Der Titel des Vortrags lautet "Paulus und die Postmoderne". Ja, ich weiß nicht, was ihr erwartet habt oder befürchtet oder so. Postmoderne - man hat es vielleicht mal gehört, es sind ja auch reifere Jahrgänge unter uns, die erinnern sich: Ah ja, damals, die Postmoderne. Das war eine Zeit irgendwie. Wo sind wir jetzt noch mal? In der Post-Postmoderne oder Prä-Faschismus oder, na, man weiß es gerade nicht. Schauen wir also mal: Was soll man sich darunter vorstellen? Denn der Apostel Paulus - man kann ihm viel nachsagen, man kann wunderbar diskutieren, wie christlich oder jüdisch oder hast du nicht gesehen er war -, dass er postmodern war, das ist jetzt Spinnkram.
Ja, das kann nicht sein. Das wird auch Worthaus nicht wagen zu behaupten. Hoffentlich. Gucken wir mal. Was ich vorhabe, ist, einige Paulus-Deutungen vorzustellen, die aus dem Bereich der Philosophie entwickelt worden sind. Philosophen, die über Paulus geschrieben haben, die richtig Paulus-Kommentare verfasst haben oder Abhandlungen zu Paulus oder gesagt haben: "Ich gehe jetzt da mal richtig rein", und die man diesem Label Postmoderne zuordnet. Bevor ich da einsteige, kann man sich zunächst natürlich mal fragen: Warum? Warum ist das wichtig? Was sollen denn jetzt irgendwelche postmodernen Philosophen zum Apostel Paulus irgendwie für Ideen oder Nennenswertes haben?
Ich sage mal ganz vorsichtig: Theologie, christlicher Glaube, Kirche hat ja irgendwie immer auch so die Idee: Wir glauben so schöne Sachen, die haben auch einen kleinen Bart, die sind nicht mehr ganz frisch und so, und die zu übersetzen in die heutige Zeit, also Verkündigung, Predigt ist ja immer irgendwie auch Übertragung des christlichen Glaubens in den Kontext der heutigen Zeit. Legen wir mal los. Ich bin jetzt über 50, wenn ich so zurückblicke auf die letzten 40 Jahre, wo ich was mitgekriegt habe - da kann ja jeder mal so in sich reinfühlen -, ist so das allgemeine Gefühl in den Medien, in der Welt, in der Öffentlichkeit: Also wie die christlichen Kirchen in den letzten Jahrzehnten das Christentum übersetzt haben für die Gegenwart, das war eine große Sache, das war eine fantastische Show. Also das Christentum blüht und leuchtet und floriert wie nie zuvor, und das liegt im Grunde wirklich daran, dass die Kirchen das so hingekriegt haben. Also
sie haben das so neu erschlossen und übersetzt und übertragen, dass wirklich jeder weiß, was es heute wirklich heißen könnte, Christ zu sein ... Oder auch nicht. Vielleicht ist es gar nicht so gut gelaufen, vielleicht sind die Erfolge überschaubar. Jetzt könnte man sagen: Okay, macht doch, was ihr wollt, dann ziehen wir uns jetzt eben zurück in unsere festen Burgen und es gibt jetzt nur noch Christentum 1.0, es gibt jetzt nur noch Retro-Charme, wirklich nur noch das Original, keine Kompromisse, keine Anbiederung an den Zeitgeist, Urchristen-Bewegung, bibeltreu. Ja, das wird probiert, ist stabil, das kann man drehen und wenden, wie man will. Wenn man in dem Bereich die Ehrlichsten fragt, die es ja auch wirklich gibt, wenn man die fragt: "Sag mal, ihr wachst ja Richtung Himmel, also bei euch
geht richtig die Post ab und so, eine Mega-Church nach der anderen ... Respekt! Wie macht ihr das nur?", dann sagen die Allerehrlichsten: "Jetzt mal ganz unter uns, jetzt so ohne Medien, wir verteilen immer viel um. Wir machen immer linke Tasche, rechte Tasche. Es ist geil, weil irgendwas wächst immer, und die, die sterben - die im Dunkeln sieht man nicht, wie man so schön sagt." Das wissen die auch. Also manche nicht, manche reden sich auch wer weiß was ein oder so, aber das ist die Realität. Das heißt, wenn man irgendwie überlegt, christlicher Glaube ist zu schön zum Abwracken, und diesem Weg treu bleiben will, ihn zu übersetzen in die Zeit, kann es ja nun wirklich nicht schaden, mal richtig wach zu sein, wenn Leute aus der Zeit, nicht-christliche Leute, atheistische, agnostische, wer weiß wie gläubige Menschen sagen: "Ich bin da neulich über was gestolpert, das heißt Christentum, Donnerwetter,
da habe ich gestaunt, das war eine coole Sache", und darüber Bücher schreiben - das passiert ja auch, also auch TheologInnen schreiben Bücher über PhilosophInnen, die Bücher über das frühe Christentum schreiben. Und ich fand es auch superspannend, einfach mal anzuschauen, was passiert, wenn Menschen von wer weiß woher über Paulus stolpern, über das Neue Testament stolpern: Was entdecken die, was finden die? Und in dem Sinne: Paulus und die Postmoderne. Wir gucken uns jetzt mal ein paar postmoderne Entdeckungen von Paulus an, werden am Ende auch ein bisschen fragen: Können wir daraus was lernen? Arroganz gewöhnen wir uns ja ab, so hoch zu Ross zu sagen: "Wir sind Christen, wir wissen alles, wir können der Welt die Werte und Maßstäbe erklären" - das gewöhnen wir uns ab und wollen jetzt auch mal lernen. Bevor es dann losgeht damit, ganz schnell noch mal: Postmoderne. Wenn man einfach mal so rumgoogelt und nicht aufpasst und den ersten
Blödsinn anklickt, dann kriegt man so kurze Definitionen. Zitat aus einer Blödsinn-Quelle, die ich natürlich nicht nenne: "Postmoderne ist die Weltanschauung, die jede objektive Wahrheit leugnet, genauso wie jedes verbindliche Gut und Böse. In der Postmoderne ist alles relativ, alles ist erlaubt." Ich fürchte, so einen Quatsch hat der ein oder andere echt schon mal gelesen oder gehört. Ich hoffe, nicht geglaubt, aber dergleichen geht um. Nein, wer irgendwie davon noch so Spuren im Gehirn hat und so, sucht die Löschtaste, drückt sie ganz feste. Alles, alles Blödsinn, wirklich, dieses Ganze: "Postmoderne ist Relativismus, Postmoderne leugnet Wahrheit, da ist alles nur erlaubt und Experimente. Darum sind die jungen Menschen heute auch alle so bekloppt geworden und
so woke und so fanatisch und so" - alles löschen, wirklich alles, alles. Das ist trauriger Blödsinn! Das brauchen wir gar nicht. Ich kann und werde jetzt keinen Vortrag über Postmoderne insgesamt halten. Einfach nur, dass man mal ein paar Dinge gehört hat. Es gibt gar nicht die Partei oder den Verein oder die Gruppierung, die man so nennt. Solche Schlagwörter werden irgendwann natürlich in Absicht großer Vereinfachung genommen und auf irgendwas draufgestülpt. Wir denken heute an eine Reihe von Philosophen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. In den 60er Jahren geht das richtig los: Namen wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder François Lyotard. Dazu kommt noch ein bisschen Außerfranzösisches. In den USA Richard Rorty und Paul Feyerabend. Menschen wie Agamben und Vattimo in Italien. Man kann da noch ein paar Namen nennen und so. In Deutschland gab es
fast niemanden mit philosophischem Lehrstuhl, der gesagt hat: "Ich bin Team Postmoderne" oder so. Aber es war ein internationales Phänomen, und Philosophie war sicher eine Hauptdomäne, wo das gewirkt hat. Die Ausstrahlung war teilweise wirklich sehr weit, vor allem in viele literaturwissenschaftliche Arbeitszweige, in den Bereich der Kunst hinein. Und die Fernwirkung, die kann man dann tatsächlich hier und da beobachten bei Denkbewegungen, die man jetzt so einfach mal kurz mit den Labeln neuerer Feminismus, Queer-Theorie, postkoloniales Denken versehen könnte. Die waren aber nie ein Team oder nie eine Partei oder hatten nie ein Manifest oder sonst wie. Jean-François Lyotard hat 1979 den Begriff mal so richtig gepitcht und den mit so ein paar Dingen zusammengebracht. Das Wort ist älter.
Man hat ihn schon viel früher, vor über 100 Jahren, verwandt, im Bereich der Architektur oder im Bereich der Literatur und auch so ein bisschen aus der Not heraus: Man hat Dinge gesehen, wo man das Gefühl hat: Ist das noch moderne Kunst oder ist das noch moderne Architektur oder ist das jetzt schon irgendwie postmodern? Und wenn man das jetzt so ein bisschen zusammenraffen würde fürs Allernotwendigste, was man vielleicht wissen möchte, schlage ich vier Aspekte vor. Vier Aspekte, die mit diesem Label verknüpft sind. Erster Aspekt: Postmoderne steht für eine Kritik eines absoluten Prinzips. Das sieht man kritisch. Absolutes Prinzip, also sei es Gott oder sei es das Selbstbewusstsein oder sei es der Klassenkampf oder irgendwelche solchen Sachen oder sei es Materialismus ("Alles ist Materie") - so etwas sieht man kritisch. Kein absoluter Anfang, kein absolutes
Prinzip, kein Fundament, aus dem man alles ableitet. Zweiter Gesichtspunkt: Kritik aller Entwürfe, die ein letztes Ziel definieren. Kritik an allem, was sagt: "Die ganze Weltgeschichte läuft im Grunde auf ein Ziel hinaus, auf eine Ordnung, auf ein großes Finale, also orthodoxer Marxismus, Kommunismus, aber auch orthodoxer Liberalismus, der sagt, Demokratie und Marktwirtschaft ist das Ende der Geschichte. Das ist das gelobte Land. Milch und Honig fließen längst - klar, man muss es sich leisten können. Aber da kommen wir auch noch hin. Der Markt wird das regeln." Nein. Postmoderne kritisiert alle Entwürfe, die sagen: "Die ganze Weltgeschichte läuft auf Schienen und wir haben
im Grunde den Endbahnhof längst in Sicht und da geht auch nichts mehr schief." Dritter Punkt: Kritik am Anthropozentrismus, Kritik an einem Denken, wo sehr klar definiert wird: Der Mensch ist das Cogito von Descartes, der Mensch ist das vernünftige Wesen im Mittelpunkt des Universums. Tiere sind irgendwie bellende Maschinen oder Rohstoffe oder Vergnügungsartikel oder so - nein, sie sind nicht wichtig. Natur - ja, weiß man auch nicht, im Urlaub gerne mal. Also dieser Anthropozentrismus, dieses Idealbild vom Menschen, wie er ist, als Homo oeconomicus oder als denkender Geist oder als vernünftige Position - da sagt Postmoderne einfach Ja. Und witzigerweise ist das Allgemeine des Menschseins nicht zu unterscheiden von männlich, weiß, gebildet und
ohne finanzielle Sorgen - und vieles andere, was man auch Mensch nennen könnte, kommt da gar nicht vor. Da stellt sich die Frage: Was noch mal genau ist euer Mensch? So, und der vierte Punkt: Postmoderne steht ein für Vielfalt, für eine Logik des Differenten, für die Dignität des Anderen, der Andere in seiner Unverfügbarkeit, in seiner Fremdheit, das Fremde, das ich mir nicht einfach zu eigen machen kann, was ich nicht einfach so unterbuttere. Darum: Vielfalt, und das jetzt nicht in so einem dämlichen Sinne. Es gibt so Postmoderne-Vereinfacher, die sagen: "Multikulti ist vorbei, alles Blödsinn" und so. Es hat ja niemand die Idee gehabt zu sagen: "Lass uns Multikulti schreien und der Rest des Lebens ist Rock'n'Roll und Vanilleeis und so und das Leben ist ein Karneval." Nein, das ist sehr anspruchsvoll,
das Fremde auszuhalten, dem Anderen in seiner Dignität gerecht zu werden, allmählich vielfaltsfähig zu werden. Daran ist die Moderne gescheitert. So, und all diese Punkte sind im Grunde jetzt mit der These verknüpft: Die Moderne, also Zeitalter Neuzeit, moderne Aufklärung, Rationalität, das, was man oft dann auch mit dem Westen gleichsetzt, hatte so die Idee: Alles lässt sich zurückführen auf ein Prinzip, auf einen Anfang, auf was Vernünftiges; Klassenkämpfe, Kommunismus, es hat irgendwie ein Ziel. Wir können die Geschichte zielgerichtet betrachten, teleologisch; und wir verstehen das auch, es ist eigentlich völlig klar, wie das so ist. Hegel, Marx, Mill - geht verschiedene Dinge durch. Anthropozentrismus ohne Natur, ohne Tiere, irgendwie auch ohne Religion, die gehört auch nicht dazu, und, ja, alles andere Fremde ist dazu
da, zivilisiert zu werden. Und es ist ja diese moderne westliche Kultur des 18. Jahrhunderts, die im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert durch Kolonialpolitik eine Verwandlung der Welt in ungeheuer durchgreifendem Maße betreibt. Und dieser koloniale Geist der Moderne, der westlich rational aufgeklärten Moderne, das ist so ein Punkt, der in den unterschiedlichsten Strängen von postmodernem Denken sehr kritisch hinterfragt wird. - So, mit den sieben Minuten ist man weiter als vieles, was Google einem so vorschlägt. Aber wir vertiefen das jetzt nicht weiter ... Also die genannten Denker sind alle superinteressant. Ich glaube übrigens auch fest an ein Comeback der ernsthaften Beschäftigung mit alldem. Das ist alles längst nicht ausgelutscht. Da kann man,
glaube ich, noch manches draus machen, es bleibt auch nötig, und ganz sicher braucht es auch noch mal andere neue, frische Impulse. Das ist jetzt nicht unser Job. Der Apostel Paulus, das ist hier das Thema, darum sind wir da. Nach dieser Einleitung in die Postmoderne schauen wir uns jetzt ein paar Dinge an. Auch da jetzt noch mal die Vorbemerkung: Es wird im Folgenden gehen um die Paulusdeutung von Alain Badiou und von Giorgio Agamben, und danach werde ich kurz zu sprechen kommen auf John Caputo, also mehrere Länder und sonst wie. Ich werde nicht deren komplette Philosophie, Denkwelt und so weiter besprechen - wäre ja auch alles schön, mache ich aber nicht. Ich habe auch auf keinen Fall die These: "Warum sollte man sich durch historisch-kritische Exegese quälen, durch alte Inschriften und so, wenn man das doch alles so schön frankophil mit ein bisschen mehr Esprit und guter Laune und
griffige Thesen haben kann?" Nein, also diese Menschen, die haben sich teilweise selbst mit Exegese beschäftigt, haben auch was gelernt, haben dann nicht das Leben gehabt, da alles zu lernen, was vielleicht nötig gewesen wäre, und das, was sie an Paulus-Auslegungen machen, kann man nicht im Ernst in Konkurrenz setzen zur historischen Exegese. Da laufen auch Dinge schief, ich werde es auch hier und da ansprechen. Es geht jetzt ganz schlicht darum: Gibt es kleine Lerneffekte, die durch diesen fremden Blick von außen, diesen philosophischen, aber auch politischen und kulturellen Blick auf Paulus zustande kommen? Ich behaupte: Ja. Ihr könnt das für euch dann auch noch mal so am Ende anschauen, aber darum geht es. Es geht quasi um Zusatzerkenntnisse, und wenn man das anfängt in Konkurrenz zur Exegese setzen, ist alles Blödsinn, die bleibt grundlegend, daran kann man die auch
messen. Die reine Behauptung "Die sind exegetisch unzureichend", das ist dann wiederum auch unzureichend. Also es gibt dann eben schon auch, finde ich, manchmal Erkenntnisgewinn, der durch fremde Perspektiven erzeugt werden kann. So, Alain Badiou, damit fangen wir an. 1937 in Rabat geboren, Marokko. Übrigens wirklich interessant, viele dieser postmodernen Denker, gerade aus dem französischen Bereich, haben so einen nordafrikanischen Hintergrund, dass heute postkoloniale Strömungen damit in Verbindung stehen. Postmoderne hat von Anfang an einen so spätpostkolonialen Geist. Superinteressant, ich gehe jetzt aber nicht näher darauf ein. Auch zu ihm sage ich jetzt nicht viel. 30 Jahre in Paris war er Professor, Karriere gemacht in verschiedenen Bereichen. Er ist ein sehr politischer Aktivist, kann man sagen, und zwar am
äußersten Rand des linken Flügels. Also einer, der sich nicht schämt, sich als Kommunist oder Maoist oder so was zu bezeichnen. Das heißt, er ist natürlich sehr traurig gerade über Frankreich; es gibt da interessante, launige Interviews. Auch das wird ein bisschen einfließen, wird jetzt aber auch nicht Hauptthema. 1997 schreibt er ein Buch über Paulus. So ein Buch, wo er Paulus im Grunde als einen Begründer des Universalismus kommentiert. Universalismus klingt jetzt modern, ist auch modern. Universalismus, das wäre jetzt so was wie eine Ethik von Immanuel Kant, also kategorischer Imperativ, Menschenrechte, Menschenwürde, Demokratie - das sind so klassisch universalistische Konzeptionen. Das ist Universalismus. Da ist man ein bisschen verwirrt: Wie kann ein postmoderner Autor moderne Ideale bei
einem prämodernen religiösen Menschen finden, was kann das alles werden und so? Wir tauchen da gleich mal an einem konkreten Beispiel ein, damit wir auch sehen: Also der merkt schon, es ist steil, so was zu behaupten, universal und so. Er selbst geht in einer Stelle seines Paulus-Buches auf die Frage ein: "Ich weiß schon, wenn ich jetzt hier sage, Paulus sei Begründer eines Universalismus, werden viele mir sagen: Weißt du denn gar nichts? Hast du nicht gehört, Paulus ist ein Frauenfeind, er ist antimodern, illiberal, fanatisch und sonst wie?" Nein, keiner, der hier Worthaus hört, kommt auf so Schnapsideen und so. Aber das muss man sich auch erstmal erarbeiten, dass man nicht sagt: "Paulus, das ist doch der Blödmann, der gesagt hat, das Weib schweige oder so." Das ist alles ein bisschen komplexer natürlich. Und Badiou sagt: "Ja, ich habe es wirklich alles gelesen,
ich kenne das, und das ist jetzt halt auch sehr billig, Paulus auf diese oder jene Aussage festzunageln." Er sagt (Zitat): "Die einzige Frage von Gewicht besteht doch darin, ob Paulus, was den Status von Frauen angeht, gemessen an seiner Zeit eher progressiv oder reaktionär ist." Ja, wenn man auf dem Level ist, ist man schon echt weiter, das ist echt gut. Also geschichtlich denken und nicht irgendeine Phrase von Paulus überzeitlich, übergeschichtlich abwatschen oder feiern, sondern einfach mal sehen: Jeder Satz, den Paulus sagt, ist 2000 Jahre alt. Das ist immer eine Realität und bei dieser Frage auch. Und die Frage all dieser Aussagen ist ja: Wie stehen sie im Kontext ihrer Zeit? Sind es Selbstverständlichkeiten, die man einfach so gesagt hat? Sind sie angesichts des Selbstverständlichen irgendwie Verschärfungen oder Verhärtungen oder
Bekämpfungen gar von Fortschritt? Oder sind es progressive Impulse? Sind es hier Anstöße, die die Zeit weiterentwickeln? Und Badiou führt das an einem Beispiel mal durch. Er sagt: "Ja, bei Paulus steht der Satz: 'Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann.'" - Lassen wir Gottes Wort kurz auf uns wirken: "Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann." Kann jeder überlegen - es gibt ja auch Leute mit freikirchlichem Hintergrund: Ist das so noch Usus, Freikirche XY oder so, dass der scheinige Prediger morgens kommt: "Hey, liebe Crowd und so, ich habe ein fantastisches Wort aus dem Wort Gottes heute aus der Heiligen Schrift. Ich werde
heute predigen über den wunderbaren Satz des inspirierten Apostels Paulus: 'Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann.' Halleluja!" Also ich weiß nicht, ich hätte ja ernsthaft das Gefühl, also viele, die allermeisten freikirchlichen Gemeinden hätten selbst das Gefühl: Heute ist es krass irgendwie. Puh! Da muss man erst mal kurz Luft holen! Also das ist ja auch nichts mehr, wo man sagen kann: Das ist ein Kandidat für die nächste Jahreslosung oder so. Oder Radio Vatikan - nein, das ist mehr so Radio Teheran ... "Es steht geschrieben: 'Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann.'" So, und Badiou zitiert das und sagt: Der ganze Punkt ist doch die Fortführung. Die Fortführung lautet: Ebenso verfügt der Mann nicht
über seinen Leib, sondern die Frau. Und diese Schockeffekte, die der erste Satz hier so ein bisschen auslösen konnte, oder auch nur die Vorstellung, dass das gepredigt und gefeiert werden könnte - diese Schockeffekte muss der zweite Satz ausgelöst haben für Leute damals. Also für Hausväter und Älteste und Honoratioren, wenn die hören: "Genauso verfügt der Mann nicht über seinen Leib, sondern die Frau." Ja, das haut den Nucki raus. Also das ist ein Satz. Das ist schon ein bisschen extrem. Das ist unsagbar, undenkbar. Da platzt im Grunde das antike Gehirn, dass sie so denken sollen. Und das ist dann auch nicht so, dass irgendein, was weiß ich, antiker Hausvater da
gesagt hat: "Ah, es gibt schon devote Männer, also muss man sich auch nicht dafür schämen, das macht schon Sinn." Nein, nein, das ist nicht die Assoziationskette, die das auslösen würde. Das ist extrem. Und Badiou sagt: Paulus macht das mehrfach. Es ist verblüffend, was Paulus hier macht. Im Grunde ist das, was Paulus erst mal schreibt, ja eine anti-egalitäre Regel: "Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann." Paulus zitiert den Status quo und dann kehrt er ihn um. Man könnte auch sagen, er hätte ja sagen können: "Ihr denkt immer noch, dass die Frau nicht über ihren Leib verfügt, sondern der Mann. Ich aber sage euch, das ist ungerecht. Ich finde, Gerechtigkeit heißt, dass jeder über sich selbst verfügt und wir mehr auf Augenhöhe auch ein schönes Leben haben könnten." "Ja", hätte man gesagt, "du Weichei, geh doch nach Hause, geh spülen oder so." Das wäre
auch möglich gewesen. Der Effekt ist ja viel stärker dadurch, dass er das umkehrt. Er kehrt das um und setzt auf den Effekt der Schockwellen, die das freisetzen kann, dass die Männer das einfach mal gespiegelt bekommen: Der Mann verfügt nicht über seinen Leib, sondern die Frau. Und Badiou sagt: Das ist bei Paulus eigentlich das Interessante, dass er anti-egalitäre Regeln nicht einfach negiert oder ignoriert, sondern dass er seinen universalisierenden Egalitarismus - ich weiß, das ist nicht kinderfreundlich, Philosophen halt -, also dass er seinen universalisierenden Egalitarismus - Egalitarismus heißt "alle sind gleich", und das als universal - so entfaltet, dass er ihn durch die anti-egalitäre
Regel hindurchführt - durch ihre Umkehrung. Und dadurch schafft er eine andere Plausibilitätsbasis dafür, dass man sagt: Kann man dieses ganze "Verfügen über den Leib" vielleicht auch weglassen oder so? Dann können wir die Logik verlassen. Dadurch, dass die Logik durch Zuspitzung ad absurdum geführt wird, entsteht eine Bereitschaft, vielleicht auch diese Logik zu verlassen. Paulus macht das an zwei Stellen. Er macht es in 1. Korinther 7, er macht es in 1. Korinther 11 - alles mal angucken! Das zum Beispiel, finde ich, ist bei Badiou wirklich sehr anregend, dass er historisch aufgeklärt bewusst Sachen verfolgt. Viel besser kann man es nicht beschreiben. Das macht er an der Stelle wirklich schön. So, jetzt werde ich mich auf zwei Themen fokussieren, die bei ihm im Zentrum stehen. Und dabei ist jetzt auch klar, und das ist jetzt bei allen, ehrlich gesagt: Die haben schon
irgendwie Ideen gehabt, schöne Ideen, super Ideen, da waren sie drin verliebt, und dann entdecken sie diese Ideen bei Paulus wieder. Und das ist, ehrlich gesagt, ja sowieso verbreitet, dass Menschen bei der Schriftauslegung in der Schrift sehr gerne Ostereier finden, die sie vorher selbst drin versteckt haben, also Ideen, die sie schon hatten, auf einmal in der Bibel finden. Und das passiert ja ganz viel. Du hast irgendwie dann in Psychologie mal einen Kurs belegt, hast ganz tolle Ideen wie "gesundes Leben". Auf einmal siehst du es in der Bibel und freust dich wie der Schneehase. Das ist schön und da sitzen wir alle im Glashaus, das kommt vor. Das ist bei denen auch. Die spannende Frage ist ja: Funktioniert es? Also kann das irgendwie dann auch tatsächlich noch mal was zeigen, das man echt bei Paulus findet? Ich behaupte: Ja - sonst hätte ich es jetzt nicht ausgewählt. Also klar, das macht er so. Eine Schlüsselkategorie in Badious Denken ist das Ereignis. Machen wir uns zunächst mal ein bisschen klar, was er damit meint. Er sagt,
das ist im Grunde etwas, was in der Geschichte des westlichen Denkens oft unterschätzt wurde. Also nehmt Platon oder so, alles, was man da denkt - es passiert nichts. Platons Leben: Immer wenn was passiert, ist es schlecht. Also die Wahrheit ist immer in den Wolken, so in den Ideen, im Absoluten, im Geist. Was in der Welt passiert und so, ist nicht so angesagt. Platon wollte mal praktisch werden. Er wollte mal irgendwie so einen Staat retten. Am Ende haben sie ihn gepackt und eingesperrt, als Sklaven verkauft und so. Das hat alles nicht so funktioniert. Er hatte keine hohe Meinung von der Realität, man wird nur frustriert. Und das zieht sich so ein bisschen durch die Geschichte hindurch. Alles, was passiert, ist potenziell gefährlich. Bleiben wir lieber in der Theorie. Und Badiou sagt: Das ist aber ein bisschen unrealistisch. Also sehr viel Wesentliches funktioniert nicht so, dass irgendwelche fantastischen Ideen irgendwann
durchsickern und die Welt retten. Sehr viel Produktives passiert durch Ereignisse. Ereignis ist jetzt nicht, wenn in China ein Sack Reis umfällt. Das passiert nur, da braucht man gar keine Kategorie für. Ist eigentlich egal. Er meint jetzt schon Einbrüche, wo etwas passiert, was die Ordnung der Dinge in Frage stellt, aufhebt, auflöst. Für ihn sind Standardbeispiele natürlich Revolution, Französische Revolution. Was soll als Franzose sonst das Urbild des Ganzen sein? Also diese Tatsächlichkeit einer neuen sozialen Ordnung, wo auf einmal die Stände keine Rolle mehr spielen. Vor der Revolution war völlig klar: Du hast Aristokratie und Monarchie. Du hast mit der Kirche noch mal ein eigenes Machtsystem. Dann hattest du irgendwie
Bürger, die ein bisschen so in der Mitte waren. Und dann hattest du Masse, Pöbel, Menge, Überflussbevölkerung. Und wenn die hungert, ja mein Gott, da machst du noch einen Witz drüber. Das war natürliche Ordnung. Gott selbst hat es so gewollt. Das kannst du gar nicht in Frage stellen. Das war Realität und diese Realität war überall drin. Und dass du auf einmal Könige schnappst und sie von ihrem Kopf befreist und auf einmal schreiende Marktfrauen in Paris Weltgeschichte schreiben, das ist ein Ding. Und dadurch, dass es passiert, ist man in einer anderen Welt. Das Ereignis, dass Macht und Autorität und Ordnung ignoriert, aufgehoben, durchgestrichen, in Frage gestellt werden - keine Theorie kann das ersetzen. Jede Theorie, die du davor hattest - und es gab Theorien und so, aber die sind immer irgendwie auch Utopie und irreal -, erst das Ereignis macht es zu etwas. Man kann es auch
runterbrechen. Du kannst mit 11, 12, 13, 14 und sonst wie erste Fingerübungen im Kopf machen, wie es sein könnte, dass - man kann es sich selbst ja gar nicht vorstellen - man einen anderen Menschen küsst. Je nach sexueller Orientierung vom eigenen oder anderen Geschlecht. Man hat da Gedanken zu, man überlegt sich was, man sieht Filme, man guckt weg, man guckt doch hin und so. Vielleicht hat man eine große Schwester, die man fragt, liest in der Bravo, man hat Fantasien, alles gut. Aber das Ereignis des ersten Kusses, die erste physische Erfahrung von Liebe, die nicht nur im Kopf, sondern am Leib stattfindet, ist schon ein Gamechanger. Das ist was anderes. Danach bist du irgendwo in einer anderen Welt, und du blickst zurück, was du dir mit neun oder so vorgestellt hast, und bist jetzt in der Situation, in der es nicht mehr absurd ist, dass man da auch himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt sein kann. Das Ereignis, dass es passiert,
dass es in der Realität einen Unterschied macht, ist ein Punkt. Das ist etwas, was Badiou vielfach beschäftigt. Für die Politik beschäftigt ihn das sehr stark. Und jetzt sind wir wirklich bei Paulus. Badiou sagt: Das ist bei Paulus jetzt wirklich das Interessante. Paulus, gelehrter Mensch, jüdischer Mensch aus Tarsus, römischer Bürger, kennt sich aus, hat irgendwas mitgekriegt von Stoikern, von anderen Populärphilosophen. Pharisäer ist er, hat gelernt bei Gamaliel, also hat viel im Kopf. Er hat viele Ideen, streitet offensichtlich ganz gern, wird manchmal wütender als nötig vielleicht, es ist viel da. Und dann Damaskus. Damaskus ist ein Einschnitt. Damaskus verändert Dinge radikal. Paulus behauptet, er ist Christus begegnet. Er ist dem Auferstandenen begegnet - und das ist ein Einschnitt,
der nicht einfach in der Theorie stattfindet. Nicht am Schreibtisch hat Paulus irgendwie die Idee: Also ein auferstandener Messias ist natürlich auch eine schöne Denkfigur. So ein bisschen ungewöhnlich, bisschen originell, auch herausfordernd, aber das mal so nachzudenken, warum nicht? Nein, es ist etwas, das passiert. Es begegnet ihm, er hat eine Lebensumkehr, er ist auf einem komplett anderen Weg, hat völlig neue Gedanken, und alles, was er fortan sagt, ist immer mit diesem Fingerzeig versehen, dass Christus gekreuzigt wurde und auferstanden ist. Dieser Jesus von Nazareth, sein Tod und seine Auferweckung ist für ihn die Wende der Zeit, das Wunder der Geschichte, der große Einschnitt. - Badiou zeichnet das nach. Und er macht das natürlich,
wie man es irgendwie auch nicht anders kann, ein bisschen stereotypisierend. Also er zitiert Paulus im ersten Korintherbrief, wo Paulus sagt: "Die Griechen fragen nach Weisheit, die Juden fordern Zeichen, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen." Und er geht das ein bisschen durch und typisiert das und sagt: Ja, es gibt diese griechische Welt, die versucht, rational, weisheitlich, logisch, argumentativ die Welt zu erfassen, die Welt zu verstehen. Und in dieser Sphäre, da zählen Argumente, da zählen Gründe. Da bist du irgendwo in diesem Gespräch, Gründe geben, Gründe nehmen, und darauf baut sich Autorität, und damit werden Schulen errichtet, und das ist da ganz wichtig. Im Judentum hast du im Grunde eine andere Autorität, er nennt es das Prophetische. Nun, jetzt könnte man auch sagen, das Ganze geht zurück auf Exodus, so auf Zeichen und Wunder,
von Gott beglaubigt, Zeichen und Wunder, und das Ganze mündet in der Form "Torah", Gottes Ordnung, Gottes Gebote. Und jetzt hast du hier ein Gefüge, einen autoritativen Text, du hast - autoritativ begründet - den Kult, du hast die Priester, du hast den Tempel, du hast Überlieferungen, du arbeitest damit. Auch das ist eine fixe Ordnung, die völlig anders funktioniert als die weisheitlich- philosophische Ordnung. Er sagt, es gibt noch eine dritte Gruppierung, die mystische, für die im Grunde diese ganzen Worte und das ganze Gerede und so alles schwierig ist, sondern für die die Erfahrung des Inneren, das Schweigen im Grunde das ganz Entscheidende ist. Und er sagt: Paulus mit seiner Begegnung fällt im Grunde raus aus den Ordnungsgefügen seiner Zeit. Er kann das nicht
argumentativ erklären oder begründen, er sagt: "Was heißt hier Gründe? Christus wurde nicht nur gekreuzigt, er ist auferstanden." Jeder Philosoph ist ein bisschen sprachlos und sagt: "Ja, wie? Das Erste ist sicher, das Zweite kommt mir ein bisschen blödsinnig vor - aber was hat das damit zu tun, wenn wir nach Wahrheit fragen, nach Gott, nach Leben, nach irgendetwas? Wenn wir irgendwie fragen nach Wahrheit, dann kannst du doch nicht irgendwelche Geschichten erzählen, Geschichten aus Städten, die ich noch nie gehört habe." Im Tempel - Tempelaristokratie, Torahgelehrte -, da ist irgendwie definiert, was du da machen kannst. Jetzt hat Paulus es ja versucht, also er beweist ja aus der Schrift, dass Jesus der Messias ist, gekreuzigt und auferstanden. Das aus der Schrift zu beweisen, ist vielleicht nicht so ganz leicht. Also wir haben heute ja sehr viel Mitgefühl
mit allen Jüdinnen und Juden, die sich die Beweise angehört haben der frühen Christen und dann gesagt haben: "Das ist wilde Exegese. Nein, das kann so nicht sein." Es gibt ganze Bücher dafür, zweites Jahrhundert, Justins Dialog mit dem Juden Tryphon. Und die Urchristinnen und -christen fanden es super, dass hier aus der Bibel das mit Jesus und Messias und Kreuz und Auferstehung bewiesen wird. Wenn man das heute liest, denkt man, oh Gott, bisschen peinlich, ein bisschen peinlich. Also man fühlt mit jedem Juden, der sagt: "Sag mal, drehen die durch? Das ist nicht bewiesen. Nie. Was macht ihr denn da? Ihr beweist die Jungfrauengeburt aus Jesaja 7, die steht da nicht. Nein." Und irgendwie merkt Paulus das ja auch. Er versucht zwar, das aus der Schrift zu beweisen. Aber im Grunde wird ja im ersten Korintherbrief auch deutlich: Er passt nicht in das Gefüge.
Er beruft sich auf ein Ereignis, und dieses Ereignis verlässt eigentlich alle Ordnungskategorien, alle Sphären, die irgendwie definiert waren durch ihre Rationalitätsansprüche und durch ihre Wahrheitskriterien. Und Badiou sagt: Das ist das eine, die Bedeutung von Ereignissen - von Revolution über den ersten Kuss bis zur Auferstehung Jesu -, die irgendwie das Gefüge der Wirklichkeit neu sortieren für die, die sich von diesem Ereignis betroffen wissen. Badiou sagt: "Das gehört jetzt natürlich wirklich dazu." Wenn man ihn jetzt fragt: "Wie kommst du auf diese Idee, so ein Ereignis so zu hypen? Warum machst du so einen Kult und erzählst und erzählst diese Geschichte da? Warum?", dann sagt Badiou: "Paulus würde an dieser Stelle sagen: 'Weil ich es selbst erlebt habe.'"
Das ist verstörend für alle, die noch nicht im Spiel sind. Wie, du hast es selbst erlebt? "Ja", würde Paulus sagen. "Ich habe es selbst erlebt. Jesus selbst hat zu mir gesprochen. Gott hat den Christus in mir offenbart. Ich bin berufen. Ich habe es selbst erlebt. Ich bin Zeuge der Auferweckung. Ich bin zum Apostel berufen." 2000 Jahre Christentum: Wir kaufen das alle. Nicht mehr ganz blind, aber irgendwie kaufen wir das. Steht ja in der Bibel. Der steht ja in der Bibel, der Paulus. Wird schon stimmen so. Aber jetzt einfach mal diese Gewöhnung kurz mal einklammern, sich einfach mal zurückversetzen. 2000 Jahre. Da steht so ein Typ, behauptet ungeheuerliche Dinge und sagt: "Ja, habe ich selbst erlebt." Da kann man Ideen kriegen. Muss man den Arzt rufen oder hat er seine Medikamente nicht genommen oder was ist denn da?
Also man kriegt ja Fragen. Man liest es ja in seinem Brief. Da waren manche echt fertig. Fünfmal hat man versucht zu sagen: Also 39 Stockschläge können ja manches bewirken und so. Ist ja mancher auf den Pfad der Tugend zurückgekommen. Kannst du noch mal probieren. Steinigen kann man auch probieren oder so. Geht nicht immer gut aus, aber vielleicht rettet ihn das. Hat alles nicht geholfen. Und Badiou sagt: Das ist das Besondere hier. Aus der Sicht der anderen ist das eine ungeheuer schwache Position. Es ist ja einfach so: Ich habe es erlebt. Und Badiou sagt: Ja, das ist das Besondere bei Paulus, dass er für seinen universalen Wahrheitsanspruch, seine persönliche Erfahrung, seine persönliche Verwandlung als einzigen Grund einzuführen weiß. Er kann es nicht beweisen.
Spätere Apologetik hat es dann versucht: "Ja, da gab es noch 500 andere" oder so. Das ist bei Paulus quasi kaum der Fall - vielleicht an einer Stelle, aber eigentlich ist es fast nicht der Fall -, dass Paulus apologetisch in irgendeinem rationalistischen Sinne versucht, daran zu arbeiten. Er erhebt einfach diesen Anspruch und sagt: "Das kannst du allein durch die Kraft des Geistes, der in mir gewirkt hat, für dich auch als Wahrheit erkennen. Es gibt keinen anderen Wahrheitszugang, als dass du von demselben Geist ergriffen wirst, der auch mich zur Erkenntnis dieser Wahrheit geführt hat." So macht er das. Das heißt, universelle Wahrheit wird auf zutiefst persönliche Erfahrung gegründet. Es ist völlig klar: Man kann das jetzt nicht mehr durch irgendeine allgemeine Strategie begründen,
sondern das wurzelt in jeweils persönlicher, partikularer, nicht ableitbarer Erkenntnis. Und Badiou sagt: Genießen wir einfach mal das Wertvolle und Schöne daran. Das ist ein Universalismus ohne Zwangsgewalt, ohne logischen Zwang, ohne politischen Zwang, ohne jeden Druck. So ein Universalismus, der einlädt, die persönliche Erfahrung des Paulus auf je eigene und andere Weise nachzumachen." Das Ding ist ja nicht, dass Paulus sagt: "Weißt du, es gibt ein Portal in dieser Welt, in Damaskus, und du brauchst ein Pferd. Zieh dich warm an, du wirst stürzen." Nein, das ist ja nicht der Punkt. Es ist ja nicht so, dass er Leute dazu anleitet, seine Erfahrung zu wiederholen. Gar nicht. Da kommt jeder auf seine Art und Weise auf den Trichter.
Für Badiou ist das ein wesentlicher Punkt, und für ihn ist es ein stärkerer Universalismus als die Universalismen, die sich durchsetzen, vermeintlich durch Zwang der Logik oder durch Druck des Schwertes oder durch politische Erpressung oder sonst wie. Und - ha! - jetzt sind wir an diesem postmodernen Moment, als er sagt: "Der Apostel Paulus ist für unsere Zeit ein Vorbild für unsere Zeit, wo wir Vielfalt zugestehen müssen auf der Begründungsebene des Universalen, so es uns einleuchtet. Der Versuch, Universalismen zwangsweise über die ganze Welt auszubreiten, im kommunistischen Stil oder im kolonialen Stil, hat wer weiß was für Kriege und Zerstörungen angeleitet. Paulus steht für eine universelle Wahrheit ohne Waffengewalt, ohne Druck, ohne Zwang."
Und auch das Personenverständnis ist jetzt bemerkenswert. Paulus kann sich als Subjekt offensichtlich nicht mehr absolut und autonom und autark denken. Er denkt sich als Subjekt zutiefst betroffen von diesem Ereignis. Das ist jetzt ein typisch postmoderner Gedanke, dass Paulus hier Abstand nimmt von etwas, was bei den Griechen normal wäre: Die Vernunft, das absolute Universale, ist zugleich Makrokosmos im Mikrokosmos, auch in meiner Vernunft - diese Stabilität ist bei ihm nicht gegeben. Es ist ein instabiler Personengedanke. Ich möchte mir an der Stelle mal ein bisschen Schützenhilfe holen, um das noch mal von der anderen Seite her plausibel zu machen. Ich hatte ja gestern schon einen kleinen buddhistischen Schwenk.
Der ist an dieser Stelle jetzt auch ganz hilfreich. Es ist nämlich jemand anderem auch mal aufgefallen, dass das Subjektverständnis bei Paulus witzig verschoben ist zum eigentlich westlichen Denken. Keiji Nishitani ist kein Name, wo ich jetzt erwarte, dass ihr alle sagt: "Ah der, der ist ein super Typ." Wer den nicht kennt, alles gut, alles super. Japanischer Philosoph, lebt 1900 bis 1990, viel nachgedacht. Zen-Buddhismus, Religion, hat Heidegger studiert, er kannte sich aus. Brauchen wir alles nicht. Nur zu Paulus ein bisschen was. Es gibt bei ihm eine spannende Passage. Da zitiert er als Buddhist Paulus, wo er sagt im Galaterbrief: "Ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir." Kennt man nicht aus dem Kindergottesdienst vielleicht, aber kennt man aus Gottesdiensten so. "Ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus
lebt in mir." Nishitani als Buddhist sagt: "Ah, großes Wort, das fühle ich, ein wirklich großes, weises Wort, was ihr da habt, ihr lieben Christinnen und Christen. Aber eine Frage hätte ich an euch: Wer sagt das? Wer ist das Subjekt dieses Satzes?" Und er hilft uns so ein bisschen, war noch nicht auf Podcast und so. Er sagt: "Jetzt könntet ihr sagen: 'Steht ja drüber, ist der Brief des Paulus an die Galater.'" Dann sagt Nishitani: "Ja, dann würde ich aber sagen: Ich lese: 'Ich lebe, aber nun nicht ich, Christus lebt in mir.' Wenn du mir sagst, Paulus ist das Subjekt des Satzes, glaubst du ja gar nicht, was er sagt. Er sagt ja: Nicht ich, sondern Christus lebt in mir." Wenn du jetzt weitermachst: "Ah, ich habe mich vertan, ich habe gerade nicht aufgepasst, also Christus, logisch, Christus, nicht ich, sondern Christus, Christus ist das Subjekt des
Satzes", dann sagt Nishitani: "Ah, aber jetzt verstehe ich den Anfang des Satzes nicht mehr: 'Ich lebe, aber nun nicht ich.' Das macht ja gar keinen Sinn mehr, wenn ich das auf Christus anwende." Dann sollte man eine kleine Lesepause machen und sagen: "Was für ein gewitzter Japaner, jetzt will er mich ärgern." Aber Nishitani macht gleich weiter: "No offense, will euch gar nicht ärgern, ist alles gut. Nein, ich kenne das aus meiner Kultur. Wir nennen das im Zen Koan. So nennen wir solche Sätze, die, wenn man anfängt, darüber nachzudenken, auf einmal anfangen, so zu oszillieren, und du kriegst es gar nicht mehr klar. Wenn du sagst: 'Paulus ist Subjekt des Satzes', macht das keinen Sinn; wenn du sagst: 'Christus ist Subjekt des Satzes', macht das auch keinen Sinn. Wenn du jetzt kurz davor bist, verrückt zu werden, dann bist du der Erleuchtung auch näher." Jetzt will ich das ganze Konzept Erleuchtung, Erwachen und so nicht vertiefen.
Nein, der Punkt ist ja: Er bringt das dann zusammen mit der Lehre von der Leere, also einmal mit H, einmal mit Doppel-E, mit der Lehre von der Leere. Und er sagt: "Das ist im Zentrum unseres Verständnisses von Menschsein die Einsicht: Auf dem Grund ist es Leere. Nicht ich. Aber Leere ist nicht Null, nicht nichts, sondern Leere ist die Erfahrung, dass alles, was ist, nicht für sich, sondern in der großen Kette des Daseins vorhanden ist. Und auf Paulus übertragen: Paulus formuliert mit diesem Satz, dass er sich sein Selbst nicht mehr denken kann
ohne Christus und dass umgekehrt Christus hier im Spiel ist als Zeugnis dieses Ichs, was ich seinerseits nicht ohne ihn denken kann. Da hätte Badiou auch Freude dran, ich fand das nur einen netten Schlenker mit Nishitani. Und das ist so schön postmodern: Dekonstruktion des Subjekts, Dekonstruktion dieses Für-sich-Sein, die Vernunft, die Persönlichkeit, das Subjekt, Subjektivitätstheorie. Das sind zwei Impulse, die Badiou aus Paulus gewinnt. Und ich würde sagen, da hat er so seine Punkte. - Wir machen jetzt mal weiter und schauen uns einen weiteren postmodernen Ansatz an, der sich mit Paulus auseinandersetzt, von Giorgio Agamben. Er hat einen Römerbrief-Kommentar geschrieben,
"Die Zeit, die bleibt", 200-seitiges Buch. Was schafft man so auf 200 Seiten, schafft man da den ganzen Römerbrief? Agamben schafft die ersten fünf Wörter. Die ersten fünf Wörter. Das kann man sich mal kurz auf der Zunge zergehen lassen, noch mal überlegen, was steht denn da? Nicht viel, steht nicht viel, einfach wirklich nur: "Paulus, Apostel, berufen, Knecht Jesu Christi". Agamben sagt: Da mach ich ein ganzes Buch raus. Das schafft nicht jede Theologin, nicht jeder Theologe so, aber er macht's. Und auch hier, also der hat studiert, der kennt sich ein bisschen aus, der hat auch viele Ideen im Kopf und so alles, postorthodoxe, marxistische, linke, irgendwie war er viel unterwegs. Was er im Grunde stark macht, also er arbeitet da wirklich auch hebräisch, griechisch, beschäftigt sich damit, er hat aber auch so Gesprächspartner, es ist viel inneres Gespräch mit anderen jüdischen Denkern, vor allem
Walter Benjamin, Theodor Adorno, Martin Buber. Also wenn man da ein bisschen drin ist, ist es ein Fest des Geistes; wenn man nicht so drin ist, ist es eine Zumutung. Aber dafür haben wir jetzt Worthaus ... Also wenn man alle Namen kennt, wenn man von jedem der Genannten was gelesen hat, dann kann man auch Agamben anfangen; für den Anfang würde ich aber die ersten drei empfehlen, um sich erst mal so ein bisschen was anzuschauen. - Was macht Agamben mit Paulus? Auch hier werden wir jetzt selektiv ein paar Punkte herausnehmen. Ich hatte ja die Punkte genannt, Römer 1,1, die hier wichtig sind. Paulus beschreibt sich als berufener, ausgesandter Apostelsklave Jesu Christi. Agamben führt einen so ein bisschen in die Zeit ein und sagt: Das ist ja ehrlich gesagt auch krass,
so "doulos" - Knecht, Sklave. Uns geht das so runter, ja, selbst Päpste heute sagen: "Ich bin ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn" - ja, die würden nicht Spargel stechen wollen -, aber es geht einem so locker runter: Ich bin ein einfacher Arbeiter, ich bin ein euer aller Diener, es gibt keine Macht in der Kirche, es gibt doch keine Macht aus in der Kirche, nein, es ist ja Dienst, also die Verantwortung zu tragen, reiner Dienst ... Also man hat sich da auch viel einlullen lassen, das einfach mal so zu glauben, als gäbe es keine Macht in der Gemeinde oder so. Und Agamben macht das erstmal sehr stark: Sklave heißt schon, du bist quasi eine Null, also du hast keinen Status, du kommst auch nicht allein klar, du gehst nicht irgendwohin und
kaufst ein Haus oder so oder fängst irgendwo an zu arbeiten. Das ist alles nicht so, das ist alles geordnet, das ist kein freier Arbeitsmarkt. Du bist einfach gar nicht vorhanden, du bist nicht existent, du bist vogelfrei, du wirst wiedergecasht, du wirst unter blöderen Umständen versklavt. Das ist also schon ein Ding, sich überhaupt dieses Wort selbst aufzupappen, zu sagen: "Ich bin ausgesondert, ich bin berufen, ich bin Sklave." Und Agamben sagt: Wie kommt denn so ein Typ auf die Idee, der ja was ist - wir reden ja hier von einem Privilegierten. Wenn man jetzt fragen würde: Was für Privilegien hatte Paulus in seiner Zeit? Die meisten, also die meisten: männlich, römischer Bürger, frei, gebildet, sprachfähig, kann überdurchschnittlich schreiben und sich ausdrücken.
Also ein ziemlich, ziemlich privilegierter Typ, der was zu sagen hat und der in vielen Bereichen der Gesellschaft schon auch irgendwie was hingekriegt hätte. Also klar, als Jude im römischen Reich - es wurde dann immer schwieriger, aber erst mal, in der Anfangszeit, war es eine privilegierte Gruppe mit Sonderrechten. Sie durften sich verweigern gegenüber regionalen Kulten, Kaiserkult und so. Also wenn eine hochprivilegierte Position sich vorstellt in einer Weise, die im Grunde das alles negiert, alles durchstreicht, dann muss man erst mal fragen: Warum? Warum machst du das? Warum hast nicht einfach ein schönes Leben? Du bist doch ein sprachfähiger Jude, du kannst dir einfach ein paar Jünger besorgen und die immer belehren und so, das macht dir auch viel Freude, damit könntest du Geld machen. Du hast einen Beruf,
Handwerk und so, also du bist im Spiel, könntest es besser haben, als ständig verkloppt zu werden von Leuten, die du geärgert hast mit deinen religiösen Ideen. Was ist das Besondere bei Paulus? Agamben sagt: Klar, es ist diese Christusbegegnung, es ist dieser Glaube an den Messias. Und das spielt für Agamben natürlich eine Riesenrolle, der Christus - der ist auch noch in den ersten fünf Wörtern drin. Und man muss jetzt dazu sagen, Agamben ist nicht so auf der Höhe der Messiasdiskurse des ersten Jahrhunderts nach Christus; er weiß viel besser, was Walter Benjamin und andere dazu gesagt haben, und hat insofern eine andere Geistesgeschichte, aber er nimmt das sehr, sehr ernst und sagt: Dieser Glaube an den Messias und an die messianische Zeit, das ist im Grunde der Punkt, der archimedische Punkt von Paulus, mit dem er
im Grunde alles versucht aus den Angeln zu heben. Und er spitzt es so zu: "Durch den Messias, wie Paulus ihn glaubt, hat er ein vollständig anderes Verhältnis zur Zeit. Sein Zeitverhältnis ist komplett anders, es ist auch sehr auffällig und bemerkenswert." Auch hier muss man ein bisschen dazu sagen, dass man aus einer exegetischen Sicht nicht so komplett glücklich wird mit Agamben, weil er es in die folgende Richtung bringt. Er sagt: Man könnte den Eindruck gewinnen, Paulus würde irgendwie erwarten, dass in der Zukunft große Dinge passieren und dass der Messias wiederkommt und dann Reich Gottes und Gericht und Spektakel. (Das kann man in der Tat auch so sehen.) Und Agamben sagt: Nein, das war ein Missverständnis, das ist gar nicht der Punkt. Paulus geht von einem Ereignis aus, der Auferstehung Jesu; das, was er über Parusie sagt, über die Erscheinung Christi, über
Wiederkehr, das ist jetzt aber nicht im wesentlichen Sinne ein neues Ereignis. Also Paulus bezieht sich im Wesentlichen nicht auf ein weiteres Ereignis in 15 Jahren - für alles andere fehlt die Fantasie, denn ewig alt wird man ja auch gar nicht -, sondern was Paulus mit Parusie meint, ist eine völlig anders und neu qualifizierte Gegenwart. Durch das Gekommensein des Messias, durch seine Auferstehung leben wir in einer anderen neuen Zeit. Es geht ihm nicht um Chronos, Chronos Kreuzigung und Chronos Wiederkunft, sondern es geht ihm um Chronos und Kairos, um die Verlaufszeit, die quantifizierbare Zeit, und die qualitativ erfüllte Zeit. Und der Glaube an den Messias bestimmt Paulus so, dass er nun in einer neu qualifizierten Zeit lebt, Kairos, messianische Zeit. Dazu muss man Folgendes sagen:
Was Agamben hier so schreibt, ist witzigerweise das, was so in der Theologie des 20. Jahrhunderts sehr verbreitet war. Rudolf Bultmann sah das ganz genauso und viele andere, der frühe Karl Barth sah es auch so. Es gab eine breite Strömung liberaler Theologie, die hatte Albträume von diesen Ideen, "der Weltuntergang kommt, das Ende naht und Posaunen werden erschallen und die Gräber werden sich öffnen". Also das sind so lauter Sachen, wo Liberale gesagt haben: "Komm, überlass das den Zeugen Jehovas, das ist alles Wahnsinn, ich kann nicht mehr; wir behaupten einfach mal, das steht überhaupt nicht in der Bibel, das ist alles ein Missverständnis." Mit der Zeit ändert sich das, also man sieht: "Das steht in der Bibel", und es gibt reale Zukunftserwartungen, und das ist alles auch interessant und nicht so einfach Banane ... Aber so, wie Agamben das macht, ist es übertriebene Exegese, falsche Exegese, die sich aber anschließt
an eine tatsächlich breite Paulusdeutung, die es im 20. Jahrhundert wirklich gegeben hat. Vor allem an Johannes kann man das festmachen: "Die Zeit kommt und ist schon jetzt." Der Glaube an Jesus ist Auferstehen, jetzt, die Gegenwart wird anders. Und man würde heute besser sagen, dass die Zukunftserwartung der Urgemeinde dann tatsächlich so was ist, also eine Neuqualifizierung der Zeit, ein neues Verständnis der Gegenwart, nennen wir es messianisch. Was Agamben jetzt damit mehr macht, ist: Er wendet das ins Soziale und Politische. Bultmann und andere haben das auch gemacht und dann gesagt: Das ist im Grunde ein sehr schöner Existenzialismus, den man daraus kriegt, einfach im Hier und Jetzt leben und einfach in der Gegenwart und offen sein, in der Liebe leben, keine Geschichtsphilosophie; man kann da irgendwie so eine existentialistische Haltung daraus entwickeln.
Agamben wendet das jetzt ausdrücklich ins Soziale und Politische, und das ist jetzt tatsächlich interessant, wie er das macht. Er stützt sich hier vor allem auf den ersten Korintherbrief. Das wird sich übrigens durchziehen, ich habe lauter postmoderne Auslegungen, die alle eigentlich den ersten Korintherbrief für echt super Zeugs halten, und auch mit Agamben können wir jetzt hier eintauchen. Ich bringe jetzt mal Paulus im O-Ton. Paulus stellt in 1. Korinther 7 ja die spannende Frage: Wie ist das eigentlich so als Mann, muss man da heiraten oder sollte man? Wir kennen die paulinische Antwort: Nein, also wenn es irgendwie geht, lass es, ist viel Stress, Frauen, Kinder, das ist nicht gut. Und wenn man schon verlobt ist, ah, andere Situation und so, also wenn du
da im Wort stehst, du viel versprochen hast, heirate. Also du wirst es bereuen, ist klar, aber es ist auch okay, es ist erlaubt. Aber wenn du noch mal rauskommst aus der Nummer, nutze es umso lieber, und solche Sachen führt Paulus da aus. So, und dann beschreibt Paulus das ja grundsätzlich weiter, er sagt im Grunde nämlich: Heiraten oder nicht - also eigentlich lass es lieber -, aber am Ende entscheidend ist die Frage auch nicht. Im Grunde können wir ein bisschen Freiraum geben, er formuliert dann zum Beispiel: "Wenn du als Sklave berufen bist, als Knecht - du bist gleichzeitig auch ein Freigelassener im Herrn. Also ja, bleib Sklave, nutze es und wisse zugleich: Dein Stand, das ist im Grunde nicht mehr das, was dich bestimmt, sondern Christus. Wenn du als Freier berufen bist, Glückwunsch, aber bild dir nichts ein,
du bist zugleich Knecht im Herrn, du bist zugleich Knecht in Christus." Das, was in der Gegenwart ist, das ist nicht die entscheidende Realität. Die entscheidende Frage ist nicht: "Bist du frei oder bist du Sklave, bist du verheiratet oder bist du nicht verheiratet?" Das Leben, das wir führen, das Leben im Glauben, das Leben im messianischen Bewusstsein, wie Agamben sagen würde, schafft eine Distanz zu allem, was uns ansonsten bestimmen würde. Und Paulus spitzt das dann zu auf die These: "Die Zeit ist kurz, die Zeit ist zusammengedrängt, die Zeit ist zusammengepresst", spannende Formulierungen, "und die, die weinen, sollen sein, als weinten sie nicht. Und die, die sich freuen, sollen sein, als freuten sie sich nicht.
Und die, die kaufen, sollen sein, als würden sie es nicht behalten. Und die, die diese Welt gebrauchen, sollen sein, als gebrauchten sie sie nicht." Das muss man sich mal ein bisschen auf der Zunge zergehen lassen. Die griechische Wendung dabei ist jeweils "hos me", "als ob nicht". Und Paulus geht das durch: verheiratet, als ob nicht. Alle Gemütszustände von Freude und Trauer, also deine soziale Einbindung - geh auf Distanz: als ob nicht; dein persönlicher psychosozialer Zustand - als ob nicht; deine wirtschaftlich öffentliche Stellung, was du kaufst, was dir gehört, was du in der Welt leistest - als ob nicht. Berufliches, Wirtschaftliches, Persönliches, Privates, Soziales, alles
wird in diese Klammer gestellt: Mach es, als ob nicht. Agamben sagt nun, das ist ja ein bisschen steil. Das kann man mal durchprobieren und nach Hause gehen und sagen: Liebe Frau, sollen wir künftig verheiratet sein, als wären wir nicht verheiratet? Das könnte doofe Blicke ernten. "Ich war neulich in Worthaus, die haben das so vorgeschlagen." Also ja, aber das war vielleicht das letzte Mal, dass man hier war, wenn einem die Ehe dann doch noch wichtig ist, wenn man da noch mal second thoughts zu hatte. Ist ja missverständlich. Oder in einer Situation, wo man sich freut oder so. Also ja, ich meine, es gibt die, die Abstiege zu beklagen haben, Köln-Fans und so - die weinen, als weinten sie nicht. Ich weiß nicht, ob das hilft, wenn einer weint: "Köln ist abgestiegen", und man sagt: "Komm, sei doch, als weinst du nicht mehr, denn Jesus ist auferstanden." Ja, es dient der Freundschaft erstaunlicherweise nicht ...
Was ist das für eine Idee, bei allem, was ist, das Soziale, das Persönliche, das Berufliche, das Wirtschaftliche, zu sagen, "als ob nicht"? Und Agamben fragt: Aber was ist das Besondere? Paulus beschreibt für den Glauben ein Weltverhältnis, wo nichts mehr absolute Gewalt hat. Alles ist relativiert. Die Zwingmacht all dieser Dinge ist gebrochen. Nichts bestimmt mich mehr. Dieses "hos me" - wenn man das mal ernst nimmt - ist jeweils auch ein Freiheitsmoment: All das bestimmt mich nicht mehr, macht mich nicht mehr aus, definiert mich nicht. Was ich habe, was ich darstelle in der Welt, was ich besitze, mein sozialer Status, mein Ergehen - es definiert mich nicht. Ich kann dazu in Abstand gehen. Ich bin frei. Ich bin frei, weil ich anders gebunden bin, weil messianische Zeit ist, weil ich gebunden bin an Christus, an diese Botschaft,
an diese Gemeinschaft. Und das ist für Agamben jetzt auch sehr wichtig. Er sagt: Das ist jetzt nicht nur so ein Kopfkino. Das ist jetzt nicht nur so ein existenzialistischer Kram. Das ist ja gerade das Spannende bei Paulus, dass er nicht einfach darüber fantasiert, wie es sein könnte. Agamben sagt: Das ist ja das wilde Experiment paulinischer Gemeinschaften, dass da Sklaven und Freie sich auf anderer Ebene begegnen, dass Frauen reden - bis dahin, dass es Paulus vielleicht auch manchmal zu viel wird. Da könnte man sagen, kleiner Schwächeanfall des Paulus ... Aber eigentlich führt das, was er denkt, ja dahin. So, es wird negiert. Der Status verheiratet, nicht verheiratet und so - es wird negiert.
Es ist gar nicht das Entscheidende. Alles, was Menschen definieren kann, wird aufgehoben. So, denken wir das mal weiter für heute, was Paulus hier definiert als messianisches Zeitbewusstsein: Nichts bestimmt mich mehr. Nehmen wir mal Galater 3,28 dazu. Da ist es ja auch drin: weder Mann noch Frau, Jude, Grieche, Freier, Sklave. Stellen wir uns mal eine Welt vor, wo Menschen sagen: Wer ich bin, das definiert nicht mehr das Geschlecht, was mir zugeschrieben wurde. Ich kann dazu innere Freiheit haben. Ich weiß, das gibt's. In der Welt gibt's männlich, weiblich und so. Es definiert mich nicht. Meine sexuelle Orientierung - die Gesellschaft hat da Ideen: So ist es richtig; das eine nennen wir straight, das andere nennen wir pervers. Das eine ist normal, das andere ist nicht normal. Einfach mal zu sagen: Das definiert mich nicht.
Das bin ich gar nicht. Die Gesellschaft ist auch das Bankkonto, das definiert sehr viel. Was du hast, was du dir leisten kannst, was für ein Auto du fährst, wie du wohnst, wo du wohnst, privat versichert oder nicht. So einfach mal die Überlegung: Es definiert mich nicht. Mein Pass. Wenn man einen Pass hat, ist das etwas, an das man eigentlich im Leben nie denkt. Ist einem eigentlich immer komplett egal oder so. Ja, aber es ist ein großes Privileg! Menschen, die über ihren Pass nie nachdenken, sind sehr privilegierte. 100 Millionen Menschen auf der Welt sind staatenlos, sind rechtslos, haben nicht das Recht, Rechte zu haben. Und von A nach B zu reisen, ist für nicht wenige Menschen ein Riesending. In der Gesellschaft sind wir sehr stark definiert: Das ist meine Staatsangehörigkeit, das ist mein Geschlecht,
das ist mein Beruf, das ist mein sozialer Status. Und all das einklammern zu können, von alldem zu sagen: "Es definiert mich nicht", und dann weiterzugehen und zu sagen: "Es muss auch andere nicht definieren." Und wenn Menschen durch diese Einsicht sich ermuntert wissen, Freiheitsräume zu nutzen, tatsächlich so zu leben, als würde sie das, was sie in den Augen anderer definiert, nicht definieren, dann sind wir in postmodernen Zeiten. - Das ist mehr oder weniger schon Agambens These. Also was Paulus hier vordenkt, ist eine Freiheit, eine Unabhängigkeit, die die allermeisten sich nicht vorstellen können. Es ist eine Unabhängigkeit, die gegründet ist in der Bindung an Christus
und die gebunden ist an eine soziale Gemeinschaft, die ein Experimentierfeld dieser messianischen Freiheit ist. Aber das ist natürlich jetzt auch ein Selbstverständnis, das über alles hinausgeht, was moderne Welt war, was im 18. bis 20. Jahrhundert war. Diese moderne Welt war auch sehr festschreibend, sehr festsetzend im Blick auf all diese Dinge. Die Zeit, die bleibt, die messianische Zeit, ist eine, die enorm Verunsicherungs-, Lockerungs- und Aufbrechungspotenzial hat für vermeintlich feste Kategorien. Ich möchte noch ein kleines Beispiel von Agamben bringen. Er bezieht sich immer wieder mal auf Walter Benjamin. Walter Benjamin ist zum Beispiel jemand, der hätte das auch sehr gefühlt, hätte er das noch gelesen. Der stirbt 1941, und er war einer derjenigen, für ihn war Passhaben oder nicht
eine Lebensfrage, eine Überlebensfrage. 1941, deutscher Jude in Frankreich - führt euch das mal vor Augen. 1933 mussten ja schon viele fliehen oder sind geflohen, weil sie was geahnt haben. Und für viele war Frankreich dann natürlich eine sichere Zuflucht. Alle wussten: 1914, 1918 - Frankreich erobert man nicht mal so. Da bleibst du hängen bei Verdun und blutest aus und so. Also viele dachten: Frankreich, hier bin ich jetzt sicher. Frankreich, was soll passieren? Leute wie Hannah Arendt, wie Walter Benjamin, viele andere waren in Frankreich. 1940, der Krieg bricht aus. Was bedeutete das für Juden und Jüdinnen in Frankreich, die nach Frankreich geflohen sind vor den Nazis? Sie wurden in Frankreich verhaftet als deutsche Staatsbürger. Als deutsche Staatsbürger waren sie auf einmal potenzielle innere Feinde
des französischen Staates und wurden interniert. Da haben die gesagt: "Das ist ein großes Missverständnis. Ich bin hier, weil ich Nazis hasse. Ich würde auch schießen auf Nazis. Ich hasse die ganz feste, mehr als viele von euch. Bei euch würde ein Drittel ja sogar noch klarkommen mit den Nazis. Ihr könnt mich nicht einsperren! Das ist Wahnsinn. Das ist krank. Gerade weil ich in Deutschland nicht mehr als Deutscher gelte, sondern als Jude, könnt ihr doch jetzt nicht mich für einen Deutschen erklären und einsperren." Aber es ist passiert. Das ist Realität, Kategorien, die aufgestülpt werden. Dein Leben lang hältst du dich für einen Deutschen, und auf einmal bist du nur noch der Jude, die Jüdin. Als Jude bist du in Frankreich angeblich in Sicherheit. Auf einmal bist du der Deutsche. Das hat viele betroffen.
Dann war ein halbes Jahr komischer Krieg. So hieß es in Frankreich: der komische Krieg. Seit September 1939 ist Krieg, aber nix passiert. Der Winter kommt. Weihnachten kommt, geht vorbei. Neues Jahr. Man denkt: Das war ja komisch. So, und dann ist Krieg. Fünf Wochen später ist er vorbei. So schnell, dass die Internierten immer noch interniert waren. Und dann sagten die: "Ihr könntet uns jetzt freilassen, denn das wird hier gerade auch alles irgendwie Nazi-Land. Wäre sehr unangenehm, hier gefangen zu bleiben." Und die Wächter sagten: "Wir können euch jetzt nicht mehr freilassen. Keiner weiß, wer jetzt hier was zu sagen hat. Am besten bleibt jetzt mal alle interniert, und wir gucken, was wird oder so." Das war für viele Juden, Jüdinnen natürlich ein Albtraum, für Menschen wie Hannah Arendt, Walter Benjamin grauenhaft, sie mussten weiterfliehen, mussten schauen, dass sie irgendwie weiterkommen.
Und Walter Benjamin ist jetzt schon ein Mensch, also wenn man seine Biografie liest ... Ich glaube, sehr atheistische Menschen, die sich durch die Biografie von Walter Benjamin lesen, würden da ernsthaft das Bedürfnis in sich entdecken, einfach mal Danke zu sagen, dass sie es nicht so schwer haben wie er. Der hatte es sehr schwer. Der hatte nichts mit Liebe und Familie und kein Geld und Karriere und so. Also Kafka hatte ein leichtes Leben im Vergleich mit Walter Benjamin. Der war im Grunde schon am Ende und schrieb; schrieb über Geschichte, schrieb über messianische Hoffnung, schrieb über diese ganzen Themen. Er trifft Hannah Arendt noch in Marseille, hat so einen Text fertig über Geschichtsphilosophie, über den Begriff der Geschichte, und gibt das weiter an Hannah Arendt. Man konnte ja nicht sagen: "Gehen wir mal ins Reisebüro, ist ja hier alles Mist. Viel Pech gehabt."
Jetzt fahren wir in die USA." Nein, ist ja alles großes Chaos. Zehntausende rennen. Frankreich bricht zusammen. In der Besatzungszone im Süden geht noch was. Manche Amerikaner helfen. Keiner weiß. Die Wege verstreuen sich. Hannah Arendt schafft es irgendwie, durch Spanien hindurch nach Portugal zu kommen, bleibt da noch monatelang, kriegt dann ein Schiff. Walter Benjamin lässt sich irgendwie führen über die Pyrenäen an die Grenze, er will auch rüber. Er kommt an der Grenze an und erfährt: "Das ist aber bitter. Gestern wurde die Grenze geschlossen." Und dann weiß man es nicht genau. Walter Benjamin kommt zu Tode. Man geht davon aus, dass er seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat, weil er nicht mehr konnte. Das ist das, wovon seine Freunde ausgingen. Und seine Schrift, die er noch so mit letzter Kraft Hannah Arendt geben konnte, ist dann natürlich eine sehr spezielle Flaschenpost, ein Vermächtnis. Sie wird in den USA rausgegeben, Gershom Scholem und Hannah Arendt geben das alles heraus.
Im Grunde ist der ganze Paulus-Kommentar von Agamben ein Zwiegespräch mit Walter Benjamin: Was ist das Messianische? Was ist Hoffnung in einer Welt, in der jede Hoffnung zusammenbricht, wo die Welt jede verzweifelte Hoffnung zermalmt und du irgendwann am absoluten Nullpunkt der totalen Hoffnungslosigkeit anlangst? Und wenn das einem passiert und wenn es Tausenden passiert und wenn es Hunderttausenden, wenn es Millionen passiert, die irgendwo zwischen den Pyrenäen und Auschwitz zu Tode kommen - wie kannst du überhaupt noch Worte wie Hoffnung oder messianisch oder Gott in den Mund nehmen? Geht das denn überhaupt noch? Und was Agamben nun aus diesem Text von Walter Benjamin macht, dieser Flaschenpost am Rande der totalen Hoffnungslosigkeit, ist nun sehr spannend.
Er zeichnet im Grunde die These nach - und ich glaube sie ihm auch -, dass Benjamin in diesem Text Paulus verarbeitet, dass Benjamin hier offensichtlich Paulus' Korintherbriefe verarbeitet. Diese Annahme steht leicht auf schwachen Füßen, weil Benjamin nicht ständig über Paulus und so geredet hat. Aber es gibt eine Passage, da schreibt Benjamin von der schwachen messianischen Kraft, und schwach hat er gesperrt gedruckt, so dass es deutlich wird, dass es ein Zitat ist. Er zitiert messianische Kraft als schwache messianische Kraft. Wenn man jetzt bisschen in Paulus drin ist, kann man sich so die Linien ziehen: "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig", zweiter Korintherbrief. Oder erster Korintherbrief: "Die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind." Ich halte es auch für plausibel, dass tatsächlich hier der
messianisch-jüdisch-marxistisch-agnostische, religiöse Walter Benjamin, - der ist auch zwischen allem - sich hier tatsächlich bei einer paulinischen Wendung bedient im Sinne einer jüdisch-messianischen Hoffnung. Und Agamben macht da viel raus und sagt: Wir haben gesehen bei diesem hos me, bei diesem als-ob-nicht, dass die Hoffnung und der Glaube bei Paulus das Verhältnis zur Gegenwart verändert, eine Freiheit schafft, auszusteigen aus den Gefängnissen, in die wir gezwungen werden durch alle möglichen Kategorien. Mit Benjamin gewinnt er nun die Idee: Diese messianische Zeit verändert auch unser Verhältnis zur Vergangenheit. Was schreibt Walter Benjamin da im Zusammenhang? Er sagt: "Marxismus, messianische Hoffnung und so weiter kann nicht so
funktionieren, dass wir sagen: Leben ist echt hart. Aber eines Tages werden der Schall der Posaune und die Glocken Jerusalems und das Licht vom Himmel kommen und es wird alles gut, und alles, was ist, das atmen wir alles weg." Also am Rande der Verzweiflung tröstet dich nicht mehr die Idee, dass das Schlaraffenland schon kommen wird. Aber am Rande der Verzweiflung gewinnt Benjamin eine andere Überzeugung, nämlich die: Also zunächst mal das Harte. So viele Menschen sind ja irgendwo gestrandet, wurden zerbrochen, wurden zermalmt, wurden hingerichtet. So viele Hoffnungen sind ja gestorben. Das ist ja die Realität. Und messianische Hoffnungen und politische Hoffnungen, die dafür blind sind, die das ignorieren, sind unmenschlich und arrogant und verdienen kein Vertrauen mehr.
Aber es kann ja jetzt auch nicht die Lösung sein, dass wir einfach nur noch Trübsal blasen und nur noch alles ignorieren. Denn die Verstorbenen, diejenigen, denen Ungerechtigkeit widerfahren ist, hatten ja mindestens die Hoffnung, dass sie nicht in Vergessenheit geraten, also dass es irgendwo bewusst werden wird: Sie sind Opfer von Ungerechtigkeit. Es ist noch die letzte Hoffnung des Zermalmten, dass das Unrecht, was hier geschah, nicht einfach gleichgültig ist, sondern dass erkannt wird: Es war Unrecht. Benjamin sagt: Es ist die Hoffnung der Vergangenheit gewesen, dass es eine Zukunft geben wird, die sich erinnert und ihnen Gerechtigkeit widerfahren lässt. Benjamin sagt weiter: "Und wir sind diese Gegenwart, die für die mal Zukunft war.
Wir sind ihre Zukunft. Und dass wir uns der Leidenden erinnern und dass wir das Unrecht, das geschah, nicht unsichtbar machen und dass wir das Gedächtnis der Gefolterten weitertragen, das ist unsere Berufung, die uns aus der Vergangenheit ereilt. Das ist die Hoffnung der Verstorbenen. Wir sind ihre messianische Zeit, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem wir sie nicht vergessen, sondern ihr Geschick weitertragen. Das ist unsere schwache messianische Kraft." Das ist der Punkt, den Agamben stark macht, und er sagt: Was macht Paulus? Er liest das Alte Testament. Er liest die hebräische Bibel und er lässt diese ganzen Geschichten nicht in Vergessenheit geraten. Aus seiner Erfüllungshoffnung rettet er, wenn man so will, all die, die unterwegs
waren, erinnert an Abraham, erinnert an die Propheten, erinnert an Jesaja, und das ist zutiefst messianische, jüdische, erfüllte Hoffnung, die Vergangenheit nicht abzuhaken, sondern sie in Erinnerung zu halten. Nehmen wir das jetzt mal für uns heute. Auch wir sind in dem Sinne ja die Zukunft derer, die vergangen sind. Wir sind die Hoffnung derer, die vor uns gekämpft haben. Und vielleicht ist ja auch das jetzt eine eine Perspektive für uns: Wir sind die Hoffnung derer gewesen, die sich eingesetzt haben für eine Kirche, wo nicht nur Männer reden, sondern wo Männer und Frauen gemeinsam unterwegs sind. Wir sind die Hoffnung gewesen derer, die sich einsetzen für eine Kirche, wo
Menschen, die nicht so heterosexuell oder cis oder sonst was sind, die anders sind, die verachtet und verspottet sind, einmal zu Hause sein dürfen. Wir sind die Hoffnung derer gewesen, die für eine Kirche eingetreten sind, die nicht nur Macht ausbaut und selbstgerecht herrschen will, sondern die dienen will, die sich öffnet, die neue Gedanken hat, die neue Wege geht. Auch wir sind mögliche messianische Erfüllung der Hoffnung von Menschen vor uns und können die Fackel dieser Hoffnung weitertragen. Auch das ist messianisches Zeitbewusstsein. - Ich mache noch einen kurzen letzten Abstecher bei einer dritten postmodernen Position. Die dritte postmoderne Position ist nun John Caputo. John Caputo hat ein Buch geschrieben über die Torheit Gottes.
John Caputo ist derjenige, der diese ganze Dekonstruktionsidee in christliche Kreise eingeführt hat. Es gibt ja auch so Anti-Dekonstruktionsleute, die das alles ganz gefährlich und ganz schlimm und bedenklich finden und so. Ich habe noch nie irgendeinen entdeckt, der sich damit auseinandersetzt, was völlig kurios ist, denn es war wirklich so: Der Philosoph John Caputo hat ein Seminar gehalten bei Emerging Church, bei Postevangelikalen der Frühnuller Jahre, und daraus ein Buch gemacht, "What would Jesus deconstruct?", und hat so den ganzen Terminus geprägt. Und dann gab es da auch andere wie Brian McLaren und so. Also wer sich so ein bisschen für Dekonstruktion interessiert - es ist völlig absurd, das ohne Caputo und so zu machen. Und Caputo sagt: "Wo hat man das im Grunde her?
Von Paulus. Paulus ist im Grunde der Großmeister aller Dekonstruktion." Ja, wo dekonstruiert Paulus denn? Ja, wieder im ersten Korintherbrief. Wir hatten vorhin schon so dieses "Die Juden fordern Zeichen, die Griechen fragen nach Weisheit." Und dann schreibt Paulus Folgendes: "Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. Was töricht ist vor der Welt, hat Gott erwählt, damit er die Weisen zu Schanden mache. Was schwach ist vor der Welt, hat Gott erwählt, damit er zu Schanden machen, was stark ist. Was gering ist vor der Welt, was verachtet ist, das hat Gott erwählt; was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist." Und Caputo sagt: Das steht in der Bibel, steht in der Heiligen Schrift. Viele Predigten habe ich nicht dazu gehört. Ich habe irgendwie auch das Gefühl, viele Gläubige, Kirchen, Christen und so, die
stellen sich gar nicht mehr hin und sagen: Wir sind nichts und töricht und verachtet und schwach. Die fühlen sich alle ganz schön geil inzwischen. Die fühlen sich superklug, machen Apologetik, sind immer klüger als die anderen. Komisch eigentlich. Komisch. Also irgendwie finden die Paulus super. Aber jetzt da viel lesen und was draus machen muss man gar nicht so. Und er sagt: Was macht Paulus denn hier? Was sind das für Ideen? "Die Torheit Gottes ist weiser als die Menschen." Die Schwachheit Gottes. So fängt es ja an. Die Torheit Gottes und die Schwachheit Gottes. Das klingt gar nicht so bibeltreu. Wenn man es einfach so erfinden würde, so in irgendwelchen Kreisen und sagen würde: Also ich entdecke bei Gott ja ganz viel Torheit und Schwachheit - das wird ja nicht in jedem Bibelkreis Begeisterung hervorrufen, Halleluja, Gebetsgemeinschaft, "Lasst uns die Torheit und Schwachheit des Herrn preisen." Es wäre ja ungewohnt, erst mal damit klarzukommen, wenn man nicht genau wüsste, dass es in der
Bibel steht. Caputo geht dem entlang. Vier Punkte fallen ihm dazu ein. Es sind ja paradoxe Formulierungen. Denn er sagt: "Die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind." Also keine Angst: Gott bleibt weiser. "Die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind." Das ist ja eine paradoxe Formulierung. Was ist ihr Sinn? Caputo. sagt: Wir, die wir uns darauf beziehen, stehen zum Ersten in der Tradition des apophatischen Christentums. Und wir sehen bei Paulus hier eine Grundlage. Apophatisch heißt das Bewusstsein Gott ist überall unser Erkennen hinaus. "Der Frieden Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft." Alles, was wir über Gott sagen - wenn wir die Weisheit Gottes erklären und glauben, das zu schaffen, blamieren wir uns.
Das, was wir sagen können, ist immer tausendfach geringer als das, was Gott ist. Zweitens: Das, was wir über Gott sagen, was wir als Theologie treiben, ist immer soziale Konstruktion, ist immer überholbar. Paulus macht es ja mit seinen Konkurrenten, mit seinen Gegnern, mit dem, was er früher gemacht hat. Natürlich macht Paulus eine Riesendekonstruktion dessen, was er sich früher so überlegt hat. Viel mehr dekonstruieren als Paulus ist schon schwer. Da macht er ernsthaft viel. Er sagt: Wodurch kommt das in Bewegung, solche Dekonstruktion? Durch Wandel. Wandel kann sein, dass du dem Auferstandenen begegnest und dann hast du richtig zu tun, das für dich alles nochmal klarzukriegen. Wandel kann natürlich auch sein: Du hast auf einmal einen neuen Podcast entdeckt und kommst auf einmal auf Gedanken, die du nie geahnt hast. Oder: Die Welt dreht sich weiter. Dinge passieren in der Welt. 20 Jahre sind vorbei. Du bist raus aus der Kinderphase, fängst an nachzudenken und merkst: Irgendwas ist passiert. Irgendwas ist anders geworden.
Der Wandel der Zeit lässt auf einmal Dinge aus der Zeit gefallen aussehen. Und Caputo sagt: So man irgendwas mit Gott verbinden kann, sollte man es auch ernst nehmen. Gott selbst macht Druck. Es gibt einen Druck von oben. Es gibt einen Druck der Wahrheit, dass man irgendwann auf die Idee kommen kann: Das, was ich so bisher denke, war vielleicht nicht das Ganze. Gott könnte größer sein. Gott könnte mehr sein. Gott geht nicht auf in dem, was ich bisher gedacht habe. Für John Caputo ist Paulus jemand, der einen auf diese Gedanken bringen kann: All mein bisheriges Denken ist unfertig, trifft es nicht, ist vorläufig, ist im Grunde Versuch, ist nicht die ganze Geschichte, sondern ist ein Teil. auch das kannst du philosophisch weiterführen -, es ist kein System. Ein System, was sich absolut setzt und nicht mehr in der Lage ist, sich zu hinterfragen,
ist Ideologie. Wahrheitsdenken zeichnet sich dadurch aus, dass sie immer bereit ist, sich zu hinterfragen. - Das waren drei Beispiele postmoderner Philosophie zu Paulus. Ich möchte nur eine Sache noch dazu sagen. Ich finde das alles interessant, finde es alles gut. Das kann man alles so machen. Alle drei haben einen großen Nachteil. Sie sind nicht auf dem Stand von Worthaus 12. Die hatten noch nicht mal das mit der New Perspective so richtig vor Augen. Das sind so die Standardvorwürfe an Agamben und Badiou, dass man sagt: Ihr habt ja nicht mal die New Perspective. Und im Grunde habt ihr immer auch noch viel anti-judaistisches Zeugs und so in euren Birnen. Und das ist ein Nachteil. Das kann man ihnen vorwerfen, ja, also die meisten deutschen Theologie-Professoren der 90er Jahre waren auch noch so in Verweigerung und wollten das auch nicht haben.
Ich würde es an der Stelle aber weiterbringen. Wären die auf dem Stand von Worthaus 12, wäre ja alles noch schöner. Was haben wir bei Worthaus 12 gelernt? Das Neue Testament ist ein wildes Buch. Das Neue Testament ist wirklich wild. Warum? Die Autoren des Neuen Testaments verstehen sich als Juden. Sie schreiben als Juden. Innerhalb eines bunten Judentums sind sie da irgendwo drin und sie verstehen sich jüdisch. Darum haben sie ja so Streit und darum gibt's da auch ein bisschen böses Blut manchmal. Und darum explodiert es dann hier und da. Es wäre ja gar nicht nötig, den Paulus zu verkloppen. Wenn er sagen würde: "Hey, ich bin eine ganz andere Religion. Lasst mal die Finger von mir", dann würden sie sagen: "Ah, du bist eine ganz andere Religion. Da wären wir ja Idioten, dich zu verkloppen." Also gerade weil er Jude ist, gibt's ja diesen ganzen Streit. Auf der einen Seite sind das alles Juden und auf der anderen Seite schreiben sie Literatur,
die im zweiten Jahrhundert irgendwann ausschließlich von Menschen rezipiert wird, die sich dezidiert vom Judentum abgrenzen und die so tun, als wäre das Neue Testament ein christliches Buch. Das Neue Testament wird gelesen als christliches Buch, als gäb's da nichts Jüdisches drin. Und es ist von Juden geschrieben, die noch gar keine Idee haben, was Christentum sein könnte. Und das ist wild und das ist herausfordernd. Also wenn jemand sagt: "Ich stehe auf dem Boden des Neuen Testaments", der hat auch Worthaus 12 verpasst, nein, er hat die neuere Forschung verpasst. Das Neue Testament steht auf einem Standpunkt, der völlig unmöglich heute geworden ist. Übrigens: Auch messianische Juden sind nicht Nachfolger der Autoren des Neuen Testaments. Das ist was ganz anderes, das ist was Modernes, das kann man damit gar nicht vergleichen.
Jetzt kann man sehr verwirrt sein und sagen: "Also Worthaus 12 hat mich traurig gemacht. Ich habe viel mehr Fragen als Antworten." Man kann auch einfach mal die Schönheit dieses Befunds genießen: Das Neue Testament ist zwischen den Zeiten. Es ist zwischen den Welten. Es ist zwischen den Religionen. Es ist von einem Standort geschrieben, den es so nicht mehr gibt. Es ist eine Schönheit. Da ist auch Tragisches dran und Trauriges und Verstörendes und so. Aber es zeigt, dass alle Standpunkt-Gewissheit, alle religiösen Absolutisten, alle fundamentalistischen Illusionen, sich ein lehrmäßiges Christentum klarzusetzen, wo auch nichts Jüdisches vorkommt, dass das sehr viel Fake ist. Das Neue Testament so zu lesen als eine fremde Stimme, eine herausfordernde Stimme, macht all unsere Standpunkte kaputt. Und darin liegt sehr viel Schönes, weil die Zerstörung aller Standpunkte,
diese Dekonstruktion - was historische Exegese vielfach zeigt - uns im Grunde befreit zu der Einsicht: Gibt es auch keine Standpunkte, so gibt es doch Wege. Wege der Nachfolge Jesu, Wege des Glaubens, Wege der Liebe, Wege der Hoffnung, Wege, die Wendungen nehmen, die irgendwann so passieren. Und Christentum ist geworden. es ist eine Realität. Und Irrwege kommen vor. Die Verfeindschaft gegenüber dem Judentum ist ein grauenhafter Irrweg. Aber man kann auch 1900-jährige Irrwege korrigieren. Man kann auch die Richtung ändern. Man kann umlernen und neu dazulernen, solche Wege neu zu eröffnen. Ich hoffe, Worthaus 12 hat dazu beigetragen. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.
Paulus und die Postmoderne | 14.6.3
Das Neue Testament wurde vor sehr langer Zeit von einer relativ kleinen Gruppe von Menschen verfasst. Es sind Stimmen aus einer anderen Zeit, fremde und herausfordernde Stimmen, die – wenn man sich ihnen ganz öffnet – unsere Standpunkte ins Wanken bringen. »Darin liegt Schönheit«, sagt Thorsten Dietz. Denn wenn alle Standpunkte zerstört sind, bleiben Wege übrig. Auf Wegen kann man sich auch mal verlaufen, kann die Richtung ändern, kann gemeinsam gehen und voneinander lernen. Dietz führt das Publikum in diesem Vortrag Wege, die nicht naheliegen. Er führt in die Philosophie. Denn nicht nur in der Theologie haben sich Menschen mit Paulus beschäftigt, auch Philosophen wie Alain Badiou, Giorgio Agamben oder John D. Caputo haben seine Schriften gelesen. Und sich Gedanken darüber gemacht, was Paulus uns Menschen, knapp 2000 Jahre nach seinem Tod, zu sagen hat.