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Mein Vortrag geht über Sexualität und Geschlechterrelation im Neuen Testament und in seiner Umwelt, seiner antiken jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt. Mein Vortrag wird drei Teile haben. Der erste Teil beschäftigt sich mit den anthropologischen Voraussetzungen. Das heißt, was ist der Mensch, wie hat man sich den Menschen vorgestellt, wie wird der Mensch überhaupt geschaffen, wie wächst er auf und wie unterscheidet sich dabei ein Mann und eine Frau. Wie wird ein Mann zu einem Mann und wie wird eine Frau zu einer Frau. Das zweite, über das ich mit Ihnen reden möchte, ist Ehe und Familie zur Zeit der ersten Christen.

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Ehe und Familie ebenfalls im jüdischen Kontext und im hellenistisch-römischen Kontext. Und der dritte Teil, möglicherweise für Sie der interessanteste, Sexualität und Geschlechterverhältnis im frühen Christentum. Anhand einiger Beispiele möchte ich Ihnen hier darstellen, wie man denn mit dem Thema Mann und Frau, mit dem Thema Emanzipation der Frau, mit dem Thema Unzucht, mit dem Thema Prostitution und mit dem Thema Homosexualität im frühen Christentum umgegangen ist. Und ganz am Schluss meines Vortrags möchte ich Ihnen auch noch ein paar Gedanken mit auf den Weg geben, was das heute in kirchlichen Kontexten bedeuten kann und was nicht. Nun kommen wir zum ersten Teil meines Vortrags.

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Was ist der Mensch? Die Antwort auf diese Frage ist gar nicht so einfach und sie wurde in der Antike unterschiedlich beantwortet. Im Wesentlichen gab es eine anthropologische Konzeption, die davon ausgegangen ist, dass ein Mensch eine Einheit ist. Und diese Einheit im Leben und im Tod eine Einheit bleibt. Die andere Vorstellung ist, dass ein Mensch aus verschiedenen Komponenten besteht und diese dichotomische Anthropologie teilt ein Menschen ein in einen Körper, einen Leib also, und eine Seele. Und diese anthropologischen Vorstellungen haben natürlich Auswirkungen auch auf die Problematik des Geschlechterverhältnisses.

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Nun, wenn wir zunächst im Buch Genesis im Alten Testament in der hebräischen Bibel nachschlagen, dann haben wir dort Zeugen, wie man sich im antiken Judentum das Verhältnis von Mann und Frau, die Schöpfung von Mann und Frau vorgestellt hat. Nämlich Mann und Frau als Ebenbild Gottes und zugleich die Frau als Gegenüber des Mannes. Dabei ist wichtig, dass ein Mensch entweder belebt oder unbelebt vorgestellt war.

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Das heißt, dass ein Mensch auch im Tode eine Ganzheit bleibt und ein Mensch auch im Tode als Ganzheit zu erkennen ist. Die Frau wurde allerdings innerhalb dieser Vorstellungen als Schwächer dargestellt. Ein natürliches Machtgefälle war innerhalb des antiken Judentums sozusagen im Kontext der Schöpfungsvorstellungen trotz beiderseitiger Gott-Ebenbildlichkeit die Regel und wurde durchweg angenommen. Ganz anders sah es im hellenistisch-römischen Bereich aus. Hier haben wir eine dominante Vorstellung, die wir schon bei Aristoteles finden,

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dass Mann und Frau in ihrer Genese sozusagen schon eine unterschiedliche Gestalt im Mutterleib bekommen. Im Wesentlichen stellt sich Aristoteles das so vor, dass die Durchkochung des männlichen Samens im weiblichen Körper bedingt, ob jemand als Frau oder als Mann auf die Welt kommt. Das heißt, wenn die Temperatur nicht ausreichend ist und der Same nicht ordentlich durchkocht wird, dann wird es nur eine Frau. Das heißt aber auch, dass die Vorstellung der Anthropogenese, der Menschwerdung, die Überzeugung enthält, dass ein männlicher Same das einzige ist, woraus Leben entsteht.

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Die Frau ist sozusagen nur eine Art Mutterboden und dieser Mutterboden ist entweder fruchtbar oder unfruchtbar. Was nebenbei gesagt für die antiken Männer eine klare Entschuldigung hatte, wenn keine Kinder auf die Welt kamen, wer war dann schuld? Natürlich die Frau. Den männlichen Samen sieht man und die weibliche Eizelle war noch nicht entdeckt. Das heißt, hier haben wir zunächst mal eine anthropogenetisch angelegte Differenz. Nun, jetzt kommen die Kinder auf die Welt und auch hier ist im hellenistisch-griechisch-römischen Denken nun eine Unterscheidung.

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Anfangs sind männliche und weibliche Kinder gleich, dann aber, so im Alter von neun bis zwölf Jahren, wachsen männliche Kinder, Knaben, weiter an Körper und an Geist und an Vernunft, während die weiblichen Kinder aufhören, sich zu entwickeln. Das heißt, in der Konsequenz, dass das Ideal eines Bürgers, nämlich ein kräftiger, willensstarker und sich selbst beherrschender Mensch zu sein, nur von einem Mann letztendlich erreicht werden kann.

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Dass eine Frau durch ihre Konstitution es überhaupt nicht schafft, diesen Status zu erreichen. Und das wieder hat auch Folgen. Denn wenn ein Mann in eine Situation gerät, in der seine Emotionen und Affekte und Wünsche und Triebe ihn über Mann zu über Mannendrohen, dann ist er natürlich durch seine Konstitution in der Lage, sich zu beherrschen und zu widerstehen. Die Frau hingegen ist dies nach antiker Vorstellung nicht. Und dies hat zur Folge, dass die Frau stets in Gefahr ist, durch äußere Einflüsse korrumpiert zu werden, weil sie sich diesen Einflüssen aufgrund ihrer schwächeren Konstitution und ihres fehlenden Willens nicht zu widersetzen vermag.

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Wir haben auf der Grundlage dieser Vorstellung eine recht starre Geschlechterhierarchie. Wir haben auch eine recht starre Zuordnung des öffentlichen und des privaten Raums. Denn wenn die Frau allein im öffentlichen Raum ist, ist nach antikem Denken natürlich eine stetige Gefährdung damit verbunden. Wohingegen ein Mann, der ausgereift ist, diese Probleme überhaupt nicht hat. Hieraus resultieren drei Merkmale. Die Vorstellung einer patriarchalen, patrilokalen und patrilinearen Verbindung. Was heißt denn das? Patriarchal bedeutet, dass der Mann über die Frau bestimmt, wie er über den gesamten Haushalt bestimmt.

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Patrilokal bedeutet, dass der gemeinsame Wohnort durch den Mann bestimmt wird. Und patrilinear bedeutet, dass alle erbrechtlichen Fragen über die väterliche Linie laufen. Nun, wir haben nun diese Vorstellung von Mann und Frau und diese Vorstellung bedingt, dass Sexualität stets mit einem Machtgefälle verbunden ist. Und dieses Machtgefälle wurde als natürlich angesehen. Denn die Frau ist ein Mann, der irgendwann aufgehört hat zu wachsen. Und dies wurde als der natürliche Lauf der Dinge verstanden.

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Wichtig ist also, dass legitime Sexualität ohne ein solches Machtgefälle nicht zu denken war. Bitte behalten Sie dies im Hinterkopf, wenn wir nachher zu Paulus und dem paulinischen Blick auf Sexualität kommen. Nun einige Worte zu Ehe und Familie. Der Ehezweck im antiken Judentum war die Zeugung legitimer und möglichst männlicher Nachkommen. Und dieser Ehezweck, der aus dem ersten Gebot der hebräischen Bibel, sei fruchtbar und mehret euch, abgeleitet wurde, bedeutete, dass nicht die Zuneigung, sondern die Weiterführung des Erbes, des Gottesvolkes Israel und auch die Weiterführung der Sicherung des Sozialverbandes Familie hier im Vordergrund standen.

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Also die Liebesehe ist im Wesentlichen eine moderne Erfindung. Im hellenistisch-römischen Raum war die Ehe eine privatrechtliche Angelegenheit. Also wenn Sie heute heiraten wollen, dann wird das in öffentlicher Weise gemacht. Sie gehen aufs Standesamt. Aber in der Antike wird das zwischen den beteiligten Familien ausgemacht. Das heißt, der Bruder oder der Vater, der braut, macht mit dem Bräutigam oder mit dessen Vater aus, wer wen wann zu heiraten hat.

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Hier ist interessant, dass wir im jüdischen Bereich eine Zweiteilung dieser Ehe haben, nämlich eine Antrauung und eine Heimführung. Und die Antrauung konnte bereits geschehen, während die Eheleute noch Kinder waren. Die Antrauung konnte bereits zwischen einem fünfjährigen Mädchen und einem achtjährigen Buben vollzogen werden. Was bedeutet das? Die Antrauung legt fest, dass von nun an alle besitzrechtlichen und erbrechtlichen Regelungen, die für verheiratete gelten, für diese beiden Angetrauten gelten. Wohlgemerkt, der Vollzug der Ehe war hiermit längst noch nicht verbunden.

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Aber rechtlich bedeutete es, dass erbrechtlich und besitzrechtlich beide Ehepartner eine Einheit bildeten und dies auch vor den Behörden als gültig anerkannt wurde. Die Heimführung der Braut aus dem Haus des Vaters in das Haus des Bräutigams geschah üblicherweise, während die Braut zwölf bis vierzehn Jahre war und der Mann etwa drei bis sieben Jahre älter. Bei dieser Heimführung wurde auch der Beginn der ehelichen Gemeinschaft vollzogen und von nun an war die Braut nicht mehr Teil der Familie ihres Vaters, sondern Teil der Familie ihres Ehemannes.

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Emanzipation. Vor der Emanzipation ist erstmal die Gewalt bzw. die Verantwortung des Vaters oder des Mannes über die Frau. Manus heißt nicht nur Hand, sondern übertragen auch Gewalt und in dieser Gewalt, in dieser Verantwortung, aber auch unter dem Regiment dieses Mannes ist die Frau und Emanzipatio ist zunächst mal die Befreiung aus dieser Gewalt. Als Emanzipation ist nicht im heutigen Sinne zu verstehen, dass eine Gleichberechtigung innerhalb der Ehe oder innerhalb der Familie damit verbunden war, sondern sozusagen die Freigabe aus der Gewalt des Einen, die zugleich verbunden war mit dem Eingehen in die Gewalt des Anderen.

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Nun, wer war denn der Kreis der Bewerber? Nehmen wir mal an, wir haben ein junges Mädchen, zwölf bis vierzehn Jahre alt und die soll verheiratet werden. Und der Kreis der Bewerber war zunächst innerhalb des größeren Familienverbandes. Als ideale Ehe galten Onkel und Nichte bzw. Cousin und Cousine. Der Sinn war ganz pragmatisch, da in der antike Realteilung vorherrschte, also die Parzellen immer kleiner wurden, war auf diese Weise gegengesteuert, dass also die Land- und Viehbesitztümer nicht zu klein wurden, dass innerhalb des größeren Familienverbandes hier die Produktionseinheiten etwa überlebensfähig blieben.

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Geschwister-Ehe gab es eigentlich nur im ägyptischen Hochadel, bei den ägyptischen Königen, die sich bewusst in die Tradition der alten Pharaonen stellten. Und die Vorstellung des Gottkönigs – und ein Gott kann ja keinen Menschen heiraten, sondern nur einen anderen Gott und da bleibt nur die Schwester übrig – die die Vorstellung dieses Gottkönigs versinnbildlichen wollten. Die Polygamie war zwar theoretisch erlaubt, aber praktisch nicht die Regel. Sie haben alle die Bilder im Kopf, das im Buch Genesis, in den Erzeltern-Erzählungen, die Mehrehe durchaus häufig begegnet.

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Aber diese Vorstellung der Mehrehe ist für die hellenistisch-römische Zeit und der ersten Christen ein Anachronismus. Warum? Der erste Grund liegt darin, was ich Ihnen zu Beginn gesagt habe, dass die Vorstellung, sich von Leidenschaften und Lüsten übermannen zu lassen, als unmännlich galt. Denn ein Mann ist stark, ein Mann kann sich selbst beherrschen und wenn ein Mann mehrere Frauen hat, ist das ein Zeichen eines Schwachen, eines weibischen Charakters. Und das wollte natürlich keiner. Und die andere Begründung ist schlicht und einfach die, dass die Mehrehe allein aus wirtschaftlichen Gründen kein tragfähiges Modell war in einer Gesellschaft,

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die im Wesentlichen eine ortsfeste Gesellschaft war. Nun, die Mehrehe wurde im Hochadel dennoch praktiziert, aber in erster Linie aus dynastischen und politischen Erwägungen. Diese dynastischen und politischen Erwägungen sind nicht repräsentativ. Ich muss hier eine Anmerkung machen.

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Und zwar die Vorstellung, dass ein Mann sich dadurch auszeichnet, dass er sich beherrschen kann, hängt auch zusammen mit der Populärphilosophie der Stoar. Die Stoar, die begründet wurde von Zeno und dieses Stoar geht davon aus, dass es eine alles durchwaltende Weltvernunft gibt. Und diese alles durchwaltende Weltvernunft wird vom Weisen erkannt und damit ist alles, was passiert, und auch alles Negative, was passiert, sinnhaft. Und die Aufgabe des stoischen Weisen ist es, die Ereignisse in seinem Leben, die Schicksalsschläge in seinem Leben, auch die Katastrophen im Leben als Ausdruck dieser Weltvernunft in stoischer Gelassenheit hinzunehmen

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und sich damit dem im Prinzip positiven Schicksal zu fügen. Und wenn jemand aufgegehrt und wütend wird und leidenschaftlich ist und in irgendeiner Weise sich von den Affekten übermannen lässt, dann ist er aus dem Blickwinkel der Stoar auch ein törichter Mensch und natürlich hat die Stoar viele Anhänger und Anhängerinnen gehabt, weil sie eine Philosophie ist, die funktioniert. Sie müssen sich vorstellen, wenn Sie in einer Welt leben, in der das Leben sehr ungemütlich und lebensgefährlich ist und es kaum Absicherungen gibt, dann haben Sie sehr oft die Frage, warum passiert mir das und was soll das, dass mir das passiert? Und die Stoar bietet hier einen Deutungsschlüssel. Und ein Deutungsschlüssel, wenn ich mein Leben begreife und wenn ich auch mein Leiden begreife, ein solcher Deutungsschlüssel bietet wiederum Trost.

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Nun, die Stoar und die Vorstellung von Mann und Frau als unterschiedlich hierarchisch zu beschreibende Identitäten führt also dazu, dass die Frau dem Mann in grundsätzlicher Weise untergeordnet ist und führt auch dazu, dass in einer Ehe, eben in einer privat rechtlich geschlossenen Ehe, die Frau unter der Herrschaft des Mannes steht. Hier gibt es auch Ausnahmen. In der Antike und auch heute steht die Freiheit und die Möglichkeit, sich selbst zu artikulieren

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einer Frau in direktem Zusammenhang mit ihrer wirtschaftlichen Situation. Soll heißen, normale Frauen in der Antike mussten tun und lassen, was der Mann ihnen befohlen hat. Reiche Frauen in der Antike, da sah das schon wieder ganz anders aus. Das hat sich in den letzten Jahrtausenden nicht geändert. Weltweit ist es sicher heute so, dass in Gesellschaften, die durch Mangel gekennzeichnet sind, auch die Situation der Frauen zumeist prekär ist und in Gesellschaften, in denen der Mangel die Ausnahme ist, Frauen erheblich, weltweit gesehen, erheblich bessere Möglichkeiten der Artikulation und der Entfaltung haben. Nun, interessant ist, dass im antiken Judentum die Ehe gegen diesen Trend Institutionen hervorgebracht hat, mit denen die Rechtsstellung der Frau gesichert werden konnte.

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Ein Beispiel hierfür ist der Ehevertrag. Ein solcher Ehevertrag wurde von dem Vater der Frau und in manchen Stellen auch von der Mutter der Frau oder gar von der Frau selbst abgeschlossen. Und ein solcher Ehevertrag diente dazu, die Rechtsstellung der Frau innerhalb der Ehe und nach der Ehe zu sichern. Wenn also der Ehevertrag vorsah, dass der Mann die Frau stets zu unterhalten habe, dass er ihr das lebensnotwendig zu geben habe und er hat es nicht gemacht, war das ein Grund, die Ehe zu beenden und die Mitgift der Frau oder ihrer Familie wieder auszuzahlen.

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Ein solcher Ehevertrag war auch wichtig, wenn der Ehemann starb. Eine Kettubar, also eine Hochzeitsurkunde in der Antike, legt beispielsweise fest, dass ein Mann beim Ableben eine Summe, die zuvor hinterlegt wurde, der Frau ausbezahlt. Das bedeutet, dass eine Frau nach dem Tod ihres Mannes auch eine gewisse wirtschaftliche Versorgung hat. Solche Eheverträge haben wir gefunden in einem antiken Archiv etwa zu Beginn des 2. Jahrhunderts nach Christus abgefasst, dem sogenannten Babata-Archiv. Und diese Babata hat in der Wüste Juder, ganz in der Nähe der Stellen, wo man die Kumran-Rollen gefunden hat, eine Sammlung von Dokumenten versteckt,

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die Eheverträge, Scheidungsurkunden und ähnliche Privaturkunden enthalten haben und die uns zeigen, dass es einer Frau wie Babata möglich war, durch solche Eheverträge ihre Stellung in einer grundsätzlich patriarchalen Gesellschaft rechtlich abzusichern. Also diese Vorstellung eines Ehevertrages ist eine Ausnahme in einer Zeit, in der Frauen letztendlich sehr schlimme Lebensbedingungen hatten. Nun, in diesen Eheverträgen wurde auch festgelegt, dass ein Ehebruch zur Verstoßung führen kann. 2 Wörter, die interessant sind, eine Scheidung in dem Sinne, wie wir das heute uns vorstellen,

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also ein beiderseitiges Auseinandergehen durch Zerrüttung oder sonstiges, war so nicht denkmöglich. Eine Scheidung war, so heißt auch das hebräische Wort dafür, eine Wegschickung. Und zwar natürlich in den meisten Fällen eine Wegschickung der Frau durch den Mann. Und Grund dieser Wegschickung war Unzucht. Unzucht ist ein Sammelbegriff für alles Mögliche. Und letztendlich ist dieser grobe Sammelbegriff Unzucht so unspezifisch, dass er jedes Verhalten deckt,

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das aus der Sicht des Mannes unvereinbar mit seinen Anforderungen an seine Ehefrau ist. Also mit diesem groben Begriff Unzucht ließ sich in der Antike eine Fortschickung jederzeit begründen. Jetzt hat aber auch der Mann, der seine Frau fortschickt, immer noch eine Verpflichtung. Und zwar muss er dieser Frau eine Scheidungsurkunde ausstellen. Grund einer solchen Scheidungsurkunde ist, dass die Frau nach ihrer Scheidung auch die Möglichkeit der Wiederverheiratung haben muss. Und wenn er ihr keine Scheidungsurkunde ausstellt, gilt sie ja noch als mit ihm verheiratet. Das heißt, jeder andere Mann würde ganz, ganz vorsichtig sein, weil er natürlich die Rache des gedachten Ehemannes fürchtet. Also eine solche Scheidungsurkunde musste einer Frau durch ihren Ehemann ausgestellt werden.

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Nun, wir kommen zum Familienbild der Zeit. Interessant ist, dass die Gemeinschaft um Jesus aus Nazareth das grundsätzlich positive Familienbild ihrer Umwelt nicht teilt. Die Vorstellung einer familiären Gemeinschaft, die Vorstellung, an Ort und Stelle zu bleiben, die Vorstellung, Nachkommen aufzuziehen, die Vorstellung, sich um die Eltern zu kümmern, all dies nimmt in der Überlieferung der Evangelien einen erstaunlich geringen Stellenwert ein. Das heißt, die Menschen um Jesus aus Nazareth scheinen angesichts ihrer Hoffnung,

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angesichts des ahnbrechenden Gottesreiches, diese innerweltlichen familiären Bindungen relativiert zu haben und sich selbst wohl als eine neue Familie Gottes verstanden haben. Das heißt, die Vorstellung, innerhalb dieser Welt in grundsätzlich positiv konnotierten Sozialverband der Familie zu leben, wurde nun von diesen Menschen um Jesus aus Nazareth nicht mehr als bestimmend erachtet. Kinder waren in der Antike generell Teil dessen, was man als randständige, nicht bedeutende Menschen ansah.

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Wenn wir in der Jesusüberlieferung sehen, dass Jesus sich den Kindern zuwendet, dann bedeutet das auf keinen Fall, dass hier ein liebevoller Jesus pausbäckige Buben- und Mädchenherz und damit Kinderfreundlichkeit zum Ausdruck bringt, sondern es ist gleichsam eine Zeichenhandlung, in der Randfiguren der Gesellschaft, Randfiguren wie auch kranke Randfiguren, wie Menschen mit unliebsamen Berufen, in der Randfiguren angenommen werden und damit geltende Regeln bewusst in ihr Gegenteil verkehrt werden.

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Kinder galten in der Antike als nutzlos bis zu dem Zeitpunkt, in dem sie entweder in der hellenistisch-römischen Welt Polisbürger werden oder in der jüdischen Welt Teil der Synagogengemeinde sind. In diesem Sinne sind Kinder, wie gesagt, keine besonders in den Mittelpunkt gestalten, sondern in der antiken Welt, man kann es sagen, lästig, sie sind da, aber sie haben keine gesellschaftliche Geltung. Dies zeigt eben auch die entsprechende Passage in der Jesusüberlieferung. Nun, wir haben in der Antike entgegen moderner Vorstellungen keine Familie mit vielen, vielen Kindern, die wie die Orgelpfeifen in allen Altersklassen existieren,

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sondern wir haben in der Antike, das können wir anhand von antiken Grabsteinen gut nachvollziehen, relativ kleine Familien. Das heißt, zwei, drei Kinder war die Regel. Warum war das so? Zum einen war die Vorstellung, dass je mehr Kinder man hat, desto kleiner die zu Verfügung stehenden Kalorien und die zu Verfügung stehenden Nahrungsmittel bemessen werden mussten. Zum anderen aber auch war es ein Zeichen, also viele Kinder zu haben, ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit, insbesondere gegenüber der Frau.

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Denn sie müssen sich vergegenwärtigen. In der Antike, wo es keine Krankenhäuser, keine Ärzte und auch keine Hygiene an vielen Stellen gab, war jede Geburt für die Frau in hohem Maße lebensgefährlich. Und Männer, die ihre Frau einigermaßen liebten, mit der auch eine Weile leben wollten, haben natürlich auch darauf geachtet, dass die Frau diese Gefährdung nicht im übermäßigen Maße auf sich nehmen muss. Trotzdem sind viele, viele Frauen im Kindbett gestorben, was wir wiederum an antiker Grabsteine rekonstruieren können.

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Am Kinds Aussetzung gab es, gab es im hellenistisch-römischen Bereich, gab es auch im antiken Judentum. Die Abtreibung wurde in beiden Traditionsbereichen strengstens verboten und perhorisiert, woraus man leider schließen kann. Es muss nur verboten werden, was gemacht wird. Das heißt, offenbar gab es das. Interessant ist, wenn wir auf antiken Friedhöfen auszählen, dann ist das Verhältnis von männlichen und weiblichen Kindern 2 zu 1. Das heißt, es werden doppelt so viele männliche Kinder geboren wie weibliche. Und das kann so nicht stimmen, denn Homo sapiens hat zumindest in den letzten Jahrtausenden relativ normierte Verteilungen von männlichen und weiblichen Kindern, das ist glaube ich 55, 45 in etwa.

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Und dieses Missverhältnis deutet darauf hin, dass es tatsächlich Kindstötungen gab, falls das Geschlecht missliebig war, weiblich war. Also diese Friedhöfe, die ich jetzt mehrfach erwähnt habe, sind eine ganz wichtige Quelle für antike Sozialverhältnisse, weil sie im Gegensatz zur Literatur die Welt abbilden, wie sie wirklich ist und nicht, wie sie nach Ansicht von Autoren zu sein hat. Nun, Sexualität und Geschlechterverhältnis im frühen Christentum. Die jüdische und hellenistische römische Umwelt der ersten Christen ist unbedingt zu berücksichtigen, wenn wir uns vorstellen wollen, wie die ersten Christen gelebt haben.

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Denn man hat selbstverständlich die Werte der Umwelt geteilt, man hat selbstverständlich die Normen der Umwelt geteilt, weil man ihnen fraglos unterworfen war. Und hier sind zwei Dinge von vornherein zu nennen. Zum einen die Stoar, ich hatte es bereits erwähnt, die Stoar, die ein grundsätzliches negatives Image der Sexualität bedingt und die auch bedingt, dass weibisches Verhalten negativ, schwach und willenlos verstanden wird, männliches Verhalten als stark und selbstbeherrscht. Also die Älteren werden sich noch an Star Trek erinnern und den Mr. Spock und dieser Mr. Spock, der keine Emotionen kennt, ist ein schönes Beispiel für einen solchen Stoiker,

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weil er alle Affekte verdrängt und sozusagen alles nur durch Vernunft und Gelassenheit regeln will. Und eine solche Vorstellung ist in der Sicht der antiken Populärphilosophie der Stoar das Ideal und leider von einer Frau nicht zu erreichen. Nun, jüdischerseits ist wichtig, dass Sexualität mit der Vorstellung von rein und unrein konnotiert wird. Jetzt fragen Sie sich, rein und unrein, geht es da um dreckig und sauber? Nein, es geht um was ganz anderes. Rein und unrein sind Begriffe, die eine Korrelation zum Ausdruck bringen, denn rein und unrein bedeuten ein Verhältnis zum heiligen Ort, ein Verhältnis zu Gott.

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Wenn also ein Mensch einen Ort betritt, der besonders heilig ist, wird von ihm eine besondere Reinheit erwartet. Wenn ein Mensch einen Ort betritt, der überhaupt nicht heilig ist, wird von ihm keine Reinheit erwartet. Das heißt, Reinheit und Unreinheit sind Begriffe, die anzeigen, wie nah jemand dem Heiligen ist bzw. wie nah jemand dem Heiligten kommen darf. Und Möglichkeiten, unrein zu sein, gab es im System des antiken Judentums sehr viele.

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Grundsätzlich kann man sagen, dass sämtliche Körperflüssigkeiten, wenn sie nicht dort sind, wo sie hingehören, unrein machen. Soll heißen, Blut innerhalb der Blutbahnen ist kein Problem, weil es dahingehört. Blut außerhalb der Blutbahnen, das heißt, wenn sie sich mit dem Blut eines Tieres oder gar eines anderen Menschen verunreinigen, macht sie unrein. Sie dürfen in diesem Moment nicht mehr dem Heiligen näher kommen. Oder genauso, männliches Sperma, dort wo es hingehört, entweder im männlichen Körper oder im Geschlechtsakt, in der weiblichen Scheide, ist rein. Dort wo es nicht hingehört, wenn es irgendwo anders am Körper ist, ist es verunreinigend.

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Und deswegen muss natürlich ein Mann nach einem nächtlichen Samenerguss sich sofort wieder reinigen, um wieder die Konstitution zu haben, beispielsweise an einem Synagogen-Gottesdienst teilzunehmen oder in der Antike dem Tempel-Gottesdienst beizuwohnen. Dies hat natürlich auch Konsequenzen für männliche und weibliche Sexualität. Denn beispielsweise die Frau, die durch ihre Monatsblutung einmal im Monat die Situation hat, dass sie unrein ist, ist hiermit während dieser Zeit vom Betreten des Heiligtums oder überhaupt vom Annähern an irgendwelche Dinge, die mit dem Heiligen in Verbindung stehen, ausgeschlossen.

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Jetzt gibt es aber das Problem, man sieht das Frauen nicht an. Das heißt, aus diesem Grund ist im antiken Denken die Frau die gesamte Zeit über im Verdacht der Unreinheit, und das bedeutet beispielsweise, dass im Jerusalemer Tempel die Frau nicht weiter an das Heiligtum herantreten darf, wie in den Vorhof der Frauen. Weiter in den Vorhof der Israeliten dürfen nur Männer. Noch weiter dürfen nur Priester, die müssen allerdings besonders rein sein, und ins Allerheiligste darf nur der hohe Priester, und dieser hohe Priester auch nur im Zustand kultischer Reinheit, falls er tatsächlich mal sich verunreinigt ist, nach Lastgabendes entsprechenden Mischter-Traktates einen Ersatzmann zustellen. Nun, Sie sehen also, dass Sexualität auf der einen Seite mit der Philosophie des Doar zu tun hat,

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auf der anderen Seite mit dem jüdischen System von Reinheit und Unreinheit. Und beides spielt für das frühe Christentum nun eine Rolle. Im ersten Korintherbrief haben wir ein Dokument einer antiken Großstadtgemeinde, in der das Thema oder das Themenfeld Sexualität eine große Bedeutung hat. Wir hören im ersten Korintherbrief von Inzest, wir hören im ersten Korintherbrief von Unzucht, wir hören im ersten Korintherbrief von Verhältnis zwischen Mann und Frau, wir hören im ersten Korintherbrief von Frauen, die Dinge tun, die sie nach Ansicht des Verfassers nicht dürfen, und wir hören im ersten Korintherbrief von Prostitution und wir hören von Homosexualität.

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Und all diese Themenfelder sind zum einen beeinflusst durch griechische Philosophie und jüdisches kultisches Denken, aber zum anderen auch im frühen Christentum sehr eigenständig und in mancherlei Hinsicht auch geradezu revolutionär formuliert. Worum geht es? Im ersten Korintherbrief geht es darum, dass die Gemeinde, dementsprechend, was wir heute Multikulti nennen würden, eine Gemeinde, die aus unterschiedlichen Ländern, aus unterschiedlichen Kulturen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten und aus unterschiedlichen ehemaligen religiösen Kontexten zusammengewürfelt wurde. Und innerhalb dieser Gemeinde gibt es viele, viele Möglichkeiten, in Streit zu geraten. Je unterschiedlicher die Menschen sind, das ist leider in der Antike und auch in der Gegenwart so, desto mehr Möglichkeiten gibt es, sich zu zanken.

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Paulus hat Angst, dass diese Gemeinde ihm auseinanderbricht, und deswegen versucht er, der Gemeinde hier eine Grundlage zu geben. Diese Grundlage wird von ihm zunächst dargestellt im Sinne einer Theologie des Kreuzes. Und diese Theologie des Kreuzes, in einfachen Worten zusammengefasst, bedeutet, dass Christen, Christinnen und Christen mit ihrer Bekehrung und mit ihrer Taufe Anteil haben, nicht am Glanzen, an der Herrlichkeit und an der Hoheit Christi, sondern Anteil haben an Kreuz-Christi, Anteil haben an der Niedrigkeit, Anteil haben an der Machtlosigkeit und Anteil haben an der Schwäche des gekreuzigten Christus.

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Das heißt, der gemeinsame Nenner, was alle Mitglieder der Gemeinde zusammenhält, ist nicht etwas Besonderes zu können, ist nicht besondere Vernunft, ist nicht besondere Begabung, ist nicht besondere Stärke, sondern ist die Gleichheit in der Niedrigkeit. Also wie beim Tauchen, man richtet sich immer nach dem Schwächsten. Und diese Vorstellung ist in Korinth das, womit Paulus das Miteinander der Gemeinde wieder auf eine neue Basis zu bringen versucht. Und das wird von ihm an verschiedenen Stellen deutlich. Zunächst haben wir in Korinth die Vorstellung, dass, oder das Problem, dass offenbar einige Korinther in Bordelle gehen.

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So, jetzt, was hat Paulus dagegen? In einen Bordell zu gehen, war in einer antiken Stadt häufig. Es war nicht so, dass am Korinth eine Art Sündenbabel war, eine Art St. Pauli der Antike. Es gibt zwar bei den Kirchenvätern ein Wort, Korinthiazäin, was man auf Deutsch mit herumkorintern übersetzen könnte, aber dieses Wort ist die Folge einer Deutung des ersten Korintherbriefs und nicht älter. Es geht in Korinth darum, dass Christen sich Geschlechtsverkehr kaufen. Was konnte Paulus jetzt dagegen haben? Es geht Paulus nicht um allgemeine moralische Erwägungen, sondern es geht ihm darum, dass das damit verbundene Menschenbild überhaupt nicht mit dem zusammenpasst,

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was sich Paulus als christliche Existenz vorstellt. Sie erinnern sich, eine Frau ist ein Mann, der aufgehört hat zu wachsen und Sexualität ist nur als ein Machtgefälle denkbar. Und ein solches brutales Machtgefälle ist Prostitution, denn der Mann ist frei, der Mann hat Geld, der Mann ist stärker. Die Frau, die sich prostituiert, wird dazu gezwungen, dass das heute anders ist, glaube ich nicht, auch wenn man im Fernsehen irgendwelche Beispiele dafür sieht, aber Prostitution ist meiner Ansicht nach auch gegenwärtig in fast allen Fällen Not- und Armutsprostitution. Die Frau braucht das Geld, die Kalorien überhaupt zum Überleben oder die Frau ist Sklavin, dann ist sie dem Mann überhaupt ausgeliefert.

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Und diese Machtrelation, die sich brutal in der Prostitution in Korinth zeigt, ist das Gegenteil von dem, was Paulus als Grund menschlichen Miteinanders in der christlichen Gemeinde ansieht. Im Galaterbrief in Kapitel 3 formuliert das Paulus mit einer, mit einer Art Slogan, dass in der Taufe die Unterschiede von Sklaven und Freiem aufhören. Machtrelation. Dass in der Taufe die Unterschiede von Mann und Frau aufhören. Machtrelation. Und dass die Unterschiede, da spricht der Paulus aus jüdischem Blickwinkel, zwischen Juden und Heiden aufhören, auch hier eine in dem Fall heilsgeschichtliche Machtrelation.

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Das heißt, innerhalb der Gemeinde haben wir keine Machtgefälle. Und dieses brutale Machtgefälle wird von Paulus hier kritisiert. Aber es kommt noch dicker. Für Paulus ist Sexualität mehr als nur ein körperlicher Akt, sondern Sexualität ist für ihn eine Verschmelzung der beiden Partner. Und wenn nun einer der beiden Partner Mitglied der Gemeinde ist und, so sagt es Paulus, im Christus ist, ist seine Identität, nicht dadurch geprägt, was er selber tut und lässt, sondern seine Identität ist sozusagen durch Christus von außen bestimmt. Und wenn ich jetzt auf der einen Seite in Christus bin, meine ich eine Beziehung zu Christus habe und damit auch Konsequenzen verbunden sind

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und ich gleichzeitig dieses knallharte Machtgefälle auslebe, dann, so argumentiert Paulus, wirkt sich mein Fehlverhalten geradezu auch auf mein Verhalten, auf meine Beziehung zu Christus aus. Und dies ist für ihn das Gegenteil dessen, was eben gelingendes christliches Leben bedeutet. So, und jetzt haben wir in diesem Kontext auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau, das Paulus in 1. Korinther 7 anspricht. Hier sagt Paulus, dass eine Frau einem Mann zu geben hat, was sie ihm schuldig ist. Da würde jeder antike Mensch, Jude oder Grieche sagen, jawohl, so ist es. Aber, sagt Paulus, aber gleichzeitig soll jeder Mann der Frau geben, was ihr schuldig ist.

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Und hiermit verlässt Paulus nun den Boden des Üblichen, nämlich indem er diese, auf gut Deutsch, egalitäre Reziprozität einführt, nämlich die Gleichheit und Gegenseitigkeit, in der das Verhältnis zwischen Männern und Frauen auch in Sachen des Geschlechtslebens sich verhalten sollen. Also eine Gleichheit und eine Gegenseitigkeit. Und das ist für Paulus wiederum eine Besonderheit, denn Sexualität als eine Sache unter Gleichen war eigentlich nicht denkmöglich in der antiken Welt. In dem Moment, in dem Sexualität gelebt wird, ist das selbstverständlich ein Machtgefälle, das sich realisiert.

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Und hier ist nun das, was Paulus der Gemeinde vorschlägt, ein Gegenmodell und ein Gegenmodell, das letztendlich auf seiner kreuzestheologischen Überzeugung basiert. Also wir haben andere Beispiele im ersten Korintherbrief, die zeigen, dass dieses Machtgefälle für Paulus der Grund allen Übels ist. Also ganz kleiner Exkurs. Für Paulus ist es auch ein Problem, dass in Korinth einige sagen, ich bin Christ und bin klug. Dann, wenn ich Christ bin, weiß ich, es gibt nur einen Gott. Wenn es nur einen Gott gibt, gibt es keine Götzen. Wenn es keine Götzen gibt, gibt es kein Götzenopfer. Wenn es kein Götzenopfer gibt, gibt es kein Götzenopferfleisch. Und wenn mir jemand Götzenopferfleisch vorsetzt, dann ist das halt ein Schnitzel.

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Aber es ist nichts in irgendeiner Weise Bedrohliches. Es gibt schließlich nur einen Gott und Vater Jesu Christi. Es gibt aber offensichtlich in der Gemeinde und in Korinth auch Menschen, die durch ihre eigene Biografie große Probleme haben, solch ein Fleisch, das einer Gottheit geweiht wurde, anzurühren. Und hier sagt Paulus nun, wir richten uns in der Gemeinde nicht nach dem Klügsten, Schlauesten und Verständigsten, sondern nach dem Schwächsten. Das heißt, wenn man zusammen isst, dann wird Rücksicht darauf genommen, dass derjenige, dessen Gewissen belastet werden könnte, eben der ist, der die Speisefolge festlegt, und nicht derjenige, der meint, er ist besonders klug und weiß, es gibt nur einen Gott. Hier sieht man, dass in allen Lebensbereichen diese Vorstellung, dass man sich nach dem Schwachen richtet und dass hier christliche Nachfolge und hier das ist,

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das christliche Liebe sein soll, von Paulus im Prinzip durchdeckliniert wird. So, jetzt sind wir aber auch bei dem Thema, was auch gerade hier in Württemberg im Moment viel diskutiert wird, Homosexualität. Auch hier erinnere ich anfangs daran, dass Sexualität mit einem Machtgefälle verbunden ist. Homosexualität ist also selbstverständlich Sexualität, die zwischen einem erwachsenen, freien, begüterten Mann und einem Kind oder Heranwachsenden, einem Unfreien oder einem armen Knaben vollzogen wird. Die Vorstellung zweier gleichgeschlechtlicher Partner, die sich einander auf Augenhöhe lieben und auch miteinander verkehren, war in der Antike nicht denkmöglich.

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Es ging also über Homosexualität um das, was wir heute als Verkehr mit Minderjährigen oder mit Schutzbefohlenen verbuchen würden. Das ist jetzt im ersten Korintherbrief, zum Römerbrief komme ich gleich, im ersten Korintherbrief das Wesentliche. Das heißt also, dass für Paulus dieser Aspekt der Homosexualität im Gegensatz zu dem steht, was er als christliches Miteinander ansieht. Und dass er die Vorstellung des Missbrauchs von Schutzbefohlenen als einen in scharfer Weise zu kritisierenden Tatbestand ansieht,

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der innerhalb der christlichen Gemeinde mit der egalitären Reziprozität, mit der Gegenseitigkeit und Gleichheit der Menschen und mit dem, was er als Agape, als christliche Liebe ansieht, nicht zu tun haben darf. Die Vorstellung, dass es einen erotischen Kontakt zwischen einem freien Krieger und einem Heranwachsenden gab, ist in der Zeit, in der wir uns bewegen, in erster Linie nur noch literarisch zu fassen. Das heißt, diese Vorstellung ist natürlich auch historisch geprägt und ein vernünftiger Mann sieht solche Handlungen durchaus kritisch. Aber auch in Korinth wurden natürlich ebenso wie es hier eine ganze Reihe von Bordellen gab und Prostitution und gerade Missbrauch von Sklawinnen häufig der Fall war,

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wurde hier selbstverständlich auch diese Form der Homosexualität gelebt. Aber dies ist für Paulus eben kritisch. Jetzt fragen Sie, wie ist es denn im Römerbrief in Kapitel 1? Ja, im Römerbrief in Kapitel 1 wird auch Homosexualität von Paulus kritisiert, aber hier jetzt wieder in einem anderen Kontext. Im Römerbrief will Paulus der Gemeinde in Rom letztendlich zu Beginn zeigen, dass alle Menschen radikal der Sünde rettungslos verfallen sind und deswegen der Rettung aus dieser Sünde durch Jesus Christus bedürfen. Und diese Totalität der Sünde über die gesamte adamitische Menschheit wird für ihn anhand einer Reihe von Beispielen dargestellt. Und diese Beispiele zeigen den Juden Paulus, denn sie verknüpfen in mehrerlei Hinsicht falschen Kult und falsches Verhalten, verdrehten Kult und verdrehtes Verhalten.

59:13
Und hier kommt Paulus auch auf Homosexualität zu sprechen, als eine paradigmatische Form des falschen Verhaltens, die mit dem falschen Kult zu tun hat. Und in dieser Argumentationsfigur hat also Homosexualität nur eine Beispielfunktion, um zu zeigen, dass die gesamte Menschheit unter der Sünde steht. Es geht Paulus in Römer 1 in keiner Weise darum, jetzt spezifisch homosexuelles Verhalten zu thematisieren, sondern es geht ihm darum eben ein Beispiel zu bringen. Nun, die Frage, was das mit heutigen Vorstellungen zu tun hat, ist notwendig.

60:10
Wir haben heute die meiner Ansicht nach zutreffende Wahrnehmung, dass Homosexualität nichts Fakultatives ist, sondern die Vorfindlichkeit eines Menschen. Und dass Homosexualität ein Teil einer Identität ist, aber eben kein fakultativ und willentlich zu beschreibender Akt. Das war in der Antike anders. In der Antike ist Homosexualität eine willentliche Handlung, die mit diesem Machtgefälle verbunden ist.

61:06
Unsere heutige Vorstellung ist eine gelingende Liebe, jetzt ganz egal, ob Mann oder Frau oder Frau oder Mann oder Frau oder Mann, eine Liebe, in der beide Partner, zumal als Christinnen und Christen, sich auf Augenhöhe in dieser Gegenseitigkeit und Gleichheit wahrnehmen. Und diese beiden Punkte, in der Antike ist das ein Ausdruck eines Willensaktes und es ist ein Ausdruck eines Machtgefälles, werden in der heutigen Diskussion oder müssen in der heutigen Diskussion berücksichtigt werden. Das heißt, wenn wir als Christinnen und Christen über Homosexualität urteilen, dann müssen wir urteilen über Unmenschlichkeit in einer Beziehung, Unmenschlichkeit und Machtgefälle in einer Freundschaft oder Ehe und auch Unmenschlichkeit und Machtgefälle und Ausnutzen in einer sexuellen Beziehung.

62:18
Dagegen ist Paulus und das ist mit christlicher Existenz schlecht zu vereinbaren. Dort wo Christen diese Nachfolge auch dahingehend ausgestalten, dass sie einander im Alltagsleben, aber auch im Eheleben oder in der Beziehung oder auch im Bett oder wo auch immer in dieser Gleichberechtigung auf Augenhöhe und mit dem Wunsch, sich dem anderen zuzuwenden, begegnen, da ist eigentlich das, was Paulus als Agape sieht, auch hier realisiert.

63:05
Und darum geht es und nicht darum, dass wie auch immer Machtrelationen ausgeübt werden. Machtrelationen sind etwas, was Paulus überhaupt nicht mag. Wir haben grundsätzlich ein hermeneutisches Problem, auch was damit verbunden ist. Viele Kritiker der Gleichstellung homosexueller Paare und auch Kritiker der Segnung und Trauung homosexueller Paare argumentieren mit Bibeltexten. Aber hier muss man fragen, wie argumentieren sie mit Bibeltexten? Und diese hermeneutische Frage ist grundsätzlich wichtig, denn ich darf nicht eine zuvor gefasste Überzeugung in die Bibel hineinlesen, sondern – und das ist gut lutherisch –

64:05
ich muss danach fragen, was sagt der Bibeltext? Der Bibeltext sagt eben nicht, indem ich einfach mal meinen Finger in die Bibel strecke und dann den Vers lese und den Vers einfach so, wie mir es gerade nach ist, auslege, sondern der Bibeltext muss abgesichert gelesen werden und zwar kontextualisiert. Kontextualisiert in seiner literarischen Hinsicht und kontextualisiert in seiner historischen Hinsicht. Das heißt also, ich muss danach fragen, was bedeutet ein polnischer Vers, eine polnische Perikope in ihrem literarischen Zusammenhang und was bedeutet das Ganze überhaupt im Zusammenhang der antiken Kultur und der antiken Gesellschaft? Diese Frage ist nicht nur legitim, sie ist zwingend notwendig und dann erst darf ich eben das, was Paulus den Menschen sagt – und muss ich das, was Paulus den Menschen sagt – auf unsere gegenwärtige christliche Existenz übertragen.

65:11
Und diese Übertragung ist notwendig, diese Übertragung leisten Profi, Theologinnen und Theologen wie Pfarrerinnen und Pfarrer, aber diese Übertragung können sie auch selbst leisten. Sie müssen halt eben nur darauf achten, dass sie nicht das, was sie selbst von vornherein im Kopf haben, dann in den Bibeltext hinein interpretieren, sondern offen sind gegenüber dem Bibeltext in seiner Fremdheit und auch offen sind, wenn der Bibeltext mal etwas anderes sagt, als was sie gerne hätten. Aber wie gesagt, das ist gut lutherisch. Also ein schönes Beispiel, dass eben der Kontext und nicht nur der Wortlaut entscheidend ist. Also wenn ich jetzt zu Ihnen sage, der Ofen ist aus, dann ist es ein großer Unterschied, ob wir über eine Freundschaft reden oder ob wir darüber reden, dass ich jetzt vielleicht mal ans Gartenhaus gehen sollte und ein paar neue Scheite nachlegen.

66:20
Also Sie sehen, dass ein Kontext eines Satzes den Sinn des Gesagten elementar beeinflusst. Und genauso ist es eben mit Bibeltexten, dass ich durch die Berücksichtigung des Kontextes dieses Ernstnehmen des Gotteswortes im Menschenwort eben erst so richtig schaffe. Gut, im Schluss meines Vortrags, gerade in Bezug auf Sexualität geht es für uns Christinnen und Christen nicht darum, dass wir den Umgang mit Homosexuellen, den Umgang mit Prostituierten, den Umgang mit formulieren,

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sondern dass wir in allen Lebensbezügen uns darüber klar werden, dass christliches Leben und christliche Nachfolge in Glaube, Liebe und Hoffnung immer eine Nachfolge ist, die den Mitmenschen im Blick hat, die Zuwendung zum Mitmenschen im Blick hat, die im Blick hat, sich nicht in irgendeiner Machtrelation gegenüber dem Mitmenschen zu überhöhen, den Mitmenschen nicht zu objektivieren und ihn auszunutzen. Und auf diese Weise das, was Paulus zitiert im Galaterbrief, dass wir nicht Jude noch Grieche, nicht Freier noch Sklave und nicht Mann noch Frau sind, sondern eins in Christus.

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Geschlechterverhältnisse und Sexualität im Neuen Testament | 10.7.2

Worthaus Pop-Up – Tübingen: 30. August 2020 von Prof. Dr. Michael Tilly

Wenn die Körpertemperatur einer Frau hoch genug ist, wird das Kind in ihrem Leib ein Junge. Ist sie kühl, wird es ein Mädchen. Mit etwa neun Jahren entwickeln sich Jungen weiter zu einem vollständigen Menschen, dem Mann, kräftig, willensstark und selbst beherrscht. Mädchen bleiben auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe stehen, beeinflussbar und schwach wie Kinder. Der Mann schläft mit seiner Frau, um Kinder zu zeugen. Für das reine Vergnügen gibt es im Zweifelsfall – je nach Kultur – männliche Diener oder Sklaven. So weit, so normal die hebräische bzw. hellenistisch-römische Vorstellung von Mann und Frau, von Sexualität und Fortpflanzung in der Antike. So ungefähr war dann auch die Vorstellung jener Menschen, die sich zu den ersten christlichen Gemeinden zusammenschlossen. Manche Gemeindemitglieder gingen in Bordelle, über Sexualität bestimmten freie Männer; Frauen und Sklaven hatten wenig zu melden.
Und dann kam Paulus. Mit einer einer gewagten Idee, die all das Denken von dem, was ein Mann und eine Frau zu sein hat, über den Haufen warf. Die Machtgefälle einebnete und den Blick auf die Schwächsten der Gesellschaft richtete. Ein Skandal! Eine Herausforderung! Und vielleicht gar nicht so viel anders als der Denkprozess, mit dem wir noch heute angesichts von Gender-Sternchen und Frauenquote zu tun haben. Michael Tilly, Theologe aus Tübingen, erklärt in diesem Vortrag das Geschlechterverständnis der Antike, das den Hintergrund bildet für viele Texte im Neuen Testament. Und er überträgt einige dieser Texte ins Heute. Denn auch heute lässt sich dort noch einiges lernen.