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Ja, wenn das so einfach wäre, wenn das so einfach wäre, mit Kindern über Gott zu reden, wenn das so einfach wäre, wenn man selbst mit Herz und Hirn vom Christentum überzeugt ist und als Christ zu leben versucht, es dann an die eigenen Kinder weiterzugeben und dann auch noch zu spüren, wenn diese Kinder Jugendliche werden, dass sie auch dann noch in dieser Welt weiterhin den Spuren ihrer Eltern zu folgen gewählt sind. Wenn das so einfach wäre, wäre das Christentum in Deutschland eine Religion, die eine andere Ausstrahlungskraft hätten. Die Erfahrung ist eine andere. So sehr es noch gelingen mag, Kindern, je kleiner desto besser, Religion mitzugeben als selbstverständlicher Teil eines Familienlebens, umso schwieriger wird es, sobald diese Kinder größer werden, sobald sie in

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der Schule sind und so fast unmöglich wird es heute, wenn sie Jugendliche werden. Weil Jugendliche, ich werde darauf zu sprechen kommen, in einer Lebenswelt leben, in der es uncool ist, religiös zu sein, in der du zum Teil, wenn du dich als religiös outest, negative Konsequenzen befürchten musst. Also wenn das so einfach wäre, mit Kindern über Gott so zu reden, dass es eine Lebensgrundlage wäre, aus denen man ein ganzes Leben lang schöpfen könnte. Wenn das so einfach wäre, bräuchte ich heute nicht hier zu stehen. Also es ist kompliziert. Diejenigen von uns, die in Verkündigungsarbeit stehen oder in religiöser Bildungsarbeit stehen, die wissen, dass das Hauptproblem heute nicht so sehr Atheismus ist. Auch nicht hier in den sogenannten immer noch neuen Bundesländern. Das große Problem im Blick auf Religion in unserer Gesellschaft ist Indifferenz. Mit Atheisten in ein spannendes, kontroverses Gespräch zu gehen, ach wie sehr würde man sich

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das gerade bei Jugendlichen wünschen. Aber gegen Indifferenz, die sich nicht greifen lässt und kein Interesse erkennen lässt, gegen und mit Indifferenz zu arbeiten, religiös, ist äußerst kompliziert. Und in diese Situation hinein möchte ich mit Ihnen in zwei Vorträgen einige Gedanken hinein entwickeln. Zunächst, ich habe mich vorhin informiert, mit was für menschliches hier wohl heute zu tun haben werde. Ich gehe mal davon aus, dass die überwiegende Mehrheit von Ihnen sich als gläubige Christin, als gläubiger Christ versteht. Das heißt, Ihnen ist es wie mir ein Herzensanliegen, über den Glauben ins Gespräch zu kommen und den Glauben eben gerade auch für Kinder und Jugendliche so zu präsentieren, aber auch so zu leben, dass Kinder und Jugendliche das Gefühl bekommen können, ja, das kann für mich eine einzigartige Lebensgrundlage sein. Das Problem

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von uns, ich nehme jetzt einfach mal alle hinein in mein großes Wir, das Problem von uns, wir leben in einem, ich nenne das Theotop. Wir leben in einem Theotop, was meine ich damit? Sie wissen wahrscheinlich alle, was ein Biotop ist. Ein Biotop, ein geschützter Raum, in dem bestimmte Pflanzen oder Tiere genauso leben können und sie sind perfekt ausgerichtet auf diesen kleinen, geschützten Raum. Ja, meine Damen und Herren, wahrscheinlich ist es mit Ihnen, mit mir so ähnlich. Wir leben in einem Theotop, wir wissen, wie man im Theotop von Gott redet, wir wissen, welche Handlungsweisen, welche Symbole, welche Traditionen es im Blick auf Religion gibt. Wir, ja. Eine dreifache Problemanzeige am Anfang, das Theotop heute. Erste klare Problemanzeige, das Theotop schrumpft. Dieser Raum innerhalb der Gesellschaft in Westeuropa, in Deutschland,

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dieser Raum, in dem Menschen selbstverständlich religiös zu Hause sind, selbstverständlich wissen, wie man redet, wie man lernt, wie man handelt, dieser religiöse Raum schrumpft, alle empirischen Untersuchungen bestätigen es immer wieder. Das betrifft in besonderer Weise die beiden Großkirchen, aber nicht nur. Es gibt durchaus, auch das werden Sie wissen, kleine Gegenbewegungen, aber gesamtgesellschaftlich ist das eindeutig. Das Christentum in Deutschland verliert seit Jahrzehnten seine Prägekraft. Beide Großkirchen verlieren jedes Jahr um die 250.000 Mitglieder. Also das Theotop schrumpft. Das zweite, zweite Problemanzeige, die Vermittlung dessen, wie wir uns im Theotop verständigen, was uns nach innen wichtig ist, die Vermittlung dessen nach außen wird immer komplizierter. Das Theotop ist wie mit festen Mauern umgeben und über diese Mauern hinweg zu erklären, warum wir etwas für wahr halten, warum wir so leben aus einem Glauben

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heraus, das wird immer schwieriger. Und ich habe vorhin schon angedeutet, die neue Schwierigkeit heißt nicht Feindschaft, aggressives Gegenargumentieren, die neue Schwierigkeit heißt Indifferenz. Soll doch jeder seine Wahrheit für richtig halten, jeder nach seiner façon leben. Gegen diese Indifferenz zu zeigen, was ein Christentum im Herzen ausmacht, wird immer komplizierter. Ja und das dritte, dritte Problemanzeige des Theotops, in dem wir leben, auch nach innen wird das, was das Theotop auszeichnet, also die Art und Weise, wie wir Gott verstehen, wie wir versuchen aus einem Gottesbewusstsein heraus zu leben, auch nach innen wird diese Fragestellung immer komplizierter. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen eindeutig, bis hin in die Kernmilieus evangelischer und katholischer Provenienz, bis hin in die Kernmilieus werden die Grundaussagen des Christentums immer fragwürdiger, immer unverständlicher.

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Was das sein soll? Gnade. Ob man an eine Auferweckung aus dem Tod glaubt. All diese grundzentralen Wahrheiten sind selbst im Theotop immer umstrittener, immer unklarer, immer weniger deutlich. Ich sage Ihnen ganz offen, was mich an diesem Begriff des Theotops reizt. Meine systematischen Theologenfreunde und Kollegen evangelischer wie katholischer Provenienz, wenn ich mir sie so anschaue, die allermeisten verstehen sich wie folgt, und meine Kollegin Augsburg hat das direkt so formuliert, sie hat gesagt, ich bin ein Hüter des Theotops. Also was versucht die systematische Theologie? Sie versucht umso stärker nach innen die Sprache traditionsbewusst und klärend am Leben zu halten. Ich bin kein Systematiker, ich bin ein Religionspädagoge und das gern. Warum? Weil ein Religionspädagoge, eine Religionspädagogin

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über die Mauern gehen muss, ständig an der Frage arbeiten muss, wie geht Vermittlung nach außen? Das finde ich reizvoll. Das macht, finde ich, Spaß und das weckt Kreativität. Davon möchte ich Ihnen einiges zeigen. Im Bewusstsein, dass das Theotop existiert, aber in dieser dreifachen Krise ist ein Überlegen, wie kann man dagegen in Leben, in Denken, in Reden angehen? Wie möchte ich das machen? Möchte Sie zunächst in eine kleine Sprachschule hineinnehmen, in eine Sprachschule des Redens über Gott. Ich bin jetzt noch nicht direkt bei Kindern, ich weiß, aber wenn Sie überlegen, wie man mit Kindern über Gott reden kann, dann müssen Sie glaube ich erstmal für sich die Frage klären, wie kann ich denn für mich von Gott denken und reden? Wenn Sie das nicht wissen, wie wollen Sie dann mit Kindern über Gott reden? Also ich nehme Sie hinein in eine sechsschrittige, kleine, kreative, poetische

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Sprachschule der Gottesrede. Ich möchte mit zwei kleinen erzählerischen Szenen einsteigen, die eine ist eine autobiografische, die andere wird mich zu einer faszinierenden, großen, wöchentlichen Frau führen. Meine eigene biografische Szene vorweg. Ich bin 55 Jahre alt, vor 36 habe ich Abitur gemacht im schönen Hamm in Westfalen und wir haben uns letztes Jahr mit meinen Mit-Abiturienten, das war damals noch eine rein männliche Schülerschaft, wir haben uns getroffen um 35 Jahre Abitur zu feiern. Mein Lebensweg ist so gewesen, ich bin gleich mit 19 aus Hamm weggegangen und auch nie wieder zurückgekehrt, außer natürlich zu besuchen bei meinen Eltern und ich habe viele meiner Mit-Abiturienten zum Teil 30 oder 35 Jahre lang nicht gesehen. So vielleicht kennen Sie solche Situationen, man trifft Weggefährtinnen, Weggefährten nach langer Zeit wieder und man kommt natürlich ins Gespräch, was machst

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du, was zeichnet dein Leben aus? Und so wurde auch ich gefragt, ja was machst du? Ich sage, ich bin Theologie-Professor. Haha. Also viele konnten das erstmal gar nicht glauben, dann noch katholischer Theologie-Professor, klingt für manche noch abstruser. Und mit zweien, mit zweien ergab sich ein ernsthaftes Gespräch. Ja normalerweise ist klar, solche Gespräche bleiben auf der Floskellebene oberflächlich, aber zwei wollten wissen, warum machst du das? Konntest du nichts anderes? Ist dir nichts Besseres eingefallen? Aber dann wollten sie wirklich auch wissen, heute im 21. Jahrhundert, nach all den aufklärerischen Denkprozessen des Menschen, du bist ja auch nicht ganz blöd, da bist du Theologie-Professor, da bist du ein gläubiger Christ. So und das ist interessant, eine solche Situation. Mit welcher Sprache können Sie denn jetzt einem Menschen etwas vermitteln, was Ihre eigene Herzenswahrheit ist? Aber Sie wissen, dieser andere Mensch, der ist vielleicht noch schwach christlich-religiös

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geprägt, aber eigentlich nicht praktizierend und findet diese Welt seltsam. Mit welcher Sprache machen Sie das? Wie kann man mit anderen Menschen so über Gott reden, dass das Ganze verständlich ist und das klar wird, erstens es hat was mit Denken zu tun, aber zweitens natürlich mit Herzenswahrheit. Also, überlegen Sie mal ganz kurz in Ihrer letzten Wochen, Wochen, Monaten, solche Situationen ein ernsthaftes Gespräch mit jemandem, der Ihre Lebensentscheidung, Ihre Lebensgrundlage nicht teilt. Ein Versuch jemandem etwas deutlich zu machen, was für Sie zentral wichtig im Leben ist und was der oder die andere kaum kennen kann. Wie macht man das? Welche Sprache steht uns zur Verfügung? Und wie geht das ohne gleich natürlich missionarisch zu versuchen, den oder die andere in meine Welt hineinzuziehen? Denn so viel Respekt

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habe ich natürlich von meinen Mit-Abiturienten gehabt und auch übrigens vor allen Menschen, dass ich sehr wohl von meinem Glauben erzähle, aber dass ich deswegen natürlich nicht erwarte, dass der andere die andere all das gleich selbst in sein Herz übernimmt und dann wäre ja sein bisheriges Leben doch irgendwie fehlgeleitet gewesen. Also, kleine biografische Überlegung, wie machen Sie das eigentlich, wenn Sie in solchen Gesprächen sind mit Menschen, die nicht Ihre Lebensauffassung als Christin, als Christ teilen, dass Ihnen zentral Wichtige in Worte zu fassen? Jetzt möchte ich mit Ihnen in meine, das Angebot meiner Sprachschule in Sachen Gottesrede mit Ihnen einsteigen. Ich habe es schon gesagt, ich möchte eine zweite biografische Szene erzählen, diesmal aber nicht aus meinem, doch eher ein bisschen spießbürgerlich langweiligen Leben, es ist wirklich so. Nein, nein, eine faszinierende

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Frau möchte ich Ihnen vor Augen stellen, Silja Walter. Im katholischen Kontext ist das eine Person, die gut bekannt ist, unter anderem deshalb, weil einige ihrer Texte in den Gesangbüchern enthalten sind. Ich denke aber, ich sollte Ihnen diese Frau kurz vorstellen, aber nein, ich möchte eigentlich gar nicht mit dieser Frau einsteigen, sondern mit ihrem Vater, um diese Frau verstehen zu können. Und die Voraussetzung zur Sprachschule, da müssen wir ein bisschen was über ihre Hintergründe verstehen. Otto Walter, Otto Walter eine große Gründerfigur aus der Schweiz, aus Olten, eine Figur, stark gewesen um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert, der den Walter Verlag in Olten gegründet, einen der wichtigsten christlichen Verlage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und er war ein starker Unternehmer, wie es damals viele gab, bei Buddenbrooks können Sie das in etwas anderem Kontext sehr schön nachlesen. Otto Walter, also ein Mann, der glaubt im Aufbrechen der Moderne, alles selbst gestalten zu können. Nationalrat, natürlich in der Schweizer

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Armee, in der katholischen Kirche ein zentral wichtiger Laienvertreter, einer, dem alles gelingt. Wie Männer damals sind, die so etwas aufbauen, leben sie unter einer Utopie. Die Utopie der damaligen Generation heißt, wofür mache ich das alles? Nicht für mich, für meine Kinder. Ich baue etwas auf, das meine Kinder erben sollen und was ich gerade gesagt habe, ist nicht genau genug. Nicht für meine Kinder, sondern für meine Söhne. Wenn Sie diese ganzen Firmenbezeichnungen XY plus Sohn sehen, das sind alles Familien mit ähnlichen Hintergründen. Eine starke Gründergestalt baut etwas auf mit der Utopie, ich tue etwas für meine Kinder, nein für meine Söhne. So, und diesem Mann, dem so vieles gelingt, gelingt eines nicht. Was ich jetzt sage, ist ganz, ganz stark Vorsicht, perspektivisch im Blick auf diesen Mann geprägt, nicht auf mich. Diesem Mann passiert etwas im damaligen Kontext Furchtbares. Natürlich, wie es damals so üblich ist, er hat eine große Familie,

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Jahr für Jahr wird ein Kind geboren. Innerhalb von zehn Jahren acht Kinder, aber alles Mädchen. Ich denke gerade, die Frauen unter Ihnen können vielleicht nachfühlen, was das für eine Familie bedeutet. Damals wusste man noch nicht, wie das Geschlecht des Kindes werden würde. Immer wieder hat die Frau natürlich das Gefühl gehabt, endlich werde ich meinem Mann seinen wichtigsten Wunsch erfüllen, endlich den Stammhalter gebären, auf den die ganze Utopie dieser Familie hinzielt und immer wieder ein Fehlschlag. Nachzulesen, wie diese Familie mehr und mehr zerbricht unter dieser wachsenden Erfahrung, ist wirklich unter die Haut gehend und man hat die Möglichkeit, sich einzufühlen in damalige Lebensgefühle. Die zweite unter diesen acht Mädchen ist Silja Walter. Aber Sie ahnen schon, die Geschichte ist natürlich noch nicht zu Ende erzählt, der Familie. Dann wird ein neuntes Kind geboren und das neunte ist endgültig dann der ersehnte Stammhalter. Und kaum überraschend, welchen Namen wird

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er bekommen? Natürlich den des Vaters Otto F. Walter, das F. Friedrich von meinem Patenunkel. Und vielleicht ahnen Sie auch schon, wie seine Familiengeschichte sein wird, die des Sohnes, acht ältere Schwestern. Dann natürlich dieser Erwartungsdruck, der sich seit Jahrzehnten angestaut hat auf ihn selbst. Er wird versuchen, den Ansprüchen, die an ihn gestellt sind als Christ, als Sohn, als Familienmensch, als Politiker, er wird dem zu entsprechen versuchen und er wird radikal scheitern. Er wird mit Mitte 20 aus dem väterlichen Betrieb ausscheiden, er wird die Schweiz für immer verlassen, er wird einer der führenden Köpfe der 1968er-Generation in Frankfurt, ein Sozialist, getrieben von dem Wunsch nach Verbesserung der Lebensbedingungen, aber mit einem zentralen Bruch im Blick auf alles, was die Welt seines Vaters ausgezeichnet hat. Er verlässt die Kirche, er verlässt das demokratische Prinzip der Schweiz, er verlässt

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eben all die Werte, für die der Vater steht. Ihr Weg, die große Schwester, die zweitälteste Silja, verläuft völlig anders. Jahrgang 1919, sie schafft es, als eine der ersten Frauen in der Schweiz studieren zu dürfen, in der Schweiz durften Frauen das noch nicht so lange, und als sie das Lehrerinnen-Seminar, an dem sie studiert hat, verlässt, da sagen alle eine brillante junge Frau, der stehen alle Wege offen. Ja, das weiß sie auch. Aber am Tag, als sie ihr Lehrerinnen-Examen ablegt, gibt sie bekannt, dass sie mit diesem Tag in ein Benediktinerinnen-Kloster eintreten wird, eine bewusste Entscheidung für eine Existenz als Ordensfrau, für eine Existenz im Dienste für Gott, so schildert sie das, und dort wird sie in strengster Klausur 60 Jahre lang leben, im Kloster Pfarr bei Zürich. Sie wird eine der wichtigsten christlichen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts,

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ihr Werk umfasst so locker mal zwei Buchmeter in einem guten Bücherregal, geistliche Spiele, Meditationen, Gedichte. Ein Schriftsteller wird auch der Bruder. Warum erzähle ich Ihnen so ausführlich von dieser Konstellation? Weil der Schweizer Rundfunk 1982 auf eine interessante, ein faszinierende Idee kommt. Wie wäre es denn, wenn wir diese beiden Geschwister, die sich 20 Jahre nicht gesehen, nicht gesprochen haben, wenn wir sie zusammenführen zu einem Gespräch, zu einem Gespräch über Familie, Politik, Entwicklung der Zeit der Gesellschaft im 20. Jahrhundert und natürlich Religion. Die beiden erinnern sich unabhängig voneinander an eine Restsympathie. Er hat mit vielen anderen der Schwestern und der Mutter gebrochen. Sie erinnern sich an eine Restsympathie und sagen, ja, wir lassen uns darauf ein. Er wird zu ihr in das Kloster Pfarr nach Zürich reisen. Sie kann es ja wegen der strengen Klausur nicht verlassen. Sie werden vier Stunden miteinander reden. Es wird ein Gespräch

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aufgezeichnet, dem Rundfunk gesendet, dann als Buch publiziert, eine Insel finden. Eine Insel finden wird dieses Gespräch heißen, als Buch. Und nach diesen vier Stunden intensivsten Austausches werden sie sich nie wiedersehen. Zwei Geschwister, getrennt durch völlig verschiedene Lebenswege. 20 Jahre haben sie sich vor dem Gespräch nicht gesehen und danach, er wird 1994 sterben, auch keinerlei direkter Kontakt. Was für eine Familiengeschichte. Warum ist das für unsere Fragestellung so interessant? Weil Silja Walter, die Ordensfrau, die Gottgläubige, die Christin, sich etwas vorgenommen hat. Sie weiß, ihr Bruder versteht nicht, warum sie diesen Lebensweg gemacht hat. Alle Wege hätten dir offen gestanden. Was hättest du bewirken können in der Welt? Und sie will ihm begreiflich machen, warum bin ich ein Gottgläubiger Mensch? Warum lebe ich so, wie ich lebe? Also in einer ganz anderen Dringlichkeit

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diese Frage, wie kann ich über Gott reden zu einem Menschen, der mir nah ist, dem ich wirklich mich verständlich machen möchte? Welche Sprache habe ich dafür? Das nachzulesen ist sehr eindrücklich. Wie gesagt, man kann das ganze Gespräch nachlesen, bis heute noch in vielen Ausgaben in einer Insel finden, möglich. Ich möchte mich auf ein zentrales Zitat konzentrieren. Ich werde es Ihnen vorlesen, wahrscheinlich zweimal. Sie haben es auch vor sich und möchte von diesem Zitat aus mit Ihnen eine kleine Sprachschule in den Fußspuren Silja Walters über die Möglichkeit, von Gott zu reden, entwickeln. Also hier ist sie, die Ordensfrau, hier ist er, der einige Jahre jüngere Bruder, der diesen Gottesglauben als Kind auch gut kannte und praktiziert hat, dessen intellektueller Lebensweg aber völlig anders gelaufen ist, der jetzt sich nicht mehr als gottgläubiger Mensch verstehen kann. Silja Walters spricht. Ich kann das Absolute nicht beschreiben und trotzdem, trotzdem bemühe

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ich mich immer wieder einen Ausdruck dafür zu finden. Nicht Begriffe, nein, vor allem nicht alte Begriffe. Lieber nicht von Gott reden als in der alten, verdreschten, verbrauchten Sprache. Ich bemühe mich vielmehr um das Finden von neuen Bildern und Symbolen, aber da bleibt trotzdem eine Unzulänglichkeit und unter dieser Unzulänglichkeit über Gott reden zu können, leide ich. Sechs Schritte der Sprachschule, wie kann man über Gott reden mit Silja Walters. Ich werde gleich das Ende des Gesprächs vorausnehmen. Sie wird scheitern. Sie wird das nicht schaffen, was sie sich zutiefst vorgenommen hat, ihrem Bruder verständlich zu machen, warum sie ein gottgläubiger Mensch ist. Aber es wird

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nicht der letzte Schritt sein. Gehen wir mit ihr die fünf Schritte. Ich werde sie natürlich ausdeuten. Das erste, meine Damen und Herren, auch wenn Sie ein sehr gläubiger Mensch sind, ich hoffe, diesen ersten Einsichtsschritt der Gottesrede gehen Sie mit Silja Walter. Ich als Mensch, auch ich als gläubiger Mensch, ich kann das Absolute nicht beschreiben. Hätte ich eine Sprache, Gott, das Absolute so zu beschreiben wie einen Tisch, einen Gegenstand, ja selbst wie einen anderen Menschen, hätte ich diese Fähigkeit, dann wäre ich brillant, dann wäre ich genial, aber es ist uns Menschen nicht gegeben. Das absolute Gott so zu beschreiben, dass es absolut eindeutig wäre, verstehbar, klar, das können wir Menschen nicht. Wie gehen wir mit dieser Einsicht um? Es gibt zwei Wege, beide sehr gut verständlich und beide intellektuell absolut redlich. Den ersten Weg hat einer der größten Philosophen des

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20. Jahrhunderts in einen perfekten Satz gegossen, ein Philosoph, der eine umfassende Philosophie hinterlassen hat, von der ich überhaupt gar nicht sprechen will, sondern diesen einen wirkmächtigen Satz möchte ich herausgreifen, Ludwig Wittgenstein, Österreicher. Seine Konsequenz aus dieser ersten Einsicht, ich kann das Absolute nicht beschreiben, ist absolut stringent. Er sagt, wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Also, wenn ich das Absolute nicht beschreiben kann, wenn die Dimension Gottes mir in meinem menschlichen Verstand und in meiner menschlichen Sprache nicht so zur Verfügung steht, dass ich präzise formulieren kann, als Philosoph, als Mensch, als Denker, dann muss ich schweigen. Darüber darf ich nichts sagen. Ich bin da kein Atheist, aber dieser Bereich entzieht sich meiner Sprach- und Denkfähigkeit. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Viele Menschen aller Kulturen, gerade aber auch des 20. und 21. Jahrhunderts, folgen dieser Vorgabe.

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Ganz selten gibt es Menschen, die sagen, ich weiß ganz genau, es gibt nichts über uns Menschen hinaus. Aber viele sagen, ich weiß es nicht, ich halte es mir vielleicht offen, aber etwas genaueres darüber zu sagen, das kann ich nicht. Ich bin Mensch. Also, ein erster Weg, ja, ja, nachvollziehbar. Und ich kenne viele Menschen, die diesen Weg gehen, vor denen ich hohen Respekt habe. Aber Sie spüren schon in meiner Rhetorik und in der von Silja Walter natürlich auch, ein gläubiger Mensch kann diesen ersten Weg eigentlich nicht mit vollem Herzen mitgehen. Das Neue Testament selbst schreibt uns vor, mit Silja Walter einen zweiten Schritt zu gehen, in 1 Petrus 3,15, Sie kennen diese Passage vielleicht, heißt es sinngemäß, seid stets bereit, Auskunft zu geben über den Glauben, der euer Herz

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bewegt. Also, ein gläubiger Mensch, der kann eigentlich nicht diesen schweigenden Schritt mitgehen, eine rein negative, eine rein verstummende Theologie, das ist nicht der Weg, der eigentlich das Herz des Christentums prägt. Deswegen Silja Walter und ich gehe mit ihr mit, ich denke, die meisten von Ihnen auch, der zweite Schritt der Gottesrede. Trotzdem bemühe ich mich immer wieder, einen Ausdruck dafür zu finden. Trotzdem, im Wissen, dass wir Gott nicht definieren und fassen können, bemühen wir uns in unserem Leben, Denken, Handeln, immer wieder einen Ausdruck für Gott, die letzte Wahrheit zu finden. Bis hierhin, glaube ich, gehen viele von Ihnen mit. Ob Sie den dritten Schritt mitgehen, das weiß ich nicht. Überprüfen Sie sich. Ich selbst gehe hier natürlich mit Silja Walter mit, sonst hätte ich mir Ihr Zitat nicht ausgesucht. Also, Ihr dritter Weg der Gottesrede, nicht Begriffe,

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vor allem nicht alte Begriffe, lieber nicht von Gott reden, als in der alten, verdreschten, verbrauchten Sprache. Silja Walter macht die Erfahrung, die viele Menschen, die innerhalb des Theotopes leben, machen. Ja, ja, wir haben alte, ehrwürdige Vokabeln, Begriffe, vielleicht wissen wir auch noch, wie sie funktionieren. Aber wir haben das Gefühl oder viele haben das Gefühl, diese alten Begriffe, ja, sie sind, Silja Walter hat ein wunderbares Bild, verdrescht, ein Bild aus der Landwirtschaft. Ja, da ist eigentlich das Korn zusammen mit dem Spelz, aber was passiert, wenn man ein Korn gedroschen hat, dann bleibt nur noch die fruchtlose Hülle. Und das, was eigentlich Leben spenden soll, ist rausgefallen. Viele Menschen empfinden die klassische, die alte Sprachen der Kirchen genauso. Man kann spüren, dass sie mal Leben befördert haben, dass da mal ein Korn war, das Leben getragen hat. Aber was heute passiert, ist vielfach ein Austausch einer verdreschten, einer verbrauchten

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Sprache. Und Silja Walter sagt, wenn das so ist, wenn wir nur noch das haben an Sprache, Spuren, an Resten, das eigentlich nicht mehr nährt, eher dann lieber nicht alte Begriffe. Heißt nicht, dass wir die über Bord werfen müssen, nein, nein. Aber eben ein anderer Weg. Wer glaubt, mit den ganzen alten Sprachbegriffen heute Religion prägen zu können, so kann man mit Silja Walter formulieren, der soll das tun, aber er muss sich nicht wundern, wenn es nicht funktioniert. Das Lebenserhaltende der Sprache ist selten nur noch spürbar. Vierter Schritt der Sprachlehre. Ich, sagt Silja Walter, ich bemühe mich vielmehr um das Finden von neuen Bildern und Symbolen. Da, meine Damen und Herren, bin ich zu Hause. Das ist der Reiz eines religionspädagogischen Tuns, eines Arbeitens an eigener Spiritualität, am Versuch, mit anderen Menschen Religion lebendig erfahrbar werden zu lassen. Das Finden von neuen Bildern und Symbolen, die ja vielfach verbunden sein mögen mit biblischer Tradition,

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aber vielleicht verschüttete Tradition, die sich vielleicht finden lassen in traditionellen Faltungen des Christentums, nur eben in Bereichen, die vielleicht eben nicht mehr ganz bekannt sind. Also neu heißt nicht ganz kreativ, noch niemand hat das gedacht. Neu heißt vielleicht in unserer Lebenssituation neu betont. Meine Erfahrung ist, das macht ungeheuer viel Freude, Spaß, mit Kindern, mit Jugendlichen, mit Erwachsenen nach solchen Sprachformen des Glaubens zu suchen, Ausdrucksformen, die eben nicht verdrescht und verbraucht sind, sondern vielleicht das vermitteln können, was im Kern Leben stiftet. Jetzt war ich gerade bei Sie, Herr Walter, im vierten Schritt bei der Pendelbewegung im Blick auf Optimismus. Wenn Sie Ihr Zitat untersuchen, merken Sie, es schwingt ständig hin und her. Pessimismus, Skepsis, Zweifel und dann der Versuch, Optimismus dagegen

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zu setzen. Ja, ja, also, wäre das Zitat hierzu endlich, bemühe mich um das Finden von neuen Bildern, Symbolen, dann wäre auch mein rhetorisch-optimistischer Schwung natürlich schön angenehm, aber er wäre noch nicht ganz authentisch. Fünfter Pendelbewegung, fünfter Schritt, da bleibt trotzdem eine Unzulänglichkeit und unter dieser Unzulänglichkeit über Gott reden zu können, leide ich. Ich sage das rhetorisch ein bisschen überspitzt. Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Gedanken überhaupt nicht kennen, dann sind Sie mir unheimlich. Die Unzulänglichkeit über Gott reden zu können als akademischer Theologe, als Familienvater, als Lehrer, als Professor, als Freund, ja, ja, ich weiß, wovon die Rede ist. Und das hat nichts zu tun mit Rhetorik, das hat zu tun mit der Fähigkeit, über etwas aus dem

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Herzen so zu sprechen, dass andere einen Zugang dazu haben können. Und es ist Teil eines jeden religiösen Redens über Gott. Und wenn man sich das nicht vor Augen stellt, glaube ich, wird man auch unglaublich frustriert. Wenn Sie glauben, es ist nur eine Frage Ihres optimalen Redens von Gott und dann wird alles gelingen, dann werden Sie scheitern. Die Gottesrede selbst hat diesen Schritt in sich. Es gibt eine Unzulänglichkeit, die etwas mit der größeren Größe Gottes zu tun. Und das heißt schon, ja, doch, jemand, der religiös, in religiöser Vermittlung arbeitet, sei es in der Familie, sei es im Beruf, der wird diese Erfahrung kennen, dass das auch eine leidvolle Erfahrung ist. Wenn Sie Bilder von Silja Walter sehen, dann werden Sie allerdings merken, eine Frau, die von innen strahlt. Keine sauer-töpfische Ordensfrau, das genaue Gegenteil. Und ich selbst nehme mich zumindest auch nicht als

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pessimistischer Theologe wahr. Also dieses Leiden, das muss nicht heißen sozusagen ständig mit frustrierter Miene durch die Gegend zu laufen. Und es ist auch noch nicht der letzte Schritt. Aber kleiner Zwischengedanke, die Unzulänglichkeit, über Gott reden zu können. Die Kirchen wissen, dass das ein direkter Teil von Gottes Rede sein muss. Und die Kirchen sind so großartig, auch die Glaubenslehre, die Dogmatik ist so großartig, dass sie sich immer schon Rechenschaft darüber abgelegt hat. Sie hat es getan in einer Formulierung eines Satzes, der so fundamental ist, dass ich glaube, jede theologische Lehre muss mit diesem Satz beginnen. Oder sie muss zumindest ein Gefühl für diesen Satz erkennen lassen. Den habe ich Ihnen auch, weil er so wichtig ist, im zweiten Fall nochmal vor Augen gestellt. Wir sind auf der Höhe der Kirche noch vor reformatorischer Trennung, im Jahr 1215. Das Laterankonzil, das vierte Laterankonzil, die Kirche auf der Höhe der Macht mit aller

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Ambivalenz. Und sie denkt darüber nach, was kann man als Theologe, auch als Dogmatiker, ja selbst als Papst, in Sprache fassen und was nicht. Und sie formuliert diesen großartigen, aber schwierigen Satz. Auf Deutsch lautet er so. Zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre. Jaja, Sprache des Theotopes, ja. Ich lese nochmal und versuche dann mit meiner einfacheren Sprache das Ganze nochmal auszudrücken. Zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre. Was heißt das? Wenn ich in meiner menschlichen Sprache über Gott rede, ich Geschöpf, über den Schöpfer, dann muss ich immer wissen,

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was immer ich über Gott sage und denke ist mehr falsch als wahr. Die Unähnlichkeit ist immer größer als die Ähnlichkeit. Wenn ich von Gott als Du rede, wenn ich von Gottes Liebe rede, wenn ich von Gottes Allmacht rede, von Gottes Gerechtigkeit rede, dann weiß ich, ich habe doch nur mein menschliches Denken und Sprechen. Und ich darf es auch auf Gott anwenden, vielleicht muss ich es sogar. Wenn ich mir denn bewusst bleibe, ich spreche von einer Realität, die unendlich größer ist als das, was ich denke, was ich erfassen kann. Das kann man auch Demut nennen. Unsere Sprache, unser Denken darf sich Gott genauso annähern, wir haben ja keine andere, solange wir wissen, dass unsere Sprache eine Annäherung ist, die immer nur Annäherung bleibt und Gott eine größere Größe ist als unser Denken und Sprechen erfassen kann. Warum hat die Kirche dieses Dogma erlassen, das eben auch für beide Konfessionen richtungsweisend ist? Nicht, um sozusagen theologisches Sprechen

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im Keim zu ersticken, im Gegenteil, um es zu ermöglichen. Wenn ich das weiß, wenn ich weiß, mein Denken, mein Formulieren, meine Sprache darf sich immer wieder neu um Gott herumgruppieren, an Gott herantasten, wunderbar. Wenn ich denken müsste, meine menschliche Sprache fixiert den Gegenstand Gott wie etwas in Definition, da müsste selbst der klügste Theologe sofort die Hand auf den Mund legen. Das kann man nicht. Also was für eine wunderbare Klärung dessen, was zwischen Gott und Mensch an Sprache möglich ist, Annäherungssprache, Gehtsprache, Symbolsprache, Suchsprache. Und sie ist richtig, wir sollen von Gott natürlich als gutem Gott sprechen, wieder nicht. Es ist richtig von Gott zu sprechen als mächtigem Gott, wieder nicht, solange wir wissen, dass sich diese Kriterien und Attribute nicht an

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unseren menschlichen Definitionen halten. Also das ist die Unzulänglichkeit über Gott reden zu können, aber gerade nicht im Sinne eines Niederdrückens menschlicher Sprache im Ermöglichen unseres Denkens. Ich sage eine kleine Bemerkung in Klammern. Jeder Katechismus, der diese Sprachregel nicht thematisiert oder nicht bedenkt, führt in die Irre. Jeder. Weil er sich an Gott vergreift. Die größere Größe Gottes verlangt ein Wissen darum, es geht nicht um ein Definieren. Und der Katechismus, eine Predigt, eine Ansprache, ein päpstliches Dekret, das diese Sprachregel nicht bedenkt, verstößt eigentlich gegen den Grundsatz, den beide Kirchen wissen. Überprüfen Sie Ihre theologische Lektüre nach dem Kriterium. Ich gebe mit Ihnen die fünf Schritte, die wir gegangen sind. Eine Schwester im Gespräch

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mit ihrem Bruder. Ein Versuch, den Gottesglauben begreiflich zu machen. Das erste, das eingestellt ist, ich kann es nicht beschreiben. Das zweite, ein Bemühen um immer neue Ausdrücke, Bilder. Das dritte, eine Absage gegen alte Bilder, wenn sie denn verdrescht sind, wenn sie nichts mehr zu sagen haben, wenn sie nicht mehr lebensförderlich sind. Das vierte, das Bemühen um neue Bilder, neue Symbole, neu im Sinne von Lebens ermöglichend. Das fünfte, ein bleibendes Wissen um die Unzulänglichkeit und ein Leiden unter dieser Unzulänglichkeit. Hier endet das Zitat. Hier endet das Gespräch zwischen Bruder und Schwester, aber hier endet nicht die Sprachschule Silja Walters. Wenn man nachliest, wie es den beiden gegangen ist nach diesem Gespräch, das unglaublich intensiv gewesen sein muss, wenn man das nachliest, dann spürt man bei ihr ein Bewusstsein

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großer Unzufriedenheit. Ja, das, was sie zentral wollte, ihrem Bruder verständlich zu machen, warum lebe ich so, wie ich lebe? Warum bin ich ein gottgläubiger Mensch und das nicht aus Verlegenheit, nicht aus Schwäche, sondern aus Tiefenüberzeugung und aus Stärke? Das ist ihr nicht gelungen. Also es bohrt in ihr, es gärt. Aber sie gibt einer Erfahrung und Ausdruck, die sie vielleicht auch aus ihrem Leben kennen. So wichtig Gespräche und Begegnungen sind, ja, ja, zentral, Mensch zu Mensch. So sehr haben sie ihre Grenzen. Und so sehr gibt es bestimmte Bereiche, die nicht im Dialog zu klären sind. Silja Walter setzt sich hin, im Kloster, so denke ich mir das, und schreibt ihren wichtigsten, ihren dichtesten, ihren besten Gedichtband überhaupt. Der wird zwei Jahre später erscheinen, 1985, der Titel wird lauten Feuertaube und der Untertitel wird lauten Für meinen Bruder. Also, ihr

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sechster Schritt heißt, was im Gespräch nicht gelangt, braucht eine neue Form, eine andere Form, in ihrem Fall, sie ist Lyrikerin, Gedichte. Ein faszinierender Band, lesen sie ihn nach, keine einfachen Texte, aber sie ahnen schon, einfache Texte, das geht jetzt auch nicht. Mystische Texte, verdichtete Texte, Texte, die ein Einfühlen, eine tiefen Wahrnehmung von innen verlangen, aber reizvoll. Was heißt das für mich in meiner Sprachschule mit dem sechsten Weg mit Silja Walter? Ich gehe zurück auf Ludwig Wittgenstein, aber ich formuliere einfach mal frech anders. Der sechste Weg der Sprachschule mit Silja Walter lautet, wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man dichten. Wovon man nicht sprechen kann, im Blick auf philosophisch-analytische Rede, davon muss man dichten, verdichten, verdichten, in ihrem Fall in lyrischer Sprache. Es gibt sicher andere Sprachformen von Verdichtung.

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Und ich gehe diesen sechsten Schritt noch weiter, jetzt über die Szene mit Silja Walter hinaus. Es gibt, glaube ich, eine zweite zentrale Urform, wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man dichten, oder andere Alternative, wovon man nicht sprechen kann, davon muss man erzählen. Was sind die Urformen religiöser Rede? Was sind die Urformen, in der Gott begreifbar, umkreisbar ist? Nicht die analytische Rede. Nicht die Sprache der Dogmatiker und Philosophen, die brauchen wir auch, aber es sind nachgeordnete Sprachspiele. Nicht die Sprache der Katechismen, nachgeordnete Sprachspiele. Dichtung und Narration, das Verdichtete, das nur von innen her verständlich ist, das ein Einfühlen mit dem Herzen erfordert. Das ist die Sprache, die auf Gott hinführt, oder eben die Narration, die Erzählung, die nochmal ein ganz eigener Zugang ist. Wenn ich das so sage, erwarte ich, dass ich bei Ihnen ganz

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offene Türen einrenne. Warum? Ja, weil das natürlich die beiden Urformen biblischer Rede sind. Die Bibel ist kein Lehrbuch der systematischen Theologie. Die Bibel ist kein Lehrbuch der Dogmatik. Lassen wir mal den gänzlich unpoetischen Paulus aus und vor. Die Bibel ist hauptsächlich, nicht nur, ich weiß, keine Vereinfachung, das ist ein so breites Buch, natürlich kennt es verschiedene Sprachformen, aber sie ist hauptsächlich ein Buch, das die Gotteserfahrung verdichtet in lyrisch-poetischer Form. Denken Sie an die Psalmen, denken Sie aber auch an sonstige tiefen Reden, tiefen Sprachbilder. Oder eben ein Buch, das von Gott erzählt. Die Urformen der religiösen Rede, mit Celia Walter hergeleitet, aber auf etwas führend, was wir in der Bibel natürlich genauso finden, es sind verdichtete

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Sprachformen und es sind erzählende Sprachformen. Nochmal, ja, ja, wir brauchen auch das andere. Natürlich brauchen wir eine systematisierend, verstandesmäßig klärende Theologie, um Gottes Willen, bloß keine Absage gegen ein Verstehen von Religion. Das braucht es, das ist entscheidend wichtig. Wenn sich dieses Verstehen bewusst bleibt, dass es Sprachformen bedient, die nachgeordnet sind und die ihre Grenze von vornherein gesteckt haben. Verdichtung und Erzählung laden ein, dass man in sie hineinsteigt, dass man in ihnen sich selbst auf den Weg begibt zu dem, was sie nur andeuten können. Und jetzt, meine Damen und Herren, merken Sie hoffentlich, jetzt bin ich mitten in meinem Thema. Mit Kindern über Gott reden. Ja, wir brauchen auch Glaubenssätze. Nochmal nichts dagegen. Aber was Kinder vor allem brauchen, sind sprachliche Angebote, in denen sie mit uns zusammen auf dem Weg einer Annäherung

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an Gott sind und sie dürfen spüren, dass es auch für uns ein Weg der Annäherung ist, nicht des Fixierens. Lyrische Texte. Kinder haben schon ein ungeheuer starkes Gespür für die Vieldeutigkeit einer poetischen Rede. Erzählende Texte. Kinder sind ganz offen dafür, in Erzählung ihr Weltbild aufzubauen. Das wissen wir übrigens entwicklungspsychologisch ganz genau. Kinder bauen ihr Weltbild nicht auf mit Sätzen, sondern mit Erzählungen. Also, sechs Wege einer Sprachrede, einer religiösen Sprachrede entwickelt aus der Literatur hin auf diese zwei Grundüberzeugungen. Das Entscheidende ist die Sprachform des Gedichts, der Poesie, der Lyrik, des sich Einfühlens im verdichteten Wort. Das Entscheidende und biblisch Ursprüngliche

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ist die Erzählung. Ich gehe mit Ihnen einen großen zweiten Schritt. Ich gehe mit Ihnen auf die Frage, die ich natürlich schon angebahnt habe, was heißt das jetzt für Erziehung und Bildung? Was heißt das im Umgang mit Kindern und Jugendlichen? Und nachdem ich jetzt gerade eine gewisse Zeit mit Ihnen neuer schon ganz schön komplexe theologische Sachverhalte erschlossen habe, steige ich wieder ein mit einer erzählenden Szene. Also, wenn das Vorgaben sind, was heißt das für Erziehung, was heißt das für unseren Umgang mit Kindern und Jugendlichen? Ich steige ein in diese zweite große Fragestellung mit einer autobiografischen Szene mit meinen beiden Kindern. Das tue ich in transparenter Absprache mit Ihnen selbst. Also, ich habe gefragt, darf ich einiges von euch erzählen? Ihre Auskunft ist dann immer, solang uns

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da keiner kennt, schon. Hoffen wir mal, naja, dass das in dem Fall auch so eingehalten wird. Gut, also, meine Kinder sind inzwischen 21 und 16. Die Szene ist vor, jetzt muss ich sagen, 5, 6 Jahren gewesen. Damals gingen wir noch gemeinsam, wie man es als guter Katholik tut, sonntags in den Gottesdienst als Großfamilie, also zu viert alle zusammen. Mein Sohn damals, 11 Jahre, am Ende einer glücklichen, unbeschwerten, aber noch voll und ganz Kindheit, 11. Meine Tochter 15, mitten in einer, naja, Pubertät, wie Pubertäten ebenso sind. Also, zwei unterschiedliche Lebensphasen. Es ist irgendein kirchlicher Feiertag, ich weiß nicht mehr genau welcher. Wir kommen etwas spät. Und die zwei Möglichkeiten, die sich uns als Vierergruppe stellen, in der Kirche Platz zu nehmen, sind folgende. Zweite Reihe vorn, dritte Reihe hinten. Was rät mein 11-jähriger Sohn? Wo sollten wir uns hinsetzen? Was rät meine 15-jährige

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Tochter? Ich glaube, es gibt geschlechtsunabhängig nur eine einzige, sehr wahrscheinlich Antwort. Der Sohn, das Kind wird sagen, nach vorn. Die Tochter wird sagen, nach hinten. Warum ist das so? Eine Szene, an der wir ganz viel erkennen können, was Kindheit und Jugend, gerade auch in Sachen Religion, unterscheidet. Ich versuche mal den Originalton meiner Kinder, naja, aus Erinnerung heraus aufzurufen. Mein Sohn ungefähr so, Papa, wenn ich schon als Einziger aus meiner ganzen Klasse mit euch in diesem Gottesdienst muss, dann will ich wenigstens eins, etwas sehen. Was will das Kind, wenn es schon da ist? Sie merken schon, die Widerstände gegen das System wachsen, ja? Aber wenn ich da schon bin, dann will ich wenigstens eins, ich will was sehen. Ein Kind will direkt, unmittelbar, sinnlich wahrnehmen.

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Das ist das Schöne an Kindern, was wir übrigens als Eltern oft mit unseren Kindern auch nochmal ganz neu entdecken. Kinder sind aufgeschlossen, wie wir Erwachsene nie wieder, für die sinnlichen Eindrücke, die wir ihnen liefern. Ihre Sinne sind die Tore zur Welt und sie wollen, dass wir diese Sinne bedienen, etwa etwas sehen. Jugendliche, meine Tochter, Originalton ungefähr so, Papa, wenn ich schon als Einziger aus meiner ganzen Stufe mit euch in diesem Gottesdienst muss, dann will ich wenigstens eins, nicht gesehen werden. Was unterscheidet Kindheit von Jugend? Es gibt ganz viele Elemente, das wissen Sie. Aber einen, der für unsere Fragestellung nach Religion zentral wichtig ist. Ich habe gesagt, nochmal, das Kind schaut von sich aus auf die Welt, nimmt die Welt wahr, will, wenn schon, dann die Eindrücke der Welt direkt aufnehmen, in das Weltbild einbauen. Was passiert irgendwann im Leben von Jugendlichen oder

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im Übergang von Kindheit zu Jugend, bei manchen an einem Tag, bei manchen in einem halben Jahr? Eine radikale Veränderung der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Was passiert bei Jugendlichen? Plötzlich wird nicht mehr der Wunsch nach Eindrücken von außen entscheidend, sondern es läuft ein imaginärer, ein eingebildeter Film im Hirn ab. Dieser Film sieht wie folgt aus. Wie haben die, denen ich wichtig sein will, mich heute gesehen? Also nicht mehr ich will sehen, sondern ich will gesehen werden oder nicht gesehen werden. Mir ist entscheidend wichtig, dass wir die mir wichtigen mich sehen oder was sie über mich denken oder über mich hören. Und das Ganze ist nur ein eingebildeter Film. Die, denen ich wichtig sein will, die sehen mich vielleicht überhaupt nicht. Ich stelle mir als Jugendlicher vor, wie ich gesehen werde, wie ich auftauche. Und übrigens, die Tragödie von Pubertät und Jugend ist, dass die Antworten, die eingebildet sind, immer gleich sind. Ich bin zu klein, zu groß,

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zu dick, zu dünn, zu blond, zu braun. Das ist die Tragik von Jugend. Plötzlich das Gefühl zu haben, die, denen ich wichtig sein will, die sehen mich so, dass ich wertlos bin. Ich muss mich anpassen, aber ich habe fast keine Chance. Kindheit ist die wunderbare Zeit, wo die Eindrücke von außen mich prägen. Und Jugend ist die furchtbare Zeit, wo ich wehrlos meiner inneren Vorstellung ausgeliefert bin. Wie sehen die anderen, denen ich wichtig sein will, mich? Sie kennen wahrscheinlich den Fachbegriff, den die Soziologie oder Pädagogik dafür prägt. Diese Gruppe nennt man die Peer Group. To peer, bitte nicht mit ea schreiben, dann wäre es die Birnengruppe. To peer, mit ee geschrieben, heißt anstarren, genau sehen. Die Peer Group, das sind die Gleichaltrigen oder die etwas Älteren, von denen ich gesehen werden will, vor denen ich gelten will. Wodurch hat man ein Ansehen?

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Dadurch, dass man angesehen wird. Woraus ziehen Jugendliche ihr Selbstbewusstsein? Aus den Rückmeldungen von ihren Peer Groups oder aus den Einbildungen, wie ihre Peer Groups sie wahrnehmen? Was unterscheidet Kinder von Jugendlichen? Jugendliche schauen von sich auf die Welt und übertragen es sich in andere Sinne. Kinder, Jugendliche denken in ihrem Kopf diesen Film, wie die Welt sie sieht. Und nicht die ganze Welt, leider nicht mehr Papa und Mama, nicht mehr Lehrer und Lehrerin, sondern die Peer Group. Und das verändert alles an Wertigkeiten im Leben von Jugendlichen. Ein kurzer Seitenkommentar. Was ist das riesengroße Problem unserer Großkirchen, was einige Freikirchen weit besser lösen und hinbekommen als die Großkirchen? In unseren Großkirchen sind die Jugendlichen Peer Groups fast völlig verschwunden.

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Und selbst wenn es ihnen vielleicht als Eltern gelingt, Kinder noch in kirchliche und religiöse Vollzüge hineinzubringen, sobald sie jugendlich werden, merken diese Kinder, sie sind die Allerletzten. Sie bleiben übrig und dann bleiben sie auch nicht mehr übrig, dann gehen sie nicht mehr hin. Wenn die Peer Groups wegfallen, und das ist die Erfahrung in fast allen großkirchlichen Kontexten, sind die Jugendlichen weg. Freikirchen und andere ähnliche Institutionen, Organisationen schaffen das besser, haben eine stärkere Innenbindung auch von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das ist ein riesengroßes Problem und niemand in den Großkirchen hat eine Antwort darauf. Heißt, solange wir in den Großkirchen, aus denen ich stamme, das ist mein Erfahrungshintergrund ist, solange wir es noch haben, Peer Groups, Messdienergruppen, Pfadfinder, irgendwelche anderen Jugendorganisationen, in denen etwas ältere Jugendliche da sind, wir müssen alles tun, dass die in unseren Kirchen bleiben. Und alle Formen von Auflösungen in Großorganisationen

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sind ein Selbstmordunternehmen. Also wenn ich glaube, ich kann das alles delegieren für Einheiten von 30.000 Leuten, das funktioniert nicht. Vor Ort brauchst du Peer Groups. Was ist das Entscheidende für alle Formen von Jugendarbeit? So, Kindern von Gott erzählen. Sie ahnen vielleicht schon, mit Kindern ist das aus einem ganz bestimmten Grund nicht so kompliziert, mit Jugendlichen wird das sehr schwer. Weil Kinder eigentlich Wesen sind, die mit ihren Sinnen in einer direkten Neugier die Umwelt wahrnehmen, hängt das ganz vielfach durchaus an uns, ob wir erzählen können, ob wir Symbole gestalten können, ob wir liturgische Erfahrungsformen anbieten können, dass Kinder hineinwachsen und im Hineinwachsen eine Beheimatung finden können. Und nur in Erinnerung gerufen, einiges, was

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der Herr Schweizer Ihnen vielleicht schon gesagt hat, aber jetzt unter meiner Perspektive vielleicht nochmal einen neuen Klang bekommt. Also wie lernen Kinder unter dieser Vorgabe? Das erste, ich habe hier einiges formuliert, ich lese es und kommentiere es natürlich aber auch. Also was wissen wir über die Art, wie Kinder Gottes Geschichten, Gottes Gedichte, Gottes Texte, Gottes Handlungen aufnehmen? Kinder erschließen sich ihre Welt über bruchfreie Erzählung. Kinder brauchen Geschichten, Erzählungen, Märchen, Mythen, Abenteuergeschichten, sie brauchen eben auch die religiösen Ur-Erzählungen. Die Bibel ist ein wunderbares Werk von solchen Erzählungen. Warum brauchen das Kinder? Nun, mit ihnen bauen sie ihr ständig erweitertes Weltbild auf, sie benennen und deuten ihre konkrete Lebenswelt, ihre Sehnsüchte, Ängste, Identitätssuche, Empathie, Leiterfahrung und Hoffnung. Also, wie bauen Kinder ihr Weltbild auf? Nicht über Glaubenssätze, über Erzählungen, über das Hineinschwingen in Erzählungen mit Identifikation, mit bestimmten Erzählungen. So bauen Kinder ihr Weltbild auf. Kinder brauchen

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Geschichten. Von Gott musst du erzählen, von Gott darfst du erzählen. Das Vorlesen, das Erzählen, das Teilen von Kinderbibeln, es sind ganz klassische, aber entscheidende Schritte. Der zweite Punkt ist wichtig. Zumindest in den Großkirchen haben wir eine Versuchung, anders zu agieren. Warum? Also, nicht nur Kinder brauchen Erzählungen, sie brauchen eine bestimmte Art von Erzählung und Präsentation von Erzählungen. Nämlich, die meisten Kinder, je jünger, desto eindeutiger, verstehen solche Geschichten wörtlich. Sie brauchen also gerundete, abgeschlossene Erzählungen ohne Bruch und doppelte Realitätsebene. Sie lieben Fantasie, Wunderbares, Magisches, das einen Zauber ja gerade dadurch behält, dass es nicht erklärt oder rationalisiert wird. Erzählungen müssen auf der Erzählebene selbststimmig sein, ohne die Notwendigkeit von Deutung oder symbolischer Mehrdeutigkeit. Gerade Symbole werden in ihrer Bedeutung eindimensional

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und wörtlich verstanden. Also, trauen wir den Geschichten als Geschichten? Glauben wir nicht als Erwachsene, wir müssten Geschichten deuten und unsere Deutung wäre das Zentrale, für Kinder nicht. Die Geschichte selbst muss in sich die Faszination tragen. Ich nehme ein Beispiel aus dem anderen Bereich. Ich nehme mal an, viele von Ihnen haben selbst oder mit eigenen Kindern Pippi Langstrumpf gelesen. Einer der Kinderbuchklassiker immer noch präsent. Was ist unter anderem die Faszination, die bleibende Faszination von Pippi Langstrumpf? Ein Mädchen, so stark es kann, das eigene Pferd tragen. So, wenn Sie mit Ihren Kindern Pippi Langstrumpf lesen, dann werden Sie nie, nie, nie auf die Idee kommen, nach diesem Kapitel zu sagen, gell mein Kind, du weißt, ein Mädchen kann kein Pferd tragen. Sie merken

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natürlich ein bisschen karikiert, aber vielfach gehen wir mit der Bibel genauso um. Wir erzählen faszinierende Geschichten, die in ihrer Faszination bedeutsam sind. Übrigens ich sage nicht, Pippi Langstrumpf ist wie ein biblischer Charakter. Nein, nein, nein, nein. Auch Kinder spüren den Unterschied sehr genau. Aber die Faszination ist eine Geschichte, die über sich hinausverweist, die gerade nicht rational im Tiefsten erklärbar ist. Und wir haben sie aus dem Impetus der großen Aufklärung der 60er, 70er Jahre gutmeinend Kindern alle Geschichten kaputterklärt. Das Faszinierende für Kinder bei den Bibelgeschichten ist, dass diese Geschichten gerade mit dem Wunderbaren funktionieren. Auch hier möchte ich Ihnen ein Beispiel kennen, vielfach belegt. Eine der beliebtesten Wundergeschichten des Neuen Testamentes ist der blinde Bartimaeus. Und dann habe ich schon Kindergottesdienste erlebt mit sieben- oder achtjährigen, die auf folgende Pointe hinausgingen. Wir alle sind doch manchmal im Alltag blind. Jetzt

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überlegen wir mal, wo wir in der letzten Woche blind gewesen sind für ABC. Also, worum geht es dabei? Um ein symbolisches Verstehen von Blindheit. Was ist Jesus? Jemand, der von Blindheiten im symbolischen Sinne heilen kann. Ja, ja, natürlich, tolle Idee für Jugendliche und Erwachsene. Wenn Sie mit Kindern diese Ebene an Bartimaeus herantragen, wird es die meisten Kinder erstens völlig kalt lassen, aber zweitens machen Sie die Geschichte kaputt. Für Kinder ist völlig klar, der ist blind und der wird sehend. Und genauso ist die Geschichte auch erzählt. Also ja, natürlich, du darfst auch symbolische Weiterüberlegungen an solche Geschichten herantragen. Ja, gewiss. Aber für Kinder ist das Zentrale, es geht um die Heilung eines Blinden. Das macht die Besonderheit von Bartimaeus aus. Das ist die Faszination, die von Jesus ausgeht. Keine vorzeitige erklärende Zerstörung von Geschichten.

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Was heißt das für Moral? Dritter Punkt. Kinder denken Gerechtigkeit und Fairness konkret. Verträge, Versprechungen, Regeln und Absprachen strukturieren ihr intuitives Verständnis von Moralität. Kinder leben in Vorstellung von Fairness, von Verhandelbarkeit des Lebens und Tauschgerechtigkeit und von dem Glauben an die Beeinflussbarkeit des Schicksals. Das wissen Sie auch, wenn Sie mit Kindern zu tun haben oder hatten. Es gibt ein Grundgesetz von Moralität für Kinder. Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. Oder eine andere Form, wie Kinder ganz gut schon hochmoralisch handeln können, wenn ich dann du. Wenn du mir versprichst, dass du, dann verspreche ich dir, dass ich. Kinder haben schon ein ganz gutes Gespür für Tauschgerechtigkeiten. Jetzt sagen manche Erwachsene oder manche Ethiker, das ist aber ein niedriges Niveau von Moralität. Ja, ja, wäre unsere Weltpolitik

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nur auf diesem niedrigen Niveau, sähe unsere Welt friedlicher aus. Wie du mir, so ich dir, wenn du, dann ich. Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. Was für eine hohe Form von Moralität. Können Kinder sehr gut verstehen. Sie sind fähig, solche Regeln, die man mit ihnen aushandelt, zu akzeptieren. Was nicht heißt, dass sie sie nicht auch manchmal verbrechen, aber zu akzeptieren, zu verstehen. Aber es gibt doch Grenzen. Ich muss gerade überlegen, ich bin in Weimar, ach ich sage mal was, was ein bisschen schwabenkritisch ist, egal. Es gibt eine Geschichte, die zwei Gruppen nie verstehen können, nämlich Kinder und Schwaben. Im Neuen Testament, das ist die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg. Ich habe es ausprobiert, es ist wirklich so. Warum? Die Arbeiter im Weinberg, das ist eine wunderbare Geschichte, aber eine wirklich moralisch komplizierte. Weil sie nämlich

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über dieses Verständnis von wie du mir, so ich dir, wenn alle das gleiche, dann haben alle das Recht auf Gleiches durchbricht. Es ist eine Geschichte, die uns zumutet, die Höhegerechtigkeit Gottes, die Gnade Gottes kennenzulernen, die eben nicht Gleiches mit Gleichem misst, sondern der allen das zultiert, was sie brauchen, um einen Tag leben zu können. Aber das ist für viele Kinder völlig unverständlich und manche andere eben auch. Die eine arbeitet eine Stunde und kriegt dasselbe wie einer, der zehn Stunden arbeitet. Gegen eine bestimmte Form von Moralität verstößt ein solches Bild ganz klar. Diese Geschichte ist eine für Menschen mit einem gereiften moralischen Verständnis, das selbstverständlich auch im Süden Deutschlands aufzufinden ist, aber vielleicht nicht gerade, wenn es um Geld geht. Gut, also. Also, wie lernen Kinder Gottes Beziehungen? Zentral sind die Erzählungen.

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Zentral ist ein wörtliches Vertrauen in die Geschichten als Geschichten. Übrigens, die Geschichten müssen rund sein, sie müssen ausgehen. Ein Kind lebt nicht mit einem offenen Ende. Und sie brauchen Geschichten, in denen diese Art von Moralität befördert wird. Das sind relativ einfache Vorgaben, in denen Kinder ganz gut lernen können. Man muss allerdings klar sich vor Augen stellen, Kindheit endet heute früh. Kindheit endet rein biologisch heute drei Jahre früher als noch vor 50 Jahren. Aber auch wenn Sie in jede vierte Klasse an einer Grundschule gehen, sehen Sie Jungen und Mädchen, die mitten in der Pubertät sind. Also Vorsicht, was ich über Kindheit gesagt habe, ist ganz individuell. Es gibt manche 12-, 13-, 14-Jährigen, die noch ganz kindlich sind und es gibt manche 9-Jährige, die schon wirklich eigentlich soziologisch Jugendliche sind. Also Vorsicht, wenn Sie mit solchen Kindern, Jugendlichen zu tun haben, denken Sie nicht, der Professor hat aber gesagt, ein Kind muss so lernen. Also, nein, es kann sein, dass in einer dritten Klasse viele schon

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das Gefühl haben, ich brauche andere Geschichten, ich brauche eine andere Möglichkeit, um als Jugendlicher jetzt eine Gotteserfahrung machen zu können, die mir in einem anderen Verstehenshorizont entspricht. Ich möchte zurückkommen auf diesen Gedanken, den ich vorhin an meinen beiden Kindern vor einigen Jahren entwickelt habe, das Kind, ein Wesen, das sehen will, symbolisch gemeint, ein Jugendlicher, ein Wesen, das gesehen werden will, und zwar von den Entscheidenden, die für ihn oder sie wichtig sind. Und ich habe vorhin schon gesagt, was prägt Jugendliche, was prägt Erwachsene? Unser Streben nach Ansehen. Kein Mensch kann leben ohne das Gefühl, angesehen zu werden, Ansehen zu haben. Nun gibt es, meine Damen und Herren, in vielen Barockkirchen ein Bild, das Sie bestimmt alle schon mal

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gesehen haben, sage ich mal optimistisch. In vielen Barockkirchen, vorne irgendwo im Altarraum, findet sich ein Dreieck mit einem Auge. Ansonsten können Sie es im Internet leicht sich vor Augen stellen. Ein Dreieck mit einem Auge. Was ist das für eine Ursymbolik, das Dreieck natürlich ein Hinweis auf den drei Einigen, den trinitarischen Gott, und das Auge als ein Symbol dafür, Gott sieht dich. Ein wunderbares Symbol, aber ein missbrauchtes. Wenn viele von Ihnen in einem freikirchlichen Kontext groß geworden sind, wissen Sie das vielleicht besser als wir in den Großkirchen, bei denen dieses Phänomen in der letzten Zeit sehr schwach ausgeprägt ist, aber noch meine Großeltern wussten sehr genau, von was ich jetzt gleich reden werde. Überprüfen Sie mal, wie es Ihre eigene Biografie prägt. Also ein wunderschönes Symbol hat die Kirche eigentlich entwickelt, Gott sieht dich. Aber

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was haben fehlgeleitete Pädagoginnen und Pädagogen daraus gemacht? Gott sieht dich. Es gibt ein furchtbares Wort, das ein württembergischer Psychoanalytiker geprägt hat, schon 1980. Er hat ein Buch geschrieben über ein Phänomen, das er damals weit beobachtet hat. Dieses Buch wird bis heute in hohen Auflagen verkauft. Der Titel heißt Gottesvergiftung. Gottesvergiftung, der Autor Tilman Moser. Was meint er damit? Er hat 1980 dieses Buch geschrieben über Menschen aus evangelischer wie katholischer Tradition, deren Leben vergiftet wurde mit der Gottesidee. Und ich möchte dieses Buch deswegen nennen, weil wir das nicht vergessen dürfen. Christliche Erziehung hat eine Schattenseite. Christliche Erziehung hat einen schweren Rucksack der Geschichte. Es ist eben keineswegs so, dass man mit christlicher Erziehung immer schon und überall Menschen nur zu ganzem Menschsein verholfen hat. Christliche Erziehung ist nicht

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immer ein Ort, ein Beet des Wachstums zu eigener Identität in sich selbst und auf Gott hin, sondern natürlich, christliche Erziehung hat diese Schattenseite, dass man gearbeitet hat mit Angst, mit Einschüchterung, mit Drohung. Das gab und gibt es in allen Konfessionen. Wie gesagt, in den Großkirchen merke ich ganz deutlich, dass dieses Phänomen fast völlig zurückgegangen ist. Man erzählt fast gar nicht mehr von Gott, wie soll man mit ihm drohen. Also, wenn ich jetzt etwas sagen werde, auch heute Nachmittag in meinem zweiten Vortrag, über das, wie ich mir christliche Erziehung, christliche Bildung vorstelle, dann vergesse ich nicht, dass es diese Schattenseite gibt. Ich glaube aber, dass es wirklich nur eine pervertierte Schattenseite ist und dass dieses Symbol, Gott sieht dich barmherzig

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in dein Herz, dass das eigentlich die Grundaussage ist, die die ganze Bibel prägt. Und dass das, was manche bösemeinenden Pädagoginnen und Pädagogen daraus gemacht haben, eine Drohpädagogik, Gott sieht dich vor allem natürlich im sexualpädagogischen Bereich pervertiert in den 50er und noch 60er Jahren, dass das wirklich eine Misdeutung war. Also nicht Gottes Vergiftung? Nein, nein. Die Frage ist, wie mit Gott ein Leben möglich ist, in dem der Mensch zu sich selbst kommen kann, auf Gott hin. Und hier möchte ich genau diesen Gedanken noch etwas weiter entfalten, theologisch, weil ich einige, ich finde, spannende Zitate dazu gefunden habe, wo ganz unerwartet mehrere Denker genau diese Idee ins Zentrum stellen. Was ist eigentlich der Kern dessen, was die Bibel uns erzählt? Sie erzählt uns, dass Gott eine Dimension ist, die uns im Tiefsten sieht, im Sinne von anerkennend sieht, mit

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einem barmherzigen Blick, der Leben entfalten möchte. Und das wäre vielleicht der Grundgedanke, der auch in jeder religiösen Erziehung und Bildung im Zentrum stehen müsste, von Gott so zu erzählen, mit Gott so zu handeln, dass klar wird, vor Gott ist ein jedes Lebewesen ein Wesen, das gesehen wird, das ein Ansehen hat, das sich nicht verzweifelt kümmern muss um das Ansehen von allen möglichen Peergroups, sondern das so stark ist, dass selbst Jugendliche, das ist meine Utopie, dass selbst Jugendliche, die aus diesem Grundvertrauen in das Göttliche gesehen werden, leben, es etwas leichter haben, im Kampf um das Alltägliche gesehen werden, der Peergroups gut und gesund zu überleben. Dazu, wie gesagt, einige Zitate, die mich selbst überrascht haben, seit ich auf dieser Denkspur bin. Gesehen werden von Gott als

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etwas, was unser Leben grundsätzlich trägt, in der Verlängerung gesehen werden von Gott, und das ist ein Bild durch uns als Eltern, Erzieher, Freunde, als Grundgedanke von dem, was Christentum, was ein Hineinleben in eine Gottesbeziehung auszeichnet. Ich beginne mit Felicitas Hoppe, einer starken Gegenwartautorin, ausgezeichnet mit dem höchsten deutschen Literaturpreis, Jahrgang 1960. Eigentlich eine Autorin, die ganz sicher alles andere ist als eine christliche Autorin, aber die ihr Christentum lebt und ab und zu auch mal offen dazu Auskunft gibt. In einem Gespräch 2008 bin ich über dieses ganz ungewöhnliche Zitat gestolpert. Das geht so, Felicitas Hoppe, schließlich kommt es nicht darauf an, dass wir Gott nicht aus den Augen verlieren, sondern darauf, dass er uns nicht aus den Augen verliert. Und das ist wohl die größte Angst von allen, dass wir selbst nicht mehr gesehen und gehört

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werden. Ich erinnere mich gut an meine biografische Situation damals. Na ja, wenn man so berufstätig als Religionspädagoge arbeitet, dann hat man normalerweise folgende Perspektive. Wir müssen alles tun, so sagt mein inneres Ich, damit Kinder, Jugendliche heute die Möglichkeit haben, eine Gottesbeziehung zu bekommen. Also wir versuchen, den Boden zu bereiten, dass Kinder Gott nicht aus den Augen verlieren, dass sie ein Leben mit Gott leben können. Ein fast schon krampfhafter Versuch, dass Kinder und Jugendliche eben in einer religiösen Lebenssituation leben können. Und plötzlich kehrt mir Felicitas Hoppe die Perspektive um. Ja, ja, das ist nicht unwichtig, dass wir Gott nicht aus den Augen verlieren, dass unsere Kinder und Jugendlichen Gott nicht aus den Augen verlieren. Natürlich ist das wichtig. Aber wichtiger, das war die Umkehr, die Schubumkehr bei ihr. Es ist doch wichtiger,

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dass er, Gott, uns nicht aus den Augen verliert. Und das ist eine eigentlich noch tiefere Angst, dass wir nicht mehr gesehen und gehört werden, dass da niemand ist, der uns wahrnimmt, dass wir deswegen so krampfhaft auf unsere Peergroups angewiesen sind, Sie auch, ich auch, weil wir eigentlich das Vertrauen darauf, Gehörte und Gesehene zu sein, verloren haben. Das ist vielleicht die religiös viel, viel wichtigere Überlegung. Wir sind Gesehene, Angesehene, wir sind Gehörte. Die zweite Stimme. Peter Handke, kennen Sie wahrscheinlich, österreichischer Dramatiker und Erzähler, ein Mensch, der vor allem von der Welt des Theaters lebt. Und das merkt man in diesem Zitat, auch hier ein Gespräch, in dem Fall aus dem Jahr 2006. Peter Handke, etwas kompliziertes Zitat. Er spricht vom Zuschauen als etwas, das wir alle

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brauchen. Was wir eigentlich brauchen, ist, dass uns jemand zuschaut auf eine umfassende Weise, wie man sich eigentlich sie von Gott vorstellt. Dass Gott eigentlich durch das Zuschauen wirkt, dass das seine einzige Macht ist. Wenn wir uns gewertig machten, dass Gott uns umfassend zuschaut, wären wir alle total besänftigt. Diese Wendung zu Gott ist, dass man sich innerlich angeschaut sieht. Was brauchen wir? Ich paraphrasiere jetzt Handke. Wir brauchen das Wissen, dass man uns zuschaut. Was ist die Grundaussage der Bibel? Sie erzählt von einem Gott, der uns umfassend zuschaut. Und das Zuschauen ist nichts Passives, so versucht Handke das zu deuten. Das Zuschauen Gottes ist eine aktive Strömung in unser Leben hinein, dass es seine, er sagt, einzige Macht. Einzig, darüber kann man theologisch streiten. Aber

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dann diese Aussage, wenn wir uns wirklich gewertig machten, wenn wir uns klar machten, dass Gott uns innerlich und äußerlich umfassend zuschaut, und nochmal nicht moralisch mit dem Zeigefinger, wenn wir das im tiefsten Wüsten spürten, dann wären wir alle total besänftigt. Sich innerlich angeschaut sehen von Gott. Menschen, die das erfahren, leben anders, sagt Handke. Ich gehe in den Norden Deutschlands, geht es einem völlig anderen Autor, Sie merken literarische Zeugen, ruf ich vor allem auf, Boto Strauss. Wie Handke, wie Hoppe, alles andere als ein christlicher Autor. Aber Menschen, die in ihrer Wahrnehmung von Wirklichkeit auch über Religion nachdenken. Boto Strauss, schauen Sie mal, wie ähnlich zufällig seine Aussage ist. Er schreibt von Menschenleben als etwas, das danach strebt, erkannt zu

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werden. Es vollzieht sich in der Gewissheit eines anderen Auges, das Überblick und Gestalt erkennt, wo der Dahinlebende sich nur der wirren sporadischen Spuren und Teile gewiss ist. Das Vertrauen in ein umfassendes Gesehenwerden gründet in der Einheit Gottes. Ohne diese Gewissheit erkannte zu sein, hielten wir uns keine Sekunde aufrecht. Was brauchen wir Menschen? Wie vollzieht sich menschliches Leben nach Boto Strauss? In der Gewissheit eines anderen Auges, das etwas überblickt, wo wir nur Chaos sehen, Spuren, Fragmente. Das Vertrauen in dieses umfassende Gesehenwerden, das gründet in der Einheit Gottes. Und wenn wir das erkennen in der Tiefe unseres Lebens, dann hat unser Leben eine andere Form. Noch zwei Zitate, dann bin ich bei einer kleinen Zusammenfassung. Mein vierter Zeuge, Kurt

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Marty, evangelischer reformierter Pfarrer aus der Schweiz, dieses Jahr gestorben, hoch betagt, Mitte 90. Kurt Marty hat im Jahr 2007 eine Art literarisches Lebensvermächtnis hinterlassen. Mitte 80-jährig schreibt er vier Langpsalmen, Rühmungen nennt er sie, Bekenntnisse zu einem lebenslangen Gottesglauben, den er selbst immer wieder in poetischer Form neu formuliert hat. Nur eine kleine Ausschnitt aus einer dieser Langpsalmen, Rühmungen von Kurt Marty, folgende Aussage formuliert an Gott. Du, den kein Menschenauge zu erblicken vermag, der uns aber von zuinnerst, von dort her sieht, wo wir Sterbliche uns selber unsichtbar und unbekannt sind. Also natürlich, kein Menschenauge kann Gott erblicken, Sie erinnern

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sich nochmal an die Sprachregel, keine Menschensprache kann Gott definieren, analoge Sprache haben wir, Annäherungssprache. Aber in dieser Annäherungssprache können wir sagen, wir haben ein Vertrauen darin aus der Bibel gewonnen, dass Gott uns zuinnerst sieht, wo wir selbst uns nicht mal erkennen können. Naja, wenn Sie schon mal einen Katholik hier als Vortragenden haben, dann sollte ich natürlich mit einem Papstzitat schließen. Na, ich werde es noch ein bisschen kommentieren. Also auf dieser Spur des Sehens und Gesehenwerdens war ich schon einige Zeit. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie beglückt ich war, als ich im allerersten großen Interviewgespräch von Papst Franziskus folgende Aussage ganz am Anfang gleich fand. Kurz nach seiner Papstwahl wird er gefragt, woher er lebt, woraus er seine Lebenskraft,

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seine ungeheure Gottesvertrauen nimmt und seine Antwort ist ganz einfach. Papst Franziskus hat gesagt, ich bin einer, der vom Herrn angeschaut wird. Zu leben aus dem Bewusstsein, von Gott angesehen zu werden, mit barmherzigem Blick, erkannte zu sein in der tiefste unserer Seele, in unser Leben, durch unser Leben hindurch, mit all unseren Schattenseiten, Höhen und Tiefen, das ist die faszinierende Perspektive, die hier in diesen Zitaten aufscheint. Und nochmal, gehen Sie an Ihre Bibellektüren mal unter dieser Perspektive. Das ist ein etwas anderer. Das ist nicht das Spiel mit Sünde und Erlösung, auch ein wichtiger Gedanke, keine Frage. Aber interessanterweise nur einer von vielen Haupt- und Kerngedanken und roten Fäden, der sich durch die Bibel hindurch prägt. Gehen Sie mal mit diesem Gedanken von der Genesis bis in die Apokalypse. Ein Buch, das erzählt, dass Gott uns sieht mit barmherzigem

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Blick. Ein Buch, das erzählt, dass er uns Lebensbedingungen schafft und das uns auffordert, das in der Tiefe zu erkennen, im Bewusstsein, dass dann unser Leben anders getragen ist. Mit Kindern von Gott reden. Zwei, drei Schlussgedanken. Was war das, was mir zunächst wichtig war? Ich werde heute Nachmittag einiges weiterführen, aufnehmen und dann biblisch vertiefen. Mir war wichtig zunächst zu überlegen, welche Art von Sprache haben wir überhaupt, um selbst von Gott zu denken und über Gott zu reden. Zwei Vorgaben, die ich Ihnen versucht habe zu entwickeln, wovon man nicht reden kann im Sinne einer philosophischen Erkenntnis, davon muss man dichten. Oder wovon man nicht reden kann im Sinne einer analytischen Definition, davon muss man erzählen. Wovon aber muss man inhaltlich erzählen oder verdichten? Von

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einem Gott, der sich in zwei zentralen Gedanken nochmal jenseits normaler Zugänge entfalten kann. Das eine, ein Gott, der uns sieht. Und das zweite, ein Gedanke, den ich nicht mehr entfalten konnte, aber noch nennen möchte, ein Gott, der sich uns zuspricht. Mit der tiefsten, der größten Möglichkeit, der tiefsten Sehnsucht, die wir Menschen haben können, mit einem bedingungslosen Ja. Ein Gott, der uns sieht, ein Gott, der sich uns zuspricht. Ich, meine Damen und Herren, ich lebe aus der Utopie, dass es möglich ist, Kindern und Jugendlichen einen Raum zu schaffen, in dem sie genau diese Erfahrungen machen können. Diese Erfahrungen haben zu tun mit uns selbst schwer genug. Wir sind sozusagen die Werkzeuge, die Subjekte, die das in unserem eigenen Leben mit all unserer Bruchhaftigkeit versuchen, mit Kindern und Jugendlichen zu leben. Aber eben Gott sei Dank sind wir nicht allein auf uns

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angewiesen, sondern natürlich auf das, was die Glaubenstradition entwickelt hat, die Grundschriften des Glaubens, das gemeindliche Leben, ein Vertrauen darauf, dass wir hier nicht allein Kindern helfen, von Gott zu reden, sondern dass Gott selbst das Seine tut.

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Mit Kindern über Gott reden | 7.3.1

Worthaus 7 – Weimar: 30. April 2017 von Prof. Dr. Georg Langenhorst

Am Anfang war der Zauber. Kinder leben in einer Welt, in der alles möglich ist. In der ein Hase Eier legt, ein alter Mann in einer Nacht Milliarden Kinder mit Geschenken beliefert und Gott mit seinen Engeln über den Schlaf der Kinder wacht. Dann werden die Kinder älter. Und beginnen, die Eltern, das Leben und den Glauben infrage zu stellen. Als Jugendliche müssen sie zweifeln, das ist quasi ihre Pflicht. Außerdem müssen sie alles anders machen als die Eltern, und vor allem müssen sie cool sein. Eltern, die ihren Kindern einen festen Halt im Glauben mitgeben wollen, dürfen sich daher nicht darauf ausruhen, wenn ihre kleinen Kinder verzaubert den Geschichten aus der Bibel lauschen. Denn bald schon müssen sie sich der größten Herausforderung in der Erziehung stellen: nämlich in kritischen Jugendlichen die Neugier auf Gott wach zu halten. Und zwar am besten mit Worten, die auch Menschen außerhalb der frommen Welt verstehen.

18. November 2022

David Friedrich Strauß – Geschichte der Leben-Jesu-Forschung | 11.14.1

Es war einiges los in den deutschen Städten des 19. Jahrhunderts. Darwin rüttelte an den Grundfesten des Glaubens, Hieroglyphen wurden entziffert, Sintflutgeschichten außerhalb der Bibel gefunden, frühjüdische Texte tauchten auf, Bücherberge über die Religionsgeschichte wuchsen. Genies sprossen geradezu aus dem Boden, Goethe, Schiller, Schubert, Beethoven, Kant. Und mittendrin ein junger Theologe. David Friedrich Strauß pilgerte 1830 nach Berlin, hörte Hegel – und war begeistert. Alles schien ihm plötzlich durchschaubar. Er kehrte nach Tübingen zurück und schrieb ein Werk über das Leben Jesu. Darin lässt er zwei Pole, zwei verfeindete Lager der damaligen Theologie, aufeinanderprallen. Nur um dann zu sagen: Ihr habt doch alle recht. Was Strauß dann ausführt, ist so skandalös, dass auch ohne Internet und Social Media bald die ganze Gelehrtenwelt Europas Bescheid wusste. Mit dem Holzhammer ist er durch das Neue Testament gefegt und hat den einst gläubigen Nietzsche vom Glauben abgebracht. Strauß musste Deutschland verlassen, wurde nach Zürich berufen – und direkt, mit gerade einmal 30 Jahren, pensioniert. Zu gewagt wäre es gewesen, ihn lehren zu lassen.
Thorsten Dietz erzählt das Leben dieses »berühmtesten, strittigsten und spektakulärsten Theologietreibenden« seiner Zeit, berichtet auch von anderen wichtigen Persönlichkeiten und tragischen Geschichten. Er verspricht „ein bisschen Kopfschmerzen“ und nimmt die Zuhörenden mit auf eine Reise in das vorletzte Jahrhundert und zu der Frage: Wie sollen aufgeklärte, gebildete Menschen noch glauben können?