma betten die Priester ihren Gottesdienst ein. Das gibt zu denken. Das Volk wird nicht unter Androhung von Strafen von einem autoritären König zu einem staatstragenden Kult verpflichtet, so ähnlich war es wohl im Alten Orient, sondern es wird von Gott für seine besondere Aufgabe erwählt, zu einem Leben in Freiheit berufen und in eine vertrauensvolle Bindung geführt. Nie wieder soll sich Israel und letztlich auch die Menschheit an fremde Herren und Götter binden,

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sondern in Freiheit dem befreienden Gott, der das Leben will, dienen. In diesem Grundparadigma wird das Volk an und aufgerufen, die Kommunikation mit dem Göttlichen in einer geregelten und zumutbaren, praktikablen und vertrauten Form durchzuführen. Gott selbst, so die Erzählfiktion der priesterlichen Verfasser, teilt mit und bietet an, wie die Begegnung mit ihm im Kult für jede und jeden stattfinden kann. In der zweiten Hälfte gibt Gott dann beispielhafte Hinweise, wie das Zusammenleben gelingen und das Volk Israel die Heiligkeit Gottes auf Erden abbilden kann. Man kann den Aufbau des Buches aber noch etwas genauer beschreiben.

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Zieht man die erzählenden Einleitungsformeln als Gliederungsmerkmal heran, so ergeben sich insgesamt sieben größere Abschnitte des Buches Leviticus, die ein Zentrum haben. Erstens, die ersten sieben Kapitel, Leviticus 1 bis 7, beschreiben die verschiedenen Opferarten in einer recht nüchternen, technischen Sprache. Zweitens, die Kapitel 8 bis 10 fahren mit der Ordination der Priester und dem ersten Opfergottesdienst fort. Drittens, Leviticus 11 bis 15 erläutern eine Reihe von Umständen, die es einer Israelitin oder einem Israeliten oder einem Priester unmöglich machen, am Kult teilzunehmen. Das sind die Kapitel über Reinheit und Unreinheit. Im Zentrum des Buches und der ganzen Thora steht der vierte Abschnitt Leviticus 16 und 17.

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Hier zeigt sich, worin das letzte Ziel des ganzen Kultes und all der Vorschriften über Opfer und Blut besteht. Die Versöhnung mit Gott und untereinander. In späterer Zeit wird daraus der bis heute im Judentum begangene große Versöhnungstag, der Yom Kippu. Die letzten drei Teile reflektieren die Verwirklichung der Heiligkeit Gottes als menschengemäße Heiligkeit im alltäglichen Leben. Teil 5, Leviticus 18 bis 20 formuliert Regeln zur Sexualität und Eheschließung, sowie zu vielen anderen ethischen Fragen. Der sechste Teil, Leviticus 21 bis 22, kommt noch einmal auf die Priester, den Hohepriester und die Opfertiere zurück, nun unter der Maßgabe, wie die Heiligkeit aufrechterhalten werden kann.

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Und schließlich regelt der siebte Teil, Leviticus 23 bis 27, das gemeinschaftliche Leben der Israelitinnen und Israeliten. Kapitel 27 enthält Spezialvorschriften zur Finanzierung des Heiligtums und erweist sich formal als Anhang, da Leviticus 26 und Leviticus 27 mit sehr ähnlichen Schlussformen enden. Schauen wir uns nun den Inhalt der sieben Teile etwas genauer an. Zum ersten großen Block, Leviticus 1 bis 7, Freiwillige Opfer und Pflichtopfer. Die ersten sieben Kapitel des Buches Leviticus listen in knapper technischer Sprache mit vielen wiederkehrenden Begriffen und Wendungen die Freiwilligen und die verpflichtenden Opfer auf. Leviticus 1 bis 3 beschreiben die Freiwilligen Opfer.

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Am Anfang steht also nicht die Pflicht zum Opfern, sondern nach der Darstellung des Buches kommt Gott mit seinen Anordnungen einem Bedürfnis der Menschen entgegen. Wenn ein Mensch von euch für Adonai eine Darbringung vom Vieh darbringen möchte, so heißt es in Leviticus 1, Vers 2. Die Wendung eine Darbringung darbringen ist kein schlechtes Deutsch, sondern eine möglichst wörtliche Wiedergabe der hebräischen Konstruktion, die die Wurzel Karaf zweimal verwendet. Die Grundbedeutung lautet herannahen, nahe kommen und im hier verwendeten Verbalstamm heißt es heranbringen oder eben darbringen. In diesem Sinne geht es im Kult also um eine Annäherung. Die Menschen nähern sich Gott, indem sie ihre Gabe darbringen möchten.

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Da die Vorschriften aber von Gott kommen, kann man auch sagen, dass sich Gott den Menschen annähert, nahe kommt. Die Begegnung zwischen den schwachen, fehlerhaften, sündigen, sterblichen Menschen und dem ewigen, vollkommenen, starken Gott, der die Welt geschaffen hat, ist eben nicht so einfach. Der Kult in Form des Opfergottesdienstes ist ein möglicher Weg der Kommunikation mit dem Heiligen Gott. Zunächst auf völlig freiwilliger Basis, eben wenn der Mensch das Bedürfnis hat, der Gottheit eine Gabe darzubringen und so dem nahen Gott zu nahen. Erst in Leviticus 4 bis 5 werden Pflichtopfer angeordnet, aber auch hier geht es um die Bedürfnisse der Menschen, nämlich um diejenigen Fälle, in denen der Mensch die Beziehung zu Gott als gestört empfindet,

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weil er ohne Absicht, das ist wichtig, ohne Absicht ein Gebot oder Verbot übertreten hat. Ohne Absicht, statt aber die Sache mit einem läppischen, ich kann doch nichts dafür, ich habe es nicht gewollt, abzutun, wird das Tun oder Unterlassen der Menschen sehr ernst genommen. Wiederum bietet Gott einen Weg an, wie der Mensch seine Gewissensbisse, sein Schuldbewusstsein oder einfach nur seine Unsicherheit überwinden kann und mit Gott durch ein Ritual ins Reine kommen kann. Leviticus 6 bis 7 tragen dann noch weitere Einzelheiten zu den verschiedenen Opferarten nach. Insbesondere wird hier geregelt, welche Anteile von den Opfern den Priestern als Einkommen zustimmen. Der zweite große Block, die Einrichtung des Kultes und eine erste Störung, Leviticus 8 bis 10.

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Die Kapitel Leviticus 8 bis 10 erzählen, wie der Gottesdienst eingerichtet wird. Die Weihe des Heiligtums mit den Altären und den übrigen Kultgeräten, sowie die Ordination der Priester, insbesondere des gesalbten Priesters Aaron, werden genau so durchgeführt, wie es in den vorausgehenden Kapiteln im Buch Exodus und Leviticus beschrieben ist. Es wird auch immer wieder betont, dass es genau so gemacht wird, wie es geschrieben steht. Und die Kommunikation mit dem lebendigen Gott funktioniert. Am Ende von Leviticus 9 entzündet Gott selbst mit Feuer das Holz auf dem bereiteten Opferaltar. Und Feuer ging aus von Adonai und verzehrte auf dem Altar das Brandopfer und die Fettstücke. Als das ganze Volk das sah, da jubelten sie und sie fielen auf ihr Angesicht nieder.

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Das Geschehen ist sehr eindrucksvoll. Es dürfte in der Absicht der Erzähler liegen, dass man es sich sehr dramatisch vorstellt. Eine echte Begegnung mit dem lebendigen und machtvollen Gott. Dafür steht das Feuer vom Himmel. Doch kaum ist der Jubel des Volkes verklungen, gibt es eine erste Störung. Den Söhnen Arons, Nadab und Abihu, kommt es in den Sinn, eine neue Opferart einzuführen. Die Bibel nennt das fremdes Feuer, das Adonai ihnen nicht geboten hatte, so Leviticus 10,1. Und Feuer ging von Adonai aus und verzehrte sie. Und sie starben vor Adonai. Leviticus 10, Vers 2. Nadab und Abihu bezahlen mit ihrem Leben eine eindrucksvolle Lektion für alle Bibelleserinnen und Bibellese.

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Gottesdienst ist keine Sache, die sich Menschen, vor allem Priester, nach Belieben ausdenken und die sie manipulieren können. Von Menschen ausgedachte Rituale können der inneren Logik der heilvollen Anordnung Gottes widersprechen. Sie können so gegen das Wohl der Menschen gerichtet sein. Das wird Gott nicht akzeptieren. Das ist die dramatische Lektion, die man aus Leviticus 10 lernen kann. Gottesdienst lässt sich nicht einfach so von Menschen manipulieren, so dass Menschen, Priester, andere mit Gottesdienstlichen Praktiken manipulieren könnten. Hier muss man sehr vorsichtig sein. Noch geschockt von dieser tödlichen Gottesbegegnung haben die Lesenden gelernt, dass das Zusammentreffen mit Adonai keine Selbstverständlichkeit ist.

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Die Begegnung mit dem lebendigen Gott erfordert gewisse Vorbereitungen und Grundeinstellungen. Und daher behandeln die nächsten Kapitel, Leviticus 11 bis 15, die Frage der Kultfähigkeit. Wann darf ich, soll ich, kann ich am Kult teilnehmen und wann halte ich mich besser zurück? Es werden bestimmte Situationen identifiziert, die den Menschen verunsichern und in die Nähe der Todesphäre bringen. Und dann hält es sich besser für eine gewisse Zeit vom Kult am Heiligtum fern. Zunächst jedoch begrenzen die Speisegebote in Leviticus 11 den Zugriff des Menschen auf die Tierwelt ganz erheblich. Nur das Fleisch bestimmter Tiere ist zum Verzehr gestattet. Uns würde interessieren, warum diese Verbote aufgestellt werden. Doch die Gründe dieser Vorschriften werden nicht erörtert, sodass noch viele Generationen darüber spekulieren können.

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Die Vorschriften, zum Beispiel das berühmte Verbot von Schweinefleisch, bestehen bis heute im Judentum und sind längst zu einem entscheidenden Identitätsmerkmal geworden. Leviticus 11 geht dann über in Regelungen zur kultischen Unreinheit durch das Berühren bestimmter toter Tiere, vor allem Ungeziefer. Mit Waschung der Kleider und mit Abwarten bestimmter Zeitspannen wird diese Unreinheit überwunden. Hier zeigt sich ein wichtiger Hintergrund. Es ist immer die verunsichernde Nähe der Todesphäre, die den gemeinsamen Nenner der Quellen der kultischen Unreinheit bildet. In Leviticus 12 ist das bei der Geburt austretende Blut ein Symbol des potenziell drohenden Todes von Mutter und oder Kind. Und daher wird die Wöchnerin für gewisse Zeitspannen unrein und kann nicht am Kult teilnehmen.

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In Leviticus 13 bis 14 machen verschiedene schuppige Hautkrankheiten unrein, unter anderem Schuppenflechte und Weißfleckenkrankheit. Aber nicht die Lebra. Die gibt es erst nach der Entstehung der Texte im vorderen Orient nachweisbar. Leviticus 15 behandelt normale und krankhafte Ausflüsse aus den Geschlechtsteilen bei Männern und Frauen. Diese Ausflüsse, wie zum Beispiel Gonorrho, Samenerguss, Menstruation oder krankhafte Blutungen machen Fortpflanzung unmöglich. Und so sind all diese Phänomene, diese Krankheiten Symbole für Nichtleben oder eben Tod. Und in all diesen Fällen ist eine vorübergehende Abstinenz vom Kult vorgeschnitten. Immer wird dabei logisch nachvollziehbar überlegt und differenziert vorgegangen.

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Bei den intimen Körperphänomenen ist es der Verantwortung der einzelnen Frau und des einzelnen Mannes überlassen, die richtige Entscheidung zu treffen. Also keine übergeordnete Autorität, kein Priester guckt danach, ob da was ist. Ja, das ist jedem Einzelnen selbst überlassen und in die Verantwortung gestellt. Bei den öffentlich sichtbaren Hautkrankheiten entscheidet allein der Priester und nicht etwa eine entsetzte, aufgeheizte Menge, die irgendjemand mit einer Hautkrankheit ächten möchte. Und der Priester entscheidet dann über die Isolierung eines Kranken, also über die uns heute so geläufige Quarantäne. Ist die Hautkrankheit ernst, so wird der Kranke aufgrund fehlender Hygiene- und Therapiemöglichkeiten bald sterben. Es gab noch keine Antibiotika und Hauterkrankungen können so ernsthaft sein, dass sie bei fehlender Behandlung tatsächlich zum Tod führen.

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Kann aber der Erkrankte aus eigener Kraft die Infektion überwinden, tritt also eine Spontanheilung ein, so wird er nach der Beurteilung durch den Priester in einem Ritual in die Gemeinschaft wieder eingegliedert. Ja, nach diesen Kapiteln über die Kultfähigkeit, Reinheit, kommt das Buch Leviticus im mittleren Teil, in Leviticus 16 bis 17, noch einmal auf den Opfergottesdienst zu sprechen. Bisher ging es ja nur um freiwillige Opfer und um die Sühne für unabsichtlich begangene Übertretungen. Können denn echte Sünden, also absichtlich begangenen Verstöße gegen Gottes Gebote kultisch gesühnt werden? Nein, grundsätzlich nicht. Es wäre auch zu einfach, sich mittels eines Rituals gleichsam magisch von seiner Verantwortung loszukaufen.

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Und dennoch räumt Gott Adonai auch hier eine Chance für eine Versöhnung ein. Das Ritual des großen Versöhnungstages, Yom Kippur. Einmal im Jahr wird dieses bedeutungsvolle Ritual anberaumt. Der hohe Priester spielt darin eine Schlüsselrolle. Zum einen trägt er das Blut vom Opfertieren in das Allerheiligste des Heiligtums hinein. Nur er, nur der hohe Priester, darf dieses Allerheiligste ausschließlich zu diesem Zweck einmal im Jahr betreten. Im Allerheiligsten spritzt der hohe Priester das Blut des vor dem Heiligtum beschlachteten Opfertiers in Richtung der Caporette. Die Caporette ist die Platte auf der Bundeslade, wo man sich die Gegenwart des unsichtbaren Gottes besonders intensiv vorstellt.

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Das ist der eine Vorgang, der ins Allerheiligste hineinführt. Zum anderen bekennt der hohe Priester die Sünden des Volkes, des ganzen Volkes und überträgt sie auf einen Ziegenbock mit den Händen. Und dieser Ziegenbock wird dann buchstäblich in die Wüste geschickt. Vom Heiligtum, vom Volk, vom Lager, von den Leuten weg in die Wüste. Und dieser Ritus soll die Sünden eliminieren. Das Volk wiederum begleitet das ganze Ritual mit absoluter Arbeitsruhe und mit Fasten. Auch wenn das Geschehen aus heutiger Sicht fremdartig wirkt, so überzeugt doch die große Ernsthaftigkeit. Hier geht es um den Kern der Gottesbeziehung und der Beziehungen zu den Mitmenschen.

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Der Grundgedanke wirkt bis heute in Judentum und Christentum fort. Der Yom Kippur ist bis heute der größte, höchste jüdische Feiertag. Seit dem Jahr 70 n. Chr. gibt es keinen Tempel mehr für das Ritual. Und so müssen das Fasten, das Verlesen der Thora-Abschnitte, die Gebete in der Synagoge, die Arbeitsruhe und die gegenseitige Vergebung der Menschen untereinander genügen, um die Versöhnung zu verwirklichen. Im Übrigen gab es schon im zweiten Tempel nach dem babylonischen Exil keine Bundeslade und keine Kabarett mehr im Allerheiligsten. Es war leer. Es genügte die Vorstellung, dass diese Gegenstände da seien, um das Ziel des Rituals zu erreichen. Also im ersten Tempel hat es vielleicht noch so etwas wie eine Bundeslade gegeben.

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Von diesem Tempel, von dieser Bundeslade sind 0,0 Spuren erhalten. Da kann man auch nicht nachgraben, da wird man nichts finden. Und im zweiten Tempel wurde der Tempel wieder aufgebaut nach dem babylonischen Exil, von Herodes dann nochmal großartig ausgebaut. Aber das Allerheiligste blieb leer. Man hat keine Bundeslade nachgebaut, keine Kabarett nachgebaut. Diese Gegenstände wurden nicht ersetzt. Das Allerheiligste blieb leer. Es genügt ja, wie gesagt, die Vorstellung. Von dieser Seite her ist der Text schon offen für Transformationen. Wichtig ist das, was in den Köpfen geschieht, weniger das, was tatsächlich vor Augen ist. Und gesehen hat ja allenfalls der hohe Priester, was da in dem Allerheiligsten drin ist. Und so kann dann auch das Christentum den Grundgedanken bewahren und die äußere Form verändern.

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Paulus deutet für Christinnen und Christen die nur noch im Kopf vorhandene Kabarett um. Ort der Versöhnung ist nun nicht mehr die vorgestellte Platte auf der Bundeslade im Allerheiligsten, sondern der Kreuzestod Jesu Christi, so in Römer 3, Vers 25. Gleich bleibt für Menschen jüdischen und christlichen Glaubens, dass Gott sich mit den Menschen versöhnen will und will, dass sich die Menschen untereinander versöhnen. Das ist der Kern. Die äußere Form kann variieren. Zurück zu Leviticus. In Leviticus 17 wird die Rolle des Blutes erklärt. Das Blut des Opfertieres ist das Lebenssymbol schlechthin. Also Blut steht nicht für den Tod, sondern für das Leben. Das Blut wird zum entscheidenden Anzeiger und Indikator für die Versöhnung mit dem lebendigen Gott.

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Und daher darf das Blut auch für nichts anderes verwendet werden und natürlich keinesfalls verzehrt werden. Leviticus 17,11. Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch auf den Altar gegeben, um Versöhnung zu erwirken für euer Leben. Denn das Blut ist es, das durch das Leben die Versöhnung erwirkt. Heiligkeit im Alltag, Leviticus 18 bis 20. In der ersten Hälfte ging es im Buch Leviticus vor allem um das Heiligtum und den Kult. Doch die Ethik und das Zwischenmenschliche kommen keineswegs zu kurz. Bestimmten priesterlichen Kreisen, vermutlich waren es andere als die Verfasser von Leviticus 1 bis 16, war es ein Anliegen, das Thema Heiligkeit auch in den alltäglichen Beziehungen der Israelitinnen und Israeliten zu verwirklichen.

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Damit bewährt sich ein Grundmuster biblischer Theologie. Rechter Gottesdienst und gerechtes Umgehen miteinander, Kult und Ethos müssen zusammengehen, zusammenpassen. Und so beschäftigen sich die Kapitel Leviticus 18 und 20 vor allem mit Vorschriften zur Vermeidung von Inzest oder anders ausgedrückt mit der Wahl der richtigen Ehepartnerin. Dazwischen bringt Leviticus 19 eine beispielhafte Auswahl von ethischen Geboten mit deutlicher Nähe zu den berühmten Zehn Geboten. Der Höhepunkt in Leviticus 19 ist das Gebot der Nächsten und Fremdenliebe in Leviticus 19, 18 und 1933 bis 1934. Der Nächste und der Fremde. Sie sind wie du. Denn so ist der hebräische Text auch zu übersetzen. Sie sind wie du.

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Sie sind hilfs- und liebesbedürftig, eben Menschen, Gottes Geschöpfe wie du und daher zu lieben. Sie sind zu lieben, wie man sich selbst liebt. So lautet die etwas bekanntere griechische Übersetzung, die dann auch ins Neue Testament aufgenommen wurde. Die nächsten Kapitel Leviticus 21 und 22 kehren dann noch einmal zum Opfergottesdienst zurück und bringen Vorschriften, wie die Heiligkeit bei Priestern und Opfertieren bewahrt werden kann. Tatsächlich werden die körperliche Unversehrtheit der Opfertiere und ebenso die körperliche Unversehrtheit der Priester sehr ähnlich beschrieben. Bei den Tieren ist das leichter zu verstehen. Es wäre schon dreist, ein Opfertier, das auf dem Markt wenig Gewinn erzielt, weil es lahmt oder sonst eine Wunde hat, Gott zu stiften.

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Bei den Priestern ist es wohl so, dass die mit dem Alter körperlich gebrechlich werdenden Priester geschont werden sollen. Auch die Priester, die keine Opfer mehr darbringen dürfen, weil sie körperliche Mängel haben, erhalten aber ihre Versorgung ohne Abstriche. Also sie bekommen auch Anteile an den Opfern und werden versorgt. Man wollte mit dieser Vorschrift wohl auch verhindern, dass die körperlich fitten Priester dann den etwas lukrativen Tätigkeiten außerhalb des Tempels nachgehen und dann am Tempel nur noch die körperlich eingeschränkten und alten Priester dienst tun. Der letzte Block, Leviticus 23 bis 27. Diese Kapitel behandeln wieder das rechte Zusammenleben mit Gott und untereinander.

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Das Heiligtum mit seinen Vorschriften für den Gottesdienst ist der heilige Ort, an dem nur wenige Zutritt haben. Nur die Priester und sehr eingeschränkt die Opfernden Laien. Dagegen ist die Zeit allen zugänglich und kann durch entsprechendes Tun oder eben Unterlassen, also durch Arbeitsruhe, geheiligt werden. Heiligen heißt ja, aus dem normalen Alltagsbetrieb herausnehmen und ausschließlich für Gott reservieren. Das kann man machen mit Gegenständen wie dem Altar, mit Menschen wie den Priestern, mit Orten wie dem Heiligtum und eben auch mit der Zeit. Die Festzeiten Gottes, die Feiertage sind also eine Heiligung der Zeit. Der Schabbat wird zunächst herausgehoben und dann werden eben die anderen Feiertage genannt.

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Abschnitte im Zeitlauf, die für Gott frei von Arbeit gehalten werden, meistens im Frühjahr und im Herbst. Und die hier im Buch Leviticus, Kapitel 23 erwähnten Feiertage gibt es bis heute im Jugend. Wie Israel symbolisch vor Gott und Gott symbolisch im Alltag der Israeliten präsent ist, behandelt Leviticus 24. Zunächst wird vom Öl berichtet, das von allen Israelitinnen und Israeliten als Opfer eingesammelt wird. Olivenöl ist gemeint und dann auf den berühmten siebenarmigen Leuchter, der Menorah im Heiligtum verbrannt wird. Durch dieses Öl, das von allen eingesammelt wird, sind alle symbolisch im Heiligtum anwesend. Und dann zeigt eine Geschichte, dass Gott beziehungsweise sein Name nicht nur im Heiligtum wohnt.

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Das wäre ja auch ein mögliches Missverständnis, dass man den Raum Gottes auf das Heiligtum beschränkt. Und alles außerhalb ist profan und geht Gott nichts an sozusagen. Nein, Gottes Heiligkeit, Gottes Name wohnt auch im Alltag der Menschen. Und auch da fordert Gott entsprechenden Respekt und steht für die Aufrechterhaltung einer gerechten Ordnung ein. Das nächste Kapitel, Leviticus 25, behandelt ein dauernd aktuelles Thema, nämlich die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bedeutet auch Schutz vor Verarmung. Gott will, dass die Israelitinnen und Israeliten und letztlich alle Menschen in Freiheit leben können. Und zur Freiheit gehört ein Mindestmaß an wirtschaftlich finanzieller Unabhängigkeit. Leviticus 25 macht dazu einige Vorschläge. Im Schabbatjahr sollen im siebten Jahr weder Aussage noch Ernte erfolgen.

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Vielmehr soll das Land ruhen, wie die Menschen am Schabbat. Und nach dem Jubeljahr sollen alle Familien im 50. Jahr wieder ihren ursprünglichen Grundbesitz erhalten. Gerade wenn sie ihn wegen ihrer Schulden verkaufen mussten und alle, die ihre Schulden abarbeiten müssen, werden frei. Diese Institutionen, Schabbatjahr und Jubeljahr, sind bis heute so nicht umsetzbar. Sie wurden auch in der Antike so gut wie nie realisiert. Und doch steckt in diesen komplizierten Vorschriften ein grundsätzlicher Impuls, der bis heute gilt. Eine Gesellschaft darf dauerhafte Verarmung nicht zulassen. Heutige Bibelleserinnen und Bibelleser können aus den uralten Erfahrungen, die sich in diesen Texten niedergeschlagen haben, Wichtiges lernen. Der Markt kann sich alleine eben nicht regeln.

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Und eine ungezügelte Ökonomie ohne Absicherungen für soziale Härtefälle wird auf Dauer nicht funktionieren. Geraten immer größere Bevölkerungsanteile in die Abwärtsspirale der Verarmung. So sind Freiheit und Wohlstand der gesamten Gesellschaft gefährdet. Man wusste das schon vor 2500 Jahren. Es ist merkwürdig, dass es immer noch einflussreiche Gruppen gibt, die dies nicht glauben wollen und auf Kapitalismus pur setzen. Dass das Handeln gegen Gottes Weisung für die Israeliten grässliche Folgen haben wird, zeigt schließlich Leviticus 26 auf. Wie es sich für eine altorientalische Rechtssammlung gehört, sanktionieren Segen und Fluch die vorgelegten Lebensregeln. Hält sich Israel an die Regeln, wird es Segen erfahren. Stufe 1. Missachtet das Volk die Satzungen Gottes, wird es ein Unglück nach dem anderen erleben.

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Stufe 2. Soweit, so gut. Nun ist aber mit dem babylonischen Exil das größte anzunehmende Unheil über das Volk Israel hereingebrochen. Die theologische Deutung dieses Untergangs besteht darin, dass Gott sein Volk bestrafen musste, weil es Gott und Gottes Weisung missachtet hatte. Stufe 2 ist eingetreten. Wenn aber die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel weitergehen soll, bedarf es eines Neuanfangs. Und dafür sorgt Leviticus 26 mit einer dritten Stufe. Gott wird sich an den alten Bund mit Abraham und den Vorfahren erinnern und in freier Souveränität und aus Liebe oder auch aus Gnade einen Neuanfang gewähren.

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Hier endet nun das ursprüngliche Buch Leviticus. Kapitel 27 ist ein Nachtrag. Hier wird geregelt, wie die Israelitinnen und Israeliten Gelübde, die sie geleistet haben, durch Geldzahlungen an das Heiligtum ablösen können. Jemand hat in einer Notlage, zum Beispiel in einer Krankheit oder auf einer gefahrvollen Reise, eine Person aus seiner Familie oder ein Tier aus seiner Herde oder ein Feld aus seinem Besitz, Gott dafür versprochen, dass ihm geholfen wird. Nun wurde ihm geholfen, er ist glücklich zurückgekehrt oder wieder gesund geworden und nun muss er sein Gelübde einlösen oder eben durch eine entsprechende Geldsumme ablösen. Und Leviticus 27 regelt, wie viel Geld jemand an das Heiligtum zahlen muss, je nachdem, was er Gott gelobt, also versprochen hat. Und damit wird die Sache praktikabel und alle Seiten haben etwas davon.

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Fragen wir uns als nächstes, wie das Buch Leviticus entstanden sein könnte. Eine unvoreingenommene Lektüre des gesamten Buches Leviticus zeigt, dass die schon beobachteten beiden Hälften zwar viele Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede aufweisen. Die Grenze verläuft zwischen Leviticus 16 und Leviticus 17, wobei einige Verse der ersten Hälfte, vor allem im 16. Kapitel, das Bemühen zeigen, beide Teile miteinander zu vernähen. In der Forschung zur Entstehung des Pentateuch, also der Thora, wird die erste Hälfte Leviticus 1 bis 16 einem Textbereich zugeschrieben, der Priesterschrift, abgekürzt P, genannt wird. Manche sprechen im Fall von Leviticus 1 bis 16 auch von sekundären Ergänzungen, abgekürzt P.S.

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Diese Priesterschrift P. wurde von Priestern des Jerusalemer Tempels verfasst, vielleicht schon im babylonischen Exil begonnen, also im 6. Jahrhundert, und dann nach dem Exil in Jerusalem fortgesetzt. Dieser Textbereich Priesterschrift beginnt mit dem großen Gedicht über die Schöpfung in Genesis 1, 1 bis 2, 3 und hat insgesamt ein großes Interesse an der Ordnung der Welt und des Gottesdienstes. Er enthält viele Listen und viele Vorschriften zur Regelung des Kultes. Die zweite Hälfte des Buches Leviticus wird das Heiligkeitsgesetz genannt. August Klostermann kam 1877 auf diesen Namen, weil er in Leviticus 19, Vers 2, einen Schlüsselvers sah. Ihr sollt heilig sein, denn heilig bin ich, Adonai, euer Gott.

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Wahrscheinlich war das Heiligkeitsgesetz, abgekürzt H, kein eigenständiges Buch. Eher war es eine Komposition aus überliefertem Material, das eine Redaktion zusammenstellte, um den P-Text aus anderer Perspektive zu ergänzen. H, also Leviticus 17 bis 26, setzt P und den Kern des Deuteronomistischen Gesetzes, nämlich die Kapitel Deuteronomie 12 bis 26, voraus, reinterpretiert und ergänzt diese Vorlagen. Das Thema Heiligkeit im Alltag, H, ersetzt nicht den Opfergottesdienst von P, sondern möchte eine innere Haltung und Einstellung erzeugen, die Gottes Nähe und damit Frieden, Gerechtigkeit, Wohlwollen, Solidarität auch im Alltagsleben erfahrbar machen. Durch ihr gelingendes, ethisch geregeltes Zusammenleben sollen die Israelitinnen und Israeliten Gottes Heiligkeit in der Welt repräsentieren.

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Das ist der Sinn des Schlüsselverses. Ihr sollt heilig sein, denn heilig bin ich, Adonai, euer Gott. Dieses theologische Konzept geht auf eine Gruppe von Priestern zurück, die man die Heiligkeitsschule nennen könnte. Sie will Religion und Alltag eng miteinander verbinden. Und dazu fügt sie zum Beispiel in das priesterliche Ritual vom Versöhnungstag P in Leviticus 16, 29 bis 34, das Fasten und die Arbeitsruhe des gesamten Volkes ein. Also der ursprüngliche Bestand von Leviticus 16 befasste sich nur mit dem, was der hohe Priester und die anderen Priester tun. Und dann kommt die Heiligkeitsschule und baut in das Kapitel 16 auch Dinge ein, die das ganze Volk tun soll, nämlich Fasten und Arbeitsruhe.

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Und damit Handeln in Leviticus 16, so wie es jetzt vorliegt, nicht nur der hohe Priester und die Priester, sondern alle sind in irgendeiner Weise beteiligt. Und dazu ergänzt dann H auch noch in Leviticus 16, 16 und 16, 21, dass nun alle Sünden, auch die absichtlich Begangenen, entfernt werden. Und damit wird der Yom Kippur, der ursprünglich vielleicht nur ein Reinigungsritual des Heiligtums war, zu einem einzigartigen Versöhnungsritual zur Sündenvergebung. Weitere Einfügungen von H finden sich in Leviticus 3, 17, 7, 22 bis 27, 28 bis 36 und 11, 43 bis 45. Liest man diese Verse in der ersten Hälfte des Buches und kennt man die zweite Hälfte, dann merkt man, dass hier jemand ganz bewusst beide Hälften, beide Teile bewusst miteinander verbinden wollte.

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Die Verfasser der Texte, die später eben das dritte Buch Mose in der Thora bilden werden, also Leviticus, waren sehr wahrscheinlich Priester und damit Männer. Von einer Frauenperspektive ist nichts zu finden. Auch die Texte, die über Frauenangelegenheiten handeln, wie die Geburt in Leviticus 12 und die Menstruation in Leviticus 15, sind männliche Konzepte, wie Frauen sich eben verhalten sollen in den Augen der Männer. Damit ist nicht notwendig eine Geringschätzung von Frauen verbunden. Alle Teile der Rituale, die den männlichen Nichtpriestern offenstehen, sind auch für Frauen zugelassen. Der hebräische Text schreibt ganz bewusst Adam für Mensch ganz allgemein und Nefesh, Person, um genderneutral zu formulieren.

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Die körperlichen Unreinheiten an den Geschlechtsteilen sind in Leviticus 15 erstaunlich gleichmäßig und ausbalanciert auf beide Geschlechter verteilt. Die priesterliche Perspektive dominiert das gesamte Buch. Die einen Priester wollen den Kult am Heiligtum klar strukturieren, die anderen die Heiligkeit Gottes im Alltag abbilden. Zugleich sichern die Priester ihr Einkommen und ihren Lebensunterhalt, ihren Status und ihre Ehre. Sie machen sich unentbehrlich, indem sie alles als göttliche Einrichtung deklarieren. Dabei dominieren aber nicht so sehr Machtinteressen, denn schließlich müssen sich auch die Priester selbst an diese göttlichen Weisungen halten. Denn alle wissen darüber Bescheid. Das Buch Leviticus ist keine Geheimlehre einer Priesterelite, die die anderen alle an der Nase herumführt,

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sondern es ist eine religiöse und ethische Verfassung, an die sich alle Laien und Priester halten müssen. Allerdings muss bedacht werden, dass das Buch ein ideales Programm ist, eine heilige Utopie. Und wir können nicht allzu schnell auf die soziale Alltagswirklichkeit zurückschließen. Die wahrscheinlichste Entstehungszeit des Buches Leviticus ist das fünfte Jahrhundert vor Christus, eher die Mitte und die zweite Hälfte. Es ist die Zeit, in der lange nach dem babylonischen Exil des sechsten Jahrhunderts und der Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels das winzige Gemeinwesen um den sehr bescheidenen zweiten Jerusalemer Tempel etwas mehr an Beständigkeit gewinnt. Der persische Stadthalter Nehemia beginnt, eine Stadtmauer zu errichten, 445 vor Christus.

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Und vielleicht wird erst jetzt das Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern um Jerusalem eine halbwegs eigenständige Provinz. Wobei wir uns Jerusalem auch sehr klein vorstellen dürfen. In Jerusalem wohnen nur sehr wenige Menschen, vielleicht 500, vielleicht 1500, mehr sicher nicht. Und man kann aus diesem Umkreis und dieses Dörfchen mit der Familie an einem Tag nach Jerusalem kommen, um ein Tier darzubringen, ein Fest zu feiern, wie Leviticus 17 das anordnet. Dann verspeist man das Fleisch, das nicht auf dem Opferaltar verbrannt wurde. Teile des Tieres wurden auf dem Opferaltar für Gott als Gabe verbrannt und größten Teil des Fleisches hat man in der Familie verzehrt als Fest. Und dann am nächsten oder übernächsten Tag läuft man wieder nach Hause. Auch die vorgeschriebenen Wallfahrtsfeste nach Jerusalem sind so plausibel vorstellbar.

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Hier ist eine Gesellschaft von sesshaften Bauern mit traditionellen, durch die Stationen der Landwirtschaft geprägten Festen vorausgesetzt. Und ferner auch eine etwas städtischer geprägte Bevölkerung, die mit einer Priesterelite ein Heiligtum mit einem ausgefeilten Kult betreibt. Weder ist von einem Staat noch von einem König die Rede. Damit kommt man aber weder in die Zeit des Mose im zweiten Jahrtausend v. Chr. noch in die vorexilische Königszeit. Die kannte nämlich eine Vielzahl von Heiligtümern im ganzen Land. Gewiss mögen sich in den gesammelten Vorschriften Erinnerungen an die Zeit des ersten Tempels in Jerusalem erhalten haben. Doch bestand in der Königszeit gar keine Notwendigkeit, das Ganze schriftlich zu fixieren. Die Priester haben das Amtempel mündlich an die nächste Generation einfach weitergegeben. Das Priesteramt war ererblich in der Familie.

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Erst in der Zeit nach dem Babylonischen Exil unter der Fremdherrschaft der Perser drängen mehrere Faktoren dazu, das mündlich weitergegebene Wissen schriftlich festzuhalten, fortzuschreiben und zu ergänzen. Und diese Faktoren waren die traumatische Erfahrung des Traditionsabbruchs durch die Tempelzerstörung. Das war also eher ein Grund nach innen, dass man gesagt hat, man muss aufschreiben, was man so an Traditionen hatte. Ein äußerer Grund war das Kontrollinteresse der persischen Oberherrschaft. Die wollten einfach wissen, was machen die da in ihrem Tempel. Und überhaupt nimmt die Schriftlichkeit in der Kultur insgesamt zu. Und so kommt es dazu, dass diese Traditionen aufgeschrieben werden. Ich komme nun zum Thema des Kanons, also die Rolle des Buches Leviticus als Mitte der Thora.

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Von der Entstehungszeit des Buches Leviticus, der mutmaßlichen Entstehungszeit etwa in der Mitte des fünften Jahrhunderts bis zur Fertigstellung der gesamten Thora etwa eine Generation später ist es nicht weit. Und schon von seinem Erzählrahmen her und Adonais Sprach zu Mose, beansprucht der Text einen göttlichen Ursprung. Seine Verfasser möchten ihm einen autoritativen und normativen Charakter geben. Hier ist Gottes Wort vermittelt durch Mose niedergeschrieben. In Leviticus 18,5 formulieren die Priester eine großartige Verheißung im Munde Gottes. Gott spricht. Ihr sollt meine Satzungen, meine Vorschriften befolgen. Durch sie wird der Mensch, der nach ihnen handelt, leben. Hier wird Gottes Drohung von Genesis 2,17 in ein Versprechen verwandelt.

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Genesis 2,17 hat Gott gesagt, an dem Tag, an dem du davon, nämlich vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse isst, wirst du sterben. Und das wird umgedreht in ein Versprechen. Der Mensch, der nach der Weisung Gottes handelt, wird leben. Gewiss, das Missachten des Gebotes Gottes hat tödliche Folgen, bringt jedenfalls viel Unheil mit sich. Doch die Befolgung der Weisung Gottes führt zu einem wahren und gelingenden Leben. Im Umkehrschluss wird daraus ein Schlüssel für die angemessene Interpretation des Wortes Gottes. Eine Auslegung der Bibel, die Angst macht und Lebensmöglichkeiten einschränkt, ist also falsch. Nur diejenige Deutung ist richtig, die zu mehr Leben, mehr Freude, Glück, Hoffnung und Zuversicht führt.

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Schon hier wird deutlich, dass das Buch Leviticus ins Zentrum des jüdischen und christlichen Glaubens führt. Faktisch steht es auch in der Mitte des großen Erzählbogens von der Schöpfung bis zum Tod des Mose, kurz vor dem Einzug ins sklörobte Land. Leviticus ist ein Haltpunkt, der größte Teil der sogenannten Sinai Perikope, die von Exodus Kapitel 19 bis Nummer 10 reicht und eben den Aufenthalt des Volkes Israel am Sinai markiert. Hier erhält Israel die Weisung, durch die es leben soll und zwar gut, gelungen und glücklich. Im Einklang mit Gott und untereinander. Wenn Leviticus die Mitte der Thora ist, was ist dann die Mitte von Leviticus? Man könnte das Gebot der Nächsten und Fremdenliebe in Leviticus 19, 18, 33 bis 34 nennen.

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Das ist zweifellos ein wichtiger Höhepunkt. Von der siebener Struktur her erweist sich aber der mittlere Teil als das Zentrum, nämlich das große Thema der Versöhnung in Leviticus 16 und 17. Das ist das theologische Zentrum des jüdischen und auch des christlichen Glaubens. Und das zeigt sich eben in der Rezeptionsgeschichte. Im Judentum ist bis heute die Yom Kippur, der Versöhnungstag, der höchste Feiertag, der Höhepunkt des Jahres. Und im Christentum wird der Grundgedanke vom Blut als Anzeiger der Versöhnung metaphorisch übernommen. Der Kreuzestod Jesu Christi ist das reale Zeichen für die Versöhnung Gottes mit den Menschen. Jesu Blut, zeichenhaft präsent in der Eucharistie, steht dabei für das gelingende Leben, das Gott für alle Menschen und seine gesamte Schöpfung will. In beiden Religionen bleibt damit aber auch die ethische Aufforderung verbunden, sich mit seinen Mitmenschen immer wieder zu versöhnen.

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Vom Platz im Kanon, im Zentrum der Thora sind wir fast unbemerkt zur Wirkungsgeschichte gerannt. So schwer und mühevoll es oft ist, das Buch Leviticus zu lesen und zu verstehen, so unglaublich groß ist doch seine Nachwirkung im Judentum wie im Christentum. Im Judentum wird Leviticus im Zuge des einjährigen Lesezyklus der Thora vollständig im Gottesdienst gelesen, in zehn Paraschiot-Abschnitten an zehn Schabat. Wie auslegungsbedürftig jedoch das Buch Leviticus ist und wie sehr es zugleich das Leben eines jeden jüdischen Menschen prägt, wird an der jüdischen Literatur zur Auslegung der hebräischen Bibel deutlich. In der Spätantike und im frühen Mittelalter werden die jüdische Deutung der Bibel und ihre Anwendung auf das alltägliche Leben zunächst in der Mishnah und dann im Talmud gesammelt.

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Das sind die großen Schriftwerke, die die Grundlage für das Fortwährende Studium und die Auslegung der Heiligen Schrift im Judentum bilden. Zahlreiche Traktate in der Mishnah und im Talmud führende Themen des Buches Leviticus fortpräzisieren sie und diskutieren sie. Gewiss, die Opfer können nicht mehr dargebracht werden, weil es keinen Tempel mehr gibt. Doch das Studium der Texte reißt deswegen nicht ab. Die Speisegebote und Reinheitsvorschriften in Leviticus 11 bis 15 prägen bis heute die jüdische Halachal, das religiöse Gesetz. Der Festkalender in Leviticus 23 wird bis heute begangen, angereichert durch Feste aus der hellenistischen Zeit, zum Beispiel das Chanukka-Fest. Manches wie etwa die Inzestvorschriften in Leviticus 18 und 20 gelten fast überall auf der Welt.

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Anderes dagegen ist heftig umstritten. Lehnen etwa die Verse Leviticus 18, 22 und 20, 13 männliche Homosexualität ab? Das heutige Konzept von Homosexualität besteht darin, dass zwei Menschen gleichen biologischen Geschlechts, und aufgrund ihrer gefundenen, aber nicht frei gewählten sexuellen Orientierung eine gleichberechtigte freiwillige Lebenspartnerschaft unter Einschluss körperlicher Liebe eingehen. So etwas kannte die gesamte Antike nicht. Die soziokulturelle Situation zur Zeit des Entstehung des Buches Leviticus machte es für die kleine, unter äußerem Druck stehende Gemeinschaft notwendig, Nachkommen um jeden Preis jedoch in geordneten Verhältnissen hervorzubringen. Dass Männer ihren sexuellen Trieb durch gleichgeschlechtlichen Analverkehr befriedigen, war daher geächtet.

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Sie sollen gefälligst Kinder zeugen, und zwar mit ihrer Frau, mit ihrer eigenen. Hieran sieht man, dass eine Eins-zu-eins-Übernahme in die heutige Zeit im Sinne eines wörtlichen Verstehens vielfach nicht möglich ist. Beim Verbot von Tätowierungen in Leviticus 19,28 ist das vielen leichter einsichtig. Bei der Auslegung gilt aber wieder der Schlüssel von Leviticus 18,5. Führt die Deutung zu mehr Leben im Sinne geglückter Beziehungen und Erfüllung? Oder schränkt die Interpretation das Leben ein, macht sie Angst, unterdrückt sie Gefühle? Einem Menschen mit homosexueller Orientierung die Erfahrung körperlicher Liebe und sexueller Erfüllung zu verweigern, ist wohl kein gelingendes Leben im Sinne von Leviticus 18,5. Die Schwäche des Buches Leviticus, seine Zeitgebundenheit und Auslegungsbedürftigkeit, ist zugleich seine Stärke.

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Die Texte geben starke Impulse, auch das heutige Leben vor Gott und mit Gottes lebensförderlicher Weisung so zu gestalten, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Versöhnung möglich werden. Das ist mit einem wörtlichen Verständnis der Texte selten möglich. Aber mit einer geschickten Auslegung und der Beachtung von Leviticus 18,5 geht das, glaube ich, ganz gut. Im Christentum findet das Buch Leviticus zu Unrecht kaum Beachtung. Nur ganz selten begegnet es in Lese und Predigtordnungen. Doch ohne das Buch Leviticus ist die christliche Lehre vom Sünnetod Jesu Christi nicht verstehbar. Die Rede vom Blut, das Leben schafft, etwa Johannes 6,53 bis 54, das Blut, das zur Vergebung der Sünden führt, etwa Matthäus 26,28, baut maßgeblich auf das Konzept des Versöhnungstags in Leviticus 16 auf.

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Wie stark das Buch Leviticus gerade auch auf den christlichen Glauben wirkt, möchte ich nun im letzten Abschnitt ansprechen. Theologie und Relevanz. Im Buch Leviticus werden grundlegende Elemente auch des christlichen Glaubens angesprochen, aber eben nicht direkt, sondern indirekt. Eine pauschale Ablehnung der Texte, etwa im Sinne von, ist doch unwichtig, heute bringen wir keine Tieropfer mehr da, verkennt die dahinterstehende Logik. Bei näherer Betrachtung, etwa des Brandopfers in Leviticus 1, wird deutlich, dass das Opfer des einzelnen Menschen, einer Israelitin oder eines Israeliten, ein personaler Vorgang der Gottesbegegnung ist. Der Ritus der sogenannten Handaufstimmung, bei der die opfernde Person, ob Mann oder Frau,

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ihre Hand fest auf den Kopf des Opfertieres drückt, stellt zunächst eine symbolische feste Verbindung zwischen der Person und dem Tier fest. Das Tier dann vom Priester dargebracht, also auf dem Altar verbrannt, entsteht eine gedachte und gerade deswegen durchaus reale Verbindung zwischen der opfernden Person und der Gottheit. Opfertier, Altar und Priester sind vermittelnde Instanzen, Kommunikationswege, die den Hauptzweck ermöglichen sollen, den Kontakt zwischen dem Menschen und Gott. Die gesamte Bibel und ihre Erzähllinie machen deutlich, dass diese Begegnung keineswegs selbstverständlich ist. Und Gott selbst bereitet den Weg dafür, wie die Menschen dem nahen Gott nahen können. Und hier geht der starke Impuls aus, wie dieser Grundgedanke der Annäherung zwischen Mensch und Gott im Christentum heute realisiert werden und auch seinen sichtbaren Ausdruck finden kann.

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Wie schon im Buch Leviticus und zur Zeit des zweiten Tempels, muss vieles davon im Kopf in der religiösen Vorstellung stattfinden. Das zeigt eindrücklich das an sich leere Allerheiligste. Dort im Allerheiligsten, das leer ist, findet der wichtigste Vorgang im Jahr, die Versöhnung zwischen Gott und Menschen statt. Und zwar nach Ausweis von Leviticus 16 an der Kaporette, also auf der Platte, auf der Bundeslade, in deren Richtung der hohe Priester Blut von Opfertieren spritzt. Doch zur Zeit des zweiten Tempels, wie schon erwähnt nach dem babylonischen Exil, also ab dem Ende des sechsten Jahrhunderts vor Christus, sind weder Kaporette noch Bundeslade mehr physisch vorhanden. Man stellt sich ihr Vorhandensein im Kopf vor. Der zentrale Punkt des Rituals ist damit ein kognitiv-intellektueller Vorgang der Imagination.

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Dennoch bedarf der Mensch als Sinnenwesen auch des sichtbaren, hörbaren und fühlbaren körperlichen Ausdrucks. Und dazu dienen die, aus heutiger Sicht bisweilen merkwürdig anmutenden Rituale mit Tieren, Blut, Brot und so weiter. Wie regeln wir das heute im Christentum sinnvoll? Wie schaffen wir die Balance zwischen unserem Verstand und unserem Körper? Viele Vorschriften im Buch Leviticus befassen sich intensiv mit dem menschlichen Körper, seinen Phänomenen, seinen Krankheiten, natürlichen Vorgängen, Sexualität und Fortpflanzung, mit Essen und Nichtessen, Speisegebote. Wie gehen wir im Christentum mit unserem Körper um? Behandeln wir das Thema Fortpflanzung so, dass es zum Leben führt und zwar für alle Beteiligten? Ist das Anliegen des Buches Leviticus nämlich Nachkommen, um jeden Preis zu zeugen und zwar in geordneten Verhältnissen, heute so noch aufrecht zu erhalten?

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Insofern stellt das Buch in seiner Zeitgebundenheit, also in seiner Beschränktheit auf bestimmte soziokulturelle Verhältnisse, auch eine hermeneutische Herausforderung dar. Kann Gottes Wort einfach so wörtlich und eins zu eins in der Gegenwart gelebt werden? Die sehr umfangreiche Auslegungsliteratur im Judentum von der Spätantike bis heute zeigt, dass es gerade so nicht geht, sondern dass die Thora zur Auslegung gegeben ist. Das gilt dann auch für die christliche Bibel Alten und Neuen Testaments insgesamt. Hier müssen immer wieder neue hermeneutische Brücken des Verstehens gebaut werden, will man die Texte nicht voreingenommen als antiquiert ins Archiv stellen. Wenn man dies machen würde, würde man eine lange Linie der Bibel Lektüre abreißen lassen. Durch die Jahrhunderte hindurch haben Menschen diese alten Texte nicht nur gelesen, sondern auch abgeschrieben bis zur Erfindung des Buchdrucks.

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Sie waren ihnen irgendwie wichtig, weil sie darin einen Spiegel für ihr Leben und ihre Anregungen für ihren Alltag gefunden haben. Nicht eins zu eins, nicht wörtlich, aber doch mit geistlichem Ernst haben sie die heiligen Texte für sich fruchtbar gemacht, sicher mit Mühe. Aber sollten wir heute diese Mühe scheuen? Wir würden dann auch das große Ziel aus den Augen verlieren. Das große Ziel des Buches Leviticus ist die Annäherung. Menschen versöhnen sich, wenn sie sich einander annähern und wieder miteinander reden. Das große erzählerische Beispiel dafür sind Jakob und Esau in Genesis 32, 21 bis 33, 11. So zielen auch aller Kult und Gottesdienst auf die Annäherung und Versöhnung zwischen Mensch und Gott. Sinn und Ziel des Opfers ist, und das hält Leviticus 1,4 programmatisch am Anfang fest, das Erwirken von Versöhnung, hebräisch kippah.

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Mit der Annahme des Opfers durch Gott gelingt die Erfüllung der menschlichen Sehnsucht, Einklang mit der Gottheit zu finden, die Verbindung, den Bund mit Gott zu spüren. Und das steckt konzeptuell in dem Fachbegriff Versöhnung Erwirken. Sein erster Beleg ist die Versöhnung zwischen Jakob und Esau. Da kommt das erste Mal das Wort Kippah vor. Und darin lässt sich das programmatische Ziel ablesen. Näher ausformuliert ist das in dem Brauksanleitungsstil des Buches Leviticus freilich nicht. Doch der Impuls zur Versöhnung bleibt und betrifft natürlich auch Christinnen und Christen. Und hier verbinden sich Kult und Ethos, Gottesdienst und Verhalten im Alltag, die beiden Hälften von Leviticus.

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Die Kommunikation mit dem Heiligen, mit Gott ist nicht ohne die Versöhnung untereinander, nicht ohne ein menschlich freundliches, friedliches und gerechtes Verhalten zwischen den Menschen zu haben. Der Versöhnungstag in Leviticus 16 bildet die Mitte des Buches und der Thora nicht ohne Grund. Gottesdienst und Dienst am Menschen verschmelzen im Gedanken der Versöhnung. Versöhnung ist nicht alltäglich, nicht selbstverständlich und überwindet das Normale, nämlich Kampf und Konflikt, Sieg und Niederlage. Insofern ist Versöhnung heilig, also anders als normal. Dieses Anderssein betont das Buch Leviticus, vor allem im Heiligkeitsgesetz mit dieser Vokabel heilig. Auch das wichtigste Gebot, das im Neuen Testament so prominent mehrfach zitiert wird, ist so ein Anderssein, so eine Utopie.

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Liebe deinen Nächsten und den Fremden. Er ist wie du. Das ist eine Challenge, eine Herausforderung, die gerade auch Christinnen und Christen aufgreifen müssen. Sie müssen es beispielhaft vorleben, wie das geht, Liebe statt Hass. Das würde dann auch die Menschheit insgesamt weiterbringen, dieses Wie-du. Das braucht doch die heutige Zeit und die Welt des 21. Jahrhunderts so notwendig, den anderen, die Nächsten wie den Fremden, die Migrantinnen wie den Nachbarn, einfach wieder Mensch sein lassen.

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Das Levitikus Buch | 11.16.2

Worthaus Pop-Up – Mainz: 17. Oktober 2021 von Prof. Dr. Thomas Hieke

Es ist ein Buch voller Regeln und Zurechtweisungen, keine leichte Kost in unserer Welt, in der Freiheit über allem steht und die meisten Menschen auch ihren Glauben an Gott eher locker nehmen. Thomas Hieke erklärt, warum es sich lohnt, sich dieses Buch genauer anzuschauen. Warum es nicht abgetan werden kann als eine Unmenge an Regeln, die ja den Israeliten, den Juden gegeben wurden, die mit uns nichts zu tun haben. Denn es geht um mehr als Regeln und wann welcher Priester welches Opfertier darbringen darf. Es geht um Versöhnung, um Gewissensbisse und Schuld. Darum, wie wir Menschen miteinander umgehen. Warum etwa die Verarmung großer Bevölkerungsanteile Freiheit und Wohlstand aller gefährden oder wie Geschlechtergerechtigkeit vor 2500 Jahren aussah. Und es die Grundlage dafür, den Tod Jesu überhaupt erst zu verstehen. Wer Hieke zuhört, verliert die Gleichgültigkeit vor diesem Buch. Denn seine Deutung von Levitikus kann zu mehr Glück und Erfüllung führen.

Dieser Vortrag gehört zur Reihe »Vorworte: Einführungsvorträge zu jedem biblischen Buch«.