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Die christliche Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Darum soll es jetzt gehen, haben wir gerade schon gehört. Mit Blick auf gestern, da war es eher so grundsätzlich, eher theoretisch, da habe ich euch Einblicke gegeben in das Feld von Kirchentheorie, von Ekklesiologie und heute soll es mal verstärkter wirklich in die Praxis gehen. Ich möchte euch heute zeigen, wie das praktisch gehen kann, christliche Gemeinschaft im 21. Jahrhundert und am Ende vielleicht auch gemeinsam mit euch so ein paar Ausblicke wagen. Und vor dem Titel steht ja noch so ein griechisches Fachwort, da steht im Vortragstitel Koinonia. Koinonia, christliche Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Dieser griechische Begriff Koinonia, man kann jetzt so über den Daumen ungefähr lateinisch sagen,

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das ist so ähnlich wie Kommunio, das charakterisiert Kirche genauer. Bei Koinonia geht es nicht um irgendeine Form von christlicher Gemeinschaft, sondern um eine Gemeinschaft der Teilnahme und Teilgabe. Da kommt nämlich die Gemeinschaft in erster Linie von Gott, der unter uns lebt und wirkt in Wort und Sakrament. Wir erinnern uns noch mal gestern an diese Gemeinschaft der Heiligen und das, was uns von Gott gegeben wird, geben wir dann als Koinonia auch wiederum weiter in die Welt. Als Licht und als Salz der Welt, also mit Gott, durch Christus als Sohn und im Heiligen Geist. Und die Frage, die uns heute Vormittag hier am Einstieg begleitet ist, wie diese Koinonia, diese besondere Gemeinschaft im 21. Jahrhundert aussehen kann.

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Wir werden gleich so ein bisschen auf den Wandel im kirchlichen Feld gucken, so ein bisschen vom Ausland lernen. Ich lerne immer gerne so ein bisschen über Bande, aber ich finde, da kann man immer viel so im Transfer lernen. Ein paar Entwicklungslinien, zusammenhängende Herausforderungen für uns hier in Deutschland und wie gesagt, am Ende vielleicht noch mal kurz auf die Zukunft schauen. Also, wir starten mit dem Schritt Anamnese. Wir gucken mal ganz ehrlich auf die derzeitige Ausgangssituation. Ich werde versuchen, in groben Linien mal zu zeigen, wo die gesellschaftlichen Veränderungen liegen und wie sich die für uns beschreiben lassen. Derzeit, also jetzt gerade, befinden wir uns in der Postmoderne. Manche nennen das auch Spätmoderne oder zweite Moderne oder reflexive Moderne. Und diese Situation, in der wir jetzt alle gemeinsam sind, die ist stark geprägt von wahnsinnig tiefgreifenden politischen, kulturellen, gesellschaftlichen Veränderungen auf ganz vielen Ebenen.

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Und diese Veränderungen grenzen unsere jetzige Erfahrung sehr stark von den vorherigen Epochen ab. Also es ist auch so eine Abgrenzungsepoche. Und im Vergleich zu diesen vorherigen Mustern kann man sagen, unsere bisherige, eher solide Weltsicht, die verflüssigt sich mehr und mehr. Wir ticken heute einfach anders als vielleicht noch unsere Großeltern oder unsere Urgroßeltern. Das, was denen damals noch Sicherheit und Halt gab, zum Beispiel die Zugehörigkeit zu irgendeinem verbindlichen Deutungsrahmen oder zu irgendeinem sozialen Rahmen, wo sich Zugehörigkeit und Halt ergab, das ist heute anders. Wir sehnen uns heute eher nach Freiheit.

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Wir wollen als Individuen, also einzelne Menschen, selbst entscheiden und dafür geben wir dann auch ganz bewusst einen Teil von Sicherheit und auch von Zugehörigkeit ab, zugunsten von der eigenen Möglichkeit zur Wahl und Entscheidung. Ganz banales Beispiel. Unsere Großeltern, die haben zum Beispiel noch viel mehr Wert auf Besitz gelegt, möglichst ein eigenes Haus zu bauen und zu besitzen, um ja nicht irgendwo zur Miete wohnen zu müssen. Und in deren Wohnzimmern Regale voller CDs, Platten, DVDs, je nachdem wie alt eure Großeltern sind, Schellackplatten. Und heute, heute sind wir immer noch von Besitz geprägt. Aber postmateriell. Unser Konsum funktioniert heute ganz anders. Ich habe gar kein Auto.

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Ich habe kein eigenes Haus. Ich wohne schon immer zur Miete und ich bin ja schon fast 20 Mal umgezogen. Mein Bezugsrahmen, der ändert sich irgendwie ständig. Ich habe auch zum Beispiel mit Blick auf CDs und DVDs, ich habe überhaupt kein Device mehr, mit dem ich das abspielen könnte, selbst wenn ich CDs hätte. Wir haben letztens eine geschenkt bekommen zu Hause und haben überlegt, wie können wir das hören? Weil wir haben überhaupt nichts mehr, wo man das reinstecken kann. Also Spotify Lifestyle, alles Flatrate, Digital Nomads. Heute haben in Deutschland, da bin ich letztens drüber gestolpert. Heute haben in Deutschland mehr Leute einen Amazon Prime Account als eine Mitgliedschaft innerhalb der EKD. Also somit, es geht um Zugehörigkeit, es geht um Auswahlmöglichkeiten, es geht um größtmögliche Flexibilität. Und es geht auf dieser Reise immer um Erlebnis, um Erfahrung.

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Vielleicht kennt ihr das auch so aus dem englischsprachigen Bereich. Es geht um Erfahrung, es geht um eine große Erfahrung, eine spannende Erfahrung. Ja, das ist unsere Welt. Und auch so im religiösen, im spirituellen Bereich. Das ist halt auch die Frage nach fester Zugehörigkeit. So wie es bei unseren Großeltern und Urgroßeltern noch sehr um Verbindlichkeit und Besitz ging, sind wir heute unabhängig. Wir leben ein Leben als Episode im Hier und Jetzt. Es geht immer noch um Connection, aber diese klassische Vorstellung von verbindlicher Beziehung, von sozialen Verbindungen in zum Beispiel Kirchenvereine und Sportvereine, in der Nachbarschaft, das hat sich verschoben hin zu so einer größeren Unabhängigkeit, Autonomie, Eigenverantwortlichkeit. Und das zeigt sich soziologisch in der Verschiebung, jetzt ganz banal gesagt, von Moral zur Individualität.

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Moral musste früher immer mit der Community so verhandelt werden. Aber wenn ich mich selber zum Maßstab mache, dann geht es ja erst mal um mich. Also Beispiel und ich sage euch da nichts Neues. Ich weiß nicht, wie ihr hierher gekommen seid, aber am Freitag bin ich mit der Bahn hier nach Tübingen gereist, von Hannover, da wohne ich. Und dann kann dieser nette Zugbegleiter im Fünf-Minuten-Rhythmus im Zug sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren, das Tragen einer medizinischen Mund-Nasen-Maske ist für diese Fahrt. Alle Leute sitzen trotzdem vollkommen entspannt ohne Maske da. Total entspannt, weil sie irgendwie denken, ja, das gilt für mich nicht. Und die, die nicht entspannt sind angesichts dieses Formats, die sagen, oh, ja, da muss ich jetzt so ein Workaround finden. Und die halten sich dann drei Stunden lang tapfer an einer halbleeren Kaffeetasse fest. Weil dann gilt das ja nicht für sie. Sie trinken ja. So.

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Make your own rules. Das gilt für mich nicht, eure Regeln da. Ich habe da meine eigenen Regeln. Ich denke mir das mal kurz selber, wie ich das so will. Bisherige Autoritäten greifen nicht. Da kann der Schaffner fünfmal was sagen. Ich mache das selber. Das individualisiert sich alles. Alles verflüssigt sich. Der Sozial- und Psychologen und Philosoph Sigmund Baumann sagt, wir bleiben beim Flüssigen, der Sozial- und Psychologen und Philosoph Sigmund Baumann sagt, in einem flüssigen und modernen Leben gibt es keine dauerhaften Bindungen. Gibt es nicht. Und alle, die wir für eine gewisse Zeit lang temporär eingehen,

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die dürfen immer nur lose geknüpft werden, damit die möglichst schnell und mühelos wieder gelöst werden können. Nämlich wenn sich zum Beispiel die Umstände ändern. Und das werden sie in unserer flüssigen und modernen Gesellschaft. Das werden sie immer wieder neu. Das ist ein flüssiges und modernes Leben im Moment. Und Baumann veröffentlichte zu dieser These auch ein Buch. 2000 erschien sein Buch Liquid Modernity. Und drei Jahre später erschien das in Deutschland mit dem Titel Flüchtige Moderne. Da wurde aus dem englischen liquid, flüssig, ein flüchtig. Und wahrscheinlich sollte mit der Übersetzung ins Deutsche so ein bisschen dem vorgebeugt werden, dass wir im Deutschen oft bei diesem flüssig oder liquide denken an Geld. Also ja, der ist liquide, weil damit hat es bei Baumann überhaupt nichts auf sich, sondern er sagt eher Liquid Modernity.

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Das ist geprägt von dem Fluss, von der Bewegung, von der Fluidität, in der wir derzeit insgesamt sind. Also nicht nur auf Wirtschaft geprägt. Und diese Verflüssigung, die ich jetzt gerade schon ausgeführt habe, diese spürbare Verschiebung, die betrifft uns gesamtgesellschaftlich alle. Aber natürlich auch uns im Blick auf Kirche. Wir fühlen uns oder wir finden uns im Moment in einem Zeitalter kirchlicher Erosion. Diese selbstzentrierte Konsumlogik, die ich gerade angesprochen habe, die zeigt sich ja auch in unserem Markt um Religion, um spirituelle Erfahrungen. Und hier steht dann auch wieder individualisiert das persönliche Wohlbefinden, die individuelle Erfahrung und Erkenntnis des religiösen Subjekts im Mittelpunkt. Yoga, Achtsamkeit, Selbstoptimierung. Das ist mittlerweile ein Milliarden Markt. Da gibt es Regale voll, wenn ihr in die Buchhandlungen geht, auch auf YouTube.

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Und es gibt Kurse ohne Ende, die auch richtig teuer sind. Es ist ein hart und kämpfter Markt mittlerweile. Und was für diese Formen und Formate religiöser Erfahrungsangebote gilt, also eben auch größtmögliche Unverbindlichkeit ohne irgendwelche Voraussetzungen oder Hürden, keine notwendige Gemeinschaft. Das heißt, bezogen auf Kirche, auf christliche Gemeinschaft, unsere allgemeine Bindungskraft schwindet. Und das ist jetzt für uns als Volkskirche besonders stark sichtbar in der Kirchenmitgliedschaft. Und dieses Jahr, das Jahr 2022, stellt für uns eine historische Zäsur dar. Seit diesem Jahr sind die beiden großen Volkskirchen, also evangelisch und römisch-katholischerseits, in Deutschland keine Mehrheit mehr. Wir stellen weniger als 50 Prozent der Gesamtgesellschaft.

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Wir sind jetzt offiziell eine Minderheitskirche. Im vergangenen Jahr waren es noch 51 Prozent der deutschen Bevölkerung. Und 1990 hingegen lag der Anteil noch bei 72 Prozent. Aktuell spricht die EKD von rund 19,7 Millionen Mitgliedern, Stand Ende letzten Jahres. Und im Jahr zuvor waren es noch 20,2. Also wir werden immer weniger, wenn man das jetzt mal grundsätzlich anguckt. In den Jahren 2000 bis 2015 haben die beiden großen Volkskirchen in Deutschland pro Jahr etwa 0,6 bis 0,8 Prozent am Bevölkerungsanteil verloren. Und der Abwehrstrend nimmt eigentlich noch weiter rapide zu. Seit 2016 schreitet der Schwund um etwa 1 bis 1,4 Prozent voran. Das heißt, das ist keine gleichförmige Kurve, sondern das geht richtig hoch jetzt.

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Und ich weiß nicht, ob ihr es verfolgt habt, aber im Mai 2019 wurde eine Vorausberechnung für die Kirchenmitgliedschaftszahlen und auch das Kirchensteueraufkommen bis zum Jahr 2060 veröffentlicht. Und da ging so richtig ein Paukenschlag durchs Land. Das war die sogenannte Freiburger Studie und die ermittelte für die 20 evangelischen Landeskirchen und 27 Bistümer und Erzbistümer römisch-katholischerseits die Situation der Volkskirchen und vor allem deren Weiterentwicklung, wenn das alles so sich weiterentwickelt in Bezug auf Tauf, Austritts- und Eintrittsverhalten der Leute, was man da als Prognose sagen könnte im Hinblick auf das Jahr 2060. Und nach den Ergebnissen dieses Forscherteams, Forschungsteams Uni Freiburg, kann man sagen, dass bis 2060 insgesamt ein weiterer Rückgang um rund die Hälfte der Mitglieder in der evangelischen Kirche in Deutschland festzustellen sein wird.

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Die Zahl würde sich demnach von jetzt 21,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 2017 nochmal auf 10,5 Millionen im Jahr 2060 verringern. So sieht es aus. Jetzt sind wir lachend eingestiegen und jetzt sitzen hier alle so. Aber das sind die Zahlen. So ist es gerade. Seit Ende der 1960er Jahre beobachten wir den Prozess des Schrumpfens in beiden großen Konfessionskirchen. Und es geht beschleunigt weiter. Und da sage ich euch nichts Neues. Das ist ja nicht nur im Hinblick auf die Mitgliedschaft und auf das Kirchensteueraufkommen, sondern wir haben ja auch ein Riesen-Nachwuchs-Problem im hauptamtlichen Bereich und auch im ehrenamtlichen Bereich.

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Und die, die da sind, die können wir auch nicht mehr so halten und begeistern. Ich sage mal schön die Zahl. Als ich Fikariat gemacht habe, waren wir 20 Leute im Kurs. Und von den 20 Leuten sind heute noch sieben Pastorinnen und Pastoren im Gemeindedienst. Wir können die Leute nicht mehr binden, weil die Bereitschaft, sich verlässlich und verbindlich zu engagieren, für Kirche zu arbeiten, haupt- und ehrenamtlich, nimmt zu. Auch die Bereitschaft, zum Beispiel für Ämter zu kandidieren, in Leitung zu gehen. Wir haben das ja gestern schon gehört. Ich finde, wir müssen im Moment jedem danken und für jeden die Hände falten, der oder die ein repräsentatives Amt in unseren Kirchen übernimmt. Und was so ein Relevanzschwund insgesamt ist, auch unser Interesse an Angeboten, das nimmt halt alles ab. Wir haben einen Schwund an Gottesdienstbesucherinnen und Besuchern. Wir haben einen wahnsinnig abnehmenden Wunsch an Casualien.

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Ist das nicht mehr selbstverständlich, sein Kind taufen zu lassen? Dies hat sich natürlich auch aktuell in der pandemischen Situation noch mal wahnsinnig verschärft. Das hat uns noch mal echt einfach durch diesen disruptiven Impuls anders auf den Pott gesetzt und uns auch mit einer Wirklichkeit konfrontiert. Und somit zusammengefasst und ganz grundsätzlich gesamtgesellschaftlich gesprochen, das Relevanz von Kirche erodiert. Das rutscht uns weg. Die Blütezeit der hierarchisch organisierten Massenorganisation, die ist vorbei. Wir haben keinen normativen Machtanspruch mehr. Das müssen wir auch erstmal akzeptieren. Und mein Eindruck ist, es ist jetzt mein, ich kann das nicht belegen, aber das ist mein Eindruck auch so aus dem, was ich so im Alltag erlebe. Unser Primärproblem ist nicht mehr, dass die Leute was gegen Glaube hätten. Gesamtgesellschaftlich steht mein Glaube mittlerweile eher indifferent gegenüber.

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Also, ja, das ist mir egal. Mach du ruhig mit deinem Christentum. Also mach ruhig. Ich habe da gar nicht vielleicht unbedingt was dagegen. Ich stehe dem indifferent gegenüber. Aber wo die Leute sich sehr kritisch äußern und wo auch emotional denen der Hut hochgeht, sind oftmals die irrelevanten Strukturen von Kirche oder die unverständlichen Formen und Formate, die einfach keinen Sinn mehr machen in deren Alltag oder auch kirchliche Verfehlungen und Skandale. Und somit eigentlich nicht die Glaubensfragen und der Glaubenskern an sich. Weil ich habe den Eindruck, das Interesse an Sinn, an Wert, an Hilfestellungen, Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu finden und auch spirituelle Sehnsucht, die ist zumindest meinem Empfinden nach ungebrochen im Moment, immer noch. Und somit würde ich jetzt mal die These ausstellen, dass sich das in so Grobtendenzen her entwickelt hat von so einem vormaligen Atheismus, also Antithesismus, irgendwas gegen Gott zu haben,

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hat sich das verschoben hin zu so einem Antiecclesialismus. Man hat was gegen Kirche und die Art, wie wir Kirche sind. Gestern, wenn ihr euch erinnert, habe ich ja an mehreren Stellen bemängelt, dass Ecclesiologie und Kirchentheorie oftmals leider in ihren Äußerungen über die kirchliche Wirklichkeit sehr deduktiv-dogmatisch vorgehen. So und so hat Kirche zu sein. Und dass es damit auch manchmal leider ziemlich realitätsfern ist. Und zweitens habe ich gestern auch gesagt, dass die sich auch oft stark am bisherigen und bekannten und etablierten Status quo abarbeiten und sich scheuen, mal über den Tellerrand zu gucken und wahrzunehmen, was sich überall so tut in Kirche, was vielleicht neu dazu kommt, was wir bisher noch nicht kannten und somit auch mal innovierend zu theologisieren. Und nach meiner ganzen Kritik gestern will ich mal

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ein positives Beispiel sagen und so einen erfreulich produktiven Teil von sehr induktiver und reflexiver Kirchentheoriebildung seit 1972. Es gibt in Deutschland mittlerweile eine Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, KMU. Im 10-Jahres-Rhythmus wird da mit ganz viel Aufwand erhoben, wie es mit Kirche aussieht. Da wird gefragt, was Trinchenmüller auf der Straße so denkt und glaubt, zum Beispiel in Bezug auf Glaube, zum Beispiel in Bezug auf Kirche, wie sie ihren Glauben lebt, wenn überhaupt. Denn mittlerweile werden auch in diesen Erhebungen nicht nur Kirchenmitglieder befragt, sondern auch sogenannte Konfessionslose. Derzeit werden gerade die aktuellen Zahlen der sechsten Erhebung ausgewertet, aber die sind leider noch nicht veröffentlicht. Deswegen muss ich jetzt mit euch auf die Zahlen der fünften Erhebung gucken, der KMU. Das waren Zahlen aus dem Jahr 2014. Und dort wurde unter anderem in dieser Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung KMU

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gefragt, was fällt Ihnen ein, wenn Sie an evangelische Kirche denken? Können wir mal so für euch überlegen, was ihr denkt, was die Leute so gesagt haben? Knapp ein Viertel der Befragten verbanden die evangelische Kirche in erster Linie mit klassischen Gottesdiensten. Oftmals wurden die Gottesdienste dann noch spezifiziert, entweder im Sinne von Casualien, also Taufe, Beerdigung, Hochzeit und so weiter, oder mit besonderen Kirchenjahreszeitlichen Zuschreibungen und Festen, also zum Beispiel Heiligabend, Ostern, Pfingsten. Weitere kirchenprägende Elemente waren für die Befragten das Kirchengebäude, also der Ort der Gottesdienstlichen Praxis am Ort, oder und die hauptamtlichen Personen, die vorne stehen.

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Ehrenamt kam weniger vor, aber die hauptamtlichen Pfarrpersonen, die in der Öffentlichkeit für Kirche stehen. Und hier sieht man stark, wie die Befragten ausgehend von dem Bekannten, von dem Vertrauten, von dem Vorfindlichen Kirche erklären. Und im Grunde genommen, perpetuieren die das, was sie von Kirche kennen. Innovative oder neue Formen von Kirche, die kamen eigentlich überhaupt nicht vor. Die haben immer nur erklärt, wie sie Kirche bisher wahrgenommen haben, ist ja auch halbwegs logisch. Und deswegen werden im Grunde genommen so andere Inhalte nur von weniger als zehn Prozent der Befragten benannt. Es war auch eine offene Frage, aber das das Gro war Gottesdienstformate, Orte und die Personen. Ein bisschen noch andere Praxis, Kreise und so, aber letztlich kam nichts, was darüber hinausgeht und zum

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Beispiel auch für die Inhalte steht. Man könnte ja auch sagen Kirche, das ist der Laden mit der Gnade. Da ist die Liebe Gottes. Da muss ich mir nichts verdienen. Also da denken die Leute nicht dran. Und bei mir kommt es häufig vor, dass bei Gesprächen auf Partys zum Beispiel, wenn ich beim Neu-Kennenlernen gefragt werde, was ich beruflich mache, sage ich immer, ich bin Pastorin. Und dann bin ich in so einem eher distanzierten oder kirchenfernen Bekanntenkreis und dann sagen die, ach so, Pastorin, ach spannend. Dann bist du ja bestimmt in so einer modernen Gemeinde und machst so ganz innovativ in der Kirche was, so innovativ zum Beispiel mit so Gospelchor und Kirchenband. Und ich finde, an diesen Äußerungen sieht man exemplarisch die Prägekraft und wahnsinnige Normativität von unseren bisherigen Kirchenbildern und Kirchenformatierungen. Also selbst Menschen, die überhaupt nicht nah an Kirche dran sind, die greifen in ihrer innovativsten

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Vorstellung und denkbar positivsten Zuspitzung von Kirche auf die klassischen Bilder zurück, wie wir gerade in der KMU gesehen haben. Und dann wird zum klassischen Gottesdienst, das ist ja das, was man damit assoziiert, sagen wir ja gerade, einfach so ein bisschen Innovation in den Gottesdienst reingegossen. Und natürlich, also ich habe überhaupt nichts gegen Gospelchöre und natürlich sind Gospelchöre und auch neue Kirchenmusik, das sind innovative Formen von Gottesdienstlicher Gestaltung. Total haben auch vollkommen ihre Berechtigung. Darum geht es mir gar nicht. Ich wollte nur sagen, dass man an diesen Partygesprächen sehen kann. Wir bleiben in dieser, in diesen Bildern immer in den bisherigen Bahnen. Und somit selbst kirchenferne können Kirche nicht ohne Gottesdienst denken oder sind allen allerhöchstens fähig, das durch so moderne Gestaltung in Musik zu kompensieren. Aber eine Kirche und da erinnere ich noch mal an gestern, an diese Note Ecclesiae, an diese Grundvollzüge.

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Also wir hätten ja die Möglichkeit, das noch mal ganz neu durchzubuchstabieren. Wenn die Werte klar sind, sind die Formen und Formate ja gar nicht festgelegt. Wir könnten ja auch noch mal ganz anders überlegen, wie man diesen Kennzeichen entsprechend Kirche leben kann. Und zwar und das ist mir ganz wichtig zu sagen, nicht weil das bisherige per se schlecht ist. Ich will nicht alles komplett neu machen und alles per se auch grundsätzlich hinterfragen im Sinne von dann muss jetzt alles neu entstehen und das bisherige ist etwas, von dem wir uns abkehren müssen. Gott bewahre. Nein, wirklich nicht. Aber es lohnt sich noch mal grundsätzlich zu hinterfragen und zu prüfen, wie Kirche heute mit den vorfindlichen Kennzeichen, mit den Wesenscharakteristiken, mit den Grundvollzügen, von denen wir gestern gehört haben als Aufgaben von Kirche,

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wie wir heute diesen Aufträgen nachkommen können, ob das überhaupt noch aufeinander passt. Und dann entsteht ja automatisch ein Bild von größerer Varianz und Vielfalt und Diversität. Und da wir als evangelische Kirche ja, ich erinnere noch mal an die KMU, scheinbar von Formaten, Gottesdienst, von Formen, Kirchengebäude, von HauptprotagonistInnen, klassische Farbpersonen, geprägt sind, sind das auch Stellschrauben, an denen sich zum Beispiel Innovation ereignen könnte, damit insgesamt mal ein kleiner Ruck im System entsteht. Und das wäre auch gut für unsere Theologie. Denn ich könnte jetzt ja auch auf der Straße die Leute einfach mal fragen, was willst du, dass ich dir tun soll, kirchlich? Was bräuchtest du? Was bräuchtest du für eine Kirche?

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Und die Antwort, das wird man wahrscheinlich in diesen Antworten dann raushören, sind dann eigentlich immer nur Vorstellungen, die an dem anknüpfen, was die Leute kennen. Weil die sich natürlich nur an der bisherigen Logik orientieren. Das heißt, solange wir die Logik nicht ändern, ändert sich auch nichts. Und das ist die Krux. Wenn die Menschen erleben, dass um sie herum derzeit sich alles verflüssigt, verflüchtigt. Wir erinnern uns an Sigmund Baumann. Wenn sich gerade alles verändert, aber Kirche sich gleichzeitig mit der größtmöglichen Resilienz und Widerstandskraft bemüht, aber auch wirklich unbedingt gleich zu bleiben, dann ist die Dynamik und vor allem der Kraftaufwand zu hinterfragen. Denn dieser Wandel in der Zeit ist doch so, zumindest meiner Meinung nach, so groß, dass wir mittlerweile unserem Kern nicht mehr gerecht werden, unserer Botschaft, dem großartigen Evangelium.

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Weil wenn ich mir was aussuchen dürfte, ich würde lieber die Botschaft des Evangeliums erhalten, als zwanghaft irgendwelche Formen. Aber ich habe manchmal den Eindruck, wir müssen unbedingt an der Form festhalten. Ja, die Botschaft, die ist ja unveränderlich, aber wir können dann alles nicht mehr gleichzeitig. Es sind halt flüssige Zeiten. Wohin wollen wir unsere Kraft investieren? Es gilt zu hinterfragen, was erhaltenswerte Werte und Tradition und Botschaften sind. Und was dann andersrum vielleicht eine binnenkirchliche Kultur ist oder im schlimmsten Fall eine ideologisch aufgeladene Folklore. Vielleicht treibt uns diese Verflüssigung, dieser gesamtgesellschaftliche Trend dieser Verflüssigung auch in einen Strom, der uns letztlich guttut, weil wir die Dealer sind von der ewigen Botschaft, die diesen Strom überdauert.

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Schon zwei Jahre nach dem Erscheinen von Sigmund Baumanns Buch Liquid Modernity veröffentlichte der britische praktische Theologe Pete Ward im Jahr 2020 ein Buch mit dem Titel Liquid Church. Und so sehr Baumann in seinem Buch kulturkritisch und auch ziemlich pessimistisch, so wie ihr gerade da saßt, so ist das Buch. Es ist trotzdem großartig, aber es ist wirklich sehr pessimistisch. Und Pete Ward dagegen, der nimmt das ernst, aber auf der Grundlage sagt er so und was heißt das jetzt? Wo liegen die Chancen und Herausforderungen? Wo kann uns das vielleicht auch reizen und motivieren? Der ist chancenorientiert in seiner Kirchenentwicklung dann. Und Pete Ward nimmt Baumann auf und sagt, wenn wir von einer Verfestigung ausgehen, dann gibt es ja auch eine Solid Church.

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Also eine starre und feste Vorstellung von Kirche. Und Pete Ward charakterisiert diese Solid Church als konservative Kirche und Achtung, nicht konservativ im Sinne von inhaltlich konservativ, sondern konservierend im Hinblick auf die Formen und Formate. Also das, was normativ, was ganz festgelegt wird in der Art und Weise, wie Kirche im Moment prägend und normativ wahrgenommen wird. Und zum Beispiel am Beispiel des klassischen Sonntagsgottesdienstes skizziert Ward wie mit einer Solid Church Haltung mancher Gottesdienst in einer vermeintlich unveränderliche Liturgie trotz rückläufiger Besuchszahlen anachronistisch zum um jeden Preis bewahrenswerten nostalgischen Reminiscenz verkommt. Da hält man sich in dieser Solid Church, wenn alles um einen herum wegrutscht, dann daran fest.

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Das ist dann der Halt, die Form, nicht der Inhalt, aber die Form. Und Kirche sei, so Ward, im Grundprinzip einzig und allein an manchen Stellen heutzutage nur noch über die sichtbare Anwesenheit in klassisch geprägten Vergemeinschaftungsformen gegeben. Gottesdienst zum Beispiel. Weil wir haben ja gerade gehört, wir leben in einer fluiden Welt. Alles wird nur lose gebunden. Ich habe überhaupt keinen CD-Player mehr, weil ich mache alles online. Und somit stellt Ward der Solid Church ein Alternativmodell entgegen, gegenüber, eine Liquid Church, die aus seiner Sicht gegenwahrtsfähigere Form von Kirche. Und somit folgt Ward dieser Baumanschen Verflüssigungsanalytik, aber entwickelt daraus ein Bild von Kirche mit einem sehr positiven Ausblick

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und einem Vertrauen, dass die unveränderliche Botschaft uns in diesen flüssigen Zeiten gut im Spiel behält. Und dann entsteht automatisch Varianz und Diversität. Wenn Kirche sich in dieser verflüssigten Gegenwart ereignet, dann geht das nicht mehr mit den festen Methoden der alten Moderne, sagt Ward. Das sind die Prinzipien der Solid Church, der statischen Kirche. Und, so Ward, man braucht mehr Vielfalt im kirchlichen Leben. Es macht keinen Sinn, dann die eine einheitliche Kultur mit einer neuen, moderneren Kultur wieder zu übertünchen, aber dann auch wieder nur einer Monokultur, die man dann zu enorm erhebt. Und was man somit von Ward lernen kann, ist eine vollkommen gleichberechtigte ekklesiologische Wertschätzung anderer christlicher Existenzformen, auch wenn sich diese vielleicht am Rand etablierter Gemeindeformen oder vielleicht auch ganz außerhalb unserer bisherigen kirchlichen Strukturen entdecken musste, ereignen.

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Oder nochmal pointierter, für Ward ist das Ende der Fahnenstange der Innovation in Kirche zum Beispiel nicht erreicht, indem die vorfindlichen Formen und Formate einfach weiterentwickelt werden. Und dann zum Beispiel, wir erinnern uns an das Beispiel gerade, der Gottesdienst mit einem Gospelchor einfach ein bisschen verflüssigter gemacht wird, sondern verflüssigte Impulse heißen, wie kann es insgesamt nochmal vielleicht ganz anders aussehen? Dann vielleicht auch durchaus trotzdem mit einem Gospelchor, aber aus einem anderen und grundsätzlicheren Blickwinkel raus. Für Ward geht es um Mindset. Wie denken wir Kirche im 21. Jahrhundert? Und das kann dann bedeuten, um des Gottesdienstes willen, gerade weil uns Leiturgia, wir erinnern uns an gestern, so wichtig sind.

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Gerade deshalb wollen wir den klassischen Gottesdienst nochmal erweitern. Gedanklich auch im Mindset nochmal gucken, wohin ruft und lockt uns Gott vielleicht auch im Hinblick auf Leiturgia, auf Versammlung und Gemeinschaft. Wie kann das heute aussehen? Und dabei entstehen dann vielleicht unterschiedliche und vielfältigere Formen von Kirche, die alle ihre Berechtigung haben. Und dann gibt es weiterhin Gottesdienst mit Orgel und dann gibt es auch weiterhin Gottesdienst mit einem Gospelchor. Und dann gibt es auch Lobpreis Gottesdienst mit einer Band. Aber dann gibt es auch Gottesdienst, Leiturgia, Versammlung nochmal dekonstruiert, Kirche beim Angeln, beim Gin-Tasting. Dann gibt es einen diakonischen Einsatz für Wohnungslose, für Geflüchtete. Dann betet man bei der Tafel. Kirche als Liquid Church, als flüssige Kirche.

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Wir haben doch nichts zu verlieren. Wir haben doch die Botschaft auf unserer Seite. Der Kern ist doch klar. Der Kern verändert sich nicht. Deswegen wovor haben wir Angst in diesen verflüssigten Zeiten? Wenn man jetzt auf Ward drauf guckt, wie sieht das praktisch aus? Was sind so seine Ideen? Sein Buch ist aus dem Jahr 2002. Da hat sich viel getan. Und spannenderweise sind viele der Impulse, die Ward in seinem Beispiel nennt, heute schon wieder Usus. Die haben wir mittlerweile schon in der Praxis umgesetzt. Kirche eher geprägt von Netzwerkstrukturen. Weniger Scheu vor digitalen Formen und Kommunikationsformen. Da hat uns natürlich auch Corona in die Karten gespielt, da auch ein bisschen innovativer denken zu müssen. Ward hat auch gesagt, wir bräuchten mehr erlebnisbasierte Events, eine größere Vielfalt an liturgischen Formen. Das gibt es ja mittlerweile an vielen Stellen schon, Gott sei Dank. Und all dies ist vielleicht, aber ganz sicher nicht nur, auch einer Bewegung und Entwicklung zu verdanken,

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die auch auf Großbritannien zurückgeht und die ungefähr so im gleichen Zeitraum einer größeren kirchlichen Öffentlichkeit bekannt wurde. Denn damals, zu der Zeit, als das Buch erschien, war die Situation in Großbritannien auch schon ziemlich desaströs. Und im Vergleich zu Deutschland nochmal deutlich desaströser. Der britische Historiker Calum Brown hat den Anfang der 2000er Jahre treffend beschrieben mit Britain is showing the world how religion, as we have known it, can die. An Großbritannien kann die Welt anschaulich sehen, wie Religion, so wie wir sie bisher kennen, auch aussterben kann. Heute sind in Großbritannien, so ganz grob über den Daumen, von den 55 Millionen Einwohnenden eine Million Teil einer sogenannten Worshipping Community.

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Das heißt, sie nehmen mindestens einmal im Monat an einem Gottesdienst teil oder stehen auf einer Mitgliederliste einer örtlichen, verfassten christlichen Gemeinschaft der Church of England. 55 Millionen, eine Million. So sieht es in Großbritannien aus. Und die anglikanische Kirche, die hat für Großbritannien schon vor grob 40 Jahren anerkannt, dass sie allein mit dem klassisch etablierten Parochialsystem nicht mehr ausreichend die Volkskirche für Menschen sein kann. Parochialsystem ist dieses, jeder Mensch ist einer örtlichen Kirchengemeinde zugeordnet und wird da versorgt. Und die haben vor 40 Jahren schon gesagt, das klappt nicht mehr. Dieses alte Bild, da kommen wir mittlerweile an unsere Grenzen. In den 80er und 90er Jahren begannen dann in England erste Versuche der sogenannten Church-Planting-Bewegung damals. Die haben zum Beispiel 1994 dann so ein erstes Dokument rausgebracht, Breaking New Ground, Church-Planting in the Church of England. Das waren so erste kirchenentwicklerische und strategische Entscheidungen, wo gesagt wurde, wie kann es weitergehen?

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Gemeindepflanzung, Gemeindegründung als Ergänzung. Also nochmal, nicht alles neu machen, sondern einfach eine größere Varianz und Vielfalt. Und die haben gesagt, wir brauchen das Ergänzen, um eben auch bestehende Gemeinden zu stützen. Die brauchen auch unsere Unterstützung. Und das Papier kam raus und schon innerhalb von zehn Jahren wurde das ganze Ding wieder neu überarbeitet, weil die gemerkt haben, das rutscht uns hier so weg. Da war innerhalb von zehn Jahren schon wieder alles neu, weil die Zahlen so desaströs weiter in den Keller gingen. Und somit haben die dann daraufhin total schnell schon wieder den Auftrag bekommen, die bisherigen Konzepte zu überarbeiten. Und dann erschien im Jahr 2004 der so ziemlich alles veränderte Synodenbericht der Church of England mit dem Titel Mission-Shaped Church Report. Und in England sagt man mit so einem Augenzwinkern, dieser Mission-Shaped Church Report,

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das ist so ein bisschen der Harry Potter der Synodenberichte, weil es kein offizielles Pamphlet gibt, das der Kirchenleitung so aus den Händen gerissen wurde, weil die Leute das einfach spannend fanden, was Ideen für die Zukunft sein können. Das ist bis heute ein Auflagenschlager, gibt es auch in der deutschen Übersetzung. So, Mission-Shaped Church Report, was stand da drin? Der Mission-Shaped Church Report wertete damals das Entstehen neuer Formen christlicher Gemeinschaft auf und gleichzeitig aus. Denn, ich habe ja gestern schon angedeutet, die gibt es ja schon. Also wir nehmen die oft nicht so ganz wahr, weil die so ein bisschen unregelmäßiges Verb sind und nicht so ganz in unsere Logik reinpassen, aber die gab es ja damals schon. Und da hat die Kirche von England gesagt, ihr tickt vielleicht ein bisschen anders als unsere klassischen Kirchengemeinden und Parochien, aber wir nehmen euch jetzt mal wahr und ernst und gucken, was das für uns bedeuten kann. Und das war die terminologisch, die Geburtsstunde der sogenannten

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Fresh Expressions of Church oder auch Fresh Ex. Vielleicht habt ihr das schon von gehört. Von der Kirchenleitung wurde fortan ermutigt, diese frischen Formen von Kirche, Fresh Expressions of Church zu gründen und zu fördern. So, was ist das jetzt genau? Gerade wenn ihr da vielleicht schon mal was von gehört habt, es gibt ja auch so durchaus unterschiedliche Deutungen. Also hier mal die Definition von den Englandern selbst, die sagen, eine Fresh Exp. of Church ist eine Gestalt von Kirche für unsere sich wandelnde Gesellschaft. Im Zentrum stehen Menschen, die keinen Bezug zur Kirche haben. Grundwerte wie das Hören auf Gott und die Menschen, diakonisches Handeln, kontextuelle Mission und gelebte Spiritualität bilden das Fundament. Allein über diese Definition könnte ich auch eineinhalb Stunden mit euch reden, aber gerade im Hinblick auf den Titel dieses Vortrags einfach mal so ein paar Schlaglichter, was das, diese Definition heißen kann für ein Bild von Gemeinschaft,

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von christlicher Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Es steht in der Definition, eine Fresh Ex ist eine Gestalt von Kirche. Eine, nicht die. Nicht die einzige. Das heißt, Fresh Ex ist jetzt kein Reformmodell, was alles andere plattmähen kann, sondern es ist auf Ergänzung und auf Pluralität hingedacht. Weiter, dann steht da, für unsere sich wandelnde Gesellschaft. Und da ist deutlich wahrnehmbar, dass die AutorInnen sich diesen Verschiebungen, die ich am Anfang mit dieser Verflüssigung euch deutlich machen wollte, dass sie sich denen nicht verschließen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir in Kirche immer sagen, ja, wir wissen ja, dass alle treten aus, aber wir machen jetzt erst mal trotzdem weiter wie bisher. So, und die haben von vornherein jetzt im ersten Satz steht, das ist eine Kirche für unsere sich wandelnde Gesellschaft. Die nehmen das in den Mittelpunkt und haben deswegen auch eine größere Offenheit nochmal dekonstruierend

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und grundsätzlich neu das Bestehende konstruktiv zu hinterfragen. Dann weiter in der Definition, im Zentrum einer Fresh Ex stehen Menschen, die keinen Bezug zur Kirche haben. Jetzt würde man ja denken, natürlich, also natürlich wollen wir Kirche für alle sein. Alle sind herzlich eingeladen. Aber es klappt ja oft nicht. Und manchmal ist es ja bei uns auch wirklich so, dass man den Eindruck hat, in unseren Kirchen zusammenhängen, geht es eigentlich immer eher um die Kerngemeinde und die, die schon im Laden drin sind. Und hier ist es genau umgekehrt. Also ein ganz großes missionarisches Herz, wo gesagt wird, nee, es geht um die sogenannten dechurched oder unchurched, also Leute, die entweder noch nie was mit Kirche zu tun hatten oder mittlerweile aus irgendwelchen Gründen nicht mehr. Das ist ein missionarischer Schwenk. Kirche ist da, wo die Leute sind, die bisher noch nicht Kirche sind. Und dann Grundwerte sind das Hören auf Gott und die Menschen, diakonisches Handeln, kontextuelle Mission, gelebte Spiritualität.

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Da klingeln vielleicht bei euch die Ohren im Hinblick auf die Note Ekklesia, die ich gestern vorgelesen habe, und auch die Grundvollzüge von Kirche, die ich angedeutet habe. Heiligkeit, Apostolizität, Laeturgia, Matyria, Diakonika. Diese ganzen Schlagwörter sieht man da in der Art und Weise, was die sich als Kirchen prägende Impulse wünschen. Und somit, das ist neu, aber das ist auch keine Revolution. Und auch der Name Fresh Expressions legt so ein bisschen so leider so einen ungünstigen Dualismus nahe. Wenn nämlich gesagt wird, es sind neue Ausdrucksformen von Kirche, dann wird durch neu wird ja automatisch das Bestehende zum alten Eisen gemacht. Aber deswegen Achtung, da steht nicht neue Ausdrucksformen von Kirche, sondern frische Ausdrucksformen von Kirche, Fresh Expressions. Und diese Formulierung geht auf eine ganz, ganz geprägte Formel für englische Ohren und liturgisch geprägte Ohren zurück.

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Das ist nämlich aus der Ordinationsformel, aus dem Ordinationsgelübde der anglikanischen Tradition, wo die in der Weihe versprochen wird, zu proclaim a fresh in each generation, also die frohe Botschaft, auf frische Art und Weise in die Generation, in die neuen Generationen zu verkündigen. Das heißt, es geht dabei nicht in erster Linie nur um eine spezielle Form der Gemeinde Aufbaubewegung. Also somit dieses Nachfolgekonzept der Churchplanting-Bewegung ist nicht in erster Linie nur Kirchenentwicklung, sondern Fresh Eggs setzt viel grundsätzlicher beim Kern an und sagt, das ist grundsätzlich eine Art und Weise, wie wir Evangelium leben können in Gemeinschaft. Wie lebe ich heutzutage afresh aus dem Evangelium? Und dann ereignet sich das vielleicht auch in neuen oder anderen Formen von Kirche, weil die steigen sozusagen eine Etage tiefer ein.

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Kirche sein heißt, das Evangelium auf eine frische Art und Weise zu leben, in die Generation hinein zu frischen. Und Fresh Eggs nimmt somit diesen Wandel, diese Verflüssigung, diese potenzielle Veränderung innerhalb der bisherigen kirchlichen Strukturen und auch Traditionen in Kauf und all die Reibungsfelder, die das mit sich bringt, und zwar um des Evangeliums willen. Nicht, wie das leider so oft in Deutschland rezipiert wird, weil es so innovativ ist und so modern, sondern weil die das Evangelium gern haben und wollen die dem Evangelium einen Rahmen geben wollen, um Leute damit zu werben. Die Fresh Expressions of Church sind von vier Grundhaltungen geprägt. Sie sind kontextuell, sie sind missional, sie sind transformierend und sie sind ekklesial.

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Das erste ist kontextualisierend und das ergibt sich aus diesen Bemühen heraus, Kultur, Kontext und milieusensibel Kirche zu sein. Also hörend wahrzunehmen, neugierig Kirche zu sein. Und dann ist das natürlich an jedem Ort anders, weil jeder Ort auch anders ist. Das zweite ist Missionalität. Das geht auf die Relevanz von Gottes Wirken in der Welt zurück und leitet daraus das Bemühen ab, dieses Evangelium, diese Botschaft für die Menschen sichtbar zu machen. Das, was ich im Kontext an Gottes Wirken wahrnehme, mache ich transparent und sichtbar und mache mich auf die Suche nach Gottes Spuren mit den anderen missional. Und dann liegt der Fokus automatisch auch auf den Leuten und besonders auf den Leuten, die bisher mit Kirche vielleicht noch nicht so viel anfangen konnten. Drittens die Transformationsbereitschaft oder der Transformations-Effekt. Und der setzt bei einem sehr partizipativen und auf Veränderung ausgelegten Bild von Kirche an.

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Also so dreifach mehr oder weniger. Transformation insofern, als dass es auf der individuellen Ebene lebensverändernd ist. Weil wenn Menschen mit dem heilsbringenden Evangelium in Kontakt kommen, dann ändert sich das ganze Leben. Somit individuell tut sich da was. Aber transformierend ist es auch im Bezug vielleicht auf bestehende Formen von Kirche. Weil wenn die, die immer sagen, so haben wir das immer schon gemacht, sehen, Mensch, so kann auch Kirche sein, dann ändert sich im Nahraum auch kirchliches Handeln, weil sich das Portfolio und die Palette erweitert. Und es ist aber auch transformierend, weil so ein Kirchenkonzept nicht an den Kirchenmauern aufhört, sondern ausstrahlt und Licht und Salz in der Welt ist. Und dann hinterlässt das auch Spuren im ganzen Ort, im Dorf, in der Stadt, in der Region. Das heißt, es ist nochmal auch insgesamt regional ausstrahlend. Missional, kontextuell, transformierend.

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Und die letzte Grundhaltung ist Ecclesialität oder Ecclesiogenese. Oder man könnte auch sagen, da entsteht Kirche. Und auch da würden wir jetzt sagen, Herr Gott, wenn ich sage, was Kirche ist, und der vierte Punkt ist, da entsteht Kirche, well. Aber wenn ihr mal auf eure Settings drauf guckt, alles, was sich so innovativ tut, da reden wir ja immer von den Projekten. Oh ja, das ist so ein spannendes Projekt, was da neu entsteht. Und allein schon, dass wir das als Projekt bezeichnen, zeigt, wir nehmen das gar nicht ernst als Form von Kirche. Sondern wir machen das weiter so, wie wir das bisher gemacht haben, aber da gibt es auch noch so ein paar innovative Projekte. Aber vielleicht könnte man denen ja mal zugestehen, dass sie auch Form von Kirche sind. Nicht nur Projekte, die irgendwann auch wieder aufhören oder wo die Fördergelder immer terminiert sind. Nein, das ist wirklich Kirche. Und somit ist der vierte Punkt in der Church of England, wir trauen euch das zu. Wir erwarten das von euch, dass diese aufkeimenden neuen Initiativen,

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dass das reife Form von Kirche werden können. Und wir wollen euch den Rahmen dafür geben, dass das nicht das nächste Projekt, das nächste Strohfeuer ist, sondern eine ernstzunehmende Form von Kirche der Zukunft, von christlicher Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Also, somit zusammengefasst, diese Fresh Eggs sind kontextuell, missional, transformierend, ekklesial. Und diese vier zugrunde liegenden Grundhaltungen, die sind eben nicht nur in diesen neuen und frischen Gemeindeformen virulent, sondern das zeigt sich auch, so sagt zum Beispiel Michael Herbst, das zeigt sich auch als Impuls für bestehende Gemeindeformen. Weil es ist ja nicht so, dass klassische Gemeinden immerhin alles weitermachen. Weil viele von euch in klassischen Gemeinden machen ja wahnsinnig innovative Arbeit. Das heißt, diese vier Grundhaltungen sind für euch vielleicht genauso inspirierend. Das heißt, da geht es jetzt nicht nur um neu, sondern da geht es auch um das Neue in den traditionellen Formen.

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Und dann wird dieser Dualismus von Innovation und Tradition total ausgehebelt, wenn alle gemeinsam Gas geben für das Evangelium. Ich habe ja gerade diesen Synodenbericht erwähnt von 2004, diesen Mission-Shaped Church Report. Und der Name ist, oder dieser Titel von diesem Report, ist gleichsam prägend für so eine Grundhaltung von dem kompletten Prozess. Und in diesem gleichnamigen Bericht heißt es, ich zitiere, start with the church and the mission will probably get lost. Start with the mission and it is likely the church will be found. Ich übersetze mal frei. Geht man zuerst von bestehenden Formen von Kirche aus, wir erinnern uns an die KMU, das, was es schon gibt, der Gottesdienst, das Kirchengebäude, die handelnde Protagonisten. Also gehen wir nur von der bisherigen Form von Kirche aus. Dann verlieren wir vielleicht unsere Mission aus den Augen.

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Drehen wir es aber um und fangen mit der Mission an. Dann werden wir vielleicht Kirche nochmal ganz neu entdecken. Dann werden vielleicht die Formen und Formate nochmal so durchgerüttelt, dass wir zugunsten unserer Mission nochmal neu sehen, wie Kirche entsteht. Und dennach ist diese Mission-Shaped Church, eine Kirche, die sich von ihrer Sendung her ableitet, von ihrer Mission her ableitet, die stellt ihre Mission prägend in den Mittelpunkt. Mission-Shaped Church ist, wenn ihr so ein bisschen designaffin seid, so Bauhaus-mäßig, dann könnte man sagen, Mission-Shaped Church ist sozusagen ein ekklesiologisches Form-follows-function. Da leitet die gewünschte Funktion, der Zweck sich so ab, dass es das Äußerliche prägt. Die Kirchenstruktur, die Kirchenlogik. Aber es geht in erster Linie um den Kern, um den Zweck,

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um das, worum es bei Kirche eigentlich geht. Das ist der erste Schritt. Und somit, wenn wir in Deutschland in der Rezeption häufig, meiner Meinung nach, immer so diese Fresh Expressions of Church in den Vordergrund schieben und in vielen Diskussionen immer hören, so, ja, das ist interessant. Eigentlich, so mein Eindruck, ist in der Anglikanischen Kirche die Rede von dieser zugrunde liegenden Mission-Shaped Church viel potenter und virulenter gewesen. Also Mission-Shaped Church war eher so die allgemeine Logik, die zugrunde liegende Grundhaltung und diese Fresh Expressions waren dann die Art und Weise, wie es dann konkret in Ableitung entstanden ist. Aber eigentlich, wo bei denen echt die Dynamik herkam, war grundsätzlich zu sagen, Leute, lasst uns nur mal über Missionen nachdenken. Bei der Anerkennung und Zustimmung zu diesem Transformationsprozess der Church of England war die Diskussion um Missionen. Ein total unterstützender Faktor bei der Überzeugung,

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Mission-Shaped Church landläufig nochmal zu überlegen und auch anzuwenden. Und die haben immer gesagt, es geht im Grunde genommen bei uns um die Mission, die eine Auswirkung hat auf unsere Ekklesiologie. Aber nicht in erster Linie um strukturelle Innovation. Und dadurch war das bei auch Traditionalistinnen und Traditionalisten dann irgendwann schneller anschlussfähig, weil gesagt wurde, es geht jetzt nicht um Innovation per se, sondern es geht um den Kern. Und den wollen wir anders beleuchten und in den Mittelpunkt stellen. Und so ordnet zum Beispiel Sabrina Müller, die ich ja gestern schon zitiert habe, die sagt zum Beispiel in diesem Zusammenhang, charakteristisch für eine Fresh Ex ist nicht die Neuheit und nicht ihr Innovationsvermögen, sondern die Fähigkeit der Kontextualisierung, das Evangelium zu tradieren. Wie geben wir dem Evangelium neu die Chance zu leuchten?

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Und was somit auffällig ist, ist, da geht es zentral um Mission. Das ist das Zentrale in diesen ganzen Bewegungen, in dem ganzen Konzept. Ich würde sagen, nicht nur für die Mission-Shaped Church und die Fresh Expressions, sondern die Tendenz insgesamt, wenn wir auf Gemeinschaft im 21. Jahrhundert schauen. Mission, also eine missionale Grundhaltung, die werden wir in Zukunft weiter einnehmen und auch einnehmen müssen. Dieser spürbare strukturelle Handlungsdruck, die notwendige Mitgliederakquise, weil einfach unser Laden gerade erodiert, die werden uns keine Wahl lassen. Aber es ist ja nicht nur organisationslogisch was, sondern wir haben ja auch biblischen Missionsauftrag. Jesus hat uns das als Kirche ins Stammbuch geschrieben. Und somit macht es auch theologisch Sinn, zukünftig missionarischer zu sein.

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Missionarisch her, sind ja schon missionarisch, aber da müssen wir vielleicht echt nochmal eine Schippe drauflegen. Und dann hat das, dieses Missionarische nicht nur Auswirkungen auf die anderen, die wir erreichen wollen, die wir als Kirchenmitglieder akquirieren wollen, die dann auch Kirchensteuer zahlen sollen. Das ist nicht nur eine Mission im Hinblick auf die anderen. Meine These ist, das würde uns auch ganz gut tun, uns Christinnen und Christen, wenn wir Kirche so neu profilieren mit einer missionarischen Haltung. Der katholische Theologe Leonardo Boff sagt, Gott kommt früher als der Missionar. Das ist immer so ein bisschen so Hasel und Igel. Wir selbst können ja Gott neu entdecken, wenn wir ihm auf der Spur nachgehen. Wenn wir nicht immer gleich denken, wir müssten jetzt alles von null anstoßen, gar nicht auf Gott gucken, sondern erstmal auf unsere tollen Ideen, was so einen Kontext braucht. Nein, Gott ist schon vorher da, weit vor uns.

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Der ist immer schon da. Und unser missionarisches Tun kann dann da anschließen, bei dem, was Gott schon längst tut, was er schon angefangen hat im Ort. Das ist unsere Aufgabe, mitzumachen, bei Gott mitzumachen. Und diese missionale Theologie, die hat eben einen großen Einfluss auf diese neuen Formen von christlicher Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Nicht nur auf Fresh Eggs, auch Emerging Church oder Befreiungstheologie. Wenn man nach Südamerika guckt, da ist überall dieses Missiologische drin, wo im Kern klar ist, wir müssen es nicht machen. Gott macht es und wir müssen mitmachen. Missiodei. Und diese Missionstheologie geht davon aus, dass es nicht vordringlich unsere Mission ist, sondern Gottes Mission. Nicht die Kirche oder die Christinnen und Christen in der Kirche sind Subjekte dieser Mission, sondern Gott selbst ist aktiv. Gott sucht missionarisch ein Gegenüber.

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Und wir dürfen mitmachen. Und das ist dann auch trinitarisch und inkarnatorisch. Und da kommt dann auch dieser Geist ins Spiel, von dem wir in diesen Tagen so viel hören. Gottvater sendet seinen Sohn, der kommt in die Welt, versöhnt und verändert durch den Heiligen Geist unsere Wirklichkeit. Und somit taucht dieser dreieinige Gott in unserer Wirklichkeit auf. Und ein. Und wieder auf. Und ein. Und das eben weit vor uns. Also weit bevor wir uns schlaue Missionskonzepte überlegen. Und somit ist diese missiologische Grundhaltung, die meines Erachtens nach die christliche Gemeinschaft des 21. Jahrhunderts maßgeblich prägen wird, ist geprägt von doppeltem Hören, von double listening. Einerseits im Hören auf Gott, Gottes Stimme, Gottes Botschaft, Gottes Wunsch und Sehnsucht für die Welt.

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Und andererseits die Wahrnehmung auf die Menschen und den Kontext, mit dem wir gemeinsam leben und dem, wo Gott schon seine Spuren hinterlassen hat und uns schon so ein bisschen so eine kleine Spur legt, wie wir mitmachen können. Und das ist die Frage dieser Missio Dei. Wo zeigt sich Gott? Und wo kann ich bei seiner Mission mitmachen? Mit den Menschen vor Ort in Kontakt kommen, im Vertrauen darauf, mit einer ganz geistlichen Haltung, Gott ist schon da. Ich muss in diesen verflüssigten Zeiten vor nichts Angst haben, weil Gott ist schon da. Und in dieser Begegnung mit Gott und mit den Menschen am Ort kann ich nochmal für mich meinen Glauben neu entdecken, aber den anderen auch Glauben ganz neu erschließen. Und das ist dann vielleicht auch gut ignatianisch, ich brauche Dich, weil ich an Dir, Jesus Christus, neu begegnen kann. Ich bin da nie mit fertig. Ich muss Dich neu entdecken, damit wir zusammen Mission leben können, christliche Gemeinschaft leben können. Und diese geistliche, neugierige Haltung, die mit Gott rechnet,

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eine ganz reflexive Haltung, eine ganz bindungsorientierte Haltung, das ist meines Erachtens prägend für die christliche Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Und zwar auch, weil die ganz schonungslos uns ganz kritisch nochmal unser bisheriges Tun hinterfragen wird. Diese missionarische oder missiologische Perspektive, die wird ein kritischer Impuls sein für unser bisheriges Handeln und die schützt uns von der Selbstzentrierung, von der Vereinskirche, von einer ganz hohlen Form von Perpetuierung und Erhalt von Formen und Formaten, die eher folklorisch sind, als Dinge, die wirklich unseren kostbaren Inhalt auf die Bühne holen. Kirche ist nur Kirche, wenn sie Kirche für andere ist, sagt Dietrich Bonhoeffer. Und da sage ich, preach it Didi, genau so ist es. Kirche ist nur Kirche, wenn sie Kirche für andere ist.

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Und wie viel Settings genügen wir uns selbst? Kirche und ihre Mission sind nie aus Selbstzweck entstanden. Auch tradierte Formen oder auch liebgewonnene Traditionen, so etabliert die sein mögen und so sehr die uns am Herzen liegen, die dürfen nie zum Selbstzweck verkommen. Mission steht somit für die theologische Wahrheit, dass die Kirche nie aus sich selbst heraus oder im schlimmsten Fall für sich selbst lebt, sondern die ist zu den Menschen gesandt. Ekklesia, wir sind die Herausgerufenen, von Gott herausgerufene. Und die Kirche ist da am stärksten, wo sie aus dieser Mission heraus, Mission shaped, von der Mission geprägt Kirche ist. Wenn das die Formen und Formate von Kirche prägt, diese Dynamik, dann haben wir die größte Kraft. Ich habe jetzt sehr viel über England geredet. Wir springen noch ein bisschen stärker von der britischen Wirklichkeit ins deutsche Feld.

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Denn mir ist wichtig, ich will hier keine Werbeveranstaltungen für englische Kirchenentwicklung machen. Und zweitens geht es mir auch wirklich nicht darum, dass jetzt hier in Deutschland, Land auf, Land ab überall fresh expressions of church, ganz unkontextualisiert in unsere Wirklichkeit reinkopiert werden. Darum geht es mir nicht. Mir geht es darum, exemplarisch von diesen Erfahrungen der Brüder und Schwestern in der anglikanischen Kirche zu lernen. Das ist eine andere große europäische Volkskirche, die unsere Erfahrungen teilt und die uns im Abbruch ein paar Jahre voraus sind. Und die haben schon Versuche gemacht und die haben sich Ideen gemacht. Und wir können jetzt überlegen, was wir davon lernen können und was das in Übertragung auf unseren Kontext heißt, was wir daraus mitnehmen können. Und dann gilt das nicht nur für die neuen Formen von Kirche hier in Deutschland, die es ja auch an vielen Orten schon gibt, sondern gleichzeitig, wie ich schon ausgeführt habe, auch für alles, was es in Deutschland in sehr klassischen,

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traditionellen Gemeindeformen gibt, weil da eben auch ganz viel Dampf drin ist und ganz viel Innovation und Inspirationskraft. Und wenn dann trotzdem ein paar Fresh Expressions entstehen, dann preise ich den Herrn dafür. Aber mir geht es jetzt nicht um so ein Franchise Modell, dass das jetzt das Vordringliche ist. Ich würde gerne mit euch lernen von den Fresh Eggs. Ich würde gerne lernen von diesen Erfahrungen der Engländer und dann überlegen, was heißt das für unseren Kontext hier, was müssen wir anpassen, was können wir mitnehmen? Diese britischen Impulse und Erfahrungswerte haben 2012 in Deutschland schon zur Gründung von einem Netzwerk geführt, ökumenisch. Und im Jahr 2017 haben wir hier in Deutschland auch einen eigenen Verein gründen können, Fresh Eggs Netzwerk in Deutschland, der genau dieser lernenden Haltung nachgeht, dass wir gucken, okay, was können wir davon mitnehmen? Was können uns das bringen für Deutschland? Es ist spürbar, dass viele Haupt- und Ehrenamtliche in Kirche auf der Suche sind nach neuen Formen

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und Formatierungen von christlicher Gemeinschaft im 21. Jahrhundert und dass für die einfach die Haltung und Gedanken und Erfahrungen dieser Ausdrucksformen einfach total stimulierend sind und dass das mehr und mehr Raum greift und dass es da auch mittlerweile mehr Chancen gibt und auch Ressourcen, so was zu fördern. Und so entsteht auch mehr und mehr so ein buntes Bild unterschiedlichster Formen von Kirche, klassische kirchengemeinliche Strukturen und ergänzend weitere auch andere Formatierungen von Kirche, wie zum Beispiel Fresh Eggs oder noch ganz andere Sachen. Also somit entsteht Kirche eher wie so eine Art Netzwerk, da entsteht viel kirchliche Vielfalt. Aus dem Englischen gibt es da ein Wort dafür, die sprechen von einer mixed economy, einer Mischwirtschaft. Mittlerweile hat sich dort, aber auch hier in Deutschland, eher so im Diskurs das Bild einer mixed ecology eingebürgert,

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also einer kirchlichen Biodiversität, Mischwald, könnte man sagen. Und über diesen kirchlichen Mischwald sagt Justin Welby, der Erzbischof von Canterbury, er, also dieser kirchliche Mischwald, der ist wesentlich, weil er eine Balance herstellt zwischen der, also eine Ausgeglichenheit zwischen der Stabilität einerseits und der Offenheit gegenüber den neuen Dingen, die der Heilige Geist tut, andererseits. Und da haben wir Pfingsten drin, da haben wir die Liquid Church drin, das sagt der Bischof. Wir brauchen Stabilität in diesen verflüssigten Zeiten, aber auch eine gewisse Flexibilität in der Hüfte, weil wir das dem Heiligen Geist schuldig sind, weil da vielleicht auch ein bisschen Beweglichkeit von uns gefordert wird. Und somit, es geht nicht darum, Monokulturen sind nie natürlich, da gibt es immer ein Sowohl als Auch.

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Und somit ist das auch ein Beitrag für diesen Einheitsdienst, auf den ich gestern eingegangen bin. Wie können wir in aller Verschiedenheit vereint Kirche sein? Oder auch dieses Bild der Hybridität, wenn ihr euch an gestern erinnert. Wie können wir das leben? Also, alles verflüssigt sich, auch Kirche. Neue Formen von Kirche entstehen in und neben bestehenden kirchlichen Strukturen. Die Mission ist ein prägender Faktor künftiger Kirche und besonders künftiger Aufbrüche. Und die so entstehende Vielfalt und Diversität unserer kirchlichen Wirklichkeit insgesamt wird pluraler werden. Ein breiteres Portfolio an Kirche, ein breiteres Bild christlicher Vergemeinschaftungsformen, nicht mehr das eine Normative. So, aber wie kommt in solchen Gemeinschaften Bindung zustande? Und vor allen Dingen, wie kann man es aufrechterhalten, dass es eben nicht nur das nächste Projekt ist?

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Wie kann Zugehörigkeit im 21. Jahrhundert aussehen? Ein Zitat, das auf William Temple, einen ehemaligen Erzbischof von Canterbury zurückgeht, sagt, Kirche ist die einzige Institution, die primär für diejenigen existiert, die noch nicht die Mitglieder sind. Und ich nenne das jetzt mal, das ist eine flammende Rede für ein exzentrisches Christentum. Eine missionarische Kirche, die nach außen geht. Und wie geht das praktisch? Gerade in Zeiten dieses massiven Wandels. Soziologisch gesehen ist in unserem Kulturkreis seit über 1000 Jahren und zwar bis auch ins 19. Jahrhundert rein, die Zugehörigkeit und somit die Kirchenmitgliedschaft immer von der Obrigkeit her geklärt worden. Das war zwangsweise angeordnet. Da hatten die Menschen kein persönliches Mitspracherecht. Und durch dieses Auseinanderdriften von staatlicher Gewalt und Kirche entstand im Laufe der Zeit immer mehr Entscheidungsfähigkeit für uns,

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Entscheidungsrecht, immer mehr Selbstbestimmung. Der Theologe Hans Joas nennt das Option. Und bei dieser bereits erwähnten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wurde beispielsweise herausgefunden, dass diese Wahrnehmung von Optionalität, Kirche nach Wahl, also eine Entscheidung für oder gegen Kirche, auch davon bestärkt wird, dass mittlerweile über 50 Prozent aller Christinnen und Christen davon ausgehen, auch ohne Kirche christlich leben zu können. Ich kann auch glauben, ohne Kirche denken die. Das hat vielleicht dann häufig, wie der KMU, mit Hinformen und Formaten zu tun und nicht unbedingt mit dem Inhalt. Und viele Gemeinden investieren daher besonders aktiv in neue Formen von Gottesdiensten, von Gemeinden. Also in Bezug auf Gottesdienste beispielsweise dem sogenannten zweiten Programm ergänzenden alternativen Gottesdiensten,

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angeboten besonders für Kirchenferne, wobei ich mich immer frage, wer da fern ist, wir oder die anderen, aber gut. Man spricht hier von einem sogenannten attraktionalen Gemeindeverständnis. Und das geht auch von der These, dass sie sagen, wir machen attraktive Gottesdienste und diese zögen dann vermehrt Menschen an. Und dann gebe es flankierende Angebote. Und das würde dann zu vermehrter Beteiligung führen. Und dann ist der Kreis geschlossen. Große internationale Beispiele für so attraktionale Gemeinden, die immer so als Vorbild genommen werden, sind zum Beispiel Willow Creek oder Hillsong. Hier entsteht Gemeinde durch Gottesdienst. Gottesdienst schafft Gemeinde. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer sogenannten Worship First Journey. Es geht erst vom Gottesdienst aus und vielerorts ist es total erfolgreich.

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Viele von uns sind vielleicht auch genau in solchen Gemeinschaften zu Hause, auch geistlich. Besonders für die Bindung bestehender Kirchenmitglieder sind die nämlich wichtig. Und da muss man auch mal in die Zahlen gucken und auch ganz ernsthaft gucken. Missionarischer Erfolg geht von denen eher selten aus. Es gibt eine Erhebung von Michael Herbst, der auf solche missionarischen Angebote geguckt hat, zum Beispiel Alternative Gottesdienste, zweites Programm. Und der hat rausgefunden, dass nur 10 bis 20 Prozent der Teilnehmenden dieser alternativen Gottesdienste nicht aus der Kirchengemeinde stammen. Also somit da muss man jetzt auch mal ehrlich drauf gucken. Bindung ja, aber missionarische Strahlkraft und Akquise? Naja, also ressourcenmäßig investieren wir evangelischerseits mit sehr viel Kraft und Zeit in Gottesdienstangebote

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und verfolgen damit landläufig so ein attraktionales Gemeinde- und Gottesdienstverständnis. Und dieser liturgischen Ecclesiogenese, also Kirche entsteht aus Gottesdienst, steht die missionarische Ecclesiogenese gegenüber. Also ein Gemeindeverständnis, das sich nicht zuerst aufgrund der etablierten Formen und Formate ergibt, wie zum Beispiel dem Gottesdienst, sondern die ergibt sich aus der Lebenswirklichkeit der Menschen, an die sich das Angebot richten soll, mit denen man zusammen, Glaube, leben möchte. Und wie ich schon gerade angedeutet habe bei diesen Grundhaltungen der Fresh Eggs, spielt einfach Kontextualität, also die sensible Wahrnehmung für Milieu, Ästhetik, Themen der Menschen am Ort, Kultur eine maßgebliche Rolle. Und aus diesen Facetten heraus entsteht kontextuell und vor allem partizipativ dann christliche Gemeinschaft, aber eben sehr kontextuell.

70:03
Und dann auch nicht für die Menschen, sondern mit den Menschen, weil die sind ja der Kontext. Eine große Bedeutung hat hier Zugehörigkeit und Gemeinschaft, aber besonders auch sinnerfülltes Tun. Und dies oftmals weit bevor es zu einer Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Themen des Glaubens kommt. Man spricht daher auch oft von einem belonging before believing. Ich bin Teil, bevor der Glaube kickt. Und ich erzähle mal gerne ein Praxisbeispiel aus meiner persönlichen Kirchenentwicklung, wo ich einen Prozess begleitet habe. Eine Dame, die war schon ganz lange aus der Kirche ausgetreten und die hat im Jahr 2015 in der Zeitung an ihrem Ort gehört, dass die Kirchengemeinde aufgerufen hat, sie suchen Freiwillige für die Arbeit mit Geflüchteten, ganz konkret für einen Deutschkurs.

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Und die Dame war selber Grundschullehrerin gewesen, hat gesagt, alles klar, ihr müsst mit eurer christlichen Botschaft mir jetzt wirklich nicht kommen. Ich engagiere mich sehr, sehr gern. Aber das ist ehrenamtliches Engagement in der Kirche. Aber so an den Glaubensthemen habe ich kein Interesse. Und sie hat sich engagiert, immer wieder und blieb. Sie hatte kein gesteigertes Interesse über dieses rein persönliche Engagement hinaus auch an Angeboten der Kirchengemeinde teilzunehmen. Aber durch diese Mitarbeit, durch den Kontakt mit anderen Christinnen und Christen, durch entstandene Freundschaften, durch das, was die gemeinsam auch erlebt haben mit den Menschen da. Dadurch ruckte sie immer näher auch in die Kirchengemeinde insgesamt heran und auch ihr individuelles Engagement wurde immer stärker auch über die Geflüchtetenhilfe hinaus in den Sog der Gemeinde hineingezogen.

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Und schließlich trat sie wieder in die Kirche ein. Und irgendwann hat sie kandidiert bei den Kirchenvorstandswahlen, weil es ihr wichtig war, dass ihre Perspektive und auch ihre vormals ferne Sicht von Kirche da eingetragen wird. Und die wurde gewählt. Und ich werde nie vergessen, wie die mir erzählt hat, wie ihr erster Ostergottesdienst war. Nach ganz langer Zeit mal wieder. Und da ist aus diesem Belonging before Believing dann auch wirklich ein Believing entstanden. Aber weil die auch echt geduldig waren, weil die ihr die Chance gegeben haben, sich langsam anzunähern. Und die Frau hat dann einen Schlebal-Effekt ausgelöst und eine Dynamik. Das war total schön anzusehen, weil die natürlich in ihrem Freundeskreis auch gesagt hat, ja, also das war vielleicht mal ein bisschen schwierig mit dieser Gemeinde vor Ort und so, aber mittlerweile finde ich das toll. Es hat eine Dynamik in ihrem Freundeskreis auch ausgelöst. Und der Einstieg war nicht die Auseinandersetzung mit Glaubensthemen, sondern ganz praktische Nächstenliebe am Ort. Belonging before Believing.

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Und in Großbritannien sagt man sogar, dass über 75 Prozent aller Fresh Eggs im Kern ein diakonisches Angebot haben für Leute, wo die ganz praktisch aktiv mitmachen können. Und zwar nicht nur binnenkirchlich so, ja, wir brauchen hier noch jemand, der Kaffee macht, sondern für Sozialraum orientiertes und Gemeinwesen orientiertes Licht und Salz in der Welt sein, das strahlt. Da haben die Leute Bock mitzumachen. Da kann man dann auch Bindung erzeugen. Und dann spricht man von einer sogenannten Serving First Journey. Erst mal mitmachen. Und somit stehen sich diese beiden Ausprägungen gegenüber Worship First Journey und Serving First Journey. Liturgische Ecclesiogenese, also die Gemeinschaft, die aus dem Gottesdienst entsteht und missionale Ecclesiogenese, Gemeinschaft, die aus dem gemeinsamen Tun entsteht.

74:05
Und beides sind keine Gegensätze, sondern Ergänzungen. Diese Facetten, die ergänzen jeweils eine Schwerpunktsetzung. Und der Kern ist immer der gleiche, nämlich der Dienst, der Gottesdienst. Und das habe ich ja gestern schon gesagt im Vortrag. Die kirchliche Grund, also eine der kirchlichen Grundaufgaben, die Laeturgia, die Versammlung, die Gemeinschaft, die erschöpft sich nicht im sonntäglichen Gottesdienst allein, sondern diese Laeturgia, diese Versammlung, dieser Dienst in der Welt. Das kann auch ganz allgemein sein. Und das ist sprachlich im Englischen wie im Deutschen Dienst, Gottesdienst und Dienst im Alltag der Welt. So, ich habe jetzt was gesagt zum Thema Zugehörigkeit und Bindung in christlichen Gemeinschaften, wie das funktioniert. Die Frage ist ja nun, wie bildet sich das ab in unseren Strukturen? Wir können uns das jetzt nicht alles neu ausdenken, weil es gibt ja schon Kirche.

75:04
Wir haben ja bereits etablierte Logiken und Organisationstrukturen und eben auch eine Institution Kirche. Unsere derzeitige kirchliche Wirklichkeit ist stark von Veränderungen geprägt. Da wird überall fusioniert, zusammengelegt auf Gemeindeebene. Da gibt es Regionalisierung auf Kirchenkreisebene. Ganze Landeskirchen haben sich mittlerweile zusammengetan, wie die Nordkirche oder die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands. Also, Land auf, Land ab ist da viel in Bewegung. Kürzungen im Finanzbereich, im Personalbereich, Anpassung der Schlüssel von Fahrpersonen auf Mitglieder am Ort. Und obwohl sich da strukturell so viel verschiebt, ist eigentlich, würde ich jetzt mal sagen, die organisationale Konstanz von Landeskirchen wirklich erstaunlich. Die Organisationslogik von Landeskirchen, also diese parochiale Grundstruktur, was ich vorhin erklärt habe, jede, jeder Kirchenmitglied ist immer einem gewissen Segment zugeordnet.

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Das geht auf 16. Jahrhundert zurück. Karl der Große. Und das wird erstmal weiterhin so bleiben. Sollte im 16. Jahrhundert. Ganz Deutschland ist aufgeteilt zu Parochien und wir sind alle parochial versorgt. Alles hat seine deutsche Ordnung. Und ergänzend werden zugunsten dieser nicht parochialen Gemeindeformen, diesen frischen, diesen neuen Formen von Gemeinde, noch eine andere Kirchenlogik hinzugefügt. Die kommt neu dazu und zwar sogar, man höre und staune, in dem Kirchenrecht angepasst wird. Ich weiß nicht, ob ihr das wisst, aber verschiedene Landeskirchen haben mittlerweile zugunsten dieser Entwicklung ihr eigenes Kirchenrecht, ihre Verfassungen angepasst. Zum Beispiel meine Heimatlandeskirche, Hannover. Da heißt es in der neuen Kirchenverfassung, die wir vor zwei Jahren verabschiedet haben, im Artikel 19.

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Der Personalgemeinde ordnen sich Mitglieder der Kirche nach anderen Kriterien als allein dem Wohnort zu. Insbesondere einem geistlichen Profil oder nach lebensweltlichen Bezügen oder in Anbindung an eine diakonische oder andere Einrichtung. Und sie kann gebildet werden, wenn aufgrund der Zahl ihrer Mitglieder und der Gestaltung ihrer Arbeit auf Dauer ein eigenständiges Gemeindeleben zu erwarten ist. Ecclesiogenese. Die Landeskirche gesteht diesen Formen, die nicht sich nur als Kirchengemeinde am Ort ereignen, sondern nach anderen Logiken zu. Hey, ihr dürft auch vielleicht Kirche sein. Und damit können nun neue Formen von Kirche im landeskirchlichen System abgebildet und wahrgenommen werden. Manche davon gibt es schon total lange, aber man konnte die bisher nicht greifen, weil sie immer durch das kirchliche Raster gefallen sind, weil das so unregelmäßige Verben waren.

78:05
So, aber von wie vielen Formen reden wir da jetzt von Kirche? Ist das eher eine Ausnahmeerscheinung? Diese neuen Ausdrucksformen von Kirche, wie zum Beispiel Fresh Ex oder auch ganz andere Ausprägungen, zum Beispiel auch viel im digitalen Raum, die spiegeln eine große Vielfalt an Altersgruppen wieder, an Konfessionen, an Frömmigkeitsformen, ganz unterschiedliche Hintergründe und Motive. Und bisher gibt es in Deutschland noch keine validen Zahlen dazu. Müssen wir leider wieder auf die Zahlen der Church of England zurückgucken. Die hatten eine Studie, The Day of Small Things, und die haben vor zehn Jahren für einen Zeitraum von 2012 bis 2016 ungefähr 1000 Fresh Ex in England evaluiert. Und bei 36 Prozent der Initiativen werden die geleitet von nicht-ordinierten oder nicht-theologisch Ausgebildeten und somit von Ehrenamtlichen.

79:05
Und mit Blick auf die Mitglieder und Teilnehmenden spiegelt sich der Fokus dieser Fresh Ex, also dieser missionarische Fokus, der in erster Linie auf Kirchenferne guckt, auch in dieser Erhebung wieder. Die sagen, Fresh Ex bestehen zu mehr als der Hälfte aus Menschen, die mit der Amtskirche nicht oder schon lange nicht mehr in Beziehung stehen, während nur 40 Prozent auch sozialisierte Christinnen und Christen ausmachen und somit die kleinste Gruppe innerhalb der Fresh Ex. Also somit, was wir gerade hatten, ist es eine Bindung oder ist das auch eine Chance, quasi neu einzusteigen in Kirche? Und somit widerlegt die englische Erhebung oft vorgebrachte Vermutungen, dass das ja alles so neue Formen von Kirche sind und die würden eigentlich die bestehenden Gemeinden eher schwächen, weil es so Transferverschiebungen kommt. Das stimmt nicht. Nach der Veröffentlichung des Mission Shaped Church Reports 2004, das ist ja mittlerweile echt auch schon lange her,

80:06
hat sich die Zahl der Fresh Ex in Großbritannien vervierfacht und mittlerweile sind es mehrere Tausend Initiativen. Und dieser damalige Verdacht, ja, das ist jetzt so ein Phänomen, das geht auch wieder vorbei, lass uns einfach ein bisschen warten, das ist bald, es ist wieder durchgestanden, dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben, das hat sich nicht bestätigt. Nur zehn Prozent der Initiativen sind temporär und müssen irgendwann wieder aus unterschiedlichsten Gründen dann geschlossen werden. Alle anderen bestehen weiterhin und die meisten davon, über 60 Prozent, wachsen wie bescheuert. Und wie gesagt, also ich freue mich, wenn wir auch in Deutschland verlässlichere Zahlen hätten, um auch das in Deutschland besser einschätzen zu können, was sich so alles tut an frischen Formen von Kirche. Aber wie gesagt, da gibt es im Moment noch keine Zahlen. So, Ausblick hatte ich ja gesagt.

81:07
Christliche Gemeinschaft im 21. Jahrhundert, ein letzter Schritt dazu. An vielen Stellen in Deutschland ereignet sich lebendige christliche Gemeinschaft des 21. Jahrhunderts in Volkskirche, in ganz klassischen kirchengemeindlichen Strukturen. Da findet super innovatives und motiviertes statt, parochiales Leben am Ort, innerhalb etablierter kirchlicher Strukturen und Traditionen. Das sind vertraute Formen und Formate und die haben nach wie vor ungebrochen eine große Relevanz, eine große Attraktivität und Strahlkraft. Das gibt's. Und gleichzeitig und ergänzend entsteht im Moment auch viel Neues. Kirche hinterfragt Bestehendes, traut sich zu, grundsätzlich auch nochmal Kirche neu zu denken.

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Mindsetfrage. Kirche geht in den Experimentierstatus und probiert aus. Und in vielen Landeskirchen gibt's in Deutschland mittlerweile sogenannte Erprobungsräume in Kirche. Das sind Ermöglichungs- oder Entwicklungsräume für Experimente in Kirche. Und das ist mir ganz wichtig zu sagen. Nicht Innovation um der Innovation willen, sondern Innovation um der Kirche willen, um des Evangeliums willen. Und diese sieben, also diese Aufbrüche, diese Erprobungsräume folgen sieben Kennzeichen und damit würde ich gerne schließen. Erstens, in Erprobungsräumen entsteht Gemeinde Jesu Christi neu und zwar in neuen Formen. Und hier wird in den Konzepten der Landeskirchen in diesem Zusammenhang auch wirklich oft das Wort Koinonia, was ich am Anfang ausgeführt habe, sogar aktiv genutzt in diesen Papieren. Gemeinschaft. Koinonia.

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Nicht an dem orientiert, was es schon gibt, sondern an dem, was noch gehen könnte, weil wir eine Gemeinschaft der Heiligen sind und Ekklesia und rausgerufen. Und dann kann sich das ganz neu ereignen. Kirche im Plattenbau, in so einem Kloster im Plattenbau. Kirche als Reparaturcafé. Nicht die Orientierung an dem, was schon gibt, sondern an dem, was gehen könnte. Zweitens, Erprobungsräume überschreiten die landeskirchliche Logik an mindestens einer der folgenden Stellen. So, da habe ich mehrere Beispiele. Zum Beispiel, indem sie bisherige Grenzen oder Strukturen von klassischer Kirchengemeinde überschreiten. Zum Beispiel, indem sie überregionale Angebote machen. Nicht nur für die kleine Gemeinde hier, sondern darüber hinaus. Oder indem sie grundsätzlich sagen, wir wollen nicht eine örtliche Gruppe ansprechen, sondern eine inhaltlich differenzierte Zielgruppe.

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Nur eine ganz spezielle Zielgruppe. Ausgewählte Themen. Nur christliche Motorradfahrerinnen und Motorradfahrer. Oder sie überschreiten die landeskirchliche Logik, zum Beispiel, indem die Leitungen nicht mehr nur von den Damen und Herren ausgehen, die mit dem Talar vorne stehen und hier so ein Bäffchen haben, sondern indem Ehrenamtliche an die Macht kommen. Erinnert euch noch mal an das, was ich gestern gesagt habe. Ihr seid Expertinnen und Experten. Steven Bevens. Kirchenleitung machen wir zusammen. Oder, indem Volkskirche-Logik überschritten wird, indem bewusst auf klassisch-kirchliche Gebäude verzichtet wird. Oder insgesamt auf Gebäude. Alles verflüssigt sich. Die ich jetzt schon mehrfach zitiert habe, Sabrina Müller hat zum Beispiel, die ist so eine Hundebegeisterte, die hat zum Beispiel eine christliche Gemeinschaft,

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die ereignet sich nur, wenn sie mit den Hunden Gassi gehen. Die Gruppe wächst ohne Ende. Und die Gespräche, die die haben, sind mindestens auf dem Niveau von einem Bibelkreis. So, nächster Punkt. Drittens. Erprobungsräume eröffnen Menschen ohne bisherigen Bezug zur Kirche, Zugang zum christlichen Glauben, zum Evangelium und laden in die Nachfolge ein. Und hier hören wir das raus, was ich schon ausgeführt habe. Missionale Theologie. Auch Matyria, das Zeugnis im Alltag der Welt. Denn es ist total normal, dass wenn man Kirche sein will für Skater und BMXer, dann muss ich Evangelium anders verkündigen, als in einem klassischen Seniorenkreis. Vollkommen klar. Viertens. Erprobungsräume sind maßgeblich vom bewusst gewählten Kontext heraus abhängig. Und die knüpfen an die spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse und Ressourcen an. Hier ist wieder diese Kontextsensibilität, die wir jetzt schon mehrfach hatten.

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Und eben auch diesen Grundvollzug von Diakonia, den ich gestern entfaltet habe. Ich weiß zum Beispiel, in Mitteldeutschland gibt es ein kleines Dorf, die haben nach 1000 Jahren wieder so einen alten Brotbackofen reaktiviert. Der stand schon immer im Dorf, das wurde irgendwann so ranzig und doof, keiner hat den mehr genutzt. Und die Kirchengemeinde hat gesagt, das machen wir wieder neu zum Zentrum des dörflichen Lebens. Da hat jetzt ein Team von Ehrenamtlichen in diesem Ofen da ein neues Leben eingehaucht. Und die backen da jetzt als Dorf gemeinsam wieder Brot. Und auch da, die Gespräche, die die da haben, sind Zucker. Das hätte sich die Kirchengemeinde immer gewünscht, so im Sinne von, wir laden herzlich ein. Und die laden nicht mehr ein, sondern die gehen zum Brotbackofen und da steppt der Bär. Und da sind die Christinnen und Christen und kommen ins Gespräch. Und da ist dörfliches Leben nochmal ganz neu. Fünftens, Erprobungsräume sind Orte, wo freiwillig Mitarbeitende an verantwortlicher Stelle eingebunden sind.

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Und da geht es um ganz viel Partizipation, auch in der Leitung, auch in Entscheidungsfragen, auch zum Beispiel, wofür Geld ausgegeben wird. Da ist eine größere Flexibilität, Kirche auch anders zu organisieren. Sechstens, sie erschließen alternative Finanzquellen, zum Beispiel durch Fundraising oder andere Kirchensteuerunabhängige Mittel. Und dadurch sind sie zukunftsfähig und nachhaltiger. Und das ist ja noch immer so ein Steuermechanismus, das Landeskirche sagt, naja, aber die Kohle kommt ja von uns. Und da muss man sich immer so dem beugen. Und in Erprobungsräumen wird bewusst gesagt, macht euch auch unabhängig, guckt mal, wie ihr euch selber finanzieren und tragen könnt. Siebtens, in ihnen nimmt gelebte Spiritualität einen zentralen Raum ein. Am Beispiel dieser letzten beiden Punkte mal zusammengenommen, Praxisbeispiel aus Amsterdam.

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In Amsterdam gibt es auch schon ganz lange Erprobung oder in den Niederlanden gibt es ganz lange schon Erprobungsräume. Die heißen da Pioniersblecken. Und diese Pioniersblecken, da gibt es ein Beispiel in Amsterdam, wo zum Beispiel Kirche sich bewusst als so ein Angebot ereignet für so Hipster in der Großstadt, die sonst so zu so Fasten wandern in den Pyrenäen und Yoga und Selbsterfahrung und sowas. Da macht die Kirche bewusst kursorische Angebote und sagt, ja, das, was die Buddhisten im Schweigekloster haben, wir haben auch Exerzitien. Und das ganze Leben ereignet sich bei denen in Kursen, nicht weil die das so schön finden, sondern weil das die Städter kennen. Die bezahlen Geld für diese Angebote. Und diese Gruppe mittlerweile in diesem Stadtteil Nord, die trägt sich finanziell komplett selber, weil die Kurse so viel Geld einbringen. Und das, was an christlicher Gemeinschaft und auch spirituellem Leben entsteht, ist total florierend.

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Das setzt aber an bei der Lebenswirklichkeit den Bedürfnissen der Leute vor Ort und bringt nochmal christliche Spiritualität zu einer ganz anderen Relevanz. Erstaunlich, das funktioniert total. So an verschiedenen Stellen ist euch vielleicht aufgefallen bei diesen sieben Charakteristiken, dass diese Grundhaltungen an ganz vielen Stellen Fresh Eggs atmen durch und durch. Und das liegt daran, weil das einfach in Europa so einen mittlerweile Lernkreis gibt von Leuten, die gemeinsam gucken wollen, wie kann Kirche in Zukunft gehen? Und da hat man viel voneinander abgeguckt. Und diese sieben Kennzeichen sind somit zusammenfassend, wie so eine christliche Gemeinschaft des 21. Jahrhunderts aussehen kann. Eine Kirche, die erprobt, wie zum Beispiel spürbar Einheit und Heiligkeit und Katholizität und Apostolizität aussehen kann. Oder die für sich durchbuchstabiert, wie Versammlung der Heiligen aussieht, wo das Evangelium rein gepredigt wird und die Sakramente recht verwaltet werden.

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Oder eine Kirche, die zum Beispiel erprobt, wie Vielfalt und Diversität in unterschiedlichsten Formen wie Hybridität in Kirche als kirchliche Biodiversität in Vielfalt aussehen kann. Oder schließlich auch eine Kirche, die erprobt, wie sie Mission Shaped in erster Linie von ihrer Mission, ihrer zugrunde liegenden Sendung geprägt sein kann. In der Bayerischen Landeskirche heißen die Erprobungsräume MUT. Und das steht für Mission Unkonventionell im Tandem. Und das wünsche ich mir und uns allen auf der Suche nach einer Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Mut, Bereitschaft zur Unkonventionellität und Tandem, nämlich Mitstreiterinnen und Mitstreiter, weil Jesus, der hat die Leute immer mindestens zu zweit losgeschickt.

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Koinonia – Die christliche Gemeinschaft im 21. Jahrhundert | 12.8.1

Worthaus 10 – Tübingen: 5. Juni 2022 von Prof. Dr. Sandra Bils

Schauen Sie sich mal einen Moment lang um: Was macht das Leben Ihrer Mitmenschen aus? Was bestimmt Ihr eigenes? Für die meisten von uns ist das Leben ein Hetzen von Termin zu Termin, von Online-Shop zu Social Media, von Partnerschaft zu Partnerschaft. Wir konsumieren, haken Aufgaben und Erlebnisse ab, suchen immer neue Erfahrungen, Orte, Menschen. »Wir leben ein Leben als Episode«, sagt die evangelische Theologin und Pastorin Sandra Bils. Und was passt nun so gar nicht in dieses unbeständige, postmoderne Leben? Richtig, die Kirche. Mit der die meisten Menschen nur Altbackenes verbinden wie Orgelmusik, Glockenturm und einen Pfarrer, der salbungsvoll daherredet. Kein Wunder, dass die evangelische und die katholische Kirche zusammen inzwischen nicht einmal mehr die Hälfte der deutschen Bevölkerung zu ihren Mitgliedern zählt. Was muss passieren, damit Menschen die Kirche wieder wahrnehmen? Als ihr geistliches Zuhause begreifen? Damit die Botschaft weiterhin bei den Menschen ankommt, ebenso wie Unterstützung und Nächstenliebe? Sandra Bils beschreibt, wie andere Länder Kirche neu denken, was wir davon lernen können, welche neuen Formen von Kirche es bereits in Deutschland gibt. Und wie Christen nicht nur für sich selbst neue, postmoderne Gemeinschaften schaffen, sondern gleichzeitig Menschen erreichen, die nie ein Gebäude mit Glockenturm, Orgel und Pfarrer betreten würden.