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Jetzt möchte ich meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, einen biblischen Text interpretieren. Das ist für mich die höchste Lust und die höchste Wonne. Also es kommt jetzt eine Heilungsgeschichte, die Heilung der blutenden Frau. Inessa wird gleich den Text vorlesen, aber ich möchte ein paar Vorbemerkungen machen. In den synoptischen Evangelien machen die Heilungserzählungen Jesu fast ein Viertel seines öffentlichen Wirkens aus. Also ein Jesus, der nicht heilt, ist nicht der Jesus aus Nazareth.

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Die Heilungen sind ein wichtiger, starker Bereich in seinem Leben. Mohammed hat einmal gesagt, er wartet von mir keine Wunder, ich kann keine. Finde ich sehr sympathisch. Man kann sich auch fragen, ja im Alten Testament gibt es doch auch schon viele Wunder. Ja, Vorsicht, Vorsicht. Es gibt Wunder in der Gründerzeit, in der Exoduszeit, Schilfmeer, Jordan und so. In der Zeit ja und dann aber eigentlich nur noch bei Elia und Elischa. Bei Jesaja, bei Jeremia, bei Amos, bei Micha, bei Hosea und sonst wo. Samuel-Bücher, Chronikbücher. Also wenn man die Dichte der Heilungserzählungen Jesu sich mal vor Augen führt, ist das prozentual das über Zehnfache im Vergleich zum Alten Testament.

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Also ich möchte damit nur sagen, das ist ein wichtiger Teil. Ich werde jetzt in Wothaus zum ersten Mal überhaupt seit neun Jahren eine Heilungsgeschichte behandeln. Also es wird höchste Zeit. Es gibt im Griechischen zwei häufige Begriffe für Wunder. Die kommen in hellenistischen Texten laufend vor, also sind ganz häufige Vokabeln. Der eine Ausdruck heißt Terratar und der andere Ausdruck heißt Taumatar. Das sind die zwei griechischen Begriffe für Wunder. Gemeint sind bei Terratar irgendwelche rätselhaften Ereignisse, die man sich mit der gesunden Alltagslogik beim besten Willen nicht erklären kann. Also auch Zauberkunststücke und alles mögliche fällt auch darunter.

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Also du kannst es dir nicht erklären. Dadurch haben diese Terratar das Fluidum des sensationellen Nervenkitzel, nur nichts normales. Es gibt ja auch so Menschen, die sind süchtig im esoterischen Bereich, im religiösen Bereich oder sonst wo, im sportlichen Bereich, künstlerischen Bereich. Es muss das Fluidum des sensationellen sein, nur nichts normales. Lieber übernatürlich. Natürlich ist zu wenig. Die Leute, die vom Übernatürlichen ein bisschen auffallend viel reden, unterschätzen in aller Regel das Natürliche. Deswegen mag ich den Begriff Übernatürlich überhaupt nicht. Wenn ich ihn verbieten könnte, würde ich ihn verbieten. Gut und Taumatar, der andere Begriff, meint vor allem, es sind ganz seltene, extrem seltene Ereignisse, die dadurch auch das Fluidum des Besonderen haben.

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Sagen wir mal, ein Baby fliegt aus dem achten Stockwerk eines Hochhauses so in eine Hecke, dass es unverletzt bleibt. Das wäre Taumatar. Also Terratar und Taumatar sind ganz besondere Ereignisse, außergewöhnlich, unerklärlich, extrem selten. Die Leute sind völlig von der Rolle, auch Nervenkitzel und so weiter. Diese beiden üblichen Begriffe, die unserem Wunderbegriff genau entsprechen, das verstehen auch wir heute als Wunder. Diese beiden Wunderbegriffe im Griechischen werden niemals auf Jesus angewandt, niemals. Sie werden mit äußerster Akribie vermieden.

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Die Heilungsgeschichten, die Heilungen Jesu, heißen im Neuen Testament niemals Wunder. Ich würde auch gerne den Begriff Wunder verbieten, weil ich eben sagen will, das führt euch nur auf komische Abwege. Der Wunderbegriff vernebelt, ist eine Nebelkanone. Die Heilungen Jesu heißen im Neuen Testament immer Dynamis, Kraftwirkungen. Dynamis heißt Kraft, Energie, gemeint ist Lebensenergie, Lebenskraft. Dynamis. Auch in dieser Geschichte kommt das Wort Dynamis vor. Und die Mehrzahl von Dynamis heißt Dünnamais. Also nehmen wir mal Markus 6, da heißt es so in Luther Übersetzung. Jesus konnte um ihres Unglaubenswillen nicht viele Wunder tun.

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Nein, das Wort Wunder steht gar nicht da. Das steht überhaupt nie da bei Jesus. Nie. Er konnte um ihres Unglaubenswillen nur wenige Dünnamais tun. Also die Heilungen sind Kraftwirkungen. Jesus predigte ja in Vollmacht und das heißt in Dynamis. Das ist bei der Predigt, bei der Verkündigung übersetzt man das Wort Dynamis gerne mit Vollmacht. Es gab theologische Strömungen im 19. und 20. vor allem im 20. Jahrhundert. Ich sage jetzt mal nochmal in der liberalen Theologie. Ich bin ja kein evangelikaler Theologe, ich bin aber auch überhaupt nicht ein liberaler Theologe. Ich halte beides für gleich problematisch.

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Also in der liberalen Theologie war es jahrzehntelang üblich zu sagen, die Predigt Jesu, die Verkündigung Jesu, supergut. Die komischen Heilungen und Wunder sind eher peinlich. Das glaubt ja heute sowieso keiner mehr. Und das lenkt doch ab von der Verkündigung Jesu, es macht die Leute wundersüchtig. Religiöse Propaganda arbeitet eben mit so spektakulären Zeug. Also es gibt große Theologen, die gesagt haben, also die Wundergeschichten sind mir eher peinlich. Sie entsprechen doch gar nicht der Qualität des Evangeliums. Das ist sowas von falsch, wie es falscher gar nicht sein kann. Denn die Verkündigung Jesu geschieht in Dynamis. Und die Heilungen Jesu sind dünner Mais. Sie haben das gleiche Niveau.

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In den synoptischen Evangelien hat die Verkündigung Jesu und die Heilungen Jesu stehen auf der gleichen Qualitätsstufe. So, jetzt Inesha, lies uns mal diese irrsinnige Erzählung vor. Markus 5, 21 bis 43. Und als Jesus in dem Boot wieder auf die andere Seite übergesetzt war, versammelten sich viele Leute bei ihm. Und er war am See. Da kommt zu ihm einer von den Synagogenvorstehern mit Namen Jairus und sieht ihn und fällt ihn zu Füßen und bittet ihn vielmals. Mit meinem Töchterchen geht es zu Ende. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie geheilt wird und am Leben bleibt.

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Da ging er mit ihm fort und es folgten ihm viele Leute und sie umdrängten ihn. Und eine Frau kam in der Menge. Sie litt seit 12 Jahren an Blutungen und hatte seit Jahren viel erlitten von vielen Ärzten. Sie hatte dabei ihr ganzes Vermögen ausgegeben. Aber das nutzte ihr nichts. Im Gegenteil, es wurde nur noch immer schlimmer. Und sie hatte von Jesus gehört und trat jetzt in der Menge von hinten an Jesus heran und berührte seinen Umhang. Sie hatte sich nämlich gesagt, wenn ich auch nur seinen Umhang berühre, werde ich geheilt werden. Und sofort war die Quelle ihrer Blutungen versiegt. Und sie hatte an ihrem Körper erkannt, dass sie von der Qual geheilt war. Da erkannte Jesus sofort bei sich, dass eine Kraft aus ihm ausgefahren war und wandte sich in der Menge um und sagte, wer hat meinen Umhang berührt?

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Da sagten seine Jünger zu ihm, du siehst die Menge, die dich umdrängt. Und da sagst du, wer hat mich berührt? Und er schaute sich um, um zu sehen, wer es getan hatte. Die Frau aber kam mit Furcht und Zittern, wissend, was ihr geschehen war, fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu ihr, meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Gehe hin in Frieden und sei gesund von deiner Qual. Noch ein bisschen weiter. Als er noch sprach, kamen Leute vom Synagogenvorsteher und sagten, deine Tochter ist gestorben. Was belästigst du noch den Rabbi?

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Jesus aber überhörte das Wort, das geredet worden war und sagte zu dem Synagogenvorsteher, fürchte dich nicht, glaube nur. Und er ließ niemand ihm folgen, außer Petrus und Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus. Da kamen sie in das Haus des Synagogenvorstehers und er sah die Aufregung und die laut Weinenden und Klagenden und ging hinein und sagte zu ihnen, warum regt ihr euch auf und weint? Das Mädchen ist nicht gestorben, sondern schläft. Da lachten sie ihn aus. Er aber drängte alle hinaus und nahm den Vater des Mädchens und die Mutter und die bei ihm mit und ging dorthin, wo das Mädchen war. Da fasste er die Hand des Mädchens und sagte zu ihr Talitha, komm. Das heißt übersetzt Mädchen, ich sage dir, steh auf.

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Da stand das Mädchen sofort auf und ging umher. Es war nämlich zwölf Jahre alt. Da entsetzten sich alle sehr und er befrah ihn vielmals. Niemand dürfe dies wissen und sagte, gebt ihr zu essen. Ja, das ist also eine Doppel-Erzählung. Markus liebt es, dass er manchmal zwei Erzählungen so verschachtelt ineinander. Auch bei dem nächtlichen Verhör galt ja ein Vers der Verleugnung des Petrus. Und nach Ende des Verhörs erzählt er dann, das haben wir nicht behandelt, die Verleugnung des Petrus. Jesus bekennt, Petrus verleugnet. Jesus steht vor der Elite seines Volkes. Petrus steht unter Mägden und Knechten. Also sehr bewusste Kontrastierung mit einer ineinander Verschachtelung.

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Die ist hier noch viel stärker, manche nennen das eine Sandwich-Technik. Also es geht erst mal los. Jesus ist am Seeufer, am Westufer des Sees und diese Einheit von Ort und Zeit, die bleibt für beide Erzählungen. Und da kommt ein Synagogenvorsteher, hebräisch, Jair, heißt er. Griechisch Jairos oder lateinisch Jairus, aber er heißt eigentlich Jair. Synagogenvorsteher sind immer sehr wohlhabende, bedeutende Persönlichkeiten. Man hat nur als Synagogenvorsteher jemanden genannt, der für dieses Synagoge mit bestem Ruf einstehen kann. Dass selbst ein Synagogenvorsteher vor Jesus niederkniet, lässt uns ahnen, welchen Ruf und welche Aura Jesus umgeben hat.

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Und er bittet ihn, seine Tochter, deren Namen wir nicht wissen, nur der Mann kriegt einen Namen, der Vater. Man bewertet die Tochter nach dem Vater. Es gibt ja heute noch so Leute, die sowas machen. Also meine Tochter liegt im Sterben, bitte schnell kommen. Und Jesus geht mit ihm, seine Jünger sind auch dabei und eine große Menschenmenge. Im Markusevangelium wird der Aspekt Menschenmenge am allerstärksten betont, viel stärker wie in den anderen Evangelien, weil Markus will ausdrücken, Jesus war sehr erfolgreich, geschweige denn, dass die Juden Jesus verraten haben. Wer sind denn die Juden? Damals wie in anderen Kulturen auch über 90 Prozent der Menschen sind Unterschicht. Und die Unterschicht, das sind Juden 90 Prozent, die haben Jesus nie verraten.

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Vielleicht ein paar Elite-Leute im Hohen Rat, aber das sind doch nicht die Juden. Die Juden, das ist die Unterschicht erstmal und die lief zu Tausenden Jesus nach. Er hatte ständig eine riesige Predigt-Hörerschaft und jeden Tag hatten sie mit Esel oder Pferd oder Handkarren irgendwelche aussitzigen Lärmenblinden zu Jesus hin, schütteten die gesamte Palette des Elends bei ihm ab. Er hat alles mitgekriegt am Elend, von den Mondsüchtigen bis zu den Besessenen. Die haben Jesus nie verraten. Also auch hier eine große Menschenmenge folgte ihm nach. Und jetzt, Jesus war in Eile, da kommt eine Frau, die nutzt diese Menge als passende Gelegenheit.

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Diese Menge ist für die Frau der beste Schutz. Sie nutzt die Menge und tritt von hinten an Jesus heran und sagt, wenn ich nur seinen Umhang berühre, dann werde ich bestimmt geheilt. Jetzt schauen wir uns mal zunächst nochmal diesen Text insgesamt an. Es ist also eine Schachtelperikope mit zwei Frauengeschichten. Die Tochter des Jairus und Jesus sagt ja zu dieser blutenden Frau, meine Tochter. Er sagt auch, dein Glaube hat dich gerettet. Jesus sagt nicht, ich habe dich gerettet. Jesus sagt, dein Glaube hat dich gerettet. Ist interessant.

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Und nachher sagt er zu Jairus, als er hörte, die ist gestorben, wegen dieser Verzögerung vielleicht, sagte er, fürchte dich nicht, glaube nur. Also in beiden Geschichten ist der Glaube von entscheidender Bedeutung. Beides sind Frauengeschichten. Und es fällt der Begriff Tochter in beiden Erzählungen. Auch die Zahl 12 fällt in beiden Erzählungen. Die Tochter des Jairus ist 12 Jahre alt und diese Frau litt 12 Jahre lang an Dauerblutungen. 12 Jahre, die Tochter des Jairus, 12 Jahre, das ist nicht so wie bei uns, naja, die war halt 11 oder 12 oder 13, was soll's? Nein, nein. 12 Jahre bei einer jungen Frau, bei einem Mädchen, das ist die größte entscheidende Zäsur ihres Lebens.

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Denn mit 12 Jahren endet die Kindheit in der Antike und wird eine Frau heiratsfähig. Die meisten Frauen im Judentum der damaligen Zeit wurden mit 13 oder 14 verheiratet. Man konnte sie aber auch schon mit 12 verheiraten. Das heißt, diese Tochter war am Ende ihrer Kindheit angekommen und war an der Stelle zum Frau sein. Aber vielleicht wollte sie ja auch gar nicht Frau sein. Also sie hat an der Schwelle irgendwie völlig schlapp gemacht. Die andere Frau litt seit 12 Jahren an einer Krankheit, die nur eine Frau haben kann. Die Tochter war also an der Schwelle zum Frau sein und hat sich dem eher entziehen wollen.

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Und diese andere Frau litt unter dem Frau sein seit 12 Jahren. Die wird sich oft gefragt haben, warum bin ich denn geschlechtsreif geworden? Wozu denn? Also diese beiden Erzählungen hängen vielfach irgendwie zusammen, gell? Es ist meisterhaft erzählt. Beide Erzählungen haben irgendwie die gleiche Frage. Wie kann man als Frau glücklich leben in einer männerdominierten Welt? Irgendwie kreisen diese Erzählungen um solche Fragen. Jetzt gehen wir mal stilistisch, beobachten wir mal stilistisch. Die umliegende Erzählung, Synagogenvorsteher Jairus, ist sehr einfach erzählt, dominiert von Präsens historicus.

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Man kann also im Griechischen auf dreierlei Weise erzählen. Das entspricht immer bei uns dem Imperfekt. Der Erzähler bei uns benutzt Imperfekt. Ich war, ich lachte. Das Mann hat einmal gesagt, der Erzähler ist der raunende Beschwörer des Imperfekts. Und er hatte recht. Aber im Griechischen kann man auch im Präsens historicus erzählen. Das muss man dann trotzdem im Deutschen mit Imperfekt wiedergeben. Also die umliegende Erzählung wird vom Präsens historicus dominiert. Und das sind sehr einfache Erzählstrukturen, parataktische Sätze, ein Hauptsatz nach dem anderen. Also eine sehr volkstümliche, einfache, schlichte Erzählweise.

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Aber die mittlere Erzählung ist stilistisch vollkommen anders. Sie ist hochkomplex gedrängt. Es gibt in dieser mittleren Erzählung zehn Partizipien. Und Partizipien im Griechischen sind eine besonders intensive Ausdrucksweise. Zehn Partizipien in zehn Sätzen. Die Erzählung hat zehn Sätze. Das gibt es im ganzen Neuen Testament nicht noch einmal. Also es ist sehr auffällig. Auffällig ist auch, wie aktiv diese Frau ist. Die holt sich hier ihre Heilung. Von den zehn Sätzen dieser Geschichte ist in sechs Sätzen die Frau das Subjekt. Sie ist das Subjekt von sechs Sätzen. Jesus ist das Subjekt von drei Sätzen.

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Und die Jünger sind das Subjekt von einem Satz. Sehr ungewöhnlich. Über diese Geschichte wurde in den Jahrhunderten der Kirche fast nie gepredigt. Die evangelische Kirche und die katholische Kirche haben ja einen Perikopenplan. Alle sechs Jahre wiederholen sich die Texte. Also jedes Jahr eben 50 oder ein bisschen mehr Texte. Sechs Jahre lang. Da hat man dann also sechs mal fünf 300 biblische Texte. Ein Viertel aus dem Alten Testament, drei Viertel aus dem Neuen Testament. Diese Geschichte steht nicht im Perikopenplan. Über sie wird nicht gepredigt. Kann man sich mal kurz fragen, warum? Ja, es ist so eine Frauenkrankheit, da wo manche Männer dann, vielleicht waren ja alles Männer, die die Bibel ausgelegt haben,

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da denken manche Männer, Iget, Iget, Iget. Dann ist das so eine körperliche Geschichte. Hier geschieht alles von Körper zu Körper. Damit hat es die Kirche nicht so. Und die Theologen, die haben es mehr mit dem Geist. Ja, und dann muss ich auch sagen, wenn schon eine Frau, dann war in der Kirche die Rede von der Ehefrau und von der Mutter. Die Frau wird einigermassen etwas defizitär geachtet als Ehefrau und Mutter. Die hier war weder noch. Die war keine Ehefrau mit Blutungen, das will kein Mann. Und sie hat auch keine Kinder gebären können. Denn Geschlechtsverkehr mit einer blutenden Frau ist auf das Allerstrengste verboten. Also es ist eine alleinstehende Frau.

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Damit hat die Kirche eigentlich auch nicht so. Ja, also es ist schon ein sehr verblüffender Text. Gut, das will ich vielleicht noch auch voran sagen. Die evangelische und die katholische Homiletik, das ist die Wissenschaft von der Predigt. In den Universitäten gibt es eine Disziplin, die heisst praktische Theologie. Da gehört Religionspädagogik dazu, Homiletik, Seelsorge, Diakonie, Hymnologie, Kirchenmusik und so. Also zur praktischen Theologie gehört die Homiletik. Und in der Homiletik ist sich die evangelische und katholische Theologie einig. Auf die Länge der Zeit, Jahr für Jahr, sollen christliche Prediger im Gottesdienst Bibeltexte auslegen.

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Das soll immer das Wichtigste sein. Man kann schon auch Themenpredigten halten, Angst oder weiß der Kuckuck was. Ich habe ja hier das nächtliche Verhör, wobei das war ja jetzt auch eine Textinterpretation. Aber ich habe ja auch hier im Wothouse auch immer wieder Themenpredigten gehalten und die anderen Referenten auch. Aber es hat seinen tiefen Sinn, dass man im Gottesdienst sagt, auf die Länge der Zeit sollen die meisten Sonntage Interpretationen von Bibeltexten sein und nicht Thema predigt. Ich kenne zum Beispiel berühmte Theologen, die im Internet viel auftreten und die haben jetzt schon 40 Themenpredigten. Aber sie haben noch nicht einmal einen Text interpretiert. Was ist der Unterschied zwischen einer Thema-Predigt oder einem Thema-Vortrag und einer Textinterpretation?

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Ja, da ist ein tiefer Unterschied. Wenn ein Referent ein Thema referiert, kann er viel stärker bei sich selber bleiben, bei seiner Systematik, bei dem was er sich so zurechtlegt. Aber wenn man einen Bibeltext interpretiert, dann muss man viel mehr von sich absehen und sich in die Welt dieses Textes hineinfühlen. Das ist ein Unterschied. Ich werde sehr skeptisch, wenn Theologen über Jahrzehnte immer gerne Thema-Predigten halten oder Themenvorträge. Die kann ich auch innerhalb von einer halben Stunde vorbereiten. Ich lese drei Bibellexika-Artikel, sagen wir mal über den Zorn Gottes lese ich drei Lexikon-Artikel

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und dann kann ich da schon eine dreiviertel Stunde gehen. Aber eine biblische Geschichte, vor allem eine berühmte biblische Geschichte. Man muss ganz anders von sich selber aussteigen und in die biblische Welt dieser Geschichte einsteigen. Und ich sage euch, das bringt auf Dauer am meisten. Gut, also jetzt steigen wir in diese Geschichte ein. Die Geschichte handelt von einer alleinstehenden Frau, die zwölf Jahre lang Blutungen hatte, eine Art Dauerregel. Ganz so selten ist es gar nicht. Ich habe mal in Freakstock, das ist eine tolle Zusammenkunft von Jesus-Hippies, meine Frau und ich fühlen uns unter den Freakies immer wohl. Und das spornt mich so an, da komme ich richtig in Fahrt.

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Ja, also ich habe mal einen Vortrag gehalten über diesen Text auf Freakstock. Und dann war Mittagspause und da kommt eine Frau so auf mich zu, guckt mich aber nicht an und läuft so relativ dicht bei mir vorbei. Und als sie genau auf meiner Höhe war, flüstert sie mir rüber, ich habe das Gleiche. Und geht weiter. Ich habe die Frau nie wieder gesehen. Wenn ihr mal ein sehr spannendes Buch lesen wollt über eine Frau aus der heutigen Zeit, die die gleiche Krankheit hatte. Sie war Frau eines Botschafters in Paris, jetzt in unserer Zeit, und die hatte auch diese Krankheit und hat ein Buch darüber geschrieben. Das Buch heißt Schattenmund, lest es mal, ein Fischer Taschenbuch, ist ungeheuer beeindruckend.

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Also die Frau hatte Dauerblutungen, medizinisch gesehen, ich habe mit Gynäkologen da auch darüber gesprochen, nach heutiger Kenntnis, das hat oft organische Ursachen. Also es kann Krebs sein, bei Krebs allerdings sind die Blutungen in der Regel so stark, dass man nach nicht zwölf Jahren, die ist man schon längst verblutet, also die Blutungen dieser Frau können ja nicht sehr stark gewesen sein. Es können aber auch viele harmlosere, gutartige Wucherungen sein. Es gibt Frauen, die alle zehn Jahre oder acht Jahre immer wieder diese Wucherungen entfernen lassen. Also eine Dauerblutung zu stoppen ohne Operation ist auch heute sehr schwer. Und operieren konnte man ja in der Antike nicht. Diese Krankheit hat aber oft psychische Ursachen.

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Und zwar, wenn man sich mit qualifizierten, tiefen Psychologen unterhält, was ich natürlich getan habe, es hat immer wieder auch folgende Ursache. Ein Vater, der kaltschnäuzig ist, gefühlskalt, der das Weibliche ironisiert, zotenhaft, weibliche Sexualität nur irgendwie abschätzig, mit hässlichen, also ein gewalttätiger Vater, gefühlsarm, das Weibliche nicht wertschätzend, sondern abwertend. Und eine Mutter, Opferfrau, unterwürfig, hat sich nie richtig entfalten können, kann ihrer Tochter kein Vorbild sein, wo sie ihre Identität finden kann.

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Unterwürfige Opferfrau. Da wendet sich dann die Tochter vielleicht doch wieder lieber dem Vater zu, aber dann merkt sie wieder, das ist ein hin- und hergerissen sein, das nennt man hysterische Ambivalenzen. Solche Töchter sind in ihrer Seele sehr verwundet. Sie haben sehr schwache Stabilitätsstrukturen. Und wenn dann in Liebesdingen eine bittere Enttäuschung passiert, dann kann dieses Erlebnis diese Krankheit auslösen. Jetzt versuchen wir uns mal in diese Frau hineinzufühlen, soweit ich das als Mann kann. Es ist viel besser, wenn dieser Text von einer Frau interpretiert wird. Also sorry, ich probiere es trotzdem mal, ich bitte um Nachsicht.

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Aber der Text steht ja auch in der Bibel, also kann man ihn interpretieren. Ja, diese Frau ist eine unberührbare. Denn in 3. Mose 15, Verse 19 bis 33, müsst ihr mal nachlesen, um die ganze Tragik zu begreifen. 3. Mose 15, 19 bis 33 wird das geschildert, was so eine Frau tun muss und was ihre Umgebung tun muss. Dann gibt es noch 3. Mose 18 und 3. Mose 20 über Sexualthemen und auch 3. Mose 12, Böchnerinnen und so. Also die Hauptquelle ist 3. Mose 15, relevant sind aber auch 3. Mose 18, 3. Mose 20 und 3. Mose 12. Diese Frau ist eine lebenslange Unreine, eine Nitta. Nitta ist das Wort für unrein.

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Nitta hat zwei Bedeutungsschwerpunkte, einmal zurückstoßend, verabscheuend und aussondernd, ausgrenzend. Das ist die Nitta. Also während der Menstruation ist man unrein, 7 Tage, aber wenn die Menstruation aus krankhaften Gründen dauernd ist, dann ist man eben dauernd. Man unterscheidet zwischen natürlichen Ausflüssen, Menstruation und krankhaften. Die werden entsprechend strenger behandelt. Alles was diese Frau berührt, worauf sie sitzt, worauf sie liegt, wird unrein. Wenn sie einen Menschen berührt, wird dieser Mensch unrein. Wenn ein Mensch sie berührt, wird dieser Mensch auch unrein. Und zwar unrein zweiten Grades, nicht mehr ersten Grades. Aber die Frau selber ist unrein im ersten Grad. Es ist die höchste Unreinheit, die es gibt, gleichbedeutend mit Aussatz und Besessenheit.

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Stufe 9, höchste Stufe der Unreinheit, ansteckende Unreinheit. Die Frau ist völlig kultunfähig. Sie kann nie in die Nähe des Tempels gelangen. Sie darf nicht einmal in den Tempelvorhof der Heiden, darf sie auch nicht. Geschweige denn in den Vorhof der Frauen, da ist die noch nie im Leben drin gewesen. Sie darf auch keine Synagoge betreten. Sie kann auch im familiären Pesafest nicht mitmachen. Eine dauerblutende Frau darf kein Esel besteigen und kein Pferd besteigen, weil wie reinigt man ein Esel und ein Pferd durch Migwe, durch Reinigungsbäder, gibt es ja nicht. Eine solche Frau darf kein Schiff besteigen, weil das ganze Schiff unrein ist.

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Also diese Frau ist eine unberührbare. Bei dieser Krankheit erntet sie nicht spontan Mitleid, Fürsorge, Erbarmen. Nein, ihre Krankheit löst spontan Scheu, Abstoßen, Weglaufen. Die Frau ist eine isolierte. Es ist eine unberührbare. Sie will ja das Gewand Jesu berühren. In dieser Erzählung von dieser Frau steht viermal das Verb Haptomei, Berühren, in dieser Geschichte, weil die Frau weiß, wie kostbar eine Berührung ist. Haptomei ist nicht jede Art von Berührung. Vielleicht habt ihr das schon mal, immer wieder mal erlebt, es gibt manchmal Berührungen durch eine andere Person, die gehen bis ins Mark, bis ins Innerste des Herzens.

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Das ist Haptomei. Also jetzt versuche ich mich mal da reinzufühlen. Ich möchte mal wissen, wovon diese Frau träumt. Von was hat die wohl geträumt? Was hatte sie wohl für Fantasien? Wie viel ungelebtes Leben? Sie muss sich doch sagen, mein Leben ist ein einziger Substanzverlust. Mein Leben ist ein Bluten. Ja, was soll denn das für einen Sinn haben? Es gibt ja auch andere, die Opfer bringen, aber das hat dann wenigstens einen Nutzen. Aber meine Blutungen, was haben denn die für einen Sinn? Was haben denn die für einen Nutzen? Das kann doch nicht die Bestimmung meines Lebens gewesen sein.

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Aber ich sage euch, in religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der Heiligen Schrift stehen. In dem dritten Buch Mose sagt man ja so, das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? Auch wenn es in der Bibel steht. Man muss trotzdem fragen, stellt man sich Gott so vor? Oder sind es nicht eher Männerfantasien, Priesterfantasien? Die Frau ist ja in ein Leben gezwungen, wo eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung unmöglich ist. Diese Krankheit bringt auch jede Ehe zum Scheitern. Also die Frau war vielleicht kurz verheiratet, aber eher gar nicht.

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Die Frau muss sich sagen, ich bin eine Belastung. Ich bin eine Zumutung. Ich muss andere sogar vor mir warnen. Und wenn sich mal ein Mann für mich interessiert, dann wird es peinlich. Wie oft wird diese Frau Psalm 22 Vers 1 gebetet haben? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Diese Frau ist eine Stigmatisierte und das Besondere ist, dass man ihr Stigma nicht sieht. Sie tritt ja völlig normal auf. Wer sie nicht kennt, merkt nichts. Also es ist eine unsichtbare Stigmatisierung. Die Frau kann eine normale Scheinwelt aufrechterhalten durch kontrollierten Informationsverzicht. Die Frau wird eine Scheu entwickelt haben, sich mitzuteilen.

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Das ist ja für sie die größte Gefahr. Sie wird von denen, die sie nicht kennen, ganz normal akzeptiert. Aber im tiefsten weiss diese Frau, es ist nur eine scheinbare Akzeptanz, weil sie es nicht wissen, wenn sie es wissen würden. Die Frau wird sich im Laufe der Jahre Techniken der Geheimhaltung angeeignet haben. Eine Als-ob-Welt, eine Welt der Täuschung. Aber die Täuscher, die eine Als-ob-Welt ständig aufbauen müssen, ist wahnsinnig kräftezehrend. Einziger Kontakt waren Ärzte. Die Frau war sehr reich, weil nur reiche Leute können sich einen Arzt leisten. Es gibt keine Privatversicherung oder gesetzliche Versicherung.

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Sie hat alles Geld den Ärzten gegeben, also war sie unverheiratet. Sonst hätte der Mann gleich gesagt, jetzt hör auf, ich will nicht, dass du mein ganzes Geld ausgibst. Also sie war alleinstehend. Sie war keine Ehefrau und keine Mutter. Auch Kinder kriegen war für sie die Welt der anderen. Sie ging von einem Arzt zum anderen. In der Hippokratischen Medizin der Antike war das so, Honorar wird vorher vereinbart, vor der Behandlung. Und richtet sich nach der Berühmtheit des Arztes und nach den finanziellen Möglichkeiten des Patienten. So wurden Honorare vereinbart. Die Frau hat im Laufe von zwölf Jahren alles ausgegeben. Sie konnte ja nur durch Arztbesuche sich überhaupt die Hoffnung aufrechterhalten, vielleicht wäre sie doch noch gesund. Das ging nur über Arztbesuche.

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Aber nach zwölf Jahren war das auch gegessen. Da hast du auch keine Illusionen mehr. Jetzt ist die Frau auch noch verarmt. Eine alleinstehende, verarmte Frau, mit denen hat es die Kirche auch nicht so. Ja, also sie war gesellschaftlich am Ende, körperlich am Ende und finanziell am Ende. Meisterhaft in sechs Sätzen eine Frau, die vom psychischen Tod bedroht wird. Vom sozialen Tod. Das ist hier auch fast eine Auferweckung einer Toten. Passt also unheimlich in diese Verschachtelung. Ja, also am Ende dann, als das Geld aus war, dann war auch die Hoffnung aus. Verarmt. Und dann hörte sie von Jesus. Sie wird von ihm gehört haben, dass er ein Gottesmann ist, dass er heilende Kräfte hat.

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Das hat sie bestimmt gehört. Vielleicht hat sie auch gehört, dass Jesus Frauen anders behandelt, als es damals üblich war. Und da keimt noch einmal Hoffnung auf. Sie beschäftigt sich mit Jesus erst mal innerlich in ihren Gedanken. Und dann fasst sie einen mutigen Plan. In den Heilungsgeschichten der Bibel haben wir immer einen Menschen vor uns, vielleicht für fünf Minuten, nicht länger. Die Wunder, hätte ich fast Wunder gesagt. Die Heilungsgeschichten sind Verdichtungsgeschichten. Sie erzählen eine Episode, die in der Regel nicht länger dauert wie fünf Minuten, sagen wir mal allerhöchstens zehn Minuten. Und dann ist die Person wieder im Dunkel der Geschichte weg.

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Aber diese fünf oder zehn Minuten in diesen Verdichtungserzählungen enthalten das gesamte Leben. Ich habe mal vor zwei Jahren in der Stuttgarter Zeitung Folgendes gelesen. Vielleicht hat es jemand von euch auch gelesen. Ich glaube, meine Frau hat gesagt, Siegfried, du musst dir das vorlesen, was da steht in der Stuttgarter Zeitung. Also vor zwei Jahren fuhren mal in einem Pkw zwei Frauen, die A8 ist es glaube ich, von Stuttgart nach Karlsruhe über den Schwarzwald. Und am Ende vom Schwarzwald geht die Autobahn ja lang gezogen nach unten ins Rheintal. Und dann ist man auch gleich in Karlsruhe. Ich denke, viele von euch kennen diese Autobahnstrecke. Und da fuhr also so in der mittleren Höhe dieser langen abfallenden Straße, fuhren zwei Frauen. Und das Auto fing aus irgendeinem Grund im Motor Feuer. Also es qualmte raus und immer stärker.

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Die Bremsen fielen aus. Das Auto wurde immer schneller. Und jetzt fuhr ein Mann und die haben die Fenster runtergekurbelt. Und die waren wirklich in echter Todesgefahr. Und ein Mann fuhr auf der Überholspur. Sieh die, gibt wahnsinnig Gas, dass er schneller noch fährt wie das Auto. Fährt vor das Auto, bremst ganz langsam ab. Das Auto stösst sanft drauf und dann bringt er beide zum Stehen. Die beiden Frauen springen raus und das Auto eine Minute später voller Flammen. Die werden also eine Minute später verbrannt. Der Mann hat dann das Bundesverdienstkreuz bekommen für hohe Zivilcourage. Diese fünf Minuten im Leben dieses Mannes zeigen, wer er ist. Das sind Verdichtungsgeschichten.

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Also die Frau hört von Jesus. Und jetzt, ich muss wirklich sagen, sapperlot, sapperlot, der helle Wahnsinn. Diese Normen der damaligen Umwelt, diese Reinheitsgesetze in der gesamten Antike, Halt und Hart und alle Männer, das ist ja dieses Normengeflecht. Religiöse Systeme können Strukturen entwickeln, die Menschen fix und fertig machen. Und dann werden solche Strukturen noch auf Gott, auf den Vater Jesu Christi zurückgeführt. Aber diese Frau muss geahnt haben, Gott ist anders. Ich glaube nicht, dass Gott es will, dass ich hier so dahinvegetiere. Das glaube ich einfach nicht. Und wenn es Millionen mal in irgendeinem heiligen Schrift steht, in ihrem Gewissen wird sie sich klar, Gott versteht mich. Das kann nicht die Bestimmung meines Lebens sein.

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Und jetzt macht sich diese Frau auf, sie berät sich mit niemandem. Sie kann das ja niemand sagen. Das Selbstgespräch ist typisch. Sie berät sich nur mit sich selbst. Sie ist allein, sie kommt allein, sie handelt allein. Männer handeln ja gerne in Rudeln. Vier Männer lassen ein Gelähmten das Dach runter. Typisch Mann, immer so halbe Mannschaft. Aber diese Frau hatte keinen Begleitservice. Sie handelt ganz allein und einsam, tut den mutigsten Schritt ihres Lebens. Sie nutzt die Menge, das ist ja für sie das beste Versteck. Aber sie macht alle unrein. Das ist das Schlimmste, was die Frau machen kann. Das ist der aber egal. Und sie macht sich von hinten an Jesus ran. Da merkt man, dass diese Frau durch diese Normen ja auch schon halb kaputt ist.

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Die wagt nicht, mal Jesus so anzusprechen. Sie wagt nicht mal von vorne zu kommen. Das traut sie sich nicht zu. Sie will von hinten kommen und sie denkt, wenn ich nur seinen Umhang berühre. Ein Mann in der Antike hat ein Kleid. Das ist ein Baumwollgewand, wo in der Mitte ein Loch ist. Das zieht man ganz einfach durch das Loch runter. Und dann fällt es hinten und vorne runter. Und mit einer Kurbel macht man hier einen Gürtel. Das ist die allgemeine morgenländische Bekleidung. Arme Leute haben nur das. Aber Leute, die nicht ganz so bettelarm sind, haben außerdem ein Gewand. Das hängt man so um. Das ist kein Mantel. Manche übersetzen Mantel. Das ist einfach der Umhang. Aber am Umhang merkt man ja noch weniger fast. Also die Frau hat so ein Vertrauen, wenn ich nur seinen Umhang berühre, werde ich bestimmt gesund und dann ziehe ich mich wieder zurück. Und keiner hat etwas gemerkt. Jesus selber auch nicht.

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Es ist eine Heilungsgeschichte, wo die Heilung zur Heilende gar nichts sagt. Die Heilung erfolgt wortlos und im Verborgenen. Die holt sich ihre Heilung wie eine Diebin. Das ist eine wahnsinnige Geschichte. Ich will mal im Himmel recherchieren und wenn ich diese Frau finde, dann sage ich, ah, du warst es. Und dann trinke ich mit ihrem Bier. Die hat sich das so vorgestellt. So wollte es. Aber jetzt tritt etwas völlig Unerwartetes ein, womit die Frau niemals gerechnet hat. Sie greift hin, sie wird geheilt, es versiegt die Quelle. Da steht wirklich das Wort Quelle. Wahnsinnig erzähltechnisch gut, fliessendes Quellwasser, fliessendes Blut. Die Quelle versiegt. Sie hat es genau empfunden.

49:01
Aber jetzt, was sie nicht wissen konnte, Jesus merkt auch, hoppla, ist irgendwie eine Dynamis von mir weggegangen. Damit hat die Frau nicht gerechnet. Die wollte jetzt diskret wieder gehen. Und jetzt hält er an. Ihr müsst euch mal vorstellen, drängende Menge. Der wird doch dauernd angerempelt, geschubst. Er sagt jetzt, wer hat mich hier berührt? Habt ihr mal. Da sagen seine Jünger, ein Rabbi, was heißt berührt? Da sind ein paar hundert Leute ums Rund. Da wirst du doch jede Sekunde angerempelt. Da sagt Jesus, so denke ich mir das, nein, nein, das war irgendwie anders. Also die Jünger kriegen das ja auch nicht mit. Die Jünger wissen weniger als der Leser. Schau, er erzählt technisch gut. Also jetzt dreht sich Jesus um, hält an und fragt, wer hat mich da berührt? Jetzt ist die Frau natürlich vollkommen von der Rolle. Damit hat sie ja nicht gerechnet.

50:02
Außerdem wird jetzt einmal schlagartig alles öffentlich. Jetzt mit Furcht und Zittern. Die Frau ist völlig überfordert, aber sie ist auch irgendwie glücklich. Fällt vor ihm nieder und sagt ihm die ganze Wahrheit. Jesus hätte jetzt eigentlich ärgerlich werden müssen. Sie hat ihn verunreicht, die ganze Menge verunreicht, aber dazu hat Jesus nicht die geringste Lust. Jesus sagt zu dieser Frau ein einziges Mal, dass er das sagt. Er sagt zu ihr, meine Tochter. Die Frau, die ja an Vatersstörung leidet. Tiefenpsychologisch entsteht diese Krankheit durch eine gestörte Vaterfigur. Wahnsinn, ausgerechnet zu dieser Frau sagt Jesus, meine Tochter.

51:02
Ich schätze, dass die Frau 25, 26 Jahre war, weil mit 13 wird man verheiratet. Sie wird sagen müssen, ich kann leider nicht heiraten. Sie muss andere warnen. Und dann 12 Jahre, da bist du bei 25, 26 und Jesus war ungefähr 35. Also er war schon ein Stück älter, aber natürlich kein Vater. So ist auch nicht gemeint. Jesus sagt zu dieser Frau, meine Tochter. Das sagt er nie. Er sagt einmal zu einer Frau, sie ist ja auch eine Tochter Abrahams, aber das ist ja allgemeine Lehraussage. Alle Frauen Israels sind Töchter Abrahams. Das ist also was ganz anderes. Aber zu dieser Frau sagt er, meine Tochter. Er sagt, weißt du, wir gehören zusammen. Wir bilden eine Familie. Ich stehe dir ganz nahe. Und dann sagt er, dein Glaube hat dich gerettet.

52:01
Das nennt Jesus Glaube. Das nennt Jesus Mut. So keck. Gesetze hin oder her. Wort Gottes hin oder her. Ein Glaube ist, wenn ich Gott zutraue, du bist menschenfreundlich und du willst nicht mein Unglück. Das kann ich nicht glauben. So ein Zutrauen, so eine Mut. Die Frau in der mutigsten Minute ihres Lebens sagt Jesus zu ihr, weißt du, du hast alles richtig gemacht. Ich finde es gut, was du gemacht hast. Gehe hin in Frieden.

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Jesus und die blutende Frau (Mk 5, 25–34) | 9.5.2

Worthaus 9 – Tübingen: 11. Juni 2019 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer

Jesus hatte kein Problem mit Frauen. Das kann ruhig mal so betont werden. Er sprach mit ihnen, er lehrte sie, er ließ sich sogar von ihnen berühren. Das war nicht selbstverständlich in einer Zeit und einer Kultur, in der Frauen jeden Monat ein paar Tage lang als unrein galten. Kaum eine Erzählung in der Bibel beschreibt Jesu Beziehung zu Frauen deutlicher als die Geschichte von der blutenden Frau. Zwölf Jahre lang war sie schon unrein, sie durfte nicht in die Synagoge, auf keinem Tier reiten, mit keinem Mann schlafen, konnte daher keine Kinder bekommen. Ein Mensch also, der in der damaligen Zeit als wertlos galt. Und dann hört sie von einem, der ihr helfen kann. Aber wie kann eine Frau, die keinen Platz unter Menschen hat, auf Hilfe hoffen von einem, um den sich Menschenmassen drängen? Siegfried Zimmer erzählt diese Geschichte mit all ihren kulturellen und historischen Einzelheiten, und er zeigt, dass Jesus die Frau zum Schluss nicht nur heilt, sondern ihr noch etwas viel Kostbareres schenkt. Ein Geschenk nicht nur für die Frauen dieser Welt.