Am Ende spricht Siegfried Zimmer über den Anfang. Er geht ans Eingemachte, macht sich ans Grundsätzliche, unternimmt einen sprachlichen Ausflug zu den Grundlagen der Welt. Ist die Geschichte von Adam und Eva, ist der biblische Schöpfungsmythos eine Abhandlung, die historisch-naturwissenschaftlich verstanden werden will? Oder geht es vielmehr um die Grundlage des menschlichen Lebens, um das grundsätzliche Verhältnis von Gott und Mensch und Welt? Zimmers These: Wie man diese Fragen beantwortet, ist entscheidend für das Verständnis der restlichen Bibel. Adam ist nicht Adam – Adam ist jedermann, ist jeder Mensch. Die Tür, die diese Erkenntnis öffnet, ist vielleicht erst einmal das Tor zu einer anderen Galaxie, aber letztlich das Tor zu unserer Galaxie und zu einem angemessenen Umgang mit den Texten der Bibel.

Der Tod gehört zum Leben. Das sagen viele. Der Tod gehört von Anfang an zur Schöpfung. Das sagen nicht viele. Aber Siegfried Zimmer schon. Vorsicht: Dieser Vortrag hat es in sich. Siegfried Zimmer zeigt auf, dass die Schöpfung nicht nur heile Welt ist. Leid gehört ebenso zu Gottes guter Schöpfung. Für diese und ähnlich provokante Thesen führt er verblüffende, wenn auch nicht immer leicht zu durchsteigende Argumente aus der Bibel ins Feld. Was auf den ersten Blick ein abseitiger Aspekt zu sein scheint, ist in Wahrheit zentral für den Umgang mit dem Tod, mit dem Leben, mit den Mitmenschen. Denn wer mag schon den Tod annehmen, wenn er eine Ausgeburt der Sünde ist? Wer kann schon gesund mit seinem Alter umgehen, wenn er es für eine Konsequenz des Schlechten hält? Siegfried Zimmer räumt an dieser Stelle auf – und zwar gewaltig!

»Der Apfel, den Frau Eva brach, uns zuzog alles Ungemach«, so lautet ein deutsches Sprichwort. Die Geschichte von Eva, der Schlange und der Frucht am Baum der Erkenntnis ist eine der bekanntesten Bibel-Geschichten überhaupt – und eine der fehlinterpretiertesten obendrein. Siegfried Zimmer klärt zentrale Fragen rund um den sogenannten Südenfall auf: Ist die Schlange der Teufel? Ist die Frau besonders schuldig? Was ist überhaupt Sünde? Warum macht dem Menschen das Sündigen so eine Freude? Der Griff nach dem Baum zwängt den Menschen hinter Masken und in Rollen, weckt die Angst vor dem Verletztwerden, schürt Misstrauen, macht den Großmütigen zu einem scheinbar kleinlichen Gott. Die Schlange hat Giftzähne – die Sünde auch.

Es ist einer der großen Widersprüche des 20. und 21. Jahrhunderts: Es sind die Jahrhunderte der Tiere, aber auch die Jahrhunderte gegen die Tiere. Während Millionen Zuschauer Tierfilme anschauen und dabei den Familienhund streicheln, warten in den Schlachthöfen Millionen Hühnchen auf ihre maschinelle Enthauptung, sitzen Schweine in überdimensionierten Mastanlagen dicht gedrängt im eigenen Dreck. Der moderne Mensch überschüttet manche Tiere mit Liebe, rechnet andere in einen eiskalten Wirtschaftsplan ein. Was sagt der Schöpfungsbericht zum Verhältnis von Mensch und Tier? Weniges und doch alles, wie Siegfried Zimmer zeigt. Tiere sind dort weder Partner des Menschen, noch Geschöpfe zweiter Klasse. Sie sind aus dem gleichen Material gemacht – eine Beobachtung, die ungeahnte Interpretationsansätze eröffnet.

Siegfried Zimmer kann auch romantisch. Und wie. Wie der Schöpfer Adam und Eva zueinander führt, das interpretiert er als eine Geschichte der Liebe, der Gegenseitigkeit und des Miteinanders. Zimmer räumt auf mit angeblichen Rangfolgen und mit den Abwertungen des Weiblichen. Nein, die Frau ist im Schöpfungsbericht keine Gehilfin, keine Dienerin, keine bessere Angestellte. Sie ist eine Retterin, sie begeistert den Mann, reißt ihn heraus aus dem Leid der Isolation. In der Einsamkeit Adams zeigt sich die Sozialität des Menschen: Adam braucht Eva, Eva braucht Adam, Mensch braucht Mensch.

In Eden stehen keine Gartenzwerge. Es gibt dort keine moralinsaure Benutzungsordnung, keine einengende Satzung, kein kleinkariertes Spießertum, keine Denkverbote. Eden ist keine Kleingartenkolonie mit autoritärem Vorstand, kein geheimdienstumstellter Polizeistaat, kein Ort einengender Befehle. Und warum dann der Baum, warum keine grenzenlose Freiheit? Siegfried Zimmer klärt ein jahrhundertealtes Missverständnis auf, wandelt eine strenge Gehorsamsprobe in eine liebevolle Notwendigkeit. Seine Interpretation ist mitunter zwar eher Schwarzbrot als süße Frucht am Baum der Erkenntnis. Doch an Siegfried Zimmers Schwarzbrotbaum hängt dafür so manches Aha-Erlebnis.

Für viele Deutsche mag es eine provozierende Botschaft sein: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – nö, nicht bei Gott. Das Leben seiner Geschöpfe soll pure Lust sein. Das Beste ist für das Kunstwerk Mensch gerade gut genug. Nicht als naive Phantasiewelt interpretiert Siegfried Zimmer den Garten Eden, sondern zieht aus ihr eine zeitlos gültige Charakterisierung Gottes. Wie bei einer Zwiebel schält sich Zimmer Schicht für Schicht zum Kern einer heilenden Botschaft vor: Der Schöpfer meint es gut mit den Menschen, wo Gott ist, da hat auch der Mensch Platz, wo sein Garten blüht, da blüht der Mensch auf.

Nicht bei Adam und Eva anfangen. Das sagt man, wenn jemand höchstens über Umwege zum Thema kommt. Siegfried Zimmer fängt bei Adam und Eva an. Aber nicht, weil er nicht zum Wesentlichen käme, sondern weil er die Erschaffung der ersten Menschen zum Thema macht. Wer ist der Mensch? Es ist eine der Fragen aller Fragen. Die Bibel beantwortet sie mit nur drei Versen, kommt ohne Analysen oder Theorien aus. Alle Aspekte des Menschlichen packt sie in ein paar schlichte Worte. Siegfried Zimmer presst die Verse aus wie eine Zitrone, er holt in seiner Anatomie der Schöpfungsgeschichte des Menschen auch den letzten Tropfen aus ihr heraus. Er dreht jedes Wort um, arbeitet sich Stück für Stück zum Wesentlichen vor. Eine Reise ins Wesen des Menschlichen – eine Expedition ins Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf.