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Ja, wir machen hier eine Paulustagung und wir haben schon viel Liebes und Gutes über Paulus gehört, dass er gar nicht so schlimm war und eigentlich richtig nett und als Ampostel ganz wichtig und unverzichtbar für das Christentum. Und es ist doch jetzt noch mal wieder Zeit, einfach mal den Stimmen Raum zu geben, die sagen, der Paulus, ja das war ein ganz gefährlicher, das war ein ganz schlimmer, ganz verkehrter, ganz verdrehter Mensch. Ja, das verträgt nicht jeder gut, also nicht jeder liebt und umarmt Kritik, jeder prüfe sich selbst und so ist ja auch alles nicht immer willkommen oder für das seelische Wohlbefinden heilsam und so. Aber jede Kritik ist ja irgendwo auch kostenlose Beratung. So,

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es gibt Formen der Kritik, da merkt man schnell, also wenn man von da kritisiert wird, hat man alles richtig gemacht. Das gibt es auch, das ist natürlich auch möglich. Aber man kann natürlich bei jeder Kritik auch fragen, wo ist der Punkt, wo ist das Berechtigte, was kann man auch noch mal optimieren, was muss man verändern, wo kann man bei viel verkehrten doch auch noch mal was richtiges rausschlagen und gewinnen. So, insofern nehmen wir das jetzt einfach mal als Chance, wir gönnen uns heute eine Paulus-Kritik. Noch ein bisschen die, ja eine der heftigsten und bösartigsten und radikalsten Kritiken an Paulus und wir werden das jetzt nicht so machen. Die Kritik lautet A, B, C, D und dann gehen wir das der Reihe nach durch und klären völlig falsch, so alles Unsinn, das wischen wir jetzt vom Tisch. Na, dafür ist die Kritik zu interessant, zu gewichtig, auch zu lehrreich. Wir lassen uns darauf mal ein und gucken mal, was ist vielleicht

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da dran. Und am Ende, ich spoiler mal, Paulus wird das überleben. Paulus wird das überleben, wir auch. Vielleicht aber noch mal mit einem tieferen Gespür dafür, wo kann man Paulus vielleicht auch problematisch verstehen, wo gab es wirklich auch Fehlentwicklung und was kann man an harscher Kritik, an Anstoß mitnehmen, um ihn besser zu verstehen. Titel des Vortrags Nietzsche und Paulus, Friedrich Nietzsche und ja, unser Paulus von Tasus und im Grunde die Idee war, die Kritik der Moderne an Paulus exemplarisch mal vorzuführen. Hab dann gemerkt, das meiste, was spannend ist an moderner Paulus-Kritik in der Theologie, in der Philosophie, in allen möglichen Geisteswissenschaften, man findet bei Nietzsche eigentlich eine geniale Zusammenstellung davon. So und insofern ist es ein bisschen exemplarisch gemeint. Nietzsche steht für eine moderne Kritik an Paulus. Er macht es

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wiederum so interessant, er ist ja auch irgendwo ein Vorreiter der Postmoderne, dass er die Moderne teilweise auch überholt, teilweise auch unterbietet, wir werden beides erstellen und jetzt lassen wir uns einfach mal drauf ein. So fangen wir zunächst mal mit Nietzsche an, was ist das für einer, was war das für ein Mensch? 1844 geboren, Facherskind. Ah, da ist viel möglich, kann viel draus werden, man kennt das. Facherskinder, Müllers Vieh. Geht meistens gut oder ich weiß nicht mehr, wie der Reim war. Bei Nietzsche schwierige Kiste, aber auch ein bisschen tragisch. Ein Vater stirbt früh, ein bisschen grausam und schmerzhaft, so durchaus frühe Kindheitstraumatisierung. Nietzsche wird im christlichen Glauben erzogen. Das familiäre Klima ist bunt, es ist im Grunde liberal-konservativ, pietistisch-fromm irgendwie.

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Also man kann nicht so einfach sagen, war liberal oder war pietistisch, war eine wirklich interessante Mischung, wie es ja oft so ist. Schwarz-weiß ist ja selten richtig, es ist ja oft viel bunter und interessanter. Jetzt lassen wir uns nicht näher auf seine Kindheit ein, die hatte Tücken, hatte wirklich Tücken. Mutter ein bisschen schwierig, Schwester ein bisschen schwierig, Tante ein bisschen schwierig, lassen wir mal gut sein. Der junge Friedrich Nietzsche ist ein frommes Kind, er schreibt herzliche Betrachtung über den Glauben, schriftlich glühende Gebete zu Jesus Christus voller Heilandsliebe. Es ist so wirklich ein mild pietistisch, protestantisch, nicht unweites Fahrhaus 19. Jahrhundert. So er ist hochbegabt, sehr hochbegabt, bisschen auch weit über den Punkt hinaus, um noch als normal durchzugehen in vielen Bereichen. Er liest viel,

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er ist vor allem in den alten Sprachen sehr bewandert, sehr musikalisch am Klavier komponiert, so also voller Begabung steckt er. Er ist früh mit vielem durchvertraut, er hat mit 19, 20 Jahren ein Bildungsniveau wie heute die wenigsten Doktoranden der Geistesgeschichte, weil er ungeheuer tief in der Antike überall drin ist. Er hat in der frühen Jugend eine heftige Glaubenskrise, die speist sich aus zwei Quellen. Die eine Quelle ist, er wird vertraut mit moderner liberaler Theologie, mit David Friedrich Strauss, historisch kritische Arbeit an der Bibel, auch moderne Jesus-Literatur, dass vieles gar nicht so gewesen sei, wie es da steht. Das findet er in seinem Glauben als sehr, schmerzhaft. Er kriegt darüber viele Zweifel. So der nächste Stoß, den er bekommt, er ist 1844 geboren,

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1859 erscheint Charles Darwin, Entstehung der Arten, da ist er 15, so frühe 60er Jahre, alle, die wach sind, saugen das auf, beschäftigen sich intensiv damit. Und im Grunde kann man sagen, in den 60er Jahren diese Doppelzange, so diese historische Bibelkritik und diese naturwissenschaftlich unterfütterte Kritik am christlichen Weltbild insgesamt, machen ihm Glauben zu einer Sache der Unmöglichkeit. Er verliert seinen Glauben. Er merkt, es geht nicht mehr weiter. Das, was ich mir irgendwie mit Bibel, Jesus, Gott und Glaube so gedacht habe, das funktioniert nicht mehr. Er studiert Altphilologie überwiegend, bisschen Wendung. Also griechisch-latin, ist sehr früh mit allem durchpromoviert, bekommt eine Professur in seinen 20er Jahren noch in Basel, ist junger

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Professor für die alten Sprachen über die alte Geschichte, gilt als aufstrebendes, junges Genie als 1000-Sasser. Er ist sehr wortgewandt, rhetorisch, auf der Höhe der Zeit, beschäftigt sich mit vielen. Als er anfängt, Bücher zu schreiben, hat er im Grunde eine klare Leidenschaft, eine klare Vision, wie man die Dinge zusammenkriegen muss. Die Kunst allein rettet. Ohne Musik ist das Leben ein Missverständnis. Die Welt kann nicht mehr im alten Sinne erklärt werden mit Religion, mit Tradition, mit Herkunft. Das erlaubt das moderne Denken bei weitem nicht mehr. Wissenschaftliche Aufklärung und so weiter hat alle alten Zöpfe brutalst rasiert. Aber sich jetzt aus der modernen

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Wissenschaft eine Weltanschauung zu machen, was für ein Blödsinn. Das war damals durchaus beliebt. Ludwig Büchner, Bruder vom alten Büchner, dem Schriftsteller, dem Autor, hat da große Dinge entwickelt im Darwinismus. Viele entwickeln eine naturwissenschaftlich basierte Weltanschauung, wo alles materialistisch erklärt wird. Nietzsche sagt, das ist ja wahnsinnig dröge und geistlos und langweilig. Und seid ihr von Sinnen euch irgendwie als Stoffhäufchen, die aus dem Tierreich hervorgekrabbelt sind, allein zu verstehen? Das ist ja Wahnsinn. Die Kunst, die Kunst erlöst, die Kunst ist das einzige, was dem menschlichen Glauben Sinn und Tiefe verleiht. Zum einen ist es die Philosophie von Arthur Schopenhauer, die ihn mit Begeisterung erfüllt. Zum anderen verfällt er der Musik von Richard Wagner. Er wird begeisterter Wagnerianer. Das war damals

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epidemisch, da gab es viele. Und es ist ja auch zum Niederknien. Das liegt nicht jedem, das weiß ich. Es gibt Menschen, die sagen, ich kann es nicht ertragen, ich möchte irgendwie ein Glas an die Wand werfen, ich muss raus oder so. Ich kann es nachvollziehen. Also das stundenlang mal gehört zu haben und sich so von Rausch zu Rausch transportieren zu lassen, dass man sagt, das darf nie wieder aufhören. Das ist das wahre Leben und so dieses Gefühl, wenn es vorbei ist, dass alles doch hohl, schal und leer ist. Also ich kann da mich teilweise einführen. Wer das so ein bisschen mal nachempfinden will, letzte Chance ist Budenbrocks Thomas Mann. Thomas Mann war ganz genau so. Also das Leben ist nur real im Rausch der Musik. Wenn die Musik vorbei ist, ist der Rest kalte Asche. So das war sein Gefühl. Und er hat im Grunde versucht,

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der Philosoph zu sein. Der Philosoph dieser Musik, der Philosoph dieser Kunst. Und sein Traum war, die Religion stirbt dahin und sie hat es verdient. Und die Naturwissenschaft kann Religion nicht ersetzen. Und dieser ganze Bismarkram und deutsches Reich und das Herr und das, es kann keine Kultur ersetzen. Und Elsa's Lotring auch nicht. Und dieses ganze Zeug, dieser Nationalismus und Börsenkrach und all dies. Allein aus der Kunst und vor allem aus der Tiefe der deutschen Kunst muss eine Wiedergeburt des Lebens erfolgen. Ansonsten ist alles im Grunde für die Katz. So und auf diesem, man kann sagen romantischen Pfad, ist er einige Jahre, bis er sich irgendwann schüttelt und sagt, das ist nicht der Weg. Da führen viele komplizierte Wege hin, auch Zerrüttungen im Verhältnis zu Richard Wagner, die alles super interessant ist, müssen wir jetzt aber nicht verfolgen. Nietzsche

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schüttelt sich und sagt, was war mit mir? Ich habe aus Wagner-Kult, aus Musik, aus dem Rausch der Klänge, aus der Schönheit der Literatur im Grunde etwas religioides gemacht, etwas religionsförmiges. Ein Rausch, eine Weltflucht. Ich hatte eine ungeheure Weltverneinung. Ich fand alles schlecht irgendwie. Nur in der Kunst, im Rauschtischönen konnte ich existieren. Da allein, da wo Dionysus und Apollo sich treffen, der Rausch der Tiefe und die Höhenluft der klaren Form und ihre Schönheit. Das waren so Ideen, die er damals hatte. Und ich wurde weltflüchtig, wieso komische Religionen das machen? Es kann es doch nicht sein, es kann es doch nicht sein, dass wir diesem religiösen Wahn jetzt auch noch mit einer Kunstreligion immer noch treu bleiben,

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kommt man da nicht raus. Nietzsche hatte zur gleichen Zeit eine schwierige gesundheitliche Entwicklung, da gibt es große Abhandlungen zu. Er hatte erhebliche Migräne und vieles andere auch, sodass er wirklich sehr früh in seinen 30er Jahren pensioniert wurde. Arbeitsunfähig pensioniert, ja Basler Professor, da kommt man auch nach ein paar Jahren Arbeit irgendwie zurecht. Aber schon, war nicht mehr arbeitsfähig, war freigestellt, hatte dann ein Leben viel auf Reisen und er kam mit vielem Klima nicht klar. Hat im Grunde geschaut Höhenluft im Sommer Engadin Silzmaria, ah guter Geschmack, das ist schon ganz schön Nietzsche Haus, kann man sich da anschauen, der See, die Berge, das Höhental schlechthin der Schweizer Alpen, wunderbar. Und im Winter,

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man will ja da nicht festgefroren sein im März oder so, im Winter ans Mittelmeer irgendwo Nizza oder irgendwo wo es schön ist so, Frankreich, Venedig, Nizza, irgendwo wo man noch Mensch ist und so und irgendwie Luft kriegt auch im Winter und so. So das war und denken, denken und schreiben und machen, wenn es ging, immer wieder unterbrochen von Wochen und Monaten, wo er krankheitsbedingt wirklich dann niederlag, alle Vorhänge zu, kein Licht, keine Bewegung, nichts mehr, so völlig und dann rauschhafte Phasen der exzessiven Produktion. Er hat in dieser Zeit, wir reden jeweils von wenigen Jahren, zwei große geistige Wellen. Es gibt nach der Wagner Jüngerschaft bei ihm eine radikale Zuwendung, sagen wir mal, zur Aufklärung, zur Neuzeit, zur Moderne. Nehmen wir exemplarisch

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sein Buch Fröhliche Wissenschaft. So als kunstbegeisterter Mensch hatte er so das Gefühl, Naturwissenschaften haben mir den Glauben zerstört, das nehme ich den Übel und so und das ist alles falsch. So und nun sagt er aber, nein, Wahrheit ist Wahrheit. So und wenn die Naturwissenschaften uns beschreiben als Abkömmling des Tierreichs, als Teil der Natur, da müssen wir jetzt Luft holen und aber die Wahrheit umarmen, denn wir können nicht am Leben, an der Wirklichkeit, an der Wahrheit vorbeiexistieren. Die Naturwissenschaften, das ist der Punkt, wo heutzutage die Schleier der Vorurteile früherer Jahrhunderte zerrissen werden noch und noch und der starke Geist feiert diese Entzauberungen. So und wir können lernen, lernen, lernen und in diesen Jahren versteht er sich als freier Geist,

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der sich auf Treue zur Wissenschaft einschwört, zur Wahrheit, der der Kunst in größerer Freiheit die Treue hält, radikale Strömungen der Aufklärung entdeckt, Spinoza, gibt einen Worthausvortrag über Spinoza und so. Das wird ein Leitstern, der ihn sehr inspiriert und in der Zeit kriegt er auch ein anderes Verhältnis zum Atheismus, in dem er nicht mehr erleidet, sondern für eine der wichtigsten Durchbrüche des geistigen Lebens überhaupt hält. Und viele haben vielleicht mal gehört diese kurze Sequenz, diese kurze Geschichte vom der tolle Mensch, der Gott sucht und Gott vermisst und dann kommen Leute und lachen über ihn und was so los ist und er ihnen entgegenhält, Gott ist tot und dann beschreibt, Gott ist tot, das ist ein ungeheures Ereignis, die Menschheitsgeschichte

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wie wir sie kennen, alle Hochkultur von den Griechen und Römern an und über die ganze Welt verstreut, war religiös, hatte immer etwas absolutes, etwas erstes, hatte einen Fixpunkt außerhalb der Realität und an diesem Fixpunkt waren aufgehangen alle Begriffe, die wir haben von Wahrheit und Lüge, von Gut und Böse, die Metaphysik, die Transzendenz, das war der Maßstab. Und alles was wir an Staatsrecht und Moral und Recht und so weiter hatten, war irgendwo abgeleitet davon, dass es objektive absolute Wahrheit gibt, objektive absolute Moral und wenn diese Stelle gelöscht wird, wenn wir auf einmal uns in einer Welt wiederfinden ohne absolutes, wird alles

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relativ, dann ist alles nur noch Fluss der Geschichte, dann ist alles nur noch Entwicklung, nur noch Natur und all die Begriffe des Wahren und Guten und Schönen verfallen irgendwo, da müssen wir aushandeln, ist irgendwie beliebig, es ist nie ewig fix und einmal will sich das komplett auflösen und was heißt das für uns? Was heißt das für uns als Menschen, was ist denn der Mensch? Haben wir uns nicht selbst mal definiert als Bild Gottes? Wir hatten doch ein Maß. Gott war doch das Maß des Menschen. Das ist übrigens ein Satz von Platon. So und in der christlichen Kirche auch, da kommen wir her. Wenn das wegfällt, eine über 2000 jährige Geschichte, dann sind wir in einer komplett neuen Epoche, dann wackelt alles, es ist eine Erschütterung der Auflösung aller Fundamente und es gibt kein oben und unten mehr und keinen Sinn und kein Ziel und keine Hoffnung. So und das ist unsere Realität und es ist kaum zu glauben, wie ruhig und gelassen

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Menschen bleiben könnten, wenn sie das hören, als wäre das nichts. Aber es ist das größte Erdbeben des Geistes, was man sich überhaupt nur vorstellen kann. Er diagnostiziert den Atheismus als unausweichlich und zugleich als ein Einbruch in der Menschheitsgeschichte, der ungeheure Erschütterung nach sich ziehen wird. Er schreibt auch leicht gruselige Sachen, so also 1880er Jahre. Die meisten haben das Gefühl, Aufklärung, Fortschritt, Freiheit, die Welt wird gut. Es wird alles toll. Es ist wahr, guck wie wir als Kinder gelebt haben, wie wir heute leben. Jetzt haben wir hier schon elektrisches Licht und so. Die Zukunft wird glanzvoll. Nietzsche sagt, Katastrophen werden uns einholen, Weltkriege, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat, Erschütterung, Auseinandersetzung auf dem ganzen

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Globus, denn der Weltmaßstab ist verschwunden und wir treiben in ein Chaos hinein, für das wir noch überhaupt keine Fantasie haben, bis wir zu kommen. Das begründet so ein bisschen seinen Ruf im 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert als Prophet, so als eine Kassandra in einer Zeit kulturellen Optimismus. So es gibt einige Jahre, wo er so unterwegs ist. Und dann nimmt er noch mal eine Kehre. Man kann sagen, er wird so ein bisschen Weltanschauungs-Prediger. Zarathustra ist so sein Buch aus dieser Phase und im Grunde das Spätwerk. Das Spätwerk, wo er selbst das Gefühl hat, der Verlust des Christentums ist enorm. Wir müssen es aber wirklich abschreiben. Also das muss man wirklich so sagen, das ist eine Aktie, die kommt auch nicht mehr. So, da kann man sagen, die halte ich, die kommt wieder, die kommt nicht mehr. Da muss man Verluste auch wirklich mal realisieren. So, muss man wirklich

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abschreiben. Das wird immer tiefer stürzen, das ist Fakt. Aber es braucht etwas. Stichworte, der übermensch ewige Wiederkehr des gleichen Wille zu Macht, führe ich jetzt nicht aus. Aber im Grunde arbeitet er selbst an einem Weltanschauungsangebot für eine nachreligiöse Zeit. 1888 dreht er dann durch, also wortwörtlich, wie man das früher so sagte. So, und auch eine ganz komplizierte Geschichte und so. Also er verliert Kontrolle über sein geistiges Leben in vielerlei Hinsicht, ist in Kliniken, wird irgendwann der Mutter übergeben, Mutter und Schwester nehmen ihn in Pflege. Er ist einige Jahre wirklich auch noch ansprechbar, spielt Klavier, führt kurze Unterhaltungen, ist kurz mal völlig klar, dann aber auch depressiv. Nach einigen Jahren

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kommt nicht mehr viel. Sitz dann nur noch da und es gibt so Bilder, wo er so in seinem eigenen Bad versinkt und wird so ein bisschen unheimlich sein eigenes lebendiges Denkmal, verbringt elf Jahre in zunehmender geistiger Umnachtung und stirbt. 1900, also wird 56 Jahre, so Mitte 40, erlischt sein geistiges Licht. So, und all das, was er geschrieben hat, das löst sich auf. Er ist zu Lebzeiten, als er noch Bücher schreibt, fast völlig unbekannt. So hat unfassbar niedrige Auflagen seine Bücher, verkauft mal so 100 davon, 200 davon und so. Er hat einige extrem hardcore Jüngerinnen, die ihn auch ein bisschen finanzieren und sonst wie, aber so ein kleiner, erlesener Kreis, die wahnsinnig viel von ihm halten, aber das ist es. So kurz vor dem Wahnsinn wird er zunehmend

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entdeckt, hier und da müssen wir jetzt nicht nachzeichnen. In der Zeit, wo er dann quasi nicht mehr geistig da ist, explodiert sein Ruf. Er wird immer stärker entdeckt, er wird gelesen, er wird zum Prophet der Deutschen, er wird zu einem Mythos und in der ganzen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird er einer der großen geistigen Bezugspunkte der deutschen Geistesgeschichte. Kann das auch darin sehen, erster Weltkrieg, so man wollte, dass die Männer des Heeres im Schützengraben bei Verdun und so ein bisschen was fürs Gehirn haben. So und die meistverkauften Bücher oder beigegebenen Bücher war Neustestament, Goethes Faust, Nietzsche Sarathustra. So, auf dem Ebene war er so, das las man da, da studierten das alle. Die großen Philosophen der Zeit von Jaspers bis Heidegger beschäftigten sich mit ihm, auch die Theologie. So alle hatten

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ihre Nietzsche-Phase, bei Dietrich Bonhoeffer spielt es eine riesige Rolle, auch in den Gefängnisbegriffen. Nietzsche ist einer der ganz großen Treiber, auch für Dietrich Bonhoeffer sich zu entwickeln. So man könnte Tillich und man könnte viele durchgehen, bei Aldin ist das so. Er hat gleichzeitig eine andere schwierige Karriere, die er sicher gehasst hätte. Seine Schwester wird glühende Anhängerin des Nationalsozialismus, so hat auch einen furchtbaren Antisemiten geheiratet und die Familie versucht ihn zu vermarkten als Philosoph des Dritten Reichs. Und es gibt Philosophen, die während des Dritten Reichs Nietzsche als den Propheten des deutschen Erwachens zu verkaufen versuchen. Die Geschichte sehr kurz gefasst, es gibt Gedanken von Nietzsche, die protofaschistische Qualität haben. So es gibt auch viele Aussagen von Nietzsche, wo er sagt Antisemitismus ist dermaßen dämlich, es ist

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eine geistige Katastrophe, also alles Schwachköpfe und so und es ist eine relativ komplizierte Sache. Aber also ganz klar, wenn man zurückblickt nach dem Dritten Reich, findet man bei Nietzsche auch anti-jüdische Aussagen, kleine nationalistische Exzesse und antinationalistische Impulse, all das ist irgendwo da. Aber Grunde kann man sagen, so nach dem Zweiten Weltkrieg, Heidegger brütet noch so weiter, aber selbst schwer belastet das Dritte Reich und so. Man könnte sagen, ja das war's, Nietzsche ist out, Nietzsche ist Geschichte. Er hat dann aber verrückterweise eine zweite Karriere, weil er außerhalb Deutschlands entweckt wird. Zunächst fällt einigen Philologen auf, die Nietzsche-Bücher, da stimmt was nicht, da ist irgendwas nicht in Ordnung. Da gibt so das Hauptwerk Nietzsche, der Wille zur Macht, so gerade das stand im Zentrum, das war so der Wille zur Macht Nietzsche so und das klang schon so faschistisch und verkaufte sich

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glänzend und es waren ein paar italienische Philosophen, die gesagt haben, das ganze Buch ist fake. Es wurde posthum herausgegeben und zwar so, dass man im Grunde jetzt aus postfaschistischer Sicht alles Problematische verstärkt hat, alles was nicht dazu passte, rausließ und im Grunde eine hochselektive Auswahl seiner späten Gedanken entwickelte. Es kam dann eine neue Nietzsche-Ausgabe herausgegeben von Colli Montinari, wo es das Werk gar nicht mehr gibt. Nietzsche hatte einen Plan, es zu schreiben, man sieht am Ende gibt er den Plan eigentlich auf und alle Vorarbeiten sind Vorarbeiten, sind tausende von Seiten Material so und es ist nicht das große Werk und Nietzsche ist die Initialzündung für eine Reihe junger Denker, die das Gefühl haben, man müsste noch mal ganz neu anfangen. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte man ja so ein bisschen die großen Blöcke Liberalismus und Kommunismus und man hatte irgendwo das Gefühl entweder du bist liberal-konservativ so

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und schwörst auf Adenauer oder de Gaulle oder Eisenhower oder sonst wie oder du bist links, ja gut, irgendwie bist du dann Team Stalin. Hast du Probleme bei irgendwie, hast du das Gefühl, das alles suboptimal bei den Genossen im Osten hat, willst jetzt machen, gibt ja nur zwei Lager oder so. So und 60er, 70er Jahre gibt es zunehmend im linken Bereich der Gesellschaft Menschen, die sagen, diese Wahl können und wollen wir nicht mehr treffen, das ist irrsinnig. Der totalitäre Charakter dessen, was mal links war, ist schier unerträglich, aber wenn Liberalismus und Freiheit identisch ist mit Kapitalismuskult, danke nein. So und das was dann sich aus der Linken heraus entwickelte, eine Absage an die Totalitarismen der damaligen Zeit, filmiert so ein bisschen

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unter den Begriffen Poststrukturalismus, Postmoderne, morgen dazu ein Vortrag, die Vordenker Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, viele andere, Gianni Vattimo, sie alle haben intensiv Nietzsche studiert und es gibt eine riesen neue Karriere Nietzsche, der wieder total progressiv ist, der auf einmal als der Vordenker der Postmoderne verehrt wird. So und das ist eine große Welle, man kann sagen 60er bis 90er Jahre boomt das, ja inzwischen haben wir auch wieder andere Sorgen, man weiß auch nicht, aber irgendwie so Klassikesser. So das war ein langer Anmarschweg zu Nietzsche, dass man ein bisschen was weiß, um wen geht es ja jetzt heute, man hat aber vielleicht auch das Gefühl bekommen, bei dem ist alles immer ein bisschen komplexer, so als man auf den ersten Blick denkt, so wird seine Religionskritik sein, so wird seine Pauluskritik sein. Seine Religionskritik,

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ich übergehe jetzt mal weitgehend ihre Anfänge, die sind interessant, sie sind analytisch, sie sind deskriptiv, er arbeitet sich heran herauszuarbeiten, was das Christentum gewesen ist und so, er hält es für tot aus Gründen, wissenschaftlichen historischen Gründen, er hält es für problematisch und er hat früh die Idee, das eigentlich Problematische am Christentum ist seine Moral, die christliche Moral, die ist das große Problem. Das ist jetzt interessant, weil es gab in der Aufklärung ziemlich viele Strömungen, die gesagt haben, das Christentum ist mit seiner Dogmatik gescheitert, mit seiner Schöpfungsidee, mit seiner Idee einer zeitlosen Wirklichkeit und so, das scheitert alles an naturwissenschaftlichen Entdeckung, das scheitert an historischen Untersuchungen, also diese ganzen

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Wunder, irgendwie ist das nicht mehr kompatibel mit dem neuzeitlichen Bewusstsein von Natur und Ursache und Wirkung, also all diese dogmatischen Dinge, die fallen im Grunde dahin, die sind nicht mehr glaubwürdig, dieser Mischmasch aus platonischer Philosophie und Vermischung mit vermeintlichen Geschichtstatssachen, für die es kein Beleg gibt, das wird zunehmend gestrichen und viele aber 18. des Jahrhunderts sagen, ja aber so dieses Nächstenliebe, das finde ich ganz schön, ganz schön, das finden wir gut. Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Mitgefühl, Barmherzigsein und so, also christliche Moral ist gut. Unser Punkt ist, also die Kirche sagt immer, ja aber das könnt ihr gar nicht ohne die Gnade, man kann seinen Nächsten nicht lieben, ohne dass die Gnade einen erneuert hat und dass man von der Erbsünde befreit und so, das war der große Kampf der Aufklärung zu sagen, erstens

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liebe Kirche, wie viele Punkte gibst du dir denn selbst in Sachen Nächstenliebe, fangen wir mal so an, oder sollen wir die Frauen fragen, die ihr als Hexen verbrannt habt oder sagt uns einmal, was ihr von den anderen Konfessionen haltet, dass wir eure Liebe mal so ein bisschen spüren, so, so was sagen die Katholischen über die Evangelischen, die Evangelischen über die Täufer und so, gibt mal Kostproben eurer Liebe, so das war so, also ihr schafft es ja nicht, ihr, ihr und eure Nächstenliebe, ein bisschen viel Feuer und Schwert durch die Geschichte und so, ne, boah, so keine geile Performance, 1500 Jahre, ne ne ne, und also wir räumen ja ein, wir Aufgeklärten, alle Probleme, wir sagen ja nicht, wir sind ohne Fehler, wir sind vollkommen und so, Projekt der Aufklärung ist ja nicht, der Mensch ist gut, wie er ist, Projekt der Aufklärung ist, Menschen können

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lernen, Menschen können sich entwickeln, Menschen können durch Bildung so und moralische Übung besser werden, es geht nicht darum, dass wir gut oder vollkommen sind, es geht um die Möglichkeit, ein besseres Leben zu führen, wir können besser werden, so und dafür brauchen wir nicht eure Gnade. Nächstenliebe ist etwas, was zur menschlichen Natur gehört. 18. Jahrhundert, eine große Idee, die Nächstenliebe ist nichts, was allein durch die Wiedergeburt möglich ist, gab ja so christliche Gruppen, die gesagt haben, der Mensch von Natur ist allzeit geneigt, Gott und seinen Nächsten zu hassen und aus sich heraus kann er nichts anderes tun, als sündigen und böse

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zu vollbringen und er wird darin immer, immer schlimmer. Hat man geglaubt, hat man Inkatechismus geschrieben, hat man Kinder auswendig lernen lassen und die Aufklärer sagten, komm, Horror-Märchen irgendwie, da ist Grimms Märchen, sind da weniger gruselig als eure Idee, wir haben alle Probleme, so, aber nein, wir sind nicht von morgens bis abends dazu geneigt, Gott und unseren Nächsten zu hassen, wir sind fähig zu Mitgefühl, zur Anteilnahme, zu Empathie, zur Solidarität, zum Wohlgesinntsein, britische Moralphilosophie, Benevolence, Wohlwollen ist eine Grundausstattung des Menschen. Menschen sind grundsätzlich fähig, einander mit Wohlwollen zu begegnen, unter Angst, unter Druck, unter Schmerz, jetzt struggeln wir alle, so, aber wo uns Gutes widerfährt, können wir auch freundlich antworten

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und lass uns das mal so als ersten Schritt nehmen, ist das nicht ein Bauplan für die Welt. So, das war im Grunde aufgeklärte Christentumskritik, christliche Dogmatik schwierig, christliche Sündenlehre extrem schwierig, christliche Erlösungsidee auch, aber nahe einer christlichen Ethik, nichts gegen Jesus, toller Typ, so nichts gegen die goldene Regel, da machen wir einen kategorischen Imperativ raus, da kommen wir gut mit klar und verschiedene Strömen, auch Utilitarismus, Großbritannien hat ja immer das Gefühl, christliche Ethik ist eigentlich das Beste an der ganzen Geschichte, so und in ganzen Krankenhäusern und diese Idee der Fürsorge und des Sozialen und es geht auch ohne Überbau. Insofern ist natürlich verblüffend, dass Nietzsche sagt, ne ne ne ne ne, die christliche Moral, die christliche Moral ist das eigentliche riesige Problem am Christentum. Wie kommt er denn

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auf die Idee? Wir tasten uns weiter ran, in der Frühzeit hat er tatsächlich so das Gefühl, das ist ganz Christentum, Moral ist schwierig, dann macht er eine verblüffende Entdeckung, er entdeckt Jesus und der gefällt ihm richtig gut auf einmal. Er macht diese Entdeckung nachdem er ein bisschen viel gelesen hat, Dostoyevsky und Tolstoi, hat ihn beeindruckt, so und dieser, sagen wir mal, russische Jesus, diese radikale Praxis der Nächstenliebe, der Zuwendung bringt ihn richtig zum Schwärmen. Wir hören uns mal ein bisschen an, was Nietzsche in seinem letzten Werk über Jesus schreibt. Das Werk heißt Der Antichrist. Man erwartet Feuer und Schwefel von der ersten Seite an, kommt auch mehr als genug, aber das interessante ist, er hat so zehn Seiten, wo er sagt, kommen wir mal zu Jesus, super Typ.

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Was sagt Nietzsche über Jesus? Er sagt, Jesus steht für die gute Botschaft, dass es keine Gegensätze gibt. Das Himmelreich gehört den Kindern. Der Glaube ist kein erkämpfter Glaube, er ist von Anfang an da. Es ist die grundlegende Gestalt der Kindlichkeit. Ein solcher Glaube der Kinder zirnt nicht, er tagelt nicht, er wehrt sich nicht, er beweist sich nicht, er versucht, sich nicht zu begründen, er lebt. Er braucht keine Formen, er braucht keine Dogmatik, er braucht keine Rechtssätze und Regeln. Was Jesus verkörpert, ist keine irgendwie Theorie und keine schriftlich fixierte Moral. Jesus verkörpert eine Praktik. Jesus unterscheidet sich von allen anderen nicht

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durch irgendwelche Glaubenssätze, sondern durch ein anderes Handeln. Dass er keinen Unterschied macht zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen Juden und Nichtjuden, dass er gegen niemanden erzürnt, niemanden gering schätzt, dass er sich auch niemals von seinem Weibes scheiden lassen würde, auch im Befalle bewiesener Untreue nicht. Gibt ja diese Stelle, wo von Jesus, wo er sagt, Scheidung, nein. So, und Nietzsche nimmt das hier mal ganz positiv. Verzeihen, vergeben, nicht vergelten. Das Leben des Erlösers war nichts anderes als diese Praktik. Auch sein Tod, auch in seinem Tod hat er das gelebt. So, wie stirbt Jesus denn? So, selbst im Sterben hat er noch Mitgefühl. Er sieht diejenigen, die ihn kreuzigen. Was er macht, ist erbetet, Vater, vergib ihn, denn sie

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wissen nicht, was sie tun. So, er leidet grausame Schmerzen, er kriegt keine Luft mehr, ist an mehreren Stellen des Körpers durchbohrt und verwundet und wendet sich noch einem anderen zu und tröstet ihn und sagt, heute wirst du mit mir noch im Paradies sein. Da hat er noch einen Kopf für. Er widersteht nicht, er verteidigt sich nicht. Er bittet, er leidet, er liebt. Selbst die, die ihm Böses tun. Er wehrt sich nicht, er zürnt nicht, er macht keine Vorwürfe, er macht niemand verantwortlich. Mieke beschreibt das viel länger über viele Seiten, erzählt er das Leben Jesu so, in einem hohen Ton tiefster Bewunderung und fasst es zusammen. Im Grunde gab es nur einen Christen und der starb am Kreuz. Das Evangelium starb am Kreuz. So, das war Christus, der, der am Kreuz

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starb. Er lebte wirklich das, was christlicher Glauben ist und Nietzsche fügt hinzu, noch heute ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar notwendig, das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein. Man darf so ein bisschen hier an die Dostojewski-Welt nennen, denken. Das hat ihm sehr inspiriert. Das haben gar nicht so alle auf dem Schirm, so, dass der späte Nietzsche verblüffend Jesus-positiv ist. Jetzt muss man jetzt mal kurz wieder nüchtern werden und fragen, ja gut, und hat Nietzsche denn den ganzen Jesus akzeptiert? Seine Botschaft, seine Verkündigung und so. Und jetzt muss man schnell dazu sagen, diese Jesus-Hymne basiert

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natürlich auf einer sehr selektiven Auswahl. Einer selektiven Auswahl von Dingen, die wirklich dastehen. So Nächstenliebe, Feindesliebe, kein Widerstand, nicht Wehren, nicht Richten, nicht Urteilen, nicht Verachten, Verzeihen, wie ein, so diese Dinge, die sind für ihn gelebt, als Leben fantastisch, als Theorie wird es ein bisschen anders. So, Nietzsche lässt vieles weg. Bußruf, Ende der Welt, Gottesgericht und so lässt er alles weg. Das tut er beiseite. Nein, und wenn man sich mal so ein bisschen bei ihm umschaut, Nietzsche entdeckt in Jesus vieles, was er selbst vorher im Grunde so auch als Herzensgedanken für sich entdeckt und entwickelt hat. Ich nehme mal eine Stelle von 882, also sechs Jahre früher, wo Nietzsche mal, es ist Neujahr, überlegt, was wäre

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eigentlich die Formel meines Lebens? Wofür lebe ich? Was ist mein Ziel? Wofür bin ich da? Wie möchte ich dieses Jahr beginnen? Aber vielleicht auch als Mensch, wie möchte ich leben? Wie würde ich heute so die Quintessenz meines Lebensideals formulieren? Und Nietzsche beschreibt das so, ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne zu sehen. So werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen. Ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung und alles in allem und Großen, ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja sagen, das sein. So,

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das ist seine Vision. Wie kommt man auf so eine Vision? Aus vielen Stellen können wir zusammen glauben, Nietzsche hat viel erlitten, auch verinnerlicht und beobachtet die zerstörerische Kraft von Verneinungen, von Abwertungen, dass Menschen verneint werden, dass der Leib verneint wird, dass Sexualität verneint wird, dass Menschen ausgegrenzt werden, diskriminiert, beschädigt, verachtet und erfindet es im Nationalismus, im Antisemitismus, in Sexualneurosen und Leibfeindlichkeit, in diesem ganzen Geist der Verneinung, diesem ganzen Geist der Schwere, der Dinge schlecht sieht, der in allem das Böse, Gefährliche, Kleine, Geringe sieht und er hat es in sich und erkennt dieses Gefühl, dieser introjizierte schlechte Blick auf sich selbst.

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Oder man könnte auch sagen, diese furchtbare Krankheit eines tiefer innerlichten Schuldgefühls, was sich ständig neue Gelegenheiten sucht, sich wieder aufblasen zu können. So, das hat er erlebt, durchlitten beobachtet in unterschiedlichster Gestalt und sagt, dieser Geist der Verneinung, diese Kultur der Verachtung, diese Haltung der Geringschätzung anderen und sich selbst gegenüber, das ist der Grund von allem Elend und Unglück und da müsste man doch hinkommen, ein Ja-Sagen dazu sein. Nietzsche ist einer der ersten, der sagt, man tut immer so, als wären wir darin alle schon Meister und müssten es mühsam verlernen, aber die Wahrheit ist umgekehrt, nichts müssten wir stärker lernen als das, was man uns austreiben will, die Kunst und selbst zu

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lieben. Das ist in den 80er Jahren einer seiner größten Entdeckungen, dass er sagt, alle tun so, als wären wir alle Genies in der Kunst der Selbstliebe und als wäre es die Aufgabe von Schule und Kirche und Staat und Militär und Hochschule, uns die Selbstverliebtheit rauszuprügeln, dass wir endlich auch mal lernen, an andere zu denken und nein, wir können deshalb nicht an andere denken, uns anderen zuwenden, in Mitgefühl für andere offen sein, weil wir zu wenig Liebe zu uns selbst haben, zu wenig Mitgefühl mit uns, weil wir bei uns nicht zu Hause sind, können wir anderen keine Heimat bieten und das wäre die große Herausforderung, zu lernen, sich selbst zu lieben. The Greatest Love of All von Whitney Houston hätte er glaube ich zugetanzt,

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so in dieser Zeit, dass er gesagt hätte, genau, endlich merkt das mal einer. Sie hat es ja auch perfekt drauf gehabt, traurig aber wahr und so. Und noch nie hätte er gesagt, das sage ich ja, das sage ich. Wenn du es weißt, wenn du es weißt, dass das im Grunde das Ding ist, dich selbst zu lieben, wie schwer ist es, das ist ein Lebensding und wo du dich selbst liebst, da wirst du überhaupt fähig und in der Lage zu sein, anderen mit Wohlwollen und ohne Angst und ohne Missbehagen und ohne Schutzmauern und sonst wie gegenüberzutreten. So und ein ganzes Zarathustra Buch handelt im Grunde von jemandem, der in diesem Sinne gelernt hat, sich selbst zu lieben und darum andere zu lieben. Und so liest er in seinem letzten Buch Jesus. Jesus lebte in dieser selbstverständlichen

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Freiheit, in diesem Bewusstsein der Liebe ohne Richten, ohne Urteilen, ohne Verdammen, ohne Ausgrenzen, in diesem ungeheuren Jahr zu sich, zum Leben, zum Leib, den anderen gegenüber, zur ganzen Welt. So ist das Christentum damit gerettet, ist Nietzsche sofort hingegangen, Taufwiederneuerungsfest und so, Mitarbeit, ich mache jetzt Konfirmandenunterricht, ich habe da umplane, so, nee, gar nicht. Nein, er erhast das Christentum immer noch. Die Erkenntnis ist nur, Jesus war es nicht. Jesus hat es gar nicht versaut. Mit dem könnte man echt klarkommen, also selektiv gelesen. Ja, aber wer hat es denn dann verbockt? Wer ist schuld? Ah, müssen wir nicht spannend machen. Schuld, Schuld daran, dass das Christentum nicht das ist, was es hätte sein können und was wir bräuchten. Schuld daran, dass das Christentum ein solcher Fluch des Lebens und der Geschichte ist. Paulus, Paulus war es. Paulus hat es

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versaut. Paulus hat es verbockt. Er ist im Grunde der, der Oberschurke. Er hat Jesus verraten. Er hat Jesus noch einmal ans Kreuz genagelt. Er hat alles verleugnet, wofür Jesus stand. Paulus hat das Christentum verbockt. Von diesem Augenblick an, seit Paulus ist aus dem Evangelium das Gegenteil geworden. Die schlimmste Botschaft, ein Dysangelion. Denn was bei Jesus eine Praktik war, ein Leben, eine Haltung, ein Lieben, ein Ja sagen, das wurde bei Paulus zu einem Glauben, den man sich unterwerfen muss und andere auch. Schlimme Sachen. Ja, das müssen wir uns ja noch ein bisschen näher anschauen. Und wir ziehen das schön in die Länge. Wir atmen alle tief durch. Wir sind alle tiefenentspannt. Alles, alles gut. Wollen uns nicht wehren, nicht verteidigen. Wollen Ja sagen, milde lächeln. Hören uns jetzt noch ein bisschen Paulus-Bashing an.

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Woran ist Paulus alles schuld? An allen. Wir nehmen einfach mal ein paar Punkte. Also was hat Paulus daraus gemacht? Paulus hat aus dem, was von Jesus ausging, er hat daraus ein Jenseitsglauben gemacht. Jesus lebte in der Gegenwart. Er war da. Und wenn dann da Kinder kamen, die die Jünger waren schon beim nächsten Schritt, wollten da, ja jetzt komm doch nicht mit den Kindern, der muss predigen und so. Jesus, lass doch die Kinder zu mir kommen. Er herzt sie, er segnet sie, er hat Zeit. Er guckt nie auf die Uhr. Er hatte nicht mal eine. Na ja gut, hatte keine eine. Jesus natürlich war, er war da. Er hat Zeit. So, ne. Und wenn da irgendwie eine Frau ihn berührt und so und er sagt, wer hat mich berührt? Alle toben wieder und sagen, ich hör doch auf, es ist voll.

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Wer soll dich berührt haben? Irgendein Blödmann wird's gewesen sein. Nein, ist jetzt wichtig. Wer war das? Und so hat dann Zeit für die Frau, die hat Blutungen, die Jünger wissen nicht, wo sie hingucken sollen. Jesus ist da. Tolle Frau. So sagt, dein Glaube, dein Glaube, wow. Du hast mich berührt. In vieler Hinsicht. So, du hast mich berührt. Und eine Geschichte wird daraus, die einen heute noch berühren kann. Und die Jünger, ja, wieder gelernt und so. Und ständig so Geschichten. Jesus ist da und die Menschen sind alle wichtig. Und er hat nicht eine Botschaft und eine Theorie und eine Mission und so, sondern wenn da irgendein komischer Mensch auf einem Baum sitzt, Jesus findet es wichtig. Alle sagen, was sitzt der Blödmann da? Kannst du nicht hingucken und so. Jesus findet es wichtig, er hat Zeit, besucht ihn und so. Und egal wer es ist, kann römischer Hauptmann sein oder ein Zöllner oder Frauen, boah, zweifelhaften Ruf und so, die man eigentlich verachten soll, wenn man religiös ist und so.

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Jesus lässt sich die Füße voll weinen, spricht milde Worte der Wertschätzung und Güte und so. Jesus ist da. Jesus hat Zeit. Und Paulus? Der hat immer Stress. Immer Stress. Er muss eine Botschaft bringen. Du kannst den fünfmal mit Stöcken durchprügeln, du kannst ihn steinigen, der hat immer noch Stress. Der muss immer weiter. Der muss immer weiter. Und er hat eine Botschaft. Der hat wirklich eine Botschaft. Er muss Seelen retten. Und wofür? Dass Menschen in die Ewigkeit kommen. Und ansonsten, ja, die sind vielleicht Sklaven, haben ein schweres Leben, sind Frauen, werden von ihrem Mann verkloppt. Stört den Paulus das? Gar nicht. Das stört den gar nicht. So seine Botschaft ist, Hauptsache du glaubst. Alles andere, also ob du jetzt frei bist oder nicht, ob du Geld hast oder keins, habe als habe du nicht. Zu allem hast du Abstand. Nichts ist wirklich wichtig. Nicht heiraten. Du bindest dich doch nur an einen anderen Menschen. Du bindest dich an Kinder.

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Kinder, was die Zeit rauben. Die haben wir nicht. Der Herr kommt. Also wir haben eine Botschaft und so. Du vergeudest deine Zeit mit Familie, dann sitzt du da eitartei und bist nicht auf der Straße. Mission. Paulus hat Stress. Er ist nicht bei den Leuten. Er ist immer jenseits. Ist alles Nietzsche's Bild. Kommt alle gut klar. Alles über. Alles Nietzsche's Bild. Er schreibt, wenn das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins Jenseits verlegt ist, ins Nichts, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Alles, was wohltätig, was lebensfördernd, was zukunftsverbürgend ist, erregt nunmehr Misstrauen. Alles wird schwarz gemalt. Alles wird verneint. Alle Tugenden, alle guten Werke, alles menschliche, alles gute.

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Spätere Kirchenväter sagen, die Tugenden der Menschen sind nur glänzende Laster. Nietzsche kannte sich da sehr gut bei aus. Kannte die Kirchenväter rauf und runter. Die hauen das wirklich auch raus, dass es ein bisschen schummrig wird. Menschen sind wirklich nur schlecht. Und wenn sie gut aussehen, sind sie ganz besonders schlecht, weil sie ihre Bosheit verstecken hinter vermeintlicher Güte. Und wenn du irgendetwas am Menschen siehst, was dich fast rührt, weil es irgendwie so menschlich und mitfühlend und barmherzig und wohltuend ist, dann ermanne dich und sage sofort, na, ich weiß das da. Da steckt der Stolz hinter. Das Glänzen wollen, das Angeben wollen, selbst noch mit guten Werken. Wenn einer Geld spendet, dann nicht, weil er helfen will, sondern weil er groß rauskommen will. Und so sind sie alle. Und keiner tut Gutes. Das ist die christliche Wahrheit.

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Und Nietzsche sagt ja, wer kommt auf so kranke Gedanken? Wo kommen sie her? Sie kommen von Paulus. Dieses Wir sind allzumal Sünder, allzumal alle, alle unter der Sünde und es ist nichts Gutes an uns. Und wir sind alle Lügner und wir sind alle unterwegs auf dem Weg des Bösen. Misstrauen, Misstrauen gegen alles, was wohltätig und lebensfördernd und zukunftsverbürgend ist. Wozu Gemeinsinn? Wozu Dankbarkeit? Wozu Mitarbeiten? Wozu Gesamtwohl fördern? Das brauchst du alles nicht mehr. Musst dich auch nicht kümmern um Klimawandel. Wofür? Bis das Klima sich verändert hat, ist der Herr ja sowieso längst gekommen. Ich nehme aktuelle Beispiele. Warum Aufbau nehmen? Warum irgendwie was? Warum die Demokratie retten, wenn wir sowieso zu Hölle fahren? Ohne Glauben. Wofür? Habe ich doch nicht Angst vor irgendwelchen Nazis oder so. Das interessiert mich doch gar nicht.

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So, und das ist für Nietzsche die Katastrophe des Christentums. Die Entwertung des Diesseits. Ein Jenseitsglaube, der für das Diesseits keinen Wert, keine Güte, nichts Menschliche mehr anerkennen kann. Alles Menschliche ist schlecht. Eine Facette davon Leibfeindlichkeit und das ist eine Sache im 19. Jahrhundert. Wir tun heute so, als wären die Menschen heute wahnsinnig leibpositiv. Es hat sich viel verändert. Und einfach mal Oma und Opa fragen. Ja, also die merken das vielleicht auch, aber haben oft nicht mal die Sprache dafür. Also es hat sich ja viel geändert in den letzten Generationen. Nietzsche beschreibt das so. Der Körper ist für uns, du musst das Wort nur sagen und du schämst dich schon.

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Wir schämen uns für den Leib. Nacktheit ist unfassbares Sünde. Nacktheit ist grauenerregend, furchtbar und sonst wie. Und manche Menschen verfallen dann bösen, schmierigen, schmutzigen, schleibigen Wegen und werden zu Tieren und grauenhaft. Und so Nietzsche soll es auch wieder fahren sein. Und das sind natürlich Dinge, die im 19. Jahrhundert hin und her eine ungeheure Verdrängung des Leiblichen, des Körperlichen, des Nackten, des Sexuellen, des Lüsternden, des Wollüsternden. Das sind alles Worte des Grauens. Man hat keine Worte dafür. Wenn man da irgendwo Schmerzen hat, sagt man untenrum und stirbt vor Scham. Man hat da kein Wort für gar nichts. Und Nietzsche ist einer der ersten, die sagen, wie krank, wie krank ist unser Verhältnis zum Leib?

55:11
Wenn Tiere uns verstehen könnten und wir würden denen erklären, warum wir Kleider tragen und wie es für uns wäre, alle hier nackt zu sitzen, was jedes Tier in ziemlicher Coolheit aushält, die Tiere würden schreien. Ihr seid ja völlig irre. Was ist mit euch? Ihr seid das kränkste Tier des Universums. Wir haben uns umgefragt im Zoo, alle sind fertig. Was ist mit euch schiefgegangen? Ihr findet das normal. Boah, haben wir nicht geahnt. Nietzsche aber sagt, die meisten ahnen das gar nicht. Die finden das normal, dass die Decke so lang sein muss, dass das Tischbein vollständig bedeckt ist, dass niemand auch nur an nackte Beine denkt. So, solche Dinge. Und diese Leib- und Körperfeindlichkeit, diese Sexualfeindlichkeit ist eine Facette des christlichen Wahnsinns. Und Nietzsche sagt, es gibt Spuren aus der Antike, Menschen waren mal anders.

56:19
Es gab eine Epoche, da haben Menschen Sexualität nicht begriffen als eine Pflicht, weil Kinder müssen ja irgendwo herkommen, oder als eine Quelle der Scham und der Versündigung, sondern dann als Kunst, als Lebenskunst. Wo sie Bücher geschrieben haben, wie man mit Akten der Lust kunstvoll dem Leben Schönheit und Würze verleiht. So was wie Ovid und so. Gut, die haben selbst die Römer verbannt, weil es so triebend und eklig war. Also war auch nicht alles perfekt, aber im Vergleich hat Nietzsche das Gefühl, wie schon die Renaissance, man war mal cooler. Wenn man David als Skulptur hinstellen wollte, dann war der halt nackt.

57:10
So, und war so. Und alle kamen klar und niemand hat das Gefühl gehabt, wenn der nicht sofort ein Handtuch um unten rum kriecht, dann schreie ich. Die Renaissance hat damit wieder angefangen, das einfach mal auch so zu ertragen, der David darf nackt sein. Und das war für Nietzsche Renaissance. Renaissance-Menschen, können wir da mal hinkommen wieder, dass das alles nicht so ist. Glaubensfanatismus, Glaubensfanatismus, das ist etwas, was er Paulus vorwirft, wo bei Jesus ein Leben war, ist bei Paulus eine Botschaft. Und alles Entscheidende geschieht in Zustimmung oder Ablehnung dieser Botschaft. Und Nietzsche schaut das im Grunde in eins mit der Wirkungsgeschichte. Seiner Sicht ist es so, bei Jesus, da hast du kein, du kannst aus dem synoptischen Evangelium Christa kein Bekenntnis raus distilliert.

58:08
Es ist wirklich immer, immer Leben, Praxis, Handeln, Mitfühlen, Lieben, Tun. Und bei Paulus, Menschen haben daraus eine Dogmatik gemacht, weil das so angelegt war. Das fängt mit Paulus an. Und dieser ganze Kram, dass du da Dogmatiken draus machst, Glaubenslehre. Und dann irgendwann, wenn Leute nicht ganz genauso das formulieren wie du, dann sagst du nicht, ach schade. Ja, dann lässt die verprügeln und lässt die foltern oder bringst die um oder verbrennst die auf dem Marktplatz oder so. Das ist ja auch alle Konfessionen so, nicht? Also das zieht sich ja durch die ganze Christentumsgeschichte. Für Nietzsche ein Wahnsinn. Was ist das entscheidende Problem? Die christliche Moral. Jetzt müssen wir den Stier bei den Hörnern packen. Warum ist die christliche Moral auch Schuld an Dogmatik und an all diesen ganzen Dingen?

59:09
Es hat wesentlich zu tun mit dem christlichen Bild des Menschen, mit dem christlichen Bild gerade auch von der Sünde. Das im christlichen Glauben, so wie Paulus ihn wesentlich vertreten hat, diese Sicht stark ist, der Mensch ist verloren, der Mensch ist sündig, der Mensch ist schlecht. So und aus dieser Bosheit gibt es keine andere Erlösung als durch das Heilswerk Gottes. Und dieses Heilswerk Gottes muss richtig verstanden werden. Mit den richtigen Gedanken, mit den richtigen Formeln, mit der richtigen Dogmatik. Das Evangelium ist eine Lehre. Das Evangelium lehrt, wie Menschen erlöst werden von der Sünde.

60:05
Und diese Lehre zu akzeptieren und sich ihr zu unterwerfen und für sie zu öffnen, ist der Weg, dass die Gnade den Menschen ansatzweise auch anfängt zu befreien von dieser Macht des Bösen und der Sünde. Und für Nietzsche ist tatsächlich zentral dieser böse Blick auf den Menschen, das negative Menschenbild, was sagt, du bist böse. Und für das Böse gibt es nur eine Lösung. Strafe, Straf, Gericht, Verdammnis, Verurteilung, Vergeltung. Nietzsche rekonstruiert das dann so. Ja, das ist das im Grunde, was daraus gemacht wird, schon im Judentum. Und Paulus macht das wieder ganz stark für das Böse, für das Schlechte am Menschen. Strafe muss sein. Und die vermeintlich gute Botschaft soll nun sein, ein Opfer war nötig, damit die tiefe Verstimmung Gottes über die Sünde aufgehoben werden.

61:17
Und Christus ist als Opfer gestorben. Christus wurde dem Zorn Gottes anheim gegeben. An Christus hat Gottes Vergeltung, die Strafe, das Gericht sich ausgetobt. Und nur so gibt es Erlösung für alle Menschen, indem sie dieses Gericht, diese Strafe, diese Vergeltung Gottes bejahen und sagen, das habe ich verdient. Und das zielt auf mich und es trifft Christus und den Akzeptanz dieses Gerichtes über Christus, dass er geopfert wurde für mich. Und ich angesichts dessen erkenne mit Leib und Seele, wie schlecht unverkommen und strafwürdig ich bin.

62:05
In dem Maße, wie ich das erkenne, finde ich Gnade und Verzeihung. Und alle, die sich genau so sagen und genau so empfinden, was verdienen die? Strafe, Strafe und Gericht und Zorn und Hass und Vergeltung und Verachtung, weil die sind ja nicht durch. Die sind immer noch unterm Zorn, so unter Gottes Zorn. Und wenn wir zornig sind, auf die ja zu Recht, zu Recht, weil wenn Gott auf die zornig ist, wenn es Gottes Feinde sind, das sind natürlich auch unsere Feinde. So der Feind meines Freundes ist mein Feind. Und diese Feindseligkeit gegen alle und alles außerhalb des christlichen Kreises ist damit natürlich notwendig verbunden. So und das ist für Nietzsche im Kern der christlichen Erlösungslehre und zwar so, dass dadurch die christliche Kaste, so diejenigen, die das Christentum verkörpern, die Priester, die Theologen in einer ganz zentralen Position auf einmal in der Welt sich befinden.

63:26
Sie entscheiden nun, wer drinnen und draußen ist. Sie entscheiden nun, wer begnadigt ist und wer unter dem Zorn steht. Sie entscheiden, wer verachtenswürdig ist mit voller Wucht und wer gar auch verachtenswürdig ist, aber mit Gnade. Denn man bleibt natürlich immer auf Sünde, Sünde, Sünde. So das ist der entscheidende Punkt für Nietzsche. Und er denkt über diese Moral nach und sagt, die christliche Moral ist damit natürlich eine ungeheure Katastrophe. Und er vergleicht das jetzt mit der vorchristlichen Welt und er greift im Grunde weit zurück. Er hat das Gefühl, auch schon Sokrates und so, also es gibt so paar Griechen, die sind eigentlich geistig schon unterwegs Richtung Christentum.

64:12
Weil er sieht in der Antike, es gibt Leute, die öffnen sich für das Christentum. Und das ist für Nietzsche so das Zeichen, die waren vorher schon auf einem schlechten Weg. So und dass die beim Christentum gelandet sind, das ist irgendwie dann auch die Krönung. Die waren schlecht unterwegs. So und er greift zurück auf das vorklassische Griechentum. Homer, Troja, Ilias, Odyssee. So und er arbeitet im Grunde heraus, was war im vorklassischen Griechentum aus seiner Sicht jetzt? Das Besondere ist, in dieser Welt, die hatten im Grunde gar nicht so dieses Gut, Böse, diese absolute Moralität. Nietzsche sagte, die hatten natürlich Orientierungsmaßstäbe. Sie orientierten sich an vornehm und niedrig. So und es gab eine Kultur der Vornehmenden, eine Kultur der Gesunden, eine Kultur der Starken, eine Kultur der Führenden. Für die stand am Anfang eine tiefe Bejahung des Lebens.

65:18
Eine große Selbstbejahung, eine Bejahung des Lebens, eine Bejahung der Kraft, eine Bejahung der menschlichen Energie, auch eine Selbstbejahung der eigenen Tugenden und Werte. Und dazu gehört auch Großzügigkeit und Anerkennung und Respekt auch vor dem Gegner, auch vor dem Feind. Nur nicht dieses Gut und Böse. So und es gab eben Menschen, die waren irgendwie angekränkelt und missgünstig und nicht so doll und nicht so stark und nicht so reif und nicht führungsfähig und nicht in der Lage, was zu bewegen. Ja und die hielt man nicht für böse, die hielt man für gering, für niedrig. Und es war eine Schichtengesellschaft. Es gab die Vornehmenden und es gab die unteren Zehntausend. Und die Starken, die Lebendigen, die Großen, die konnten führen und befehlen und es diente irgendwie auch allen.

66:12
Nietzsche erzählt jetzt eine Art Mythos, ich hoffe er hatte ungefähr auch so ein Bewusstsein dafür, dass es in der geistigen Welt zu einer Art perversen Revolution gekommen ist. Bei den Niedrigen, bei den Schlechtweggekommenen, bei den Argwöhnischen, bei den Neidischen, bei denen, wenn sie einen sahen, der irgendwie groß und gesund und stark und mit sich zufrieden war, fraß sich immer tiefer so ein Unbehagen, so eine Missgunst und Nietzsche sagt, irgendwann gab es einen Sklavenaufstand der Moral. Und der Sklavenaufstand der Moral sah so aus, dass die Niedrigen und Schlechtweggekommenen irgendwann sagten, die Hohnen und Großen Menschen halten sich für die Gesunden und Vornehmen und uns für die Geringen,

67:07
aber in Wahrheit ist es so, die sind die Bösen. Die sind böse. Sie sind schlecht, ihre Selbstgerechtigkeit ist schlecht, ihre Selbstliebe ist böse, ihr Stolz, ihre Lebendigkeit, ihre Kraft, ihr übersprudelnde Energie, ihre Erotik, das ist alles böse. Und wir sind die Guten. Wir sind die Guten, wir sind die Opfer. Wir sind deren Opfer. Wir sind von denen irgendwie, wir werden dominiert, wir werden ausgebeutet. Wir sind die Opfer, wir sind die Guten. So Nietzsche, und das ist eins der, ich bleibe deskriptiv, speziellen Teile seines Dings, er sagt, mit die ersten, die das gemacht haben, waren die Juden. Die Juden, bei denen gab es diesen Sklavenaufstand der Moral.

68:03
Sie haben diesen absoluten Gegensatz von Gut und Böse konstruiert und sich für die Guten erklärt, den Pharao für Böse und haben Gott als den kosmischen Hebel benutzt, sich auf die richtige Seite der Geschichte zu transportieren. Und im Christentum ist das im Grunde Menschheitskultur geworden, der Sklavenaufstand der Moral. Und dieser Sklavenaufstand bedeutet, das Gesunde, das Starke, das Große, das Hohe, das Lebensbejahende, das Schöpferische, das Erotische, das Vitale, das ist alles im Grunde vom Stolz und Hochmut imprägniert und durchdrungen. Es ist alles Böse. Es ist alles unter dieser Wucht des Bösen. Und die Erniedigten und Beleidigten, die Schwachen und die Geringen, die Opfer, das sind Gottes Lieblingskinder.

69:07
Und wenn sie sich Gott unterwerfen, macht Gott sie groß. Und Ziel ist eine Gesellschaft, die nicht mehr sich von den Starken und Stolzen, Schönen und Gesunden und Kräftigen dominieren lässt, sondern eine Gesellschaft, die maß nimmt am Wohl der Schwachen, der Elenden. So sieht Nietzsche das und sagt, daraus folgt alle Weltverachtung. Daraus folgt die Leibverachtung, die Lebensverachtung, der Hass gegen die Selbstliebe. Menschsein heißt, nur dadurch, dass ich mich selbst abwerte, werde ich erhöht. Wer sich erniedrigt, wird erhöht. Alle hohen, gesunden Stolz und so, alle müssen sich erniedrigen. Nur wer sich erniedrigt, wer sich in den Staub wirft und sagt, ich bin auch böse und ich bin auch stolz und ich habe nichts und ich bin nichts und ich kann nichts, dann allein ist es okay. Dann bist du begnadigt. Aber gut ist keiner mehr.

70:12
So, und aus Nietzsche Sicht hat sich diese Krankheit durchgefressen durch die gesamte europäische Kultur. Immer tiefer, immer brutaler und alles im Grunde verdorben. Und aus Nietzsche Sicht ist es so, ja, im Christentum wurde uns das 1500 Jahre injiziert. Es steckt uns in allen Knochen, in allen Poren. Es ist in der DNA Europas. Und das Schlimme ist, das Christentum als Religion, als Kirche und Dogmatik hat längst angefangen, sich aufzulösen. Es wird auch verschwinden, es wird untergehen. Nietzsche war mit der Kirche längst fertig. Es waren noch alle Mitglied. Aber Nietzsche sagte, das wird nichts mehr. Wartet ab, wartet ab, das wird nichts. Aber er guckte längst weiter und sagte, selbst da, wo die Religion verschwindet, wo das Christentum verschwindet, die Krankheit ist noch da.

71:07
Es verschwindet der Kirchgang, es verschwindet die Dogmatik, die Lieder geraten alle in Vergessenheit. Und immer noch haben die Menschen diese Bereitschaft zum Selbsthass tief drin. Sie sind unfähig, sich zu lieben. Sie sind unfähig, den Nächsten anzunehmen, wie er ist. Sie sind unfähig zu Großzügigkeit. Können das nicht? So in ihrer weltlichen Moral ist immer noch so viel Lohn und Strafe. So wie viel Lohn und Strafe steckt im Schulwesen, im Gerichtswesen, in der Wirtschaftsordnung? Wie viel steckt da drin dieses Gefühl, Menschen sind faul, wenn wir ihnen nicht Druck machen. Dann verjubeln sie ihr Bürgergeld auf Ibiza. Man muss Druck machen. Die Menschen sind faul, sie sind schlecht. Sie wollen nicht arbeiten, sie wollen uns alle nur ausnutzen. Da ist keiner, der fürs Gemeinwohl mal... Die Menschen brauchen Druck. Sie brauchen so viel Druck und diese Geflüchteten brauchen noch viel mehr Druck, weil sie eigentlich immer nur schlaraffen wollen.

72:19
Sie sind alle ichsüchtig und selbstsüchtig und asozial und unsolidarisch. Und wenn du nicht von Kindesbeinen an lernst, du musst dich quälen, die Sonne scheint, du bist Kind, du bist nur einmal jung, du möchtest spielen. Nein, du musst Vokabeln lernen. Der Wille muss gebrochen werden. Dass du mit dir zufrieden bist, ja Schande über dich. Du kriegst eine Fünf, dass es besser wird. Du bleibst sitzen, du musst alle deine Freunde, Schande über dich. Schande, Strafe muss sein. Strafe muss sein. Und wenn du im Beruf nicht funktionierst, ja wir reichen dich durch. Bist du Schande über dich. Und es ist schlimm arm zu sein, du musst dich schämen dafür, weil ansonsten tust du ja nichts. Du bist ja faul. Du bist ja faul und wirst niemals freiwillig.

73:07
Und Nietzsche sieht diese ganzen Dinge und sagt, das ist alles Christentum. Dieser Glaube an Lohn und Strafe, dieser Glaube daran, von sich aus tut keiner was Gutes. Von sich aus sind alle immer nur bösartig. Nur unter Druck zu Hause, Schule, Beruf, überall, nur unter Druck kommt so ein bisschen was raus, wo am Ende sagen kann, nicht gemeckert ist genug gelobt. Dass keiner stolz wird, dass keiner sich wohlfühlt in der eigenen Haut. Da niemals darf sich einer wohlfühlen. So, dieses verinnerlichte Christentum, Nietzsche sagt, es steckt so tief drin. Und Paulus ist schuld. Schande über ihn. Dieser furchtbare Mensch. So, jetzt brauchen wir ein bisschen ein paar andere Töne vielleicht. Das könnte man sagen, das war der Vortrag. Ich mein, wer ein Cliffhanger, wer auch ein Cliffhanger ist, das war der Vortrag.

74:06
Schöne Pfingsten oder so. Vielleicht geht noch ein bisschen was. Also können wir noch was retten? Gucken wir mal. Sagen wir mal so, was bei Nietzsche ja wirklich interessant ist, ist schon auch die These, so wie die Menschen hier sind, es ist eine lange kulturelle Prägung. Und es ist eine vermittelte Prägung durch Christentum und Kirche und sonst wie. Wir sind ja inzwischen in einer globalen Welt, wo wir zumindest die Ahnung kriegen, ein bisschen ist was dran. Ich hatte letzte Woche eine schöne Begegnung. Und zwar Zürich, da habe ich Kurs gehabt, Buddhismus war das Thema. So reformierte Kirche, weltoffene Kirche, schöne Kirche. Wir haben natürlich einen Buddhisten zu Gast gehabt, vorher auch ein bisschen und so. Aber interreligiöser Dialog, wir lieben das und so. Wir hatten einen Buddhisten und der hat uns das dann erzählt, Buddhismus gibt es riesige Psychologie, großartige Kultur seit 2000 Jahren und uralte Bücher, Gefühle werden beschrieben, ganz viele Gefühle, 60 Gefühle, 70 Gefühle, 80 Gefühle.

75:13
Und es ist so wichtig im Buddhismus wach zu sein, da zu sein, im eigenen Körper, den eigenen Körper mit Atem und Geist zu scannen, durchzugehen, wirklich auch anzukommen im Körper. Und zu gehen, wenn du gehst und zu sitzen, wenn du sitzt und ihr kennt das vielleicht. Und auch die Gefühle und bei jedem Gefühl, was kommt, beim Gefühl bleiben und spüren, was das ist, dass du in dir zu Hause bist und damit auch umgehen kannst, sodass du kein Getriebener bist, sondern erwachst aus dem Sog, aus dem Druck aller Getriebenheiten. Und er sagt, es gibt was ganz Witziges, wir kennen so viele Gefühle, aber es gibt ein Gefühl, das kennen wir gar nicht, das erleben wir auch gar nicht, das Schuldgefühl.

76:08
Haben erstmal alle erstaunt geguckt, die Reformierten, und meinte, doch, es ist so. Also der Dalai Lama, der kennt sich da super aus und der war mal in den USA und hat das mal so auch vielen Experten gesagt, ja, ich kenne so viele Gefühle, auch so Studiers und so, aber ich kriege bei euch mit Schuldgefühl ist eine Sache, was ist das für eine Sache, was ist Schuldgefühl? Ja, und die haben ihn erzählt, aber das kennt doch jeder, also Schuldgefühl ist so ein Druck, du spürst so einen Druck irgendwo so, Herz, Mitte und so, und zu diesem Druck gehört so ein Scham zu, du schämst dich, vor allem irgendwie, vor Gott, vor den anderen, ist da so ein bisschen Angst dabei, Angst, dass dir irgendwas Schlimmes passiert, der Dalai Lama guckt und sagt, oh, Scham, Angst, was noch? Ja, und du hast dich selbst, du bist richtig gegen dich, du bist wütend auf dich und so, und der Dalai Lama ist ganz erstaunt und sagt, das ist so faszinierend, ich kenne das gar nicht, braucht ihr das wirklich? Nötig, tut das gut oder so, was habt ihr denn davon?

77:13
Und da wurden alle ganz nachdenklich und sagten, das ist schwer, haben wir uns noch nie gefragt, kennst du das nicht? Nein, sagte er, wir haben unseren Buddhisten auch gefragt, er sagt, er kennt das auch nicht, weiß nicht, was es ist. Da waren wir alle fertig und gesagt, da gibt es ja da kein Gut und Böse bei euch, könnt ihr denn da alle morden und töten, wir wollen weiter. Nein, natürlich unterscheiden wir Dinge, die hilfreich sind und nicht hilfreich. Wir unterscheiden, tun es förderlich und nicht förderlich. Wir kennen Reue, Reue kennen wir, wir erkennen das Gefühl, ich habe was getan, das war nicht förderlich, das war nicht hilfreich. So und gleichzeitig mit dieser Einsicht haben wir den klaren Vorsatz, das mache ich nicht mehr, das mache ich nicht mehr und habe ich jemandem weh getan, mache ich es wieder gut.

78:04
Durch extra viel Güte, also ich mache es nicht gut, indem ich sage, es tut mir leid und so, was hat er denn davon, was hat er denn davon? Wenn er halbwegs reif ist, tue ich ihm ja leid, dass ich was getan habe, was nicht förderlich war. Das ist ja das Ziel, mitfühlend zu werden, das ist unser Ziel. Und ein mitfühlender Mensch, wenn er jemanden sieht, der etwas tut, was nicht förderlich ist, sein Mitgefühl ist da ganz bei und wir hören einfach damit auf. Und Schuldgefühl, anscheinend habt ihr zwischen der Einsicht, das ist nicht gut und ich ändere mein Leben, das Bedürfnis auf diesen komischen Trichter von Schlechtfühlen, Selbsthass und Scham, eure Wahl. Also your life, your choice, aber kommt uns komisch vor. Und fand ich interessant, Nietzsche-These ist natürlich, also was heißt natürlich, er war damit ganz vorne daran, Gefühle sind sozial konstruiert.

79:10
Und bestimmte Gefühle hast du in der christlichen Welt. Und es gibt diesen Komplex des sich-selbst-schlecht-fühlens, so, das ist Ergebnis langer christlicher Welt. So, gucken wir jetzt noch mal ein bisschen näher drauf, also müssen wir jetzt am Ende des Vortrags sagen, also wenn Nietzsche und der Dalai Lama sich hier verbünden, da ist eine große Koalition da, kommen wir nicht gegen an. Jetzt ist wirklich vorbei, nein, nein. Ich finde in Nietzsche Beobachtungen jetzt schon auch etwas wirklich witzig. Nietzsche geht davon aus, dass über das Christentum als Kirche hinaus sehr viel Christliches in der europäischen Kultur geblieben ist. Und ich nehme jetzt mal ein Beispiel dafür, bin ja Gastarbeiter inzwischen, bin in der Schweiz, so, Schweiz hat eine Verfassung und die haben eine neue Präambel mal formuliert und in dieser Präambel haben sie sich so in der Schweiz gesetzt als Staatsräson, dass die Stärke des Volkes sich bemisst am Wohl der Schwachen.

80:20
So ist deren Präambel, auch andere Sachen, so Freiheit und dies und das, aber dass die Stärke des Volkes sich bemisst am Wohl der Schwachen. So, Nietzsche hätte gesagt, da ist es wieder das Christentum, ein Kreuz auf der Fahne und so, ja, er hätte da den Koller gekriegt und ich sag jetzt mal so, lass uns das noch mal kurz anschauen, kurz bewerten. Ist es so schlecht in einem Land zu wohnen, an dem sich die Stärke des Volkes bemisst am Wohl der Schwachen? Also für die Starken doch eigentlich nur dann, wenn mit denen auch irgendwie was nicht stimmt. Wenn du klarkommst, wenn du gesund bist, wenn du reich bist, wenn du Privilegien hast, dann genieß sie doch, dann genieß sie und lerne gönnen.

81:11
So und lerne teilen und lerne großzügig sein. Wo kommt diese Idee her, dass die Stärke des Volkes sich bemisst am Wohl der Schwachen? Kommt sie von den alten Germanen und Helvetian und so, ja, nicht viel Quellen da und so, nach allem, was wir wissen, nicht so. Wo waren auch erraue Gesellen, also selbst die Römer waren erschrocken, so. Ja, kommt es dann von den Römern, die ein bisschen zivilisierter waren? Nicht so. Die Römer waren ganz gut darin, Schwaches zu verachten. Die waren gut darin, Erniedrigte zu verspotten. Ich meine, wer erfindet so ein Wahnsinn wie Kreuzigung als öffentliche zur Schaustellung grausamster Schmerzen nackter Menschen? So, also sehr krank, sehr krank diese Idee. Aber aus welcher Sicht? Aus christlicher Sicht. Aus christlicher Sicht. Menschen zu erniedrigen, zu verspotten, in den Staub zu treten, Menschen zu zerstören, Menschen zu zerschmettern, nicht nur im Leben, sondern in ihrer Würde.

82:18
Das ist viel römische Kultur gewesen, viel altantike Kultur. So, das Nietzsche, das schlecht findet, ist ja erst mal kurios. Was hat der Nietzsche gegen Sozialstaat? Er hatte was dagegen. Was hatte Nietzsche gegen die Gleichheit aller Menschen? Er hatte was dagegen. Er war gegen Demokratie. Er war gegen Frauen, die studieren. Er hatte da vielerlei gegen. Um das mal kurz stark zu machen, Nietzsche's Punkt dabei war, Moral kann zur Waffe werden. Die Haltung, ich bin für die Schwachen, ich bin für die Erniedrichten, ich bin für die Beleidigten, ich bin für die, denen ungerecht getan wird, kann zu einem Komplex werden des permanenten bösen Blickes quasi auf alle.

83:08
Wenn man so will, Nietzsche war der erste Anti-Woke. Nietzsche war der erste Denker, der alles, was man für woke hält, furchtbar problematisch fand. So dieses für die Erniedrichten und für die Sklaven und für die Frauen und für die Diskriminierten und für die Ausgegrenzten. Nietzsche witterte darin die Gefahr einer permanenten Feindseligkeit, einer permanenten Kultur, das alles verdächtig machen, alles in Frage stellen. Bei allem, bei allem das zutiefst strukturell intrinsisch Böse zu sehen, bis hin zur totalen Gerechtigkeit. Diese totale Gerechtigkeit ist aber so ideal, dass sie komplett unerreichbar ist, weil bei jedem Gerechtigkeitsfortschritt feierst du einen halben Nachmittag und dann jagst du die nächsten Verbrecher der Ungerechtigkeiten und die nächsten Privilegierten und die nächste Endkiste.

84:12
Und das kann man, ich glaube da hat er einen Punkt. Da hat er einen Punkt und das führt er zurück aber ins Wesen des jüdisch-christlichen. Wie ist es bei Paulus? Ich würde an der Stelle nun aber sagen, da hat Paulus ja ehrlich gesagt die weit überlegenere Lösung für. In der Tat, ich glaube man kann Paulus so lesen. Paulus steht in seiner Zeit tatsächlich für eine Umwertung der Werte. Paulus steht dafür ein, dass er sagt nicht das Hohe hat Gott erwählt, nicht das Große, nicht das Starke, sondern das Niedrige, das Schwache, das was nichts ist, dass niemand der etwas ichht, darauf sich was einbildet. Gott hat das Niedrige erwählt und alles Hohe gering gemacht. Also das ist es, was Nietzsche an Paulus so ungeheuer triggert.

85:16
So und damit steht Paulus natürlich für revolutionäre Impulse. Wir hatten auf der Tagung mehrfach der eine Vers, in dem das ja wirklich auch zusammengeballt ist, dass Paulus sagt im Christus weder männlich noch weiblich, weder Jude noch Grieche, weder Freie noch Sklave. So und wenn wir uns das anschauen, das sind bis heute die aktuellen binären Systeme von Gender, Race und Class. Das ist ja erschreckend aktuell, dass so diese Spannung des Geschlechtlichen und des Sozialen und des Ethnischen, dass Paulus das alles nimmt, so in einer hochgeschichteten Kultur, in einer völligen Normalität, dass Männer über den Frauen stehen und dass Freie über den Sklaven stehen und dass je nach Kultur die eigene Nation über den anderen steht.

86:10
Für die Römer ist völlig klar, wir stehen über allen anderen. Für die Griechen war das kulturell auch so, wir stehen kulturell auch über den Römern. Für die Juden war, wir sind schon nochmal ein bisschen erwählter als andere, das war das Normal. Wir über denen und an der Stelle zu sagen, in Christus beginnt eine Welt, kein Unterschied. Augenhöhe auf eine Ebene, das ist eine Revolution, das ist eine religiöse Revolution, einen religiösen Raum zu schaffen, wo Menschen Schwestern und Brüder sind. Und nicht mehr Herren und Sklaven. So Sklaven konnten Bischöfe werden. In der frühen Christenheit haben Frauen Aufgaben, die außerhalb kaum denkbar sind. Menschen sitzen zusammen bei Tisch, die ansonsten sich verachten, in Feindschaft voneinander getrennt gehalten werden.

87:07
Paulus steht für diesen revolutionären Impuls. So Nietzsches Angst kann aus diesem Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit, kann daraus nicht eine Hypermoral werden. Eine Hypermoral, die unter dem Banner totaler Gerechtigkeit permanent mit einem bösen Blick des Fanatismus unterwegs ist. Ist das nicht der Einstieg in dieses Jakobiner Syndrom, französische Revolution, dass du, wenn du wirklich Gleichheit willst, irgendwie auf die Idee kommst, ich glaube, wir müssen die Menschen zu Zehntausenden umbringen, dass wir mit der Gleichheit endlich mal vorankommen. So, aber die ganze Rechtfertigungslehre des Paulus und seine ganze Kritik des Gesetzeskomplexes handelt genau davon. Also das ist doch das große Thema bei Paulus. Wir haben gesehen in vergangenen Vorträgen, wie komplex es ist. Aber wenn wir uns jetzt mal kurz zusammenbrechen, gerade Paulus weiß doch so dies.

88:09
Du kannst im Streben nach Gerechtigkeit fanatisch werden. Paulus könnte sagen, Nietzsche, hab mir das jetzt mal erklären lassen, was du denkst, du hast deinen Punkt. Aber einfach nur mal so, dass du es hörst. Ich hab das selbst hinter mir. Ich hab Christen umgebracht. Ich hab Christen gejagt, verfolgt. Ich hab sie getötet. Ich hab's selbst erlebt, dass du im Streben nach der Reinheit des Gesetzes fanatisch werden kannst. Und es gehört ins Herz meiner Botschaft, dass die Gerechtigkeit Gottes befreit, befähigt, erlöst und sie muss uns auch befreien. Von unserer eigenen Hypergerechtigkeit und Hyperfrömmigkeit und unserem eigenen Wahn, fanatisch unsere Glaubensüberzeugungen oder unsere Gerechtigkeitsideale so zu vertreten, dass wir aus der Liebe fallen.

89:10
In allem die Liebe, in allem die Praxis. Ich bin Nachfolger Jesu. Ich bin nicht das Gegensatz zu dem Jesus, den du lobst. Ich liebe ihn so, wie du ihn beschrieben hast. Und was uns aber unterscheidet, ich will nicht zurück zu deiner Herrenmoral, zu deiner Moral der Vornehmung, wo wir uns am Ende dabei beruhigen. Es gibt halt höhere und niedrigere Menschen. Nein, weil ich mit dem Judentum die Empörung über das Unrecht teile. Die Empörung über die Ausbeutung der Armen, die Empörung über die Unterdrückung der Schwachen, die Empörung über die Ausgrenzung der Marginalisierten. Ja, das ist DNA des jüdischen Glaubens. Und so gehört es auch in die christliche Botschaft von Jesus Christus.

90:07
Das heißt, ich finde Nietzsche mit seiner interessanten, auch ein bisschen kuriosen Christentumskritik sehr lehrreich. Das, was er an Paulus zentral kritisiert, die Gefahr, dass Moral in Moralismus kippt, der menschenfeindlich werden kann. Das ist essentieller Teil paulinischer Kritik des Gesetzes. Das ist essentieller Teil auch reformatorischer Kritik des Gesetzes. Man muss Nietzsche zugestehen. Allgemeingut war das im Laufe der Kirchengeschichte längst nicht immer. Das, was Nietzsche ablehnt an Paulus, die Vision einer Gesellschaft der gleichen, der Menschen auf Augenhöhe, der Überbietung und Überbrückung aller Gegensätze. Also das sollte man sich zur Ehre gereichen lassen. Dafür stehen wir. Ja, also dafür steht Christentum. Dafür entschuldigt sich Christentum auch nicht.

91:14
Ein letzter Gedanke am Finksonntag. An Nietzsches Kritik kann man vieles dran finden. Ich glaube, sie ist immer da berechtigt, wo Glaube, Dogmatik, Moral, Gerechtigkeit streben. Etwas wird, wo Menschen fanatisch, intellektuell, entrüstet, irgendwo mit sich unterwegs sind. Die Botschaft des Paulus, Evangelium, Glaubeerlösung, hat entscheidend auch immer die Einsicht dabei. Und du selbst kommst nicht über den Punkt durch keine Erkenntnis, durch keine Anstrengung. Du brauchst die Erfahrung, dass Gottes Geist dir die Augen öffnet und dass Gottes Geist dich empfänglich macht. Empfänglich für Gottes Güte, für die Liebe Gottes in Jesus Christus, für das Kreuz, das Wort vom Kreuz,

92:11
das eine Botschaft der Versöhnung ist und nicht aufgeht in irgendwelche Schuld- und Strafe-Fantasien. Die Botschaft des christlichen Glaubens ist eine befreiende, inspirierende, beflügelnde, weil sie nicht aus Worten, aus Theorie, aus Gedanken allein besteht, sondern aus Worten voller Geist, aus Gedanken voller Energie, aus einer gemeinschaftvoller Kraft, aus einem Geist, der überspringt und neues Leben, neues Denken, neues Fühlen ermöglicht. Und so kann auch Nietzsches Paulus Kritik einen vielleicht doch ganz gut auf fängstliche, tröstliche, fröhliche Gedanken bringen. Herzlichen Dank.

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Nietzsche und Paulus | 14.5.2

Worthaus 12 – Tübingen: 19. Mai 2024 von Prof. Dr. Thorsten Dietz

Er wurde streng religiös erzogen, war hoch gebildet, konnte mehrere Sprachen, betete eifrig, war rhetorisch auf der Höhe seiner Zeit und schrieb Bücher, die noch heute erhalten sind. Und Jesus veränderte sein Leben.
Ja, Nietzsche ist gemeint. Und Paulus auch. Der eine hat Christus in der Welt bekannt gemacht. Der andere zog aus, das moderne Christentum zu erschüttern – und er hatte dabei vor allem an Paulus etwas auszusetzen. Was Nietzsche umtrieb, warum er mit Jesus klarkam, mit Paulus aber überhaupt nicht, das erklärt Thorsten Dietz in diesem Vortrag.