Das Thema dieses Vortrags lautet Friedrich-Gogarten, die Theologie und der Zeitgeist. Man muss nicht allzu ausführlich begründen, warum man sich mit Theologen wie Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer oder Martin Luther beschäftigen kann. Man lernt was über die Theologie, man lernt theologisches Denken kennen, was ohne solche großen Meisterdenker schlechterdings gar nicht vorstellbar wäre. Mit Friedrich-Gogarten ist es ein bisschen anders. Ich gehe mal davon aus, wer Theologie studiert hat, kennt den Namen und oft nicht viel mehr. Wer von Theologie fast nichts weiß, wird den Namen nicht gehört haben. Der Mann hat gelebt 1887 bis 1967, war ein wichtiger Theologe in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Warum beschäftige ich mich heute mit ihm? Weil man bei Gogarten ein Schlüsselproblem der Theologie sehr schön durchbuchstabieren kann. Das Schlüsselproblem, wie viel Zeitbezug braucht theologisches Denken? Wie genau muss es sich auf die eigene Zeit einlassen? Wie muss es sich auf den Zeitgeist einer Epoche beziehen? Kann fragen, ist das wirklich die Aufgabe der Theologie? Muss sie nicht bei ihrer Sache bleiben? Ist nicht ihre Wahrheit eine ewige Wahrheit? Sollte sie nicht treu bleiben zu dem, was nicht heute gilt, sondern immer, gestern, heute und in Ewigkeit? Aber kann man sich selbst treu bleiben, ohne sich zu ändern? Selbst im Pietismus hat sich mal das Wort verbreitet, wenn wir tun, was unsere Väter taten, tun wir nicht, was unsere Väter taten.
Die Welt ändert sich, Zeiten ändern sich. Und darauf muss man sich beziehen, in der einen oder anderen Weise, positiv, kritisch, gemischt, differenziert, wie auch immer. Der Theologe Friedrich Gohgarten ist ein sehr lehrreiches, interessantes, anziehendes und abschreckendes Beispiel, was einem dabei widerfahren kann. Ich möchte ein wenig seiner Geschichte entlanggehen. Das, was, wenn man etwas von ihm weiß, ist ja in der Regel dies. Er war nach dem Ersten Weltkrieg einer der Mitbegründer der Wortgottestheologie. Er war mit Karl Barth und Rudolf Bultmann zusammen, einer der großen, berühmten Erneuerer der Theologie nach dem Ersten Weltkrieg. Er betonte das Wort Gottes, die Offenbarung, Jesus Christus, die Heilige Schrift. Er gehörte zu den antiliberalen Theologen der Nachkriegzeit. Dass er das werden konnte, ist interessant, wenn man sich noch ein bisschen seine Vorgeschichte anschaut. Gohgarten kommt aus Dortmund, aus dem Ruhrgebiet, und ihm lag alles kirchliche Theologische nun in keiner Weise in der Wiege.
Das war eher weit weg für ihn. Er wurde zum Theologie-Studium motiviert durch den Dortmunder Pfarrer Gottfried Traub. Traub war einer der bekanntesten Pfarrer der Kaiserzeit. Er war nicht nur bekannt, er war auch berüchtigt. Traub hatte auch Wirtschaftswissenschaften studiert. Er setzte sich energisch für die Arbeiter seiner Region ein. Er unterstützte sie beim Streik gegen Ausbeutung und Nischstände. Und er kritisierte den Konservativismus, Weiterkreise von Kirche und Theologie. Es gab damals einen aufsehenserregender Fall. Ein Pfarrer wurde seines Amtes enthoben, weil er sagte, das Glaubensbekenntnis möchte er nicht mehr sprechen, im Gottesdienst mehrere Sachen, glaubt er da gar nicht. Es gab einen großen Skandal, er wurde seines Amtes enthoben. Traub empörte sich darüber und sagte, dieser Pfarrer hat doch im Grunde nur ausgesprochen,
was für viele unter uns selbstverständlich sind. Wir können doch nicht mehr glauben an die Mirakel der alten Welt, an Wunder und all das. Darum geht es doch gar nicht mehr. Es geht doch darum, Gott im Hier und Heute zu folgen, in den sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Es kam, wie es kommen musste. Auch Traub bekam einen Prozess, angehängt vor dem Ersten Weltkrieg. Er wurde in diesem Prozess von der Kirche verurteilt. Er wurde seines Amtes enthoben. Er durfte den Fachertitel nicht mehr führen. Selbst seine Rentenbezüge wurden ihm gestrichen. Das wurde sechs Jahre später rückgängig gemacht. Aber er wurde in der Kirche ausgeschlossen, machte seine Karriere dann in der Politik. Dieser Pfarrer hat Goga hat auf den Weg gesetzt. Das war so ein Christentum, was Goga Gaten glaubwürdig fand. Ein Christentum, ganz in der heutigen Zeit, in dem Denken den Fragen der Gegenwart sozial engagiert,
sensibel für die Fragen, die Menschen heute haben. Goga Gaten war in dieser Zeit nicht mal liberal christlich motiviert. Er gehörte eher so zu den Gottsuchenden der Kaiserzeit. Er war so einer derjenigen, die Bücher aus dem Eugen-Diedrichs-Verlag lasen. Eugen-Diedrichs-Verlag steht nicht nur für ein Buchprogramm, sondern für ein Kulturprogramm, ein Lebensprogramm. Im Diedrichs-Verlag las man Bücher über den Buddhismus und über den Hinduismus. Man las das I-Ging und beschäftigte sich mit altorientalischer und ostasiatischer Weisheit. Man suchte nach Leben, man suchte nach Wahrheit, man suchte nach Tiefe. Die durfte christlich sein, wenn sie mystisch genug war, wenn sie exotisch genug war, wenn sie so ein bisschen heretisch war, dann geht's. Aber ansonsten, Wahrheit, wo sie einen ansprach, wo sie einen berührte,
das war entscheidend. Und das musste nicht christlich sein, durfte es höchstens. Goga Gaten studierte Theologie an den Universitäten. Er quälte sich mit vielerlei, was er hörte. Wen er respektierte, das war Ernst Troelsch, der große liberale gebildete Meister seiner Zeit. Bei Troelsch studierte Goga Gaten, weil er das Gefühl hatte, der ist ehrlich. Der behauptet nicht, Dinge zu glauben, die ihm völlig unglaubwürdig sind. Der steht auch dazu, der steht zu seinen Anfragen, der steht dazu, dass er in vielen Fragen in keiner Weise mehr den Kirchenglauben teilt. Das war so eine Luft, wo Goga Gaten dachte, hier kann ich atmen, hier kann ich suchen, hier kann ich denken und glauben, was das eben für mich bedeuten mag. Goga Gaten schrieb eine Dissertation bei Ernst Troelsch, eine Doktorarbeit, als die Eingabe fertig war. Er hielt er das Angebot vom Eugen-Diedrichs-Verlag, sie dort zu veröffentlichen.
Er fragte Troelsch, ob er das sofort machen könnte. Der wies ihn darauf hin, na ja, er müsste schon das ganze Verfahren durchlaufen, erst einreichen, Dissertation, Abschluss und dann. Aber Goga Gaten sagte, dafür habe ich keine Zeit mehr, ein Buch im Eugen-Diedrichs-Verlag ist für mich 1000-mal mehr als ein theologischer Doktortitel. So nahm Goga Gaten seine fast fertige Dissertation, machte noch ein bisschen was daran und ließ sie im Diedrichs-Verlag veröffentlichen neben buddhistischen und hindistischen und anderen Texten. Denn das war für ihn Zukunft, das war für ihn Leben. Selbst liberale, kechliche Theologie war für ihn irgendwie noch zu verstaubt. Insofern, wie kann ein solcher Mensch Führer einer antiliberalen, biblischen, konservativen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg werden? Nun, während des Ersten Weltkriegs kann man beobachten, wie bei Goga Gaten eine Entwicklung einsetzt.
Er schreibt in einem Buch, Religion weit her von 1917, ja, natürlich, der Kirchenglaube ist angestaubt und angegraut in vielfacher Hinsicht. Was ist das Problem des dogmatischen Kirchenglaubens? Es ist ein Glaube aus zweiter Hand. Es ist ein Nachsprechen von alten Formeln, es ist ein Nachbeten von Gebeten der Agende, die man niemals so formulieren würde, die einen auch nicht berühren. Es ist einfach ein Kult. Vielleicht durch viel Gewöhnung kriegt man da ein ganz leichtes Säuseln in der Seele, aber es ist kalt, es ist tot, es ist abgestanden, es ist kein Leben. Echte Religion ist Leben. Echte Religion ist selbst betroffen und berührt sein in seinem Herzen vom ewigen Licht. Darum geht's. Und die Liberalen sind ehrlich genug, sich nichts vorzumachen,
keine Formeln nachzusprechen, die sie im Grunde nicht berühren. Aber es gibt auch eine Grenze der ganzen liberalen, modernen Kirchlichkeit. Was bei denen im Grunde geboten wird, ist letztlich viel aufgeklärtes, historisches Wissen, viel Bemühen um Gerechtigkeit gegenüber der geschichtlichen Entwicklung und am Ende noch ein paar vernünftige Gedanken über Gott und über die Bibel. Alles sehr vernünftig, aber im Grunde auch unterkühlt, auch leblos, oft schwächlich, oft abstrakt, eben oft auch kein Leben. In dieser Zeit entdeckt Gogarten im Pfarramt, wo er gelandet ist, ein Vorbild, was er sich vorher nicht so gedacht hätte, entdeckt Luther. Er entdeckt Luther als religiöses Genie und sagt,
selbst wenn ich die Formeln und die Dokumen von Luther niemals so teilen könnte, aber bei dem brennt was. Da glüht was, da ist Leben, da ist was Echtes. Und darum geht's letztlich. Wir brauchen etwas, was uns heute berührt und heute unser Herz trifft und nicht eine Religion von gestern und ehegestern. Und was immer heute sein mag, aber bei Luther hat das stattgefunden. Das war Leben, das war echter Glaube. Und Gogarten wird kritischer gegenüber liberaler, suchender religiöser Haltung. Er sagt, na ja, die Stärke des modernen Individualismus ist in der Tat, man spricht nichts mehr nach, was man nicht selbst erlebt hat. Das ist ja die Stärke. Aber man baut auch immer mehr Dinge ab. Man stößt sich frei von Traditionen, von Bindungen. Man kommt zu einer Entwurzelung, die im schlimmsten Fall dahin führt,
dass man im Grunde gar keine Substanz mehr hat. Nichts mehr, was Halt gibt, nichts mehr, was Kraft hat, nichts mehr, was lebendig ist. Und eine solche individuelle, selbstbestimmte Religion kann scheitern. Sie kann impotent werden, der jeweiligen Wirklichkeit standzuhalten. Sie kann kraftlos werden, dürftig und dürr. Echte Individualisierung ist immer ein sich einlassen auf die Wirklichkeit, einen in die Wüste gehen. Aber man muss auch eine Spur finden, die einen in der Wüste überleben lässt. Und das ist weder das Festhalten an alten Formeln noch eine immer weitere Privatisierung individueller Suche, die völlig substanzlos bleibt. Und bei Luther entdeckt Goebbels in dieser Zeit ein Vorbild dafür, der Mensch braucht nicht nur Individualität, Freiheit, Suche,
er muss auch schlicht berührt werden von einer Macht, die ihn bindet. Echtes Leben gibt es nie ohne Gebundenheit, tiefe Gebundenheit an Gesetze des Lebens. Wir brauchen etwas jenseits unserer Individualität. Wir brauchen etwas, wir brauchen einen Halt, wir brauchen einen Grund. Wir müssen mit der Ewigkeit in Kontakt kommen, wir brauchen eine Berührung mit dem Jenseits, sodass es dabei Gesicht und Gestalt erhält, an das man sich klammern und festhalten kann. Und Vorbild einer solchen authentischen, wirklichkeitsgesättigten und krisenresistenten Religion wird in diesen Jahren für ihn immer mehr Luther, so wie Luther die Bibel las, auf Christus blickte. Irgendwie so müsste es schon gehen.
Und Goegarten liest sich in dieser Zeit immer mehr in Luther fest und entwickelt eine neue Frömmigkeit für sich und für seine Zeit. Nach dem Ersten Weltkrieg wird Goegarten binnen weniger Monate berühmt. Er wird das völlig ungeplant und aus Versehen. Er wird zunächst berühmt durch einen kleinen Text in einer liberalen christlichen Zeitschrift, einen Text mit dem Titel Zwischen den Zeiten. Zwischen den Zeiten, das wurde der Titel einer theologischen Zeitschrift, die er dann später mit Karl Barth und anderen zusammen herausgab. Am Anfang steht dieser Aufsatz von 1920. Goegarten schreibt dort, es ist das Schicksal unserer Generation, dass wir heute zwischen den Zeiten stehen. Wir gehören nie zu der Zeit, die heute zu Ende geht. Ob wir je zu der Zeit gehören werden, die kommen wird? Und wenn wir von uns aus zu ihr gehören könnten, ob sie je so bald kommen wird,
so stehen wir mitten dazwischen in einem leeren Raum. Wir gehören nicht zu den einen und nicht zu den anderen. In dieser Tonart geht dieser Text weiter und er beschreibt im Grunde so ein Zwischengefühl radikal ehrlich. Alle hatten 1920 das Gefühl, die alte Welt ist zugrunde gegangen. Und viele Christen buchstabierten das für sich durch, die alte Welt. Nicht nur das Kaiserreich, nicht nur die Volkskriegskultur, doch auch unsere ganze Moral, unsere ganze Religion, unsere Kirchlichkeit, unsere Frömmigkeit. Es ist doch ein umfassendes Scheitern und Versagen. Es sind doch so viele unter uns, die in Verdun standen und in den Gräben des Krieges, verletzt in den Lazaretten, und die merken, dass sie nichts mehr haben und nichts mehr hält. So viel Altes ist vergangen, so viel kommt uns pathetisch
und tol und abgestanden vor. Aber es ist auch noch nicht Neues klar. Für Gurkha persönlich ist klar, in welche Richtung, wie das ungefähr, aber gleichzeitig weiß er auch, ich suche und sehne mich nach etwas, was ich selbst noch nicht habe und sagen kann. Und es gelingt ihm in diesem Text seine Erfahrung, seine Standortbestimmung so zu beschreiben, dass es für eine ganze Generation anschlussfähig wurde. Er schreibt weiter, wir sehen heute keine Formung des Lebens, die nicht zersetzt wäre. Und dann spricht er seine ehemaligen Lehrer an, seine großen theologischen, liberalen oder philosophischen Lehrer, schreibt weiter, habt ihr uns nicht gelehrt, in allem und jeden das Menschenwerk zu sehen? Habt ihr uns nicht selbst die Augen für das Menschliche geschärft, indem ihr uns alles in die Geschichte und in die Entwicklung reinstelltet? Wir danken euch, dass ihr es tatet. Ihr schufet uns das Werkzeug, lasst es nun gebrauchen.
Wir ziehen nun den Schluss, alles, was irgendwie Menschenwerk ist, entsteht nicht nur, es vergeht auch wieder. Und das richtet sich gegen dieses Fortschrittspathos, was die Wilhelminische Zeit auszeichnete. Ihre Philosophie, ihre Wissenschaft, auch ihre moderne Theologie. Er hatte schon ein ganz schönes Fortschrittsbewusstsein. Man fühlte sich hoch überlegen über das primitive Weltbild des Altertums, über das mythologische Denken der Alten, über den Mirakelglauben der Alten, über die Frömmigkeit. Die war unpersönlich, sie war metaphysisch, sie war mythologisch. All das sah man von der großen Höhe der modernen Kultur der aufgeklärten Zivilisation und sagte, ja, das ist alles nicht mehr. Wir brauchen auf unserer Höhe der Kultur dafür ganz andere Ausdrucksformen. Und Guggenheim dreht den Spieß nun weiter. Auch ihr mit eurem Vernunftstolz, mit eurem Aufklärungspathos,
mit eurem Modernitätsgestrunze, seid das, was jetzt vergangen ist. Und es hat nicht bestanden, es hat den Test der Geschichte nicht bestanden und überlebt. Euer ganzer Stolz, eure Wissenschaftskultur war nicht hart genug für das, was wir in den letzten Jahren in Krieg und Verzweiflung und Todesgefahr erlebt haben. Gurgaten fährt fort. Wir sind alle so tief in das Menschsein hineingeraten, dass wir Gott darüber verloren. Ihn verloren, ja, wirklich verloren. Es ist kein Gedanke mehr in uns, der bis zu ihm reicht. Ist es ein Wunder, dass wir bis in die Fingerspitzen hinein misstrauisch geworden sind gegen alles, was irgendwie Menschenwerk ist? Ja, uns selbst ist es ein Wunder. Denn wenn das Misstrauen gegen das Menschliche auch noch das ist,
was unser Gefühl am meisten bestimmt, so ist dies Misstrauen, das von nichts zurückscheut, doch nur möglich, weil ein Keim von Wissen des Anderen, des nichtmenschlichen Innenseinens. Gurgaten kündigt hier im Grunde eine ganze Epoche auf, die Epoche des Christentums und der Theologie als religiöser Kultur. Religion war das Hauptwort der modernen Kirche, der modernen Theologie geworden. Man konnte nicht mehr das Schriftprinzip der Orthodoxie, den Bibelglauben, den Dogmenglaube, all das hielt man im 19. und frühen 20. Jahrhundert für überholt. Man sagte, es geht um Religion. Es geht um die menschliche Suche nach Wahrheit. Und ja, wir sind geschichtliche Wesen. Wir brauchen die Impulse aus der Geschichte. Wir stehen in dieser Geschichte des Alten, des Neuen Testament, der Kirchengeschichte, Luther, all das wirkt auf uns ein.
Aber unsere Religion muss letztlich heute eine Form finden, die passt zu unserer aufgeklärten Kultur, zu unserer modernen Gesellschaft. Wir müssen eine Zusammenbestehbarkeit moderner Religion und moderner Welt erreichen. Und für Gorgaten ist solche Religion am Ende dieser Krisen und Zusammenbrüche auch nur noch Menschenwerk. Ein verzweifelter Versuch, das Christentum sich heute irgendwie passend zu machen. Und dem hält er dieses Misstrauen entgegen, wir sind bis in die Fingerspitzen in einen Misstrauch gegen alles. Das Menschliche, die Kultur, die Wissenschaft, alles. Die Theologie und die Religion. So Misstrauch, dass wir, wie er bekräftigt, Gott verloren haben. Wir haben in der ganzen Beschäftigung mit der Bibel nur noch gelernt, menschliche Gedanken über Religion weiterzudenken.
Gott hat darin keinen Platz mehr. Und gleichzeitig weist er darauf hin, das reicht nicht mehr. In mir, in vielen, ist eine Ahnung, es gibt mehr, es gibt etwas anderes. Nicht Religion, nicht Frömmigkeit, nichts, was wir machen können, aber irgendetwas anderes, was nicht mit hineingerissen wurde in diese Krise der Kultur. Er schreibt weiter, hüten wir uns in dieser Stunde vor, nicht so sehr zu überlegen, was wir tun sollen. Wir stehen in dieser Stunde nicht in unserer Weisheit, sondern wir stehen vor Gott. Diese Stunde ist nicht unsere Stunde. Wir haben jetzt keine Zeit. Wir stehen zwischen den Zeiten. In diesem Text steht fast nichts über Gott. Aber es endet mit der Frage nach Gott.
Wenn uns überhaupt noch etwas Halt geben kann, dann Gott. Wenn es überhaupt noch eine Lösung in dieser Zeit gibt, dann Gott. Aber nicht ein gedachter Gott, kein gemachter Gott, kein konstruierter Gott, sondern Gott in irgendeiner Weise, die nicht Tradition ist, aber auch nicht das Ergebnis moderner Spekulation. Gugarten wurde eingeladen auf eine renommierte Konferenz der damaligen Zeit, der Wartburg-Konferenz in Eisenach. Er hielt dort wenige Monate später einen Vortrag mit dem Titel Die Krisis der Kultur. Versammelt waren die sogenannten Freunde der christlichen Welt, die wichtigste Zeitschrift der liberalen Kirchlichkeit und Theologie. Es waren lauter moderne, aufgeklärte, zeitgenössische Theologen und Kirchenleute da. Und Gugarten hielt einen Vortrag genau in diesem Tonfall
voller kulturpessimistischer Absage an alles, was war, und offener Frage an dem, was jetzt noch tragen könnte. Die Wartburg ist nicht irgendein Ort, es ist ein mythischer Ort, auch in der reformatorischen Erinnerungsgeschichte. Es ist der Ort, wo Martin Luther als Junker Jörg lebte, wo Martin Luther das Neue Testament in wenigen Wochen aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzte. Und Gugarten lässt keinen Zweifel daran, dass er seinen Zuhörern Luther nahebringen will. Luthers Worte werden von Gugarten in diesem Vortrag nicht zitiert. Er sagt nicht, Luther schrieb. Oder Luther äußerte in seinen Briefen folgendermaßen. Nein, es heißt bei ihm immer wieder, Luther sagt. Oder ich lasse wieder Luther reden. Oder wir müssen Luthers Stimme vernehmen.
Luther ist in diesem Vortrag kein Tote, aus dessen Büchern zitiert wird. Luther wird in diesem Vortrag regelrecht beschworen. Luther Worte werden zitiert wie Gottes Worte. Und es ist eine bestimmte Art von Luther Worte, die Gugarten immer wieder zitiert, solche Worte. Also tut Gott in seinen Werken. Wenn er lebendig machen will, so tötet er uns. Wenn er uns fromm machen will, trifft er uns das Gewissen und macht uns erst zu sündern. Wenn er uns will gen Himmel aufrücken, stößt er uns zuvor in die Hölle. Luther Worte vom handelnden Gott, vom richtenden und rettenden Gott, vom verurteilenden und vom vergebenen Gott. Von dem Gott, vor dem wir allen Dingen gestorben sein müssen, um ihm zu leben. Dem Guten, dem Bösen, dem Tod, dem Leben, der Hölle und dem Himmel
und von Herzen bekennen, dass wir aus eigenen Kräften nichts vermögen. Einen solchen Luther malt Gugart, seinen Hörern hier vor Augen. Und dann mit solchen Luther Worten im Rücken zeigt er auf die Welt und sagt, wir sind in eine Krise, wir sind in der Mutter aller Krisen, würde er heute sagen. In einer umfassenden Krise, in der alles auf der Kippe steht. Die Welt, so wie sie da ist, ist nichts anderes als ein Abfall vor Gott. Und das wahrzunehmen, ist die Krisis unserer Kultur zu begreifen. Und die einzige Lösung heute ist im Grunde, diese Welt als Abfall zu sehen, sodass alles Menschliche sich im Grunde auflösend verschwinden muss, sodass wir fähig werden, Gott zu begegnen. Und wenn das so ist, und so liest Gugart einen Luther, dass wir auf alles denken, auf alles handeln, auf jedes Werk, auf jede Frömmigkeit, auf jede Wahrheit vom Menschen her verzichten,
wenn das so ist, ist das eine Krise für unsere Religion. Wie können und wollen wir heute religiös sein? Für Gugarten gibt es da zwei Wege. Der eine Weg ist, wir betreiben Religion so, dass sie gewissermaßen die Seele ihrer Kultur ist. Dass sie eingebettet ist in ihrer Zeit, dass sie mehr oder weniger hineinpasst in das Denken der Welt, in die Kultur der Menschheit, dass sie da das Schöne, Wahre und Güte in irgendeiner Weise befördert, aber dass sie ein Kultursektor neben vielen ist. Eine solche Religion ist für Gugarten heute am Ende. Denn sie wird die Krise der Kultur nicht überleben. Eine Religion, eine Kirche, die Teil der untergegangenen abendländischen Kultur war, wird keine Zukunft haben, sie hat keine Zukunft verdient.
Zukunft hat nur eine Religion, die sich selbst als Krise dieser Kultur erweist. Die sich radikal löst von jeder Verschmelzung mit der Kunst der Kultur, dem Denken, der Wissenschaft einer Zeit. Das heißt, Zukunft hat nur eine Religion, die völlig anders ist als die bisherige liberale, nationale, konservative Theologie und Kirche. Die alle waren ja in irgendeinem Sektor der Kultur nur ganz und gar eingelassen. Und wenn das gelingt, wenn wir uns radikal von Gott richten und retten lassen, wenn wir uns von Gott so ansprechen, dass wir herausgerissen werden aus unserer Zeit, aus unserer Kultur, dann geschieht Folgendes, Zitat. Dann leuchtet Gottes Licht wieder rein über dieser Welt und über uns selbst.
Nicht mehr gebrochen durch unser menschliches Wesen. Hier ist freilich alles Gnade, alles Wunder. Es kommt alles darauf an, dass wir uns nicht verwirren lassen, nicht mit unseren menschlichen Fragen kommen, dass wir hier, wo Gottes Licht leuchtet, nicht versuchen, mit menschlichem Licht Klarheit zu schaffen. Es kommt alles darauf an, dass wir hier, wo alles weggeräumt ist, was uns von Gott trennt, wo wir in Nacktheit vor ihm stehen, wo wir nichts für uns bewahren, dass wir da nicht wieder uns selbst zwischen uns und Gott stellen. Hier gibt es nur eine Verdeutlichung, nur eine Offenbarung, Jesus Christus. Ist das Theologie, ist das Predigt, ist das Expressionismus oder was ist es? Ein liberaler Gesprächsleiter des Ganzen sagte, er sei tief beeindruckt, er müsse aber auch gestehen, das kommt ihm vor wie eine Glossolalie, für die ihm einstweilen keine Auslegung zur Verfügung steht. Eine Zungenrede, von der der Apostel Paulus doch sagt, wenn ihr Zungenrede macht, also sprecht in unverständlichen Worten,
ihr müsst es auslegen. So hat es auf manche gewirkt. Sie sagen, was ist das für ein Mensch, warum haben wir den eigentlich eingeladen? Was will er? Er denkt anscheinend, aber er ist auch gegen das Denken. Er zitiert die Bibel, aber er will auch nicht die bisherige Bibelwissenschaft. Was will er? Jesus Christus selbst als die Gottestat, das ist Gottes Verwirklichung in dieser Welt, weil das ist die ursprüngliche Schöpfung. Auf solche Gedanken führt Goethe immer wieder in diesem Vortrag. Und viele in diesem Raum waren überwältigt und waren begeistert. Dazu gehörte z.B. Rudolf Bultmann. Rudolf Bultmann, Marburger Theologe, eigentlich liberal, wurde durch diesen Vortrag gewonnen für die dialektische Theologie. Er beschrieb das als ein Gottesereignis, ein vollmächtiges Reden, wie er das noch nicht gehört hat. Sein Leben lang blieben die beiden befreundet. Bultmann hat vielfach versucht, Goethe zu fördern.
Ein Journalist war anwesend. Er schrieb am nächsten Tag für eine Zeitung, wenige in Deutschland werden seinen Namen gekannt haben. Doch dürfte der Pfarrer Goethe bald unter denen genannt werden, die für unser Schicksal bestimmt sind. Mit ihm trat Martin Luther in den Festsaal der Wartburg und war wieder der Junker Jörg, der dem Teufel seinen Tinten fast an den Kopf wirft. Goethe-Hertens Vortrag war keine Theorie. Es war kein Referat über irgendetwas aus der Geschichte. Es war auch kein Beitrag zu wissenschaftlichen Lutherforschung. Es war ein Sprachereignis, es war eine Performance. Es war lyrisch und expressiv, es war roh, es war rau, es war manchmal brutal kritisch und manchmal stammelnd, betend, predigend. In dieser Stimmung machte sich Goethe auf einer Schweizer Reise.
Er besuchte die Schweizer Freunde Eduard Thurn Eisen und Karl Barth. Barth beschrieb das so, während Goethe auf ihn einredete, wurde ihm klar, dass sein Römerbriefkommentar von 1919 unzureichend ist, er muss ihn noch mal völlig neu überarbeiten. Nicht nur überarbeiten, völlig neu schreiben. Goethe beeindruckt Barth und Goethe zutiefst. In diesen Wochen wird Goethe zum Schicksal evangelischer Theologie. Er bringt einen neuen Typus von Theologie auf die Tagesordnung, eine handlungsorientierte, performative Theologie, die nicht aus Abstand reflektiert, sondern die Gott ereigniswerden lassen möchte, weil sie sich selbst davon getroffen, berührt und überwältigt war. Wie macht man weiter nach einem solchen mehr prophetischen als gelehrten Auftritt? Goegharten war Pfarrer, er hatte keinen Doktortitel aus Gründen.
Er wird das in den nächsten Jahren bereut haben. Karl Barth wurde bekanntlich auch ohne Doktortitel berufen, aber jede Fakultät macht das auch nicht so. Goegharten wird die nächsten zehn Jahre noch Pfarrer sein. Er bekommt irgendwann einen Ehrendoktor und wird dann später berufen, wird ordentlicher Professor, ist zuletzt in Göttingen lange. Aber nach einer solchen Durchbruchsphase muss man sich natürlich sortieren, wie geht es weiter? Wie kann man ein solches Denken, ein solches Bekennen, eine solche Zeitansage übersetzen in Theologie, in Lehre? Wie kann man denn nun von Gott reden? Goegharten macht sich auf einen Weg und das Erste, was er tut, ist, er setzt sich noch einmal vertieft auseinander mit dem, was ihn zuletzt so frustriert hat. Die liberale Theologie seiner Zeit, seine liberalen Lehre.
Denn das ist etwas, was ihn beschäftigt. Warum hat diese so kluge Theologie am Ende versagt? Warum hat diese doch so gut gemeinte Theologie die zeitgemäß war, ihre eigene Zeit so hoffnungslos verfehlt? Und Goegharten reibt sich an seinem Lehrer Ernst Troelsch. Er beschäftigt sich damit, er ringt damit. Troelsch stirbt leider früh, 1924 ist er tot. Er schreibt noch einen Aufsatz über seinen Schüler Goegharten. Man müsste sagen, gegen Goegharten. Er nennt ihn einen der neuesten Erlebnisromantiker. Troelsch hält das für eine Welle von jungen Wilden, die entwurzelt sind, verwirrt, verstört. Er hat Verständnis, er hat Geduld, sie sind kriegstraumatisiert. Er hält aber auch nichts davon. Das ist für ihn keine Wissenschaft, das ist kein Kultur, das ist einfach aufgeregtes Gestammel.
Und dann stirbt Troelsch aber früh. Gleichzeitig setzt sich eine solche Art Theologie zu treiben durch. Eine Theologie, die Gott, Glaube, Offenbarung wieder großschreibt. Und nicht Wissenschaft, kritische Aufklärung, Bibelexegese, Hermeneutik, all das nicht. Warum ist diese Absetzung von der liberalen Theologie für Goegharten in dieser Zeit so wichtig? Nun, der Punkt ist der, was hat die liberale Theorie gemacht? Sie hat den Glauben im Grunde durch und durch historisiert. Sie hat gesagt, wir leben in einem Zeitalter, wo wir geschichtlich denken. Und wir müssen die Bibel geschichtlich einordnen in ihre Zeit und in ihre Kultur. Und das müssen wir gründlich machen. Und absolut, die Bibel müssen wir lesen als altorientalische oder römer- kaiserzeitliche Literatur.
Und dann auf einem langen Weg kommen wir vielleicht dahin, was wir heute noch verantwortungsbewusst als religiös annehmenswert empfinden. Für Goegharten ist ein solcher Umgang mit dem Glauben gleichbedeutend mit seiner Abschaffung. So kann man nicht glauben. Man kann so wunderbar Theologie treiben, man kann dicke Bücher schreiben, sehr gelehrte Bücher, und kann sich unterhalten mit Historikern und Soziologen und Philosophen, das geht alles gut. Aber so hat man nichts mehr, woran man glaubt, was größer ist, was umfassender ist, was in irgendeiner Weise objektiv ist. Und Goeghartens Erfahrung ist ja letztlich die, wenn es hart auf hart kommt, brauchst du etwas, was stärker ist als das Sticksal, härter als die Zeit, was standhält, was nicht mitgerissen wird
in den Katastrophen der jeweiligen Zeitereignisse. Und das ist nichts von Menschen hervorgebrachtes, nichts Konstruiertes, nichts Erdachtes. Diese historische Theologie, dieser Historismus ist im Grunde eine frühe Gestalt, was wir heute nennen würden, Sozialkonstruktivismus. Die Grundthese, alle Wirklichkeitsauffassungen ist sozial konstruiert. Damals schon, heute schon, Geschichte ist eine soziale Konstruktion. Jesus selbst weiß kein Mensch. Wir haben lauter Erinnerungsspuren an Jesus. Die können wir rekonstruieren. Wir rekonstruieren die Rekonstruktionen von denen, die es auch nur vom Hörensagen wussten, das kann man alles machen, aber so kann man nicht glauben. Man kann nicht glauben an die Deutung von Deutung. Man kann nicht glauben an Dinge, die man selbst konstruiert über die Konstruktionen anderer.
Diese historische Betrachtung der Bibel und des Glaubens löst diesen auf. Und was wir brauchen, ist nach Gogaaten etwas anderes. Wir brauchen die deutungslose Annahme dessen, was Gott sagt. Und deutungslos ist ein Begriff, was Gogaaten da immer wieder verwendet. Sobald wir sagen, wir müssen das interpretieren, wir müssen das deuten, wir müssen das selbst rekonstruieren im Kontext unserer Denkweise, ist für Gogaaten im Grunde die Religion am Ende. Religion lebt von deutungslosem Hören und Gehorchen und Anerkennen. Dabei ist für Gogaaten schon klar, es geht nicht zurück in 17. Jahrhundert, Verbalinspiration, die Bibel, irrtumslos, unfehlbare Offenbarung Gottes, das jetzt nicht. Das ist für Gogaaten keine Option, wie es für Karl Barth keine Option ist,
wie es in dieser Zeit für niemandem in der Theologie eine Option ist. Dafür haben Sie zu tief in den Brunnen theologischer Wissenschaft und historischer Forschung geschaut, das nicht. Nein, Ihnen geht es um Gottes Wort als Ereignis, als Selbstmitteilung Gottes, als Evangelium, als Offenbarung in Jesus Christus, so um Gottes Wort als Ereignis. Und nicht um diese Texte mit jedem Wort, ihren geologischen, astronomischen, historischen Implikationen, das natürlich nicht. In der Suche nach dem Hören auf das Wort Gottes, nach dem deutungslosen Glauben, sucht Gogaaten geistige Verbündete. Er entdeckt sie, wie viele in der damaligen Zeit, in der personalistischen Philosophie Martin Bubas. Das war damals sehr, sehr viel gelesen, ein jüdischer Religionsphilosoph. Für ganz viele Theologen war es damals ungeheuer einleuchtend,
was Bubas so beschrieb, es gibt zwei Zugänge zur Welt. Es gibt den Zugang nach der Logik Ich und Es. Das ist ein verobjektivierender Zugang, der Zugang der Wissenschaft, der Technik, auch der historischen Forschung. Hier sehen wir die Welt gegenständlich, wir betrachten sie von außen. Wir bemühen uns um maximale Distanz, Objektivität, Neutralität, wollen nicht durch Involvierung unseren Blick trüben lassen. Ja, und damit kann man viel machen, mit diesem Weltzugang. Aber dieser Weltzugang allein macht uns und alles kaputt. Leben hängt daran, dass wir einen zweiten Weltzugang finden, den Weltzugang im Modus Ich und Du. Den Zugang der Begegnung, des Hörens und Verstehens. Und wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, darf ich ihn nicht zum Objekt machen. Ich bin in einer ganz anderen Bewusstseinsebene,
wenn ich dem anderen begegne, weil ich involviert bin, weil ich betroffen bin und betroffen mache. Wir geraten in ein Resonanzgeschehen, in ein Interagieren, und das macht was mit uns. Und nur wer sich darauf einlässt, kann auch einen Menschen verstehen lernen. Und dabei verstehen wir uns selbst auch anders. Und so sagt Buber, so ist es im Grunde auch mit Gott. Gott als Es ist ein Witz, der sich auflöst. Es ist nichts, man kann über Gott philosophieren wie über ein Etwas, ein Ding. Aber natürlich ist der Atheismus die logische, notwendige Konsequenz daraus. Gott ist das große Du, das unendliche Du. Und nur in dieser Begegnung kann ich mich auf ihn einlassen und wirklich mit Gott zu tun haben. Das sind Gedanken, die Gauguin in dieser Zeit wie viele einbaut in seine Theologie. Warum?
Er merkt, die Begegnung ist etwas, wir kennen das alle, hoffentlich. Irgendwie, wir kennen das. Und wir merken, in der Begegnung konstruiere ich mir nicht die Welt. In der Begegnung werde ich angesprochen, angerührt, bin betroffen. Hier ist echte Wirklichkeit, die mich betrifft im Spiel. Und die Wirklichkeit, die sich mir dabei erschließt, ist keine, die ich machen kann. Ich kann die Dinge nicht einfrieren, totstellen, ich muss mich darauf einlassen. Und Gurgaten denkt weiter auf der Spur, nur so kann man doch mit Gott zu tun haben. Nicht konstruierend, nicht machend, nicht in irgendeiner Weise herstellend, sondern erlebend, erfahren, so wie ich mich auf Begegnungen einlassen muss. Und Gurgaten fährt weiter aus. Wirklichkeit ist etwas, was uns immer schon betrifft und umfasst. Die Wirklichkeit der Familie ist größer als alles,
was ich in irgendwelchen Theorien darüber sagen kann. Die Wirklichkeit der Freundschaft oder der Liebe betrifft mich viel stärker, aber auch die Wirklichkeit eines Volkes oder des Staates. Gurgaten hat in dieser Zeit ungeheure Sehnsucht nach Festigkeit, nach Reale. Er ist so mitgerissen wie viele seiner Generation von Krieg, von Untergang, von dem Erleben, dass alles, was man mal für sicher und solide und wahrhaftig hielt, zusammenbrach, dass er von einer unwirklich gewordenen Welt spricht, die nach Wirklichkeit hungert. Die menschliche Seele hungert nach Wirklichkeit. Nicht nach etwas, was sie herstellt, sondern etwas, was ihr widerfährt. Wir haben Gurgaten nun begleitet in die 20er-, frühen 30er-Jahre.
Und wir wissen, was im Hintergrund passiert natürlich. Weltwirtschaftskrise, alles kehrt wieder, die große Unsicherheit, die große Depression, die großen Zweifel, die großen Krisen. Und Gurgaten gehört zu den vielen, die den Glauben verlieren an diese Weimarer Demokratie. Denn was ist diese ganze Demokratie als der Versuch, Staat zu spielen? Politik zu machen? Irgendwie diskutieren, Kompromisse suchen, Parteien, Medien. Der eine schreit hü, der andere schreit hot. Man kriegt einen Kompromiss, alle sind unglücklich. Wir machen Staat, aber was ist das alles? Das lebt nicht, das funktioniert nicht. Das ist nicht stark genug für die Krisen unserer Zeit. Das Jahr 1933 schlägt, und Gurgaten gehört zu den Mitgerissenen. Und er gehört zu den Männern, für die das eine erlösende Befreiung ist,
dass endlich Politik nicht mehr nur von Menschen irgendwie versucht und gespielt und simuliert wird, sondern dass sie geschieht. Umbruch, Erlösung, Befreiung, ein Führer, Wende, deutsche Stunde, deutsches Erwachen, deutsches Aufstehen. Und wie viele andere ist Gurgaten überwältigt von der Wirklichkeit, die auf einmal ein ganzes Land auf den Kopf stellt. Und für Gurgaten in dieser Zeit werden Volkstum, Nation, Rasse und Blut Begriffe, die die Wirklichkeit verkörpern, die der Mensch braucht. Und Gurgaten gehört zu den Theologen, die sagen, das ist doch Gottes Schöpfung. Und wir können Gott in seinem Wort von Christus nicht hören und vertrauen, wenn wir uns nicht auf den Gott einlassen, der uns in seiner Schöpfung begegnet, in den Beziehungen zwischen den Menschen, in Begegnung, in Familie, in Volk, in Staat.
Und das geschieht jetzt. Und darum haben wir endlich wieder einen richtigen Staat, einen schöpfungsgemäßen Staat, der wirklich regiert, der sich machtvoll durchsetzt gegen Widerstände und nicht alles unserem Gelaber und unserem Gerede und unseren Kompromissen überlässt. Gurgaten schreibt 1933 so, wir stehen vor einem Ereignis. Und dieses Ereignis besteht darin, dass der deutsche Staat im Begriff ist, mit seiner nationalen Erneuerung sein Wesen als Staat zu erfüllen. Indem er das tut, macht er seinen Anspruch auf den deutschen Menschen mit unerhörter Gewalt geltend. Das bedeutet, dass es den Menschen nicht mehr gibt, wie es ihn vor langer Zeit gab, als einen Privaten, der dem Staat gegenübersteht, für den der Staat nicht viel mehr ist als eine Behörde. Und der ihm von den Seinen gibt, was er ihm unbedingt geben muss,
damit der notwendige Apparat der Behörden und der Verwaltung erhalten bleibt. Und der im Übrigen Förderung seiner jeweiligen Interessen von ihm fordert. Und dieser Forderung den nötigen Nachdruck gibt mithilfe der politischen Partei, die er seinen Interessen vertreten lässt. Der neue Staat indessen, der sein Wesen als Staat erfüllt, steht nicht mehr einem privaten Menschen gegenüber. Er lässt ihn, wenn er das weiterbleiben will, gar nicht gelten. Er beansprucht den Menschen ganz und gar und lässt ihn nur gelten, insofern er sich als völkisch bestimmter Mensch mit seiner ganzen Existenz dem Staat zur Verfügung stellt. Das nennt man Totalitarismus, das nennt man Faschismus. Es ist in dieser Zeit auch nationalsozialistisch gedacht. GoGarden ist nicht nur für diesen deutschen Staat. Er wird 1933 Mitglied der Glaubensbewegung Deutsche Christen. Also diese Gruppe, die versucht, nationalsozialistisches Denken
auch für Theologie und Kirche auf ganzer Linie wirksam werden zu lassen. GoGarden möchte sich hier, wie andere auch, an die Spitze der Bewegung stellen. Er möchte mitleiten und führen, ob er auch den Führer führen wollte, wie andere vielleicht nicht. Aber er will das für die Kirche umsetzen. Davon ist er überzeugt, weil er zutiefst überwältigt ist von diesem Erleben von Autorität und Bindung und Härte und Stärke. GoGarden merkt bald, dass es mit den deutschen Christen nun wirklich nicht geht. Er tritt aus nach einiger Zeit, er wird zunehmend frustriert, spätestens ab 35, 36 auch verzweifelt über das, was sich abspielt. Aber er verstummt, er erkrankt, er zieht sich zurück. Auch keine innere Opposition, kein Akt des Widerstands, auch kein Zugehen auf die bekennende Kirche.
Er hält seine Mitgliedschaft, sein Mitläufertum nicht durch, widerruft es aber auch nicht. Wie kann man dahin kommen, als ein Theologe, der doch mal mehr als liberal war? Freigeist, individualistisch, dem doch alles enge einmal ein Geheul war. Wie kann man dahin kommen, als ein Wort Gottes Theologe? Seine Weggefährten von einst, Bart und Bultmann, standen in der ersten Reihe der Gegner des Nationalsozialismus. Gottfried Traub, sein alter Jugendpfarrer aus Dortmund, war politisch engagiert und 1933 natürlich gegen Hitler und gegen den Nationalsozialismus. Was denn auch sonst? Wie kann man dahin kommen? Und das ist eine tiefe Tragik bei GoGarden. Ich habe das so allmählich erzählt, allmählich die Schwellen überwunden von einem Liberalen zu einem irgendwie konservativ Modernen,
hin auf einmal zu einem profaschistischen Theologen. Wie kann man dahin kommen, als ein Theologe, der doch eigentlich Zeitkritik leisten will, Kulturkritik? Und das ist in gewisser Hinsicht das Bittere bei GoGarden, dass er völlig übersieht, dass er mit seiner Zeitkritik einen kulturpessimistischen Zeitgeist verfällt. Der GoGarden der frühen 30er-Jahre sieht sich als Kämpfer gegen den Zeitgeist. Sein Selbstverständnis wäre gewesen, ich kämpfe gegen diesen Zeitgeist des Liberalismus und der Aufklärung und der demokratischen Massengesellschaft. Dieser Zeitgeist macht uns doch krank und kaputt. GoGarden hätte sich gesehen als Anti-Zeitgeist-Theologe und merkt es nicht, dass diese Anti-Zeitgeistigkeit längst ein düsterer, schrecklicher Zeitgeist geworden war. GoGarden ist in dieser Lebensphase zutiefst antiliberal,
zutiefst antimodern. Er ist antiliberal aus dem Gefühl heraus, eine Überdosierung Liberalismus nicht gut vertragen zu haben. Das ist sein Lebensweg. Zu viel Freiheit, zu viel Liberalismus hat ihn leergemacht, durcheinander, verstört, orientierungslos, sodass er mehr und mehr Sehnsucht bekommt nach Härte, nach Festem, nach Absolutem, nach Dingen, die nicht wanken können, die nicht schwanken können. Dinge, die man deutungslos, ohne Interpretation nimmt und glaubt, dass man etwas hat, was hält und trägt. Irgendetwas, was fest ist und eng und stark und darin Sicherheit gewährt. Und dieser Antiliberalismus, dieser Antimodernismus ist für ihn der Weg gewesen hinein in diese faschistischen Überlegungen,
die jede Menschenwürde, jedes Menschenrecht auflösen und einen Staat anerkennen, der wirklich nur noch den völkisch bestimmten Menschen gelten lässt. Man könnte an dieser Stelle den Vortrag auslaufen lassen und sagen, und die Moral von der Geschichte? Hüte dich vor dem Zeitgeist. Hüte dich vor dem Zeitgeist nicht nur im Allgemeinen, sondern hüte dich selbst davor, wenn du glaubst, dagegen zu sein. Selbst das könnte der Zeitgeist sein. Hüte dich vor allem. Der Gogarten hatte gute Bildungsvoraussetzungen, er hat viel probiert, er hat viel gemacht. Er war auf guten Wegen. Er hatte die Bibel und Jesus Christus und Gottes Worte und all das. Wie konnte das passieren? Aber wir drehen es noch etwas weiter. Gogarten hat den Krieg überlebt. Und nach dem Krieg, als Theologe in Göttingen weitergemacht,
er galt nicht als sonderlich belastet, Mitgliedschaft Deutsche Christen, ließ man durchgehen als ein kurzzeitiges Phänomen. Er bleibt in Göttingen Lehrer der Theologie. Gogarten war schon recht viel. Er war suchender, hyperliberaler Wanderer zwischen den religiösen Welten. Er war Wortgottestheologe. Er war Mitglied bei den Deutschen Christen. Das müsste reichen für ein Leben, möchte man glauben. Aber Gogarten erfindet sich im Alter in der jungen Bundesrepublik Deutschland noch einmal. Und entwickelt noch einmal einen theologischen Ansatz, der große Prägekraft entfaltet. Die Stimmung nach dem Zweiten Weltkrieg ist ja so, alles war falsch, der Nationalsozialismus war falsch, es war dermaßen daneben. Aber anders als vorher gibt es für viele Menschen so das Gefühl, es gibt schon noch Dinge, an die man anschließen kann. Zum Beispiel das Christentum.
Das Christentum, ja, viele haben mitgemacht, aber katholische Gebiete waren resistenter, waren stabiler. Viele katholische Christen waren nicht dabei. Evangelisch sieht es etwas trüber aus, aber bekannte Kirche. Es gab Widerstand, es gab die Bonnhöfers und Niemöllers und die Bruderräte, also es gibt hier Substanz. Und Bundesrepublik Deutschland wird ja schon so gegründet als eine halbe Kirchenrepublik. Gerade auch für englische und amerikanische Alliierte sind die Kirchen vertrauenswürdige Gesprächspartner, Säulen in einer chaotischen Welt, in der sich alles aufgelöst hat. Die Kirchen haben nach 1949 eine sehr starke Stellung in der frühen Bundesrepublik. Und es gibt so eine 50er-Jahre-Stimmung, die hat ungeheure Retro-Sehnsüchte. Sie will die gute alte Zeit zurück. Die letzten 40 Jahre waren schlimm, ganz schlimm,
nur schlimm, aber irgendwas mit Sissi und irgendwas mit davor und irgendwas mit heiler Welt und Christentum und Kirchen im Mitten des Dorfes sollte schon sein. Und es breitet sich so eine milde, antimoderne, antineuzeitliche Stimmung auf. Und man sagt, wo sind wir hingekommen? Im Grunde zwei Weltkriege, das Ganze scheitern und so. Wir haben im Grunde einen Sturm der Ideologien entfaltet, kommunistische, nationalsozialistische, faschistische. Wir müssen zurück zu christlich, kechlich, auch humanistischen Gedanken. Wir brauchen wieder den Anschluss an das davor, wo man noch Wurzeln hatte, wo man Heimat hatte, wo man ein Zuhause hatte, Zugehörigkeit, Tradition. Das spielt in dieser Zeit eine große Rolle. Und es gibt natürlich die, die sagen ein, auch das nicht.
Wir brauchen mehr Moderne, mehr Säkularisierung, weniger Kirche, weniger religiöse Bevormundung. All das ist ja im Grunde bis heute auch so. Viele Kirchenvertreter, viele Theologen sahen sich natürlich gern in Anspruch genommen als öffentliche Volksredner, als Politikberater. Die Stellung der Theologie war ziemlich stark, ziemlich angesehen. Und es gab viele, die im Grunde sagten, die Säkularisierung ist ein Problem. Nur durch diese Säkularisierung war es ja möglich, dass die Leute Nazis wurden oder Kommunisten oder Verwirrte, die dann da irgendwie in allerlei Perversionen und Verwirrungen und Sex und Suff und wer weiß, was abgeglitten sind. Die Säkularisierung ist ein Fehler. Wir müssen da raus. Und in dieser Zeit entwickelt Gogarten einen neuen theologischen Ansatz.
Der Schlüsselgedanke ist ganz einfach der, Säkularisierung ist gut. Und wir brauchen mehr Säkularisierung. Die Säkularisierung ist kein Unglück. Säkularisierung ist zutiefst christlich. Was heißt denn Säkularisierung? Säkularisierung ist ein Prozess, der ja letztlich mit dem Christentum angestoßen wurde. Das Christentum hat ja im Grunde Lebenswelten, die in der alten Welt religiös übermalt waren, im Grunde für weltlich erklärt. Man kann Genesis 1 so lesen. Genesis 1 beschreibt eine geschöpfliche Welt, wo Sonne, Mond und Sterne und das Wasser nicht Gottheiten sind, sondern es ist nur Schöpfung. Es ist nur weltliche Wirklichkeit. Die Reformation führt das im großen Stil weiter. Luther säkularisiert die Politik.
Die Landesherren brauchen keine kirchliche Einsignung ihrer Ämter. Die Politik soll handeln, soll machen. Sie soll ohne Bevormundung durch die Kirche ihrem Auftrag nachkommen. Das Rechtswesen, sie soll ein Recht sprechen. Die Wissenschaft nach und nach setzt einen Prozess ein, wo die Wissenschaften ohne kirchliche Bevormundung denken dürfen. Und Goehrgarten sagt, das Ganze ist eine Geschichte der Befreiung. Wir brauchen keine kirchliche Bevormundung mehr. Für Politik, für Pädagogik, für all diese Lebensbereiche. All das hat Gott in die Schöpfung hineingelegt, dass der Mensch mit seiner Vernunft Welt gestalten kann. Und er kann die Welt dann am besten gestalten, wenn er es weltlich tut. Wenn wir die Welt weltlich sein lassen, sehen wir sie ohne religiöse Überhöhung, ohne ideologisch verengten Blick,
auch ohne übertriebene Erwartungen an das Weltliche. Wir wollen einfach Moralpolitik, Pädagogik, Psychologie, Wissenschaft, all das machen, so gut es geht und so gut es vernünftig ist. Und wenn wir das tun, werden wir alle ideologiefreier und vernünftiger miteinander reden können. Und ja, wir brauchen auch keine christliche Ideologie. Keine christliche Schule, keinen christlichen Staat, keine christliche Pädagogik, nichts davon brauchen wir. Es ist Gottes Wille, loszulassen. Es war immer schon falsch, das Ganze mit kirchlich-christlicher Soße übergießen zu wollen, weil es sonst nichts schwecken würde. Glaube ist Freiheit für die Welt. Glaube ist Freiheit zur Welt. Mit dieser Theologie der Säkularisierung wurde Gogarten ein Leitbild
für viele liberale aufgeklärte junge Theologen. Etwa eine Theologin bezeichnete sich als seine Schülerin Dorothee Sölle. Sie sagte, sie hat bei Gogarten mehr gelernt als bei allen anderen. Er konnte sich auf das Gespräch einlassen, er hat sie angeregt, er hat sie auch nicht gegängelt. Sie sagt, ich habe bei ihm nicht irgendwie was gelernt aus seiner Theologie. Ich habe denken gelernt, weil er mir Raum gegeben hat, zu denken. Und so hat er mit uns geredet, er hat uns freigelassen. Und als ein solcher freisetzender und freilassender Theologe wird Gogarten noch einmal berühmt nach dem Zweiten Weltkrieg. Man war ja auch gnädig mit dem Vergessen, was alles da mal war in finster Zeit. Er wird wieder einer der führenden Theologen, auch international, in Amerika wird er beachtet, als der Theologe, der früh Ende der 40er-Jahre anfängt zu sagen, Säkularisierung ist positiv. Säkularisierung heißt natürlich nicht Säkularismus,
also Abschaffung von Religion, Unterdrückung von Glauben usw. Das wäre die Gefährdung, die Krise. Es ist ja gerade der Glaube, der die Welt, die Schöpfung als gut bejahen und begrüßen kann. Menschen brauchen Glauben, sie brauchen Gott. Gott ist es, der Halt gibt und trägt. Und Gott lässt frei und Gott lässt uns ziehen und Gott lässt uns denken und lässt uns unsere Wege finden in dieser Welt. Ja, das war Gogarten in mehreren Stufen. Und wie immer man zu seinen Variationen stehen kann, man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, na ja, er hat gelebt. Im Hier und Jetzt. Er hat in seiner Zeit jeweils gelebt und er hat sich auf sie eingeleist. Er hat sicher entsetzlich geirrt. Er hat ganz schreckliche Sätze geschrieben. Und das Ausmaß dieser schrecklichen Sätze wird jeder anders einschätzen, je nachdem, was man alles schon für schlimm halten möchte.
Aber na ja, er hat so unterschiedlich gedacht, fast jeder Theologe würde irgendein Gogarten wissen, wo er sagen würde, da war er nicht ganz schlecht. Da kam er der Wahrheit zumindest nah. Ich denke, Gogarten ist bis heute ein Lehrstück. Theologie muss sich auf ihre Zeit einlassen, weil sie sowieso in ihre Zeit eingelassen ist. Es ist ja gar keine Option zu sagen, ich bleibe lieber bei der ewigen Wahrheit, als mich auf meine Zeit einzulassen. Man ist ja immer mittendrin. Und unzählige Christen und Strömungen, die haben 1930 folgende gesagt, ja, wir haben nichts mit Politik zu tun. Wir bleiben ja bei der ewigen Wahrheit, nur beim Vorrat, nichts mit Politik. Und waren Nazis dabei. Theologie und Glaube ist immer schon eingelassen in eine bestimmte Zeit. Sich auf die Zeit einlassen, heißt zuerst doch,
sich bewusst zu machen. Wo stehe ich? Wo sind wir? Wie geht es uns? Und was ist dran? Was ist jetzt dran? Welche Worte sprechen wir noch und merken nicht, dass sie hohl sind, dass sie uns nicht berühren und auch sonst kein kümmern? Und wie finden wir das Wort, was jetzt trifft? Und Gogarten hat mehrfach in seinem Leben Worte gefunden, die getroffen haben, wo Leute wach wurden. Und sagten, so, ja, genau so, so kann es weitergehen. So müsste man es probieren. Ich möchte zum Schluss noch eine kleine Anekdote erzählen. Ich habe diesen Vortrag mal bei einer Gelegenheit gehalten. Da waren auch verschiedene Vorhersagebesucher. Am Ende des Vortrags stand ein Mann auf, der war schon ein wenig älter. Und er bedankte sich für diesen Vortrag sehr und sagte, mein Vortrag hätte ihn wieder erinnert an sein Studium bei Gogarten im Wintersemester 1947, 48.
Der war also richtig älter. Und mit glühenden Augen erzählte er später ein wenig aus seinem Lebensweg. Er war an der Ostfront irgendwie in irgendeiner verzweifelten Aktion zurückgelassen. Er rannte zwischen Taiga und Tundra hin und her über vermintes Gelände, über gefrorene Seen und Meere. Mehrfach glaubte er, es ist vorbei, es geht nicht mehr. Und ist zu Fuß Tausende von Kilometern zurückgekommen nach Hause. Und wie er zu Hause saß, sagte er sich, das ist ein so unendliches Wunder, ich kann jetzt nicht in irgendein Leben zurück, ich habe nichts mehr. Ich muss darauf reagieren, ich muss irgendwie... Und das Einzige, was ihm einfiel, ich muss Pfarrer werden, ich muss predigen, dass es einen Gott gibt, der hilft und trägt und begleitet. Nun ging er ins Studium, studierte einige Jahre.
Ja, ist nicht so einfach Theologie. Er bekam einen vollen Kopf, aber irgendwie schaffte er es noch nicht, das Ganze gelernte und sein Leben zusammenzukriegen. Und dann sagte er, hätte er ein Freisemester bekommen, er durfte woanders studieren von seiner Kirche. Er ging nach Göttingen. Und da las Gogarten vierstündig, jede Woche vier Stunden, Gesetze und Evangelium. Und seine Augen leuchteten wieder und er sagte, alles, was mich in den letzten 70 Jahren getragen hat, in über 40 Jahren Pfarramt, aber auch in Familie und persönlich und mein ganzes Leben bis jetzt, verdanke ich dem, was ich bei Gogarten in dieser Vorlesung gelernt habe. Denn Gogarten hat uns eingeführt in das Evangelium von Jesus Christus. Er hat uns in Martin Luther eingeführt. Und das Evangelium von Jesus Christus, wie ich es damals verstanden habe, hat mein ganzes Leben geprägt, sodass ich dankbar und gern es bezeugen konnte.
Ich finde diese Anekdote schön, was sie im Grunde zeigt. Gogarten, ja, ist ein Theologe immer ganz nah am Puls der Zeit. Und das ist doch kein Gegensatz, als die große Geschichte von Jesus Christus zu erzählen und zu durchdenken und zu entfalten und Menschen vor Augen zu malen. Ich glaube ja, dass es eigentlich nur so geht. Man kann Jesus nur im Heute verstehen und finden, sodass es mit dem eigenen Leben zu tun hat. Und dann lässt man sich aber natürlich ein auf die uralten Texte und die uralten Lieder und Gebete und bringt die große Geschichte mit seiner eigenen Zeit zusammen. Gogarten war sicher einer, der kräftige Irrtümer begangen hat, aber auch einer, der letztlich Lehrer dieses Evangeliums sein wollte und es in seiner Weise auch war.
Friedrich Gogarten – Die Theologie und der Zeitgeist | 8.9.1
Wahrscheinlich hat kaum ein Nicht-Theologe von ihm gehört, dabei hat Friedrich Gogarten die Theologie des 20. Jahrhunderts ähnlich stark geprägt wie Karl Barth. Er stellte sich der Frage: Wie stark muss die Theologie in den Zeitgeist ihrer Epoche eingebettet sein? Gogarten selber folgte dem Zeitgeist so sehr, dass es den Zuhörern dieses Vortrags fast schon weh tun muss. Denn wie konnte aus einem suchenden Liberalen, den sein Lehrer mal einen „Erlebnisromantiker“ nannte, ein pro-faschistischer Mitläufer werden? Thorsten Dietz versucht, die vielen Wandel im Leben des Friedrich Gogarten zu erklären und zeigt, wie sehr die theologische Lehre dem Zeitgeist folgen sollte – oder eben nicht.
Dieser Vortrag gehört zur Reihe »Klassiker der Theologie«.