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Ich möchte mich in diesem Vortrag der Frage widmen, was ist Gerechtigkeit? Oder man könnte auch sagen, was bedeutet Gerechtigkeit? Diese Frage gehört zu den Urfragen der Menschheit und ist von fundamentaler Bedeutung. In jeder Kultur gibt es ein Begriff für Gerechtigkeit und in keiner Kultur ist es ein nebensächlicher Begriff. Also der Begriff Gerechtigkeit zählt in allen Kulturen zu den zentralen Begriffen. Keine Kultur lehrt, der Mensch soll ungerecht handeln. Das lehrt niemand.

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Also die Menschen sind sich darin einig, es ist gut, wenn der Mensch gerecht handelt. Warum ist es so, dass in allen Kulturen, die wir kennen, ein zentraler Begriff für Gerechtigkeit vorhanden ist? Warum ist das so? Das hat einen ganz bestimmten Grund, weil das Wort Gerechtigkeit hängt zusammen mit dem Wort Richtig. Im Deutschen kann man das noch spüren, Gerecht und Richtig hängen von der Sprachgeschichte her zusammen. Auch das Wort Recht hängt zusammen mit dem Wort Richtig. Im Englischen zum Beispiel ist es noch viel deutlicher, also in einer englischen Schule, wenn ein Schüler eine richtige Antwort gibt, irgendwie in Mathematik oder so, kann der Lehrer antworten, right, also richtig. Es gibt aber auch den Ausdruck human right, Menschenrecht.

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Jetzt heißt es right nicht richtig, sondern Recht. Human rights sind die Menschenrechte. Also im Englischen ist es noch direkt das gleiche Wort right, richtig und right, recht. Aber im Deutschen ist es genauso und auch in den anderen Kultursprachen hängt Gerechtigkeit mit richtig zusammen. Also die Frage, was ist Gerechtigkeit, ist deswegen so fundamental wichtig, weil es geht um die Frage, was ist richtiges Verhalten und was ist falsches Verhalten. Und das ist ja schon eine ziemlich grundlegende Frage. Man könnte aber das Wort Richtig auch mit anderen Worten wiedergeben. Man könnte auch sagen, was ist ein angemessenes menschliches Verhalten und was ist unangemessen.

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Man kann durchaus auch sagen, was ist eigentlich ein anständiges Verhalten und was ist unanständig. Darum geht es auch. Das VW-Werk hat in den letzten Monaten feststellen müssen, dass unanständiges Verhalten noch immer ganz schön Probleme auslöst. Also so weit sind wir noch nicht, dass wir sagen, ob gerecht oder ungerecht, ob anständig oder unanständig. Das kommt darauf nicht an. Nein, da gibt es schon noch einen Unterschied. Ich habe selber im Fernsehen vor einigen Wochen mal miterlebt, wie die größte europäische Versicherungsgesellschaft sich dazu geäußert hat, warum sie in bestimmten komplizierten Versicherungsfällen, nämlich wo es um ganz teure, chronische Gesundheitsschäden geht, also irgendwie für Jahrzehnte ist jemand gelähmt,

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vielleicht durch ärztlichen Kunstfehler und da geht es ja gleich in die Millionen. Und da hat ein Repräsentant dieser größten europäischen Versicherungsgesellschaft im Fernsehen ungeniert gesagt, ja, ja, das stimmt schon, unsere Firmenphilosophie, unsere Konzernphilosophie besteht darin, in Zweifelsfällen zahlen wir erstmal nicht. Also ungeniert. Es ging aber da in den dokumentierten Fällen um Privatpersonen, zum Teil schlichte Personen, die nicht viel verdienen und die jetzt mit der größten europäischen Versicherungsgesellschaft in einem Rechtsstreit, der sich über 10, 15 Jahre hinstreckt und der in der Mehrzahl der Fälle verloren geht für die Einzelpersonen. Und dann spart dieses europäische Unternehmen pro Jahr durch diese Firmenphilosophie 20 Millionen,

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50 Millionen oder 100 Millionen Euro im Jahr. Ist für so eine Firma Peanuts, zahlt die aus der Portogasse. Und der Vertreter sagt dann, ja, das Geld, das wir dadurch einsparen, können wir den Aktionären ausschütten. Da muss man schon fragen, ist das gerecht? Es ist ja für so eine Riesenfirma ein kleiner Geldbetrag. Aber für die einzelnen Personen, wenn das Geld für die Personen ausgeschüttet, die ja oft zum Teil im Recht sind, denn es ist dokumentiert worden, dieser Konzern gibt eigene Gutachten in Auftrag und ficht andere Gutachten an. Und wenn die Sache dann unsicher wird, zahlen sie eben nicht. Also ich will nur dieses Beispiel auch erwähnen. Da stellt sich schon die Frage, ist das ein anständiges Verhalten? Möge sich jeder selber fragen. Also die Frage nach der Gerechtigkeit ist die Frage, was ist richtiges Verhalten,

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angemessenes Verhalten, anständiges Verhalten? Für die Christen ist die Frage, was ist Gerechtigkeit aus noch einem weiteren Grund sehr wichtig. Denn für die Christen geht es wie für alle Menschen um diese ethische, moralische Grundfrage, was ist richtiges Verhalten? Es ist eine Frage der Moral, der Ethik. Aber für Christen spielt noch was ganz anderes sehr stark herein, nämlich ihr Gottesverständnis. Denn Christen und Juden sind der Überzeugung, Gott ist ein gerechter Gott. Und jetzt stellt sich hier auch die Frage, was ist gerecht? Also je nachdem, was man unter gerecht versteht, entscheidet sich zu großen Teilen unser Gottesverständnis, denn unser Gott ist ein gerechter Gott.

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Also das hat enorme Folgen. Und man kann an der Bibel sehen und auch an der Wirkungsgeschichte der Bibel, dass für Christen und für Juden die ethische Frage, was bedeutet für mich Gerechtigkeit, sich an der Gottesfrage entscheidet. Denn man kann eindeutig zeigen, die ethische Frage für Juden und Christen richtet sich nach dem Gottesverständnis. Je nachdem, wie man Gerechtigkeit bei Gott versteht, dementsprechend wird auch ethisch Konsequenzen gezogen. Also für Christen geht es um ein doppeltes. Es geht um ihr Gottesverständnis und es geht, wie bei allen Menschen, um diese moralische Grundfrage. Jetzt will ich zur Annäherung noch einen letzten Gesichtspunkt ins Spiel bringen.

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Man muss schon unterscheiden zwischen Gerechtigkeit und Recht. Das ist nicht das Gleiche. Gerechtigkeit und Recht, um es mal sehr drastisch auszudrücken, sind Zweipaarstiefel. Denn Recht ist eine Institution, ist ein Regelsystem, ein System von Regeln oder man könnte auch sagen von Normen oder man könnte auch sagen von Gesetzen. Gesetze sind Normen und Recht ist also eine Institution, ein Regelsystem. Aber Gerechtigkeit ist eine Haltung, eine moralische Haltung, eine Grundhaltung des Menschen. Die Gerechtigkeit ist die Grundlage des Rechts oder vorsichtiger gesagt, sollte es sein.

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Die Gerechtigkeit ist die Grundlage des Rechts und das Kriterium des Rechts. Die Gerechtigkeit prüft, ob das geltende Recht überhaupt gerecht ist, denn nicht jedes geltende Recht ist richtig. Es gibt auch Unrecht mitten im Recht. Also die Gerechtigkeit ist die Grundlage des Rechts und das Kriterium des Rechts. Es kann durchaus sein, dass man um der Gerechtigkeit willen gegen geltendes Recht Widerstand leisten muss, weil das geltende Recht entweder ungerecht ist oder falls es gerecht ist, kann es auch sein, dass man von einem gerechten Recht einen ungerechten Gebrauch macht. Also will man ein Beispiel sagen, wenn bestimmte große Firmen oder Netzwerke die Mieten über Jahre so drastisch erhöhen, wie es gerade noch legal ist.

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In ganzen Straßenzügen in Berlin oder in Stuttgarter Osten zurzeit steigen die Mieten. Und wenn man das zehn Jahre lang konsequent macht, dann drängt man bestimmte Leute raus, die können diese Miete nicht mehr zahlen. Man will dann eben auch zahlungskräftige Leute drin haben. Das ist geltendes Recht. Aber ob dieses geltende Recht gerecht ist, das ist die große Frage. Oder ob man hier nicht Widerstand leisten muss, um der Gerechtigkeit willen. Also das ist eine wichtige Grundsatzfrage, das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht. Jetzt will ich in einem zweiten Schritt euch ein Modell von Gerechtigkeit vorstellen, das im europäischen Abendland gute 2000 Jahre das grundlegende Modell für Gerechtigkeit war.

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Unbefragt, selbstverständlich geltend, sehr mächtiger Einfluss auf die europäische Kultur. Und das ist die Personifizierung der Gerechtigkeit in einer Dame. Wahrscheinlich kennen viele von Ihnen die Dame Justitia. Sie steht in tausenden von Fällen am Eingangstor von Gerichten. Und diese Dame hat in der linken Hand eine Waage, in der rechten Hand das Schwert und sie hat eine Augenbinde. Das ist also die Justitia. Das ist das europäische, das griechisch-römische Verständnis von Gerechtigkeit.

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Ich vermute, dass es in der Mehrzahl der heutigen Menschen halbbewusst, unbewusst, immer noch stark eine Rolle spielt. Wenn wir auch über diesen Stand inzwischen auch deutlich hinausgekommen sind, das moderne Recht kann man nicht mehr mit diesem klassischen Justitia-Denken gleichstellen. Ich meine also, wenn ich jetzt dieses Modell Justitia beschreibe, geht es mir mehr um die zweitausendjährige, mächtige Wirkungsgeschichte dieses klassischen Modells. Diese Justitia oder griechisch heisst die Dame Dieke. Diese Dame gehört fest zur europäischen Bilder- und Symbolwelt. Sie ist ein fester Bestandteil der europäischen Bilder- und Symbolwelt.

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Jetzt, diese Dame hat also in der linken Hand eine Waage und in der rechten Hand ein Schwert. Was ist damit gemeint? Gehen wir erst mal zur linken Hand. Das ist die schwächere Hand. Die entscheidende Hand ist dann das Schwert. Aber die linke Hand, die Waage, ist schon grundlegend. Mit der Waage soll ausgedrückt werden, dass die Justitia – das ist das lateinische Wort für Gerechtigkeit – sorgfältig prüft. Sie misst, es gibt da Gewichtsteine auf der Waage, große, mittlere, kleine. Also damit wird ausgedrückt, die Justitia prüft sorgfältig, exakt genau. Mit der Waage wird aber auch ausgedrückt, die Justitia prüft und urteilt objektiv, sachlich, sachzentriert.

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Das drücken diese Gewichtsteine aus. Es wird objektiv gemessen. Drittens ist damit auch gemeint, mit dieser objektiven Prüfung, sachorientierten Prüfung, die Justitia ist unparteiisch. Sie ist neutral. Deswegen erhält die Dame Justitia ab einer gewissen Zeit, ab dem 17. Jahrhundert erst, eine Augenbinde. Die älteren Darstellungen der Justitia und der Dieke waren noch ohne Augenbinde. Im Altertum, im Mittelalter gab es keine Augenbinde. Da hatte die Justitia einen stechenden Blick. Sie hatte genauso eine Waage und ein Schwert, das ist das Grundlegende, aber sie hatte einen stechenden Blick. Platon lehrt zum Beispiel, die Gerechtigkeit sieht alles.

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Deswegen ist es zunächst merkwürdig, dass die Dame dann ab dem 17. Jahrhundert eine Augenbinde bekam. Ganz genau weiß es niemand, wer der erste war und warum. Aber die Dame mit Binde machte dann Karriere. Im 18. 19. Jahrhundert gab es die Justitia nur noch mit Augenbinde. Und die Augenbinde drückt eben aus, sie urteilt ohne Ansehen der Person. Also vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich und die Justitia ist unbestechlich. Sie nimmt keine Geschenke an. Sie sieht ja gar nicht, über wen sie urteilt. Also fassen wir mal zusammen. Die Justitia prüft sorgfältig, objektiv, sachlich, neutral und unparteiisch ohne Ansehen der Person. Insofern passt diese Binde schon sehr gut. Dann gehen wir mal zur rechten Hand. Das Schwert. Die Gerechtigkeit ist scharf. Sie schneidet, sie scheidet und sie straft bis hin zur Todesstrafe.

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Also das Schwert steht für die strafende Kraft und Macht der Justitia. In unseren Gerichten ist ja nicht der Regelfall, dass ein Freispruch kommt. Oder nehmen wir mal die Geschichte des europäischen Gerichtswesens. Also der typische Fall ist nicht Freispruch wegen erwiesener Unschuld. Das sind nur ein paar Prozent der Gerichtsverhandlungen. Wenn man freigesprochen wird, dann sehr oft aus Mangel an Beweisen. Aber in der Mehrzahl der Fälle, so sagt man, bekommt der Verurteilte seine gerechte Strafe. Also Gerechtigkeit und Strafe sind ganz eng verbunden. Man sagt auch, an dem hat sich die Gerechtigkeit erfüllt.

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Und bis heute sagt man in der juristischen Sprache Strafzumessung. Also Waage. Die Strafe wird gemessen. Gut, also das ist die andere Seite der Justitia. Also Gerechtigkeit, Justitia, hängt im Deutschen nicht ohne Grund ganz eng zusammen mit Justiz. Im Englischen ist es auch wieder noch direkter. Gerechtigkeit heißt im Englischen Justice. Und das Justizministerium in London oder in Washington heißt Ministry of Justice. Oder auch Justice Department. Also es ist das gleiche Wort. Justizministerium heißt im angelsächsischen Gerechtigkeitsministerium. Oder nehmen wir mal alle wichtigen lateinischen Begriffe. Das Recht heißt im lateinischen Ius.

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I-U-S. Ius. Gerechtigkeit heißt Justitia. Und das Gericht, gemeint ist das Gebäude, der Gerichtshof, heißt Iudicium. Also alles das gleiche Wort. Recht, Gerechtigkeit und Gericht. Ius, Justitia, Iudicium. Also die Gerechtigkeit im Abendland hat sehr viel mit Strafe zu tun. Die Justitia teilt aus. Jedem das, was er verdient. Suum cuiucque. Jedem das Seine. Gehen wir mal zurück auf die Wurzel dieser europäischen Gerechtigkeitsvorstellung. Sie beginnt in der griechischen Kultur. Dieke war die Tochter von Zeus. Und Zeus schickte seine Tochter Dieke, Gerechtigkeit, auf die Erde.

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Mit einem besonderen Auftrag. Zeus sagte zu seiner Tochter, also geh mal auf die Erde und beobachte die Menschen. Über eine längere Zeit. Prüfe sie. Und mach dir Notizen. Registriere ihr Verhalten, ihre Taten. Und wenn du sie über eine längere Zeit sorgfältig, neutral, sachlich geprüft hast, zu Protokoll genommen hast, analysiert hast, dann kannst du reagieren. Also Justitia dieke ist eine reagierende Größe. Das erste, was sie macht, ist beobachten. Wahrnehmen. Auswerten. Analysieren. Sorgfältig, sachlich, unparteiisch. Und dann reagieren, nämlich urteilen und verurteilen.

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Auch Immanuel Kant sagt, der Ort, an dem sich entscheidet, was Gerechtigkeit ist, ist der Gerichtshof. Also das ist die klassische europäische Vorstellung von Gerechtigkeit. Ich will jetzt da erstmal ein anerkennendes Wort finden. Diese Vorstellung von Gerechtigkeit hat ein ziemliches zivilisatorisches Niveau. Also diese Vorstellung von Gerechtigkeit ist tausendmal besser als Willkür oder Fetterlesswirtschaft. Also wir dürfen hinter dieses Niveau nie wieder zurückfallen. Das hat schon zivilisatorischen Charakter. Und außerdem muss man sagen, die moderne Rechtsprechung ist längst über dieses klassische Modell hinausgegangen.

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Sie berücksichtigen intensiv alle mildernden Umstände. Und die Resozialisierung ist ein maßgebliches Ziel der heutigen Rechtsprechung. Es gibt ja auch ganz unterschiedliche Gerichte, Sozialgerichte, aber eben auch Strafjustiz. Wir sprechen schon heute noch vom Strafrecht. Also wir haben kein Lobrecht, schade eigentlich, wir haben ein Strafrecht und eine Strafjustiz. Wir sprechen von der Strafvollzugsanstalt. Also dieses Strafdenken sitzt schon sehr tief. Aber in dem, was ich jetzt so beschreibe, meine ich immer die klassische Justitia in der europäischen Geschichte, nicht das heutige Strafrecht. Da gibt es tausende von Unterschieden, obwohl es auch noch Verbindungen gibt. Aber man kann das natürlich nicht gleichsetzen.

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Ich will jetzt bei aller Anerkennung dieser zivilisatorischen Qualität, die im römischen Recht steckt. Die Römer haben nicht zu Unrecht gesagt, wir sind ein Rechtsstaat. Und die Völker um uns herum sind die Barbaren, die haben kein Gefühl für Recht. Aber wir haben Gerichte, wir haben den Senat und so weiter. Da steckt schon was dahinter. Trotzdem will ich mal zwei Dinge anmerken. Das erste mal die Waage. Ja, die Waage wägt genau exakt Strafzumessung. Man muss allerdings fragen, kann man das messen? Kann man ein Sittlichkeitsdelikt, sagen wir mal Diebstahl oder Vertragsbruch, Vergewaltigung oder Mord, kann man ein Sittliches Delikt umrechnen in eine Zeitstrafe?

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Das sind dann 3,7 Jahre. Also ich kenne keine Universität auf der Welt, die ein rationales Verfahren entwickelt hat, wie man ein Sittlichkeitsdelikt objektiv in eine Zeitstrafe umrechnet. Das ist deutlich gesagt ein Märchen. Das ist eine irrationale Grundlage im Recht, wie jeder Richter weiß. Ich sage damit nichts Neues. Also diese Waage, die Waage ist sowieso idealtypisch, so messen kann man das nicht. Aber mir geht es noch um viel mehr. Bei dieser Waage darf man da Gefühle haben. Kann eine Waage aus Betroffenheit reagieren? Kann eine Waage erschüttert sein?

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Glaube ich eigentlich nicht. Also bei einer Waage stören die Gefühle. Aristoteles lehrt auch in der nikomachischen Ethik, ein Richter hat die Aufgabe, gerecht zu sein. Dieke justitia. Der Richter hat nicht die Aufgabe, lieb zu sein. Das ist nicht die Aufgabe vom Richter. Wenn ein Richter lieb ist, dann ist er befangen. Die Liebe macht blind. Deswegen lehrt Aristoteles sehr klar, es ist nicht die Aufgabe des Richters, gut zu sein oder gütig zu sein. Es sind alles störende Gefühle. Sondern der Richter, wenn er nicht befangen ist und blind, soll gerecht sein. Also Aristoteles sieht hier eine ganz tiefe Spannung, Gegensatz zwischen Liebe und Gerechtigkeit.

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Oder Güte und Gerechtigkeit. Deswegen sagt man ja auch, er liess Gnade vor Recht ergehen. Kann man schon mal machen, aber es ist eigentlich nicht richtig. Also Gnade vor Recht. Recht ist nicht Gnade, sondern Recht ist eine Waage und die misst. Also ich melde hier schwerste Bedenken an, weil diese Exaktheit, diese Sorgfalt, kann eiskalt sein. Es kann eine kalte Sorgfalt sein. Eine kalte Genauigkeit. Und das ist ein echtes Problem. Das andere, was sich gezeigt hat, mit dieser Justitia, mit Waage und Schwert, kann man überhaupt keine soziale Gerechtigkeit entwickeln.

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Der Begriff soziale Gerechtigkeit, den wir alle kennen, ist ganz jung. Der ist nicht viel älter als 50 Jahre. Er ist irgendwann in der Mitte des 20. Jahrhunderts wirklich zur Geltung gekommen. Es gibt ihn ein bisschen früher, aber ganz unbetont. Die Justitia hat keinen Blick für strukturelle Ungerechte. Die prüft immer den Täter, gute Taten, schlechte Taten. Aber in der sozialen Frage, in der Industrialisierung, als die ersten Fabriken, Bergwerke entstanden, dann kam es sehr schnell zur Kinderarbeit. Ja, die war juristisch nicht verboten. Nach geltendem Recht tat man gar kein Unrecht, wenn man auch Kinder 12, 14 Stunden lang arbeiten ließ. Oder es entsteht Arbeitslosigkeit. Es entsteht im Alter, die Großfamilie bricht weg, kein Schutz im Alter, keine Versicherungen. Auch Hunger und Armut sind ja nicht verboten.

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Das ist ja nicht illegal, wenn man hungert und arm ist. Was macht denn da die Justitia? Denn Hunger und Armut widersprechen ja nicht dem geltenden Recht. Oder sagen wir mal Analphabetismus. Was macht da die Justitia? Nicht viel. Sie kriegt diese strukturellen, sozialen Ebenen nicht wirklich in den Blick. Das ist unsere europäische Geschichte, die mir vor allem deswegen wichtig ist. Jetzt kommt der dritte Baustein. Dieses Justitia-Denken hat die Christenheit und die Kirche massiv im Griff gehabt, massiv beeinflusst. Es geht mir nicht darum, die heutige Rechtsprechung pauschal zu verdächtigen.

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Das darf man nicht. Aber auch jeder Jurist weiß um diese wichtigen geschichtlichen Hintergründe. Diese Justitia-Gerechtigkeit ist deswegen in der Christenheit so mächtig geworden, 1500, 1600, 1700 Jahre lang. Weil in der lateinischen Bibel, die vor allem gelesen wurde, die Mönche, die Priester konnten in der alten Kirche im Mittelalter und bis in die weiteren Jahrhunderte kaum jemand konnte Griechisch und Hebräisch. Aber lateinisch konnte jeder reden. Die lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, übersetzt das hebräische Wort für Gerechtigkeit, auf das wir noch kommen werden, übersetzt also dieses hebräische Wort mit Justitia. Und da dieses hebräische Wort allein schon im Alten Testament über 500 mal vorkommt,

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es gehört zu den Schlüsselbegriffen der Bibel, steht also im Alten Testament in der Vulgata über 500 mal Justitia. Da denkt jeder sofort an Justiz und Iodicium, Gericht hängt ja sofort zusammen. Also Gerechtigkeit, Justiz, Strafe, Gericht ist durch die Vulgata, die lateinische Bibelübersetzung in der abendländischen Kirche und Christenheit allgegenwärtig geworden. Und man hat dieses Wort in der Bibel Justitia ganz griechisch-römisch verstanden. Denn man hatte kein anderes Modell als diese Dame mit ihrer Waage und ihrem Schwert. Und in diesem Sinn hat man diesen biblischen Zentralbegriff verstanden. Das hat eine enorme Wirkung gehabt im Verständnis des Weltgerichts.

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1500 Jahre lang für Millionen und Abermillionen Frauen, Kinder und Männer. Die stellten sich das Weltgericht selbstverständlich, gab keine Alternative, stellten sich vor so ähnlich wie ein irdischer Strafprozess. Und da kriegt man schon ein mulmiges Gefühl. Stellt euch mal vor, ihr kriegt eine Einladung zum Gericht, vielleicht als Zeuge. Ach trotzdem, da wirst du schon unruhig. Aber stellt euch mal vor, du kriegst eine Einladung zum Gericht als Angeklagter. Da schläfst du schon unruhig. Jetzt stellt euch mal vor, du kriegst eine Einladung zum Gericht als Angeklagter. Und du weißt selber, dass du nicht unschuldig bist. Da schläfst du unruhig. Jetzt stellt euch mal vor, du kriegst eine Vorladung zum Gericht, in dem Fall zum Weltgericht, als Angeklagter. Und du weißt, dass du nicht unschuldig bist.

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Und jetzt weißt du auch, dass du vor diesem himmlischen Richter nichts verbergen kannst. Denn der himmlische Richter sieht auch ins Verborgene, wo der irdische Richter nicht hingucken kann. Da bist du also schon tief in einem Dilemma. Und mit diesem Dilemma hat die Kirche gearbeitet, absichtlich, unabsichtlich. Ich kann das nicht beantworten. Aber auch wenn man jemand unabsichtlich verletzt, ist er verletzt. Kommt ja nicht auf die Absicht an, sondern auf die Wirkung. Man hat in Europa bis ins 17. 18. Jahrhundert geglaubt, alle in der Kirche und selbst die Philosophen. Erst als sich die Philosophie aus der Kirche löste, hat man sich auch von dieser Überzeugung gelöst. Man war bis im 17. 18. Jahrhundert allgemein der Überzeugung, ohne die Drohung des Weltgerichts kann man keine Moral aufbauen.

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Die Moral klappt nur unter dem Vorzeichen des Weltgerichts. Sonst verrohen die Menschen, der Egoismus knallt durch. Da war man überzeugt, wir brauchen diese Zuchtroute. Jetzt im Weltgericht aber, das Weltgericht ist ja der letzte Akt. Das letzte Wort spricht Gott im Weltgericht. Erst im Weltgericht wird sich entscheiden. Deswegen bekam das Weltgericht eine ungeheure Funktion. Sie ist das letzte Wort, der letzte Akt. Erst da wird alles wirklich klar. Auf der Erde war Jesus schon lieb, aber wer durch die Liebe sich nicht gewinnen lassen wollte, wer nicht hören will, der muss dann fühlen. Aber im Weltgericht ist Jesus nicht mehr lieb. Da ist er gerecht. Denn der himmlische Richter ist ganz nach Justitia gedacht,

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es ist der Gerechteste aller Richter. Da ist nichts mehr mit Nade. Im Weltgericht ist Gott ganz gerecht. Objektiv, neutral, sachlich. Nach langer Prüfung kriegst du dein gerechtes Urteil. Von da an ist ein tiefer Schaden in der Christenheit, wie verhält sich die Liebe Gottes zur Gerechtigkeit. Manche Studenten haben schon zu mir gesagt, Herr Zimmer, Gott ist nicht immer nur lieb, der ist auch gerecht. Also lehrt man bis heute in bestimmter Literatur, die ist gar nicht so selten, dass in Gott eine schwere Spannung ist. Gott ist schon lieb. Das steht auch in der Bibel. Gott ist schon lieb. Aber Gott ist nicht nur lieb, der ist auch gerecht.

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Und manchmal tobt in ihm ein richtiger Kampf. Ich habe mal in einer sehr konservativen Zeitschrift gelesen, in einem Leserbrief, da beschreibt jemand einen mongolischen Fürsten. Und in diesem mongolischen Reich gab es ein Gesetz, dass ein Dieb ausgepeitscht wird. Und jetzt ist eine Diebin ertappt worden, das war seine eigene Mutter. Und jetzt war der mongolische Fürst in einem fürchterlichen Dilemma. Er liebte seine Mutter, aber er muss auch das Gesetz halten. Weil die Gerechtigkeit hat einen sehr gesetzlichen Charakter. Die Gesetzlichkeit ist ein Ordnungssystem, ein Regelsystem. Und das muss gewahrt werden. Auch Gott muss letztlich dieses Regelsystem wahren. Strafe muss sein. Jetzt was macht dieser mongolische Fürst? In seinem Kampf zwischen der Liebe zu seiner Mutter und der Gerechtigkeit des Gesetzes, er lässt sich selber auspeitschen.

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Und so schrieb dieser Mensch in diesem Leserbrief. So war es bei Jesus auch. Jetzt wird in dieser Zeitschrift, also es sieht mir die Socken aus, wird von einem mongolischen Problem her Golgatha erklärt. Diesen Mist handelt man sich ein, wenn man auch beim Tod Jesu sagt, ja, der Tod Jesu ist einerseits schon Ausdruckter, liebe Gottes, aber Gott hat auch ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Da muss auch die Gerechtigkeit erfüllt werden. Gott braucht Genugtuung. Erst wenn die gerechte Weltordnung wieder stabilisiert ist. Dann gibt es Kinderbibeln, da steht drin, da sagt Jesus am Kreuz, lieber Vater, durch mein Opfer habe ich jetzt dein Zorn gestillt. Das sind alles die fürchterlichen Folgen, dass man Justitia in die Bibel hineinträgt.

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Ins Weltgericht und in die Deutung des Todes Jesu. Furchtbar. Gott wird Schizo, Sado und Maso. Aber Gott ist nicht schizophren. Gott hat nur ein einziges Wesen und das ist die Liebe. Er hat kein anderes Wesen. Und jetzt müssen wir wirklich klären, was bedeutet in der Bibel Gerechtigkeit. In der Bibel hat das Wort Zutaka nichts mit dieser Dame zu tun. Das ist eine herrliche Botschaft. Die in der modernen Bibelwissenschaft, nur in der modernen Bibelwissenschaft, hat man ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, haben die ersten Alttestamentler gemerkt,

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also dieses Gerechtigkeitsdenken, das wir in Europa haben, das dürfen wir nicht in die Bibel hineinprojizieren. Die Bibel versteht unter Gerechtigkeit etwas völlig anderes, als die griechisch-römische Kultur mit der Dame, Dieke oder Justitia. Und diese große befreiende Entdeckung möchte ich jetzt so im letzten Drittel des Vortrags, dass ihr sie ein Stück weit nachempfinden könnt. Ein Hamburger Alttestamentler in den 50er, 60er Jahren hat also wieder mal die Bibel gelesen, kann sehr gut Hebräisch. Und jetzt muss ich euch vorneweg eine Entdeckung sagen. In der hebräischen Sprache gibt es eine Eigentümlichkeit, die es in den europäischen Sprachen so nicht gibt.

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Man nennt das den Parallelismus Membrorum. Und gemeint ist, vor allem in der hebräischen Poesie, die Psalmen sind poetisch. Ich fange mal mit den Psalmen an bei dieser großen Entdeckung, weil die Psalmen sind sehr existenziell im Gebet. Das Gebet ist der Ernstfall des Glaubens. Was läuft in den Köpfen der Beter ab im Blick auf Gerechtigkeit? Wenn die Beter zu Gott beten, was verstehen die unter Gerechtigkeit? Das ist schon eine brisante Frage. Und jetzt bei diesem Parallelismus ist es so, dass einmal oft in zwei Zeilen im Psalm genau das Gleiche gesagt wird. Also die orientalischen Menschen, die hebräischen Menschen haben oft das Bedürfnis, etwas zweimal zu sagen. Der Pharao hat auch zweimal geträumt. Die Berufung des Mose wird zweimal erzählt. Es gibt zwei Schöpfungserzählungen und so weiter und so weiter.

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Das ist so eine Dualität. Also ich sage euch mal so ein Parallelismus Membrorum. Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Das ist so ein Parallelismus. In beiden Sätzen wird das Gleiche gesagt. Dann meint man aber mit Parallelität noch mehr im Hebräischen, vor allem in der Poesie, aber auch bei den Propheten werden bestimmte Wortfelder aufgebaut. Da werden, sagen wir, zwei, vier, sechs Zeilen behandelt in dem gleichen Themenbereich. Und da werden zentrale Worte in der Umgebung benutzt. Und die meinen alle ungefähr die gleiche Richtung. Das ist so eine Art Wortfeld. Und das sagt man in der alttestamentlichen Exegese, wenn man ein Wort profiliert verstehen will. Mit was wird dieses Wort oft parallelisiert?

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Da meint man nicht nur die nächste Zeile oder die vorher, sondern die Umgebung in dem Wort. Weil es ganz oft so ist, dass da mit ähnlichen Worten gespielt wird und so entsteht eine Grundatmosphäre, eine Grundbotschaft. Und jetzt ist diesem Hamburger Alttestamentler, aber auch einem skandinavischen Alttestamentler zum ersten Mal in Europa aufgefallen. Wir haben nämlich jetzt mal gezielt beobachtet, mit was wird eigentlich das Wort Zöta-Kar-Gerechtigkeit parallelisiert. Also in der Zeile vorher, in der Zeile nachher oder einfach in dem Wortfeld, das hier aufgebaut wird. Und jetzt haben Sie entdeckt, Zöta-Kar wird eigentlich immer in 95 bis 99 Prozent der Fälle,

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wird Zöta-Kar-Gerechtigkeit parallelisiert mit Barmherzigkeit, Güte, Gnade, Treue, aber auch mit Jubel, Freude, immer positiv. In keinem einzigen Fall mit Strafe, in keinem einzigen Fall, im ganzen Alttestament nicht. Ganz selten in fünf Prozent der Fälle wird Zöta-Kar parallelisiert mit einem prüfenden, beobachtenden, urteilenden und verurteilenden Tätigkeit. Ganz selten. Sondern in der großen Mehrzahl der Fälle ist gerechtes Handeln ein helfendes, fürsorgliches Handeln. Es meint, aneinander denken und füreinander handeln. In Treue, Barmherzigkeit, Güte, Gnade, in Jubel und Freude.

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Und jetzt, nachdem ich euch so ein bisschen aufmerksam gemacht habe, wird jetzt Doho mal aus den Psalmen eine ganze Latte an Stellen gut genau übersetzt vorlesen. Durch einen Großteil der Psalmen. Ich könnte noch viel mehr Stellen heraussuchen. Aber Doho wird mal diese Entdeckung, die diese beiden Alttestamentler gemacht haben, jetzt euch einfach vorlesen aus den Psalmen. Und ich hoffe, es springt euch an. Das ist ja was völlig anderes wie Justitia. Bei dir Gott, suche ich Zuflucht. Ich will nicht zu Schanden werden auf ewig. In deiner Gerechtigkeit rette mich. In Psalm 33 Vers 5. Er liebt Gerechtigkeit und Recht. Die Erde ist erfüllt von der Gnade des Herrn.

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Psalm 36 Vers 6 und 11 Gott, bis in den Himmel reicht deine Güte, bis zu den Wolken deine Treue. Erhalte deine Güte denen, die dich kennen und deine Gerechtigkeit denen, die aufrichtigen Herzens sind. Psalm 48 Vers 11 Deine starke Hand schafft uns Gerechtigkeit. Darum soll Freude herrschen auf dem Berg Zion. Psalm 65 Vers 6 Du bist treu und gerecht und antwortest uns durch Taten zu deiner Ehre, du Gott, der uns Rettung schenkt. Du Zuversicht aller, die auf der Erde wohnen. Psalm 76 Vers 10 Ja, das geschieht, wenn Gott aufsteht, um Recht zu sprechen,

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um den Unterdrückten im Land Rettung zu bringen. Psalm 85 Vers 11 und 12 Dann begegnen einander Gnade und Wahrheit. Dann küssen sich Gerechtigkeit und Friede. Treue wird aus der Erde sprießen und Gerechtigkeit herabschauen vom Himmel. Psalm 89 Vers 15 Gerechtigkeit und Recht, darauf gründet sich dein Thron. Gnade und Treue gehen wie deine Boten vor dir her. Psalm 103 die Verse 6 und 8 Taten der Gerechtigkeit vollbringt Gott und Recht für alle Unterdrückten. Barmherzig und genädig ist Gott, langmütig und reich an Güte. Psalm 112 Vers 4 Gnädig, barmherzig und gerecht ist Gott.

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Psalm 135 Vers 14 Denn Gott wird seinem Volk zum Recht verhelfen, wird er Barmen haben mit all seinen Dienern. Psalm 143 Vers 1 Gott höre mein Gebet, vernimm mein Flehen, in deiner Treue erhöre mich in deiner Gerechtigkeit. Psalm 145 Vers 7 Den Ruhm deiner großen Güte sollen sie ausbreiten und deine Gerechtigkeit bejubeln. Also jetzt habt ihr die frische Luft der biblischen Botschaft vielleicht zum ersten Mal so gehört. Überall verbunden mit Treue, Gnade, Güte, mir ist jetzt noch aufgefallen zwei, drei Mal Zuversicht und Freude und Jubel.

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Also Zöta K. in der Bibel ist eine rein positive Größe. Niemand, kein Mensch muss sich vor Zöta K. fürchten. Vor Justitia muss sich eigentlich die große Mehrheit der Menschen, ich würde mal sagen, ihr alle und ich, wir müssen uns vor der Justitia fürchten. Denn gerecht im Sinne der Justitia ist, wer die Gesetze hält. Der ist gerecht. Und wer Dreck am Stecken hat, der muss sich eigentlich fürchten. Und ich frage mich, wer von uns hat keinen Dreck am Stecken? Hand hoch. Also wir müssen uns eigentlich alle vor der Justitia fürchten. Aber vor der Gerechtigkeit Gottes, vor der Zöta K. muss sich niemand fürchten. Selbst schwere Sünder in den Bußsalmen hoffen auf die Gerechtigkeit Gottes. Jetzt will ich mal versuchen, die wichtigsten Unterschiede zur Justitia, damit wir aus diesem europäischen Denken wirklich tief herausfinden.

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Weil es gibt immer noch zahllose christliche Gruppen, die diesen Unterschied nicht kennen. Ich habe vor einiger Zeit in einem Buch gelesen, ein dickes Buch, das heißt, das Kreuz Zentrum des christlichen Glaubens von einem englischen Theologen ist extra ins Deutsche übersetzt worden zu einem Jubiläum einer christlichen Gruppe. Und dieser Mann redet drei, vier, fünfhundertmal von Gerechtigkeit, erklärt sie nie, woher er sein Gerechtigkeitsverständnis hat. Und nicht aus der Bibel. Aber es ist ihm selber nicht bewusst. Wer sagt, Gott ist nicht immer nur lieb, sondern auch gerecht, ist ein Schüler von Aristoteles, aber nicht bibeltreu. Er ist tausend Kilometer von der Bibel weg. Denn Aristoteles lehrt genau das.

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Oder in diesem Buch, das Kreuz Zentrum des christlichen Glaubens, steht zum Beispiel mehrfach drin, Gott kann nicht einfach verzeihen. Ja, das geht nicht, sagt der Autor. Die Menschen denken immer, Gott könnte einfach so verzeihen. Nein, er sagt dann, das ist ganz oberflächlich. Also dieses Denken stuft er als oberflächlich ein. Er selber ist aber tief. Nein, Gott kann nicht einfach verzeihen, denn er muss eine Gerechtigkeitsordnung einhalten. Also die Liebe muss ordentlich bleiben. Die Gerechtigkeit fällt der Liebe in den Arm und sagt, du Liebe, also jetzt mal nicht übertreiben. Du allein, das geht ja nicht. Ich muss dich jetzt in eine gerechte Ordnung hineinführen. Und deswegen kann Gott nicht einfach aus reiner Liebe verzeihen.

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Also möchte ich mal euch allen sagen, wenn ihr in einem Buch folgende Sätze lest. Gott kann nicht. Oder ihr lest Gott muss. Gebe ich euch den Rat, schmeißt diese Bücher gleich in den Papierkorb, weil da kann nichts gescheites drinstehen. Woher will denn der Mann, hat er mit Gott gefrühstückt? Gott kann nicht. Sogar ich kann jedem verzeihen. Und der Vater vom verlorenen Sohn, der verzeiht völlig spontan. Welche Ordnungssystem hält er ein? Also ZDAKA ist anders als Justitia nicht an Normen orientiert. Unser Rechtssystem ist ein Regelsystem orientiert an Normen.

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Ein Gesetz ist eine Norm, keine Beziehung, sondern eine Norm. Aber ZDAKA geht es nicht um eine Norm, sondern um Beziehungen. Denn im Alten Orient und vor allem in Israel dann ist Gerechtigkeit der Zusammenhalt der Menschen. Gerechtigkeit ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Im Alten Orient und vor allem in Israel ist der Begriff Gerechtigkeit nicht so eng an Justiz gebunden, an Normen, Gesetze, Gerichte, Ius, Justitia, Iudicium, ist alles ein Biotop. Nein, Gerechtigkeit, da geht es um den Sinn des Lebens. Es geht um den Sinn der Welt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wenn ungerechtes Verhalten salonfähig wird, wenn ungerechtes Verhalten normal wird, dann bricht die Welt auseinander.

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Dann haben wir Ellenbogengesellschaften. Aber ZDAKA orientiert sich nicht an einer Gesetzesnorm, sondern am Zusammenhalt der Menschen. ZDAKA ist eine Art Beziehungspflege. ZDAKA heißt, wir denken aneinander und wir handeln füreinander. Es geht der ZDAKA um das Zusammenleben der Menschen, um eine intakte Gemeinschaft. Und diese Gerechtigkeit ist sehr verletzlich. Das Zusammenleben der Menschen ist sehr verletzbar, kann kaputt gehen, kann an empfindlichen Punkten gestört werden. Dann werden Menschen ausgegrenzt, abgewertet. Sie sind nicht mehr integriert. Sie können nicht mehr am vollen Leben der Gesellschaft, der Gemeinschaft teilnehmen,

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am religiösen, wirtschaftlichen, politischen, künstlerischen, sportlichen Leben, sondern sie sind ausgegrenzt, abgewertet. Und ZDAKA parallelisiert sehr oft mit Treue. ZDAKA hat sein Spezifikum darin, dass es die Ausgegrenzten wieder hereinholt. Holt sie wieder herein. ZDAKA wertet die Abgewerteten wieder auf. ZDAKA ist genauso eine Form der Liebe wie Barmherzigkeit und Gnade. Wenn Gott gerecht ist, ist er genauso lieb, wie wenn er gnädig ist. Aber ZDAKA hat eine bestimmte Form der Liebe im Blickfeld, nämlich die Liebe, die wieder integriert, die die Leute wieder am vollen Leben Anteil geben lässt.

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Gnade heißt eigentlich im Kern, ich interessiere mich so sehr für dich, dass mir deine Schwächen und Fehler und Sünden nicht mehr das Wichtigste sind. Mein Interesse an dir ist stärker, wie die Beobachtung deiner Schwächen. Barmherzigkeit meint, wenn jemand in Not ist, das tut mir richtig weh, es schlägt mir aufs Gedärm. Wenn du jemanden gedemütigt, verzweifelt oder kaputt siehst und du spürst den Schmerz, dass es dir richtig weh tut, das ist ein Gefühl der Barmherzigkeit. ZDAKA hat sein Spezifikum darin, dass du siehst, die sind ausgegrenzt, die haben keine Chance an der vollen Teilnahme am Leben.

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Dann bist du treu und gerecht, dass du alles tust, mit Lust und Liebe, dass diese Menschen wieder integriert werden. Also ZDAKA ist keine reagierende Größe. Erst mal prüfen, zu Protokoll nehmen und dann objektiv, neutral, man kann auch sagen kalt beurteilen und verurteilen. Nein, ZDAKA ist eine agierende Größe. Wenn ZDAKA Not sieht, handelt sie. Die tut da nicht lang registrieren und prüfen, sondern ZDAKA handelt von sich aus, vor allem dort, wo Verzweiflung ist. ZDAKA ist ganz oft parallelisiert mit Menschen, die bedrängt werden. Es gibt Menschen, die bedrängt werden und es gibt die Bedränger.

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Die nennt die Bibel die Frechen. Was meint ihr, wie viele Freche heute rumlaufen? ZDAKA beschützt die Bedrängten und dringt darauf, dass die Bedränger in Schranken gehalten werden. Deswegen ist ZDAKA ganz oft verbunden mit Witwen und Weisen und dem Fremden. Und von diesem Verständnis von ZDAKA, einer agierenden Größe, die am Zusammenhalt der Menschen interessiert ist. ZDAKA ist eine Gestalt der Menschenfreundlichkeit. Bei Jesus heißt es einmal, erschienen ist die Menschenfreundlichkeit Gottes. Und von diesem ZDAKA-Gedanken kommt das Richten, das Schaffatt der Richter. Richten ist ein Schlüsselbegriff im Alten Testament, kommt sehr oft vor.

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Und Richten ist bei uns sehr negativ geprägt, bis hin zur Hinrichtung. Richten heißt Strafen aburteilen. In der Bibel ist Richten eine ganz positive Größe. Schaffatt heißt Richten und Schoffett heißt der Richter. Richten in der Bibel ist in der großen Mehrzahl eine helfende, beistehende Tätigkeit. Schutz für die Bedrängten und in Schrankenweisen der Frechen, der Bedränger. Die Leute aus irgendwelchen preiswerten Mietwohnungen hinaus drängen. Das sind die Bedränger und die anderen sind die Bedrängten. Die ZDAKA und das Richten hat die Bedrängten im Blick und tritt auf ihre Seite. Richten in der Bibel, Schaffatt, ist ganz oft gleichbedeutend, synonym mit Retten.

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Richten ist Retten. Retten meint jetzt noch nicht Ewigkeit, sondern ist irdisch gemeint. Aus einer Zwangslage, aus einer Notlage, aus einer Verzweiflung, aus einer Niedergeschlagenheit. Retten ist eine Form des Rettens. Richten meint auch oft Schiedsrichten, Schlichten. Es heißt in der Bibel öfters, richte du zwischen dir und mir. Es meint, Richten ein Schlichten. Also, Richten ist ein ganz positiver Ausdruck. Richten ist eine Form von Retten. Ich hätte zu gern, wenn du soweit bist, mal fünf Bibelstellen über das Richten uns vorträgst. Psalm 96, die Verse 12 und 13. Es jubelt das Feld und was darauf steht.

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Dann sollen jauchzen alle Bäume des Waldes vor dem Herrn, wenn er kommt, wenn er kommt, die Erde zu richten. Er richtet den Erdkreis gerecht und die Völker nach seiner Treue. Psalm 98, die Verse 8 und 9. Die Ströme sollen in die Hände klatschen und die Berge allzu mal jubeln vor dem Antlitz des Herrn. Denn er kommt, um die Erde zu richten. Er richtet den Erdkreis gerecht und die Völker getreu. Jesaja 51, Vers 5. Als bald naht sich mein Heil, geht aus meine Rettung und meine Arme richten die Völker. Auf mich harren die fernsten Gestade, auf meinen Arm warten sie.

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Jesaja 11, die Verse 4 und 5. Er wird die Armen richten mit Gerechtigkeit und den Elenden im Lande rechtsprechen mit Billigkeit. Er wird den Tyrannen schlagen mit dem Stab seines Mundes und den Gottlosen töten mit dem Hauche seiner Lippen. Gerechtigkeit wird der Gürtel seiner Lenden und Treue der Gurt seiner Hüften sein. Psalm 10, die Verse 17 und 18. Das Sehnen der Dulder hast du erhört, o Herr. Du achtest darauf, du neigst dein Ohr, Recht zu schaffen der Weise und dem Gedrückten. Nicht soll ferner Schrecken verbreiten ein Mensch von der Erde. Also das war eine kleine Blütenlese. Richten, der Richter ist ein Beistand, ein Helfer.

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Er verteidigt die Bedrängten und die Bedrückten und er hilft ihnen zum Recht. Das ist Richten im Alten Testament. Ich habe kürzlich erst vor wenigen Stunden wirklich ein drastisches Beispiel zufällig mitbekommen, wie eine freie Bibelübersetzung dermaßen daneben greift. Nämlich es heißt in Lukas 2 Vers 34, da sagt der Simeon, jetzt kannst du deinen zu Gott beten, der du kannst deinen Diener in Frieden sterben lassen, denn meine Augen haben dein Heil gesehen. Und er sagt dann zu Maria, dieses Kind wird zum Fallen und Aufstehen in Israel sein und durch dein Herz wird ein Schwert gehen. An dieser Stelle übersetzt eine freie Übersetzung die Hoffnung für alle,

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er wird entweder dein Richter oder dein Retter sein. Das steht überhaupt nicht da, null. Und dann ist nur Gott falsch, denn der Richter ist der Retter. Aber es gibt so eine Frömmigkeit, die also in die Bibel hinein projiziert, auch noch ihre falsche Theologie. Also wenn es im Bibeltext heißt, zum Fallen und Aufstehen vieler, dann wird es jetzt so übersetzt, sie werden entweder dein Richter oder dein Retter sein. Da feiert Justitia fröhliche Auferstehung. Noch heute in den modernen Bibelübersetzungen. Da kann man eigentlich nur weinen. Zum Schluss möchte ich euch die Wurzel von dem Ganzen an einem Beispiel, Doro, nur einmal, dann hast du Urlaubsanspruch.

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Man muss sich nämlich fragen, wenn die Gerechtigkeit die Grundlage des Rechts ist, auch das Kriterium des Rechts, und wenn man im Namen der Gerechtigkeit notfalls gegen geltendes Recht aufstehen muss, weil das Recht selber Unrecht ist. Der Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist viel tiefer als der Unterschied zwischen rechtmäßig und unrechtmäßig. Also die Gerechtigkeit kann sich gegen das geltende Recht richten. Und jetzt bleibt zum Schluss die entscheidende Frage, wenn die Gerechtigkeit die Grundlage des Rechts ist oder sein sollte, was ist die Grundlage der Gerechtigkeit? An was soll sich die Gerechtigkeit orientieren?

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Und darauf gibt die Bibel eine biblische Antwort. Die Grundlage der Gerechtigkeit ist Gott. Und wo können wir uns orientieren, was Gerechtigkeit meint, an dem, wie Gott handelt. Wir lernen an Gott wie an niemand sonst. Auf der Erde können wir das von niemand eindeutig klar lernen. Es ist alles ganz schön vermischt mit Privilegien, Interessen und so weiter. Wir können uns nur am Gott Israels orientieren, wie er die Fronarbeiter, die Zwangsarbeiter aus der Knechtschaft befreit hat. Es gibt einen Psalm, meinen Lieblings-Psalm, mit dem möchte ich schließen. Doro wird ihn vortragen, ich will ihn aber ein bisschen einführen. Das ist der Psalm 82. Das ist ein besonderer Psalm.

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Und zwar heißt es in Vers 1, Gott macht mal einen Besuch in der Vollversammlung aller Götter dieser Welt. In den umliegenden Kulturen gibt es immer ein Götterpanteon. Denn alle Kulturen sind polytheistisch, haben viele Götter. Und die Götter machen immer wieder eine Vollversammlung. Das ist der Götterpanteon. Und jetzt ist Gott mal auf den Gedanken gekommen, da lade ich mich selber ein. Also die laden mich ja nicht ein, aber ich mache jetzt mal einen Besuch in der Vollversammlung der Götter. Und da halte ich eine Rede. Und diese Rede, die Gott in der Vollversammlung der Götter hält, steht in Psalm 82. Und ich will vorneweg sagen, warum diese Rede so unglaublich wichtig ist. In dieser Rede sagt Gott in der Öffentlichkeit aller Religionen, aller Götter,

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nach welchem Kriterium er alle Religionen und alle Götter prüft. Er sagt den Maßstab, der bis heute gilt, wenn wir die Qualität von Religionen und Göttern einschätzen wollen. Diesen Maßstab nennt Gott klar in seiner Anklagerede. Und nach der Anklagerede, da ist eine Lehrzeile bei dir, kommt dann der Urteilspruch von Gott über die Götter. Und daraus entwickelt sich zu Dakar das Gerechtigkeitsverständnis aus dem, wie Gott Gerechtigkeit versteht. Also, Liesmal, Psalm 82.

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Gott steht in der Götterversammlung. Inmitten der Gottheiten richtet er. Wie lange noch wollt ihr ungerechte Urteile fällen und die Gewalttäter begünstigen? Schafft Recht den Schutzlosen und Weisen. Sorgt dafür, dass den Unterdrückten und Armen Gerechtigkeit zuteil wird. Befreit die Schutzlosen und Bedürftigen. Entreißt sie der Unterdrückung durch die Gewalttäter. Aber den Göttern dieser Welt fehlt es an Einsicht und Erkenntnis. In Finsternis gehen sie ihren Weg. Deshalb geraten sogar die Fundamente der Erde ins Wanken. Ich selbst hatte zwar gesagt, ihr seid Götter, Söhne des Höchsten seid ihr alle. Aber ihr werdet sterben wie ganz gewöhnliche Menschen. Und ihr werdet stürzen, wie alle anderen Machthaber auch. Ja, das war die Rede des Gottes Israels in der Vollversammlung der Götter.

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Es gibt in der ganzen Bibel keine andere Stelle, wo so viele hebräische Fachausdrücke für Arme, Elende, Bedrückte, Schwache und so weiter, es sind acht, neun Begriffe, die wiederholen sich im Hebräischen an keiner Stelle. Also es ist die größte Massierung an speziellen Ausdrücken für benachteiligte, schutzlose, gedemütigte, arme, leidende. Wie wichtig wir diese Menschen nehmen, wird für alle Zeiten das Kriterium der Gerechtigkeit sein. Und an diesem Maßstab können wir alle Religionen der Welt prüfen.

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Was ist Gerechtigkeit? – Eine Grundfrage der Menschheit | 5.11.1

Worthaus Pop-Up – Düsseldorf: 30. Dezember 2015 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer

Wer sich einmal in die jüngere deutsche Geschichte vertieft oder auch mit dem heutigen Justizsystem zu tun hatte, weiß: Geltendes Recht und Gerechtigkeit sind nicht das Gleiche. Das Recht ist ein Regelsystem, das Gerechtigkeit zwar herstellen soll. Es kann dabei aber völlig ungerecht sein, Schwache schwächen, Reiche bereichern, Ausgegrenzte noch weiter ausgrenzen. Geltendes Recht ermöglichte die Shoa, den Sklavenhandel, die Inquisition. Und wenn geltendes Recht ungerecht ist, dann ist es notwendig, gegen dieses Recht zu verstoßen, Widerstand zu leisten. Um wahre Gerechtigkeit herzustellen. Was aber ist wahre Gerechtigkeit? Davon hat jede Kultur ihr eigenes Verständnis, erklärt Siegfried Zimmer. Das europäische Verständnis von Gerechtigkeit gründet auf der griechischen und römischen Vorstellung der Justitia, jener Frau mit verbunden Augen, mit Waage und Schwert in der Hand. Ohne Ansehen der Person wägt sie Tatsachen ab und straft entsprechend. Ohne Strafe, keine Gerechtigkeit. Richtig? Falsch. Jedenfalls nach biblischem Verständnis. Denn die Gerechtigkeit des christlichen Gottes sieht ganz anders aus. Vor ihr muss niemand zittern. Sie hat nichts mit Strafe zu tun. Im Gegenteil, sie versöhnt, baut Brücken zwischen Menschen und holt Ausgegrenzte zurück in die Gemeinschaft. Aber kann das gehen? Gerechtigkeit ohne Strafe? Und wie passt der Tod Jesu dazu, scheint er doch wie die ultimative Strafe für alle Sünden der Menschen zu sein? Zimmers Vortrag öffnet einen ganz neuen Blick auf dieses Thema – und macht all jenen Hoffnung, die sich nach Gerechtigkeit sehnen oder – auch das gibt es ja – Gottes Gerechtigkeit fürchten.