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Heute Abend möchte ich euch eine Geschichte erzählen, eine Erzählung bieten. Diese Erzählung stammt von Stefan Zweig, österreichischer Jude, einer der großen europäischen Erzähler. Und zwar heißt diese Novelle, diese Meisternovelle, Georg Friedrich Hendels Auferstehung. Diese Novelle könnt ihr gleich morgen in der Buchhandlung kaufen, weil der Klassiker von Stefan Zweig, Sternstunden der Menschheit, so heißt dieses Taschenbuch, wird immer in guten Buchhandlungen, wird immer wieder neu aufgelegt. Dieses Taschenbuch gehört zu den großen Klassikern des 20. Jahrhunderts, ist wirklich Weltliteratur.

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Ich habe diese Erzählung, Georg Friedrich Hendels Auferstehung, sehr stark gekürzt. Also auf weniger als ein Viertel. Also meine Erzählung bietet vielleicht so 20 Prozent der Gesamterzählung, denn die Gesamterzählung kann man gar nicht mündlich darbieten, das ist ja zum Lesen und da lest ihr schon zwei, drei Stunden. Ich habe mal die Idee gehabt, im Religionsunterricht, sollte es möglich sein, auch Weltliteratur mündlich zu erzählen. Und deswegen, ich habe eine Erzählung von Dostoevsky, eine Novelle von Stefan Zweig und andere, solche Erzählungen stark gekürzt, sie leicht für das mündliche Erzählen bearbeitet und dann, jetzt schätze ich, die Erzählung wird so ungefähr 35 Minuten dauern.

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Das heißt, man kann sie auch in einer Religionsstunde in der 10. oder 11. Klasse oder wo immer, kann man sie so bieten. Stefan Zweig war mehrere Monate in London und hat das, was ich jetzt erzähle, sehr sorgfältig recherchiert. Also alle Big Points sind beruhen auf historisch zuverlässige Nachrichten, weil Stefan Zweig hat die Briefe von Handel, die sind großenteils erhalten, alle sehr genau studiert und er hat die Tagebücher von Handel, die sind auch erhalten, in London, also über Wochen hinweg sorgfältig recherchiert. Also der Inhalt dieser Novelle ist gut überliefert, aber natürlich in freier literarischer Manier erzählt, aber nach sorgfältiger Recherche.

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So, ich glaube, das waren die wichtigsten Vorbemerkungen. Es war in London am Nachmittag des 13. April 1737. Der Diener Georg Friedrich Handels saß am Erdgeschossfenster im Haus Brook Street 25. Er hatte soeben bemerkt, dass sein Tabakvorrat zu Ende gegangen war und eigentlich hätte er nur zwei Straßen weit zu laufen gehabt, um sich in der Bude seiner Freundin Dolly mit frischem Knaster zu versorgen. Aber er wagte sich nicht weg vom Haus aus Furcht vor seinem jätsornigen Herrn und Meister. Handel war nämlich kurz vorher voller Wut aus der Probe nach Hause gekommen. Er hatte die Haustür mit einem Schlag zugeworfen und jetzt wanderte er im ersten Stock heftig auf und ab.

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Der Diener konnte hören, wie die Decke knirschte. Es war nicht ratsam, an solchen Tagen lässig im Dienst zu sein. So suchte der Diener eine andere Ablenkung für seine Langeweile. Statt Tabakrauch ließ er aus seiner Tonpfeife Seifenblasen aufsteigen. Er hatte sich so einen Napf mit Seifenschaum zurechtgemacht und jetzt vergnügte er sich damit, die bunten Kugeln durch das Fenster auf die Straße zu pusten. Und die Vorbeigehenden zerstäubten im Spaß mit ihren Spazierstöcken die eine oder andere der Kugeln. Sie winkten und lachten, aber sie wunderten sich nicht. Denn im Haus Brook Street 25, das weiß man, muss man mit allem rechnen,

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hier dröhnt manchmal mitten in der Nacht das Djembalo oder man hört Sängerinnen heulen, wenn sie der jätsornige Deutsche bedroht, weil sie einen Achtelton zu hoch oder zu tief gesungen hatten. Also den Nachbarn galt Brook Street 25 seit langem als Narrenhaus. Also der Diener blies da so still und beherrlich seine bunten Blasen auf die Straße. Plötzlich erschrak er. Das ganze Haus erbebte von einem dumpfen Schlag. Die Gläser klirrten, die Gardinen schwanken, etwas schweres, massiges muss im ersten Stock umgefallen sein. Schon sprang der Diener auf und die Stufen zum Arbeitszimmer hinauf. Das Arbeitszimmer war leer, der Sessel war leer, an dem der Meister bei der Arbeit sitzt. Schon wollte der Diener ins Schlafgemach weitergehen, da entdeckte er Händel. Er lag regungslos auf dem Boden, die Augen starr offen.

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Und jetzt, als der Diener im ersten Schreck stillstand, hörte er ein Röcheln. Der stirbt, dachte er, und er kniet sich hin zu Händel. Er versuchte ihn ein bisschen aufzurichten oder zum Sofa zu ziehen, aber der riesige Mann, der war viel zu schwer. Also dann öffnete er ihm wenigstens das enge Halstuch und das Röcheln hörte auf. Da kam vom unteren Stockwerk nach oben Christoph Schmidt, der Sekretär des Meisters. Er war gekommen, um zu fragen, ob er bei einigen Arien beim Kopieren helfen kann. Auch er hatte diesen dumpfen Schlag gehört und gemeinsam zogen sie jetzt Händel aufs Sofa und betteten ihn dorthin. Zieh ihn aus, sagte Christoph Schmidt, ich hole einen Arzt. Er rannte aus dem Haus hinaus, winkte den vorbeifahrenden Kutschen, endlich hielt eine.

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Der vornehme Mann zog ihn herein. Händel stirbt, ich muss einen Arzt holen. Und der vornehme Mann ließ mal ein bisschen die Peitsche knallen. Und so fuhren sie zu Dr. Jenkins in die Fleet Street. Und mit dessen leichten Wagen fuhr Christoph Schmidt wieder zurück in die Brook Street 25. Der viele Ärger ist Schuld, sagte Christoph Schmidt während der Wagen rollte. Sie haben ihn zu Tode gehetzt, diese Sänger, Sängerinnen, diese Kastraten, diese Lobhudler. Vier Opern hat er in diesem Jahr geschrieben, um das Theater zu retten. Er hat seine ganzen Ersparnisse eingesetzt, 10.000 Pfund. Und jetzt hetzen sie ihn mit ihren Schuldscheinen. Wie alt ist er denn, fragte Dr. Jenkins? 52. Schwieriges Alter, sagte Dr. Jenkins. Der hat ja geschuftet wie ein Stier.

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Nun, man wird sehen, was man tun kann. Sie kamen in der Brook Street 25 an. Der Diener hielt die Schüssel hin. Christoph Schmidt hielt Händels Arm und da schlug der Arzt die Ader an. Ein Blutstoß spritzte und Händels stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er atmete tief, er öffnete sogar die Augen, aber sie waren fremd und unbewusst. Dr. Jenkins verband den Arms, war eigentlich gar nicht mehr viel zu tun, er wollte schon aufstehen. Da bemerkte er, dass Händels rechtes Auge starr war, aber das linke bewegte sich. Er hob Händels rechten Arm und als er ihn losließ, fiel der wieder runter. Er hob Händels linken Arm und der blieb in der neuen Lage. Da wusste Dr. Jenkins genug. Als er das Zimmer verließ, folgte Christoph Schmidt ihn bis zur Treppe.

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Was ist es? Die rechte Seite ist gelähmt. Wird er überleben? Vielleicht, alles ist möglich. Wird er gelähmt bleiben? Sehr wahrscheinlich, wenn kein Wunder passiert. Wird der wenigstens wieder schaffen können? Der kann doch nicht leben ohne zu schaffen. Dr. Jenkins war an der Treppe angekommen und sagte, das nicht mehr. Vielleicht können wir den Mann erhalten, den Musiker haben wir verloren. Der Schlag ging ins Gehirn. Georg Friedrich Händel lebte vier Monate ohne Kraft. Seine rechte Seite blieb gelähmt. Er konnte nicht gehen, er konnte nicht schreiben und mit der rechten Hand keine Tasten im Djembalo drücken. Schief hing ihm die Lippe und nur Lallen kamen die Worte aus seinem Mund.

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Wenn seine Freunde für ihn Musik machten, kam etwas Bewegung in sein Auge. Der Körper wollte mit in den Rhythmus, aber die Muskeln versagten den Dienst. Der riesige Mann war hilflos eingemauert. Sobald die Musik aufhörte, fielen ihm die Augen zu und er lag wieder starr. Händels Lähmung war offensichtlich unheilbar. Schließlich empfahl Dr. Jenkins eigentlich mehr aus Verlegenheit. Man solle ihn in die heißen Bäder nach Aachen schicken, vielleicht dass dort irgendeine Linderung möglich wäre. Aber unter der starren Hülle lebte eine enorme Kraft. Der Wille Georg Friedrich Händels. Noch hatte der Mann sich nicht besiegt gegeben, noch wollte er leben und wollte schaffen.

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Und der Wille dieses Mannes bewirkte das Erstaunliche. In Aachen warnten die Ärzte ihm, er möge nicht länger als drei Stunden in den heißen Bädern liegen. Sein Herz würde das nicht überleben. Aber Händel riskierte den Tod, um der größten Sehnsucht willen wieder gesund zu werden. Und mit dem Willen wuchs ihm die Kraft. Über neun Stunden blieb er täglich zum Schrecken der Ärzte in den heißen Bädern. Und nach einer Woche konnte er sich schon wieder schleppen. Und nach einer zweiten Woche konnte er den rechten Arm wieder bewegen. Ein Sieg des Willens und der Zuversicht. Händel riss sich los aus dieser lähmenden Umstrickung, um das Leben wieder zu umfangen. Glühender als je zuvor. Mit jenem unsagbaren Glücksgefühl, das nur der Genesende kennt.

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Und einen Tag vor seiner Abreise aus Aachen hielt Händel vor einer Kirche an. Händel war nie besonders fromm gewesen. Aber jetzt, als er im wieder geschenkten freien Gang die Stufen zur Empore emporschritt, fühlte er sich vom Unermesslichen bewegt. Er setzte sich an die Orgel. Er berührte mit der Linken probierend die Tasten. Es klang durch den wartenden Raum. Und dann versuchte er zögernd die Rechte. Und auch unter ihr sprangen die Töne hervor. Und allmählich begann Händel zu spielen und zu spielen. Da unten fanden sich immer mehr Menschen in der Kirche ein. Sie spürten das Ungewöhnliche dieses Spiels. Und Händel spielte und spielte. Er hatte seine Sprache wiedergefunden.

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Er konnte wieder musizieren. Er konnte wieder schaffen. Jetzt erst fühlte er sich genesen. Aus dem Hades bin ich zurückgekehrt, sagte Händel in London zu Dr. Jenkins und streckte ihm beide Hände entgegen. Und Dr. Jenkins kam nicht umhin, das Wunder zu bestaunen. Und unverzüglich warf Händel sich wieder ins Werk. Die alte Schaffenslust ist wieder über den 53-Jährigen gekommen. Er schrieb eine Oper, eine zweite, eine dritte. Er schrieb die Oratorien Saul und Israel in Ägypten. Und er schrieb das Allegro e pensieroso. Doch die Zeitumstände waren gegen Händel. Der Tod der Königin unterbrach die Aufführungen.

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Und dann begann der Spanische Krieg. Auf den öffentlichen Plätzen versammelte sich jeden Tag eine große Menschenmenge. Das Theater blieb leer und die Schuldenhändels türmten sich. Und dann kam jener harte Winter. Solche Kälte fiel über London, dass die Thämse gefrohr. Mit glirrenden Schellen fuhren die Schlitten über die Thämse. Und geschlossen blieben alle Seele in dieser Zeit. Keine Musik trotzte dem Frost in den Räumen. Und dann erkannten viele der Sängerinnen und Sänger. Eine Aufführung nach der anderen musste man absagen. Die Lage von Händel wurde immer schlimmer. Und die Gläubigen tränkten, die Kritiker höhnten. Und das Publikum blieb unbeteiligt. Eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu seinen Gunsten rettete Händel gerade noch vor dem Schuldturm.

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Aber was für eine Schande, sich als Bettelnder das Leben zu erkaufen. Händel verschloss sich immer mehr. Drei Jahre nach jenem Schlaganfall war Händel wieder am Ende. Aber diesmal fühlte er sich auch selbst als ein besiegter Mann. Wozu hat Gott mich gesund werden lassen? Besser, ich wäre gestorben, als hier als Schatten meiner Selbstesleben zu schleichen. Und manchmal murmelte er zornig, Gott, warum tust du das? Ja, in dieser Zeit raffte er manchmal noch mühsam die eine oder andere der Ideen aus früheren Zeiten. Er komponierte manchmal noch kleinere Stücke, aber verstopft war das große Strömen.

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Ein verzweifelter Mann, ungläubig an seine eigene Kraft und ungläubig an Gottes Hilfe. Nur spät abends traute sich Händel in diesen Wochen aus dem Haus. Manchmal überlegte er, ob er fliehen soll. Vielleicht nach Irland rüber, auf die Grüne Insel. Oder zurück nach Deutschland. Oder vielleicht nach Italien, dass vielleicht dort im warmen Südwind er nochmal auftaut. Manchmal saß Händel in einer Londoner Kneipe. Aber wer den Rausch des Schaffens kennt, für den ist Alkohol kein Ersatz. Manchmal stand Händel in der Nacht auf einer Thämsebrücke und er schaute hinunter in das nachtschwarze Fließen. Ob es nicht besser wäre, mit einem entschlossenen Ruck alles hinter sich zu bringen?

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Dann kam der 21. August 1741. Erst nachts hatte Händel das Haus verlassen. Im Green Park wollte er ein bisschen Luft schöpfen. Dort ist er eine Weile gesessen. Wie eine Krankheit lastete die Müdigkeit auf ihn. Müdigkeit zu reden, Müdigkeit zu gehen, Müdigkeit zu spielen, Müdigkeit zu denken. Dann stand er auf und ging wieder nach Hause. Paul Mall entlang und die St. James Street. Nur von dem Gedanken bewegt, schlafen, nichts mehr wissen. In Brook Street 25 war niemand mehr wach. Endlich war er in seinem Zimmer. Er entflammte das Feuerzeug und entflammte die Schreibtischlampe.

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Das hat er ganz mechanisch getan, ohne zu denken, so wie er es immer machte. Denn früher brachte er von jedem Spaziergang eine Melodie mit nach Hause. Und immer schrieb er sie dann sofort auf, um dass er dachte, nicht an den Schlaf zu verlieren. Aber jetzt lag kein Notenblatt auf dem Schreibtisch. Es gab nichts zu beginnen und nichts zu beenden. Der Schreibtisch war leer. Doch, nein, der war gar nicht leer. Leuchtete da nicht im Viereck der Lampe etwas Weißes, Papierendes? Händlgriff hin, es war ein Paket. Er füllte Geschriebenes darin. Er brach den Siegel rasch auf und obendrauf lag ein Brief. Es war ein Brief von Cennans, der Dichter, der ihm den Text für die Oratorien Saul und Israel in Ägypten geschrieben hatte. Er schrieb Cennans ihm eine neue Dichtung.

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Und er hoffe, dass Händl sich seiner Worte erbarme und sie auf den Flügeln seiner Musik ins Land hinaustrage. Händl war unangenehm berührt. Er wollte ihn verhöhnen, dieser Cennans, ihn, den Ausgebrannten. Er mit einem Riss zerfetzte er das Schreiben und flüsterte Schuft. In seine tiefste Wunde hatte Cennans gestoßen, ohne es zu wissen. Zornig blies Händl das Lampe wieder aus. Er ging ins Schlafgemach und warf sich auf sein Bett. Tränen traten in seine Augen und sein ganzer Körper zitterte vor Wut der Ohnmacht. Nur schlafen, jetzt nichts mehr denken. Aber Händl konnte nicht schlafen. Es war eine Unruhe in ihm, aufgewühlt vom Zorn. Herr Händl wurde wacher und wacher.

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Ob er nicht doch aufstehen sollte und den Text mal prüfen? Händl stand wieder auf, ging wieder zurück ins Arbeitszimmer, entflammte wieder seine Schreibtischlampe und rückte sie näher an die beschriebenen Blätter heran. Auf dem ersten Blatt, dem Titelblatt, stand Der Messias. Oje, dachte Händl, wieder so ein Oratorium. Die letzten zwei sind schon nicht gut angekommen. Aber unruhig, wie er war, wendete er das Titelblatt um und er begann zu lesen. Und gleich das erste Wort, da zuckte er zusammen. Sei getrost! Wie ein Zauber war dieses Wort. Nein, nicht Wort, sondern direkte Anrede, an niemand anders gerichtet als an ihn persönlich. Händl war es wie ein Ruf aus dem Himmel mitten in sein Herz.

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Sei getrost! Händl stand da, zu und vorbereitet, getroffen von diesem Wort. Er konnte es nicht fassen, wie dieses Wort in ihm wirkte, seine verschüchterte Seele erwärmte. Ein erschaffendes Wort. Und kaum gelesen, kaum gefühlt, hörte er es in Musik. Er hörte wieder in Musik, die Hände bebten Händl, als er jetzt Blatt um Blatt las. Und jedes Wort griff nach ihm. So spricht der Herr. Ja, war das nicht ihm gesagt? Er wird dich reinigen. Ja, das hat er doch gerade eben erlebt. Denn wie weggefegt war in einem Mal die Schwermut aus seiner Seele. Und sie sollen Opfer darbringen dem Herrn. Ja, eine Flamme schlug aus dem Herzen, Händl hinauf zu ihm.

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Der Engel des Herrn trat zu ihnen. Ja, der hat ja auch jetzt diesen Raum betreten und er hat Händl berührt. Und dann las er Rejoice, freue dich. Und er hörte es bereits als Chorgesang. Es formte sich. Dann las Händl die Worte, er war verachtet. Und die in Zahlen lachten über ihn. Da war keiner, der ihm Trost gab, auch nicht einer. Er aber vertraute Gott. Und siehe, Gott ließ ihm nicht im Grab der Verzeiflung, nicht in der Hölle der Ohnmacht. Einem Gebundenen gab Gott die Seele zurück. Händl war es, als ob jedes Wort speziell für ihn geschrieben wurde. Wie konnte er so ein Schicksal verstehen?

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Ihn hatte auch schon seit Monaten kein Mensch mehr getröstet. Und dann erschauderte Händl. Er las nämlich von des armen Cennans Hand geschrieben, Gott hat dieses Wort gesandt. Und da spürte Händl, hier wurde Wahrheit gesagt durch zufälligen Menschenwund. Kein anderer als Gott hat dieses Wort gesandt. Gott hat das Wort gesandt, nicht Cennans. Und zu Gott will dieses Wort wieder zurück. Und Händl wollte es packen und fassen, dieses Wort. Es dehnen und spannen. Weit soll es werden wie die Welt. Aufsteigen und niedersteigen soll es, die Jakobsleiter der Töne. Händls Auge dunkelte durch Tränen. Es schmerzte schon in ihm, es drängte in ihm. Noch waren die restlichen Blätter zu lesen, der dritte Teil des Oratoriums.

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Aber es schmerzte in ihm, wie Feuer das fließen will. Das Feuer wollte aus ihm heraus und dorthin zurück, woher es kam. Da griff Händl hastig zur Feder und er begann, Noten aufzuschreiben. Und er konnte es nicht mehr stoppen. Wie ein Schiff, die Segel vom Sturmwind erfasst, riss es ihn mit. Ringsum schwieg die Londoner Nacht, aber unhörbar drönte in diesem Zimmer Musik. Als der Diener am nächsten Morgen das Arbeitszimmer betrat, saß Händl immer noch am Schreibtisch. Er antwortete nicht, als Christoph Schmidt ihn fragte, ob er beim Kopieren behilflich sein kann. Er knurrte nur, dumpf und gefährlich. Und es getaute sich keiner mehr an ihn heran. Und Händl verließ diesen Raum nicht mehr in drei Wochen.

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Wenn man ihm zum Essen brachte, dann bockelte er mit der linken Hand da irgendwas ab, aber die rechte schrieb weiter. Wenn er aufstand, singend, praktierend durch den Raum geht, blickten seine Augen fremd. Wenn man ihn ansprach, erschrak er und seine Antwort war verworren. Der Diener hatte schwere Tage. Es kamen die Gläubiger wegen ihren Schuldschein, es kamen die Sänger, sie wollten ihre Festtagskantate abholen. Der Diener musste sie alle wegschicken. Und wenn er sich an den Arbeitenden wenden wollte, fauchte ihm der Zorn des Gereizten entgegen. Georg Friedrich Händl wusste in jenen Wochen nicht mehr um Tag und Stunde. Er schied nicht mehr zwischen Tag und Nacht. Er lebte in Rhythmus intakt. Er sang, ergriff ins Djembalo, dann setzte er sich wieder hin und schrieb, bis ihm die Finger wehtaten.

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Nie hat Händl so gelitten und gelebt in Musik. Endlich nach drei Wochen, unfassbar bis heute. Am 14. September 1721 war das Werk vollendet. Das Wort war Ton geworden. Händl stand mühsam auf, er wusste kaum, wo er war. Er fühlte nur Müdigkeit, unermessliche Müdigkeit. Entschwunden war ihm alle Kraft. Er ging ins Schlafgemach und fiel aufs Bett wie ein Toter. Am nächsten Vormittag versuchte der Diener dreimal Händl zu wecken. Am Mittag versuchte er es ein viertes Mal. Er häusperte sich laut, er klopfte vernehmlich, aber nichts drang in die Tiefe dieses Schlafes.

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Händl lag wie in blassen Stein gehauen. In seinem verschlossenen Gesicht. Am Nachmittag kam Christoph Schmidt zur Hilfe. Händl lag immer noch in der Starre und jetzt bekamen sie Angst. Abermals habe ein Schlaganfall ihn niedergestreckt. Und als am Abend trotz kräftigen Schütteln Händl nicht wach zu kriegen war, seit 17 Stunden schlief er, ging Christoph Schmidt wieder zu Dr. Jenkins in die Fleet Street. Und als Dr. Jenkins hörte, dass es Händl galt, packte er sein chirurgisches Besteck zusammen, um den sehr wahrscheinlichen Aderlass vornehmen zu lassen. Und dann kamen die beiden in der Brook Street 25 an. Aber der Diener stand schon vor dem Haus und erfuchtelte wild durch die Gegend und schrie über die Straße hinüber, er ist aufgestanden und jetzt frisst er wie sechs Lastenträger.

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Der Dr. Jenkins sagte, hol mich dieser oder jener, was ist mit euch? Welche Mixtur habt ihr getrunken? Ihr platzt ja vor Leben. Und Händl hatte nie so elementarisch lachen müssen, als in dem Augenblick, wo der Arzt mit seinem Köfferchen kam, in einer Stunde, wo er sich gesünder fühlte als je zuvor. Also er lachte ihm entgegen, dann stand er auf und ging zum Djembalo. Und er sang und spielte das Rezitativ, vernehmt, ich spreche ein Geheimnis aus. Es waren Worte aus dem Messias. Scherzhaft mehr hatte Händl begonnen, aber kaum begonnen riss es ihn mit. Er vergaß die anderen und sich selber, er war auf einmal wieder mitten im Werk. Er sang und spielte die letzten Chöre des Messias, die er wie in Trance geschaffen hatte.

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Jetzt hörte er sie selber zum ersten Mal bei vollem Bewusstsein. 13. April 1742, der Tag der ersten Aufführung des Messias. Vor den Türen des Saales staute sich eine riesige Menge. Die Damen waren ohne Reifröcke gekommen und die Kavalliere ohne Degen. So passten mehr Menschen in den Saal. Denn allein durch die Proben hatte sich der Ruf dieses Werkes in Windeseile ausgebreitet. Und als dann die Musik begann, wurde das Lauschen immer lautloser. Händl stand an der Orgel. Er wollte sein Werk überwachen. Aber es riss sich los, es wurde ihm fremd. Und als dann am Ende das Amen ertönte, sang Händl mit dem Chor.

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Von jetzt an mochte nichts mehr Händl zu beugen. Noch einmal ging die Operngesellschaft Pankrott, die er in London gegründet hatte. Wieder kamen die Gläubiger mit ihren Schuldscheinen. Aber jetzt stand Händl aufrecht. Unbekümmert ging der 60-Jährige seinen Weg. Allmählich höhlte das Alter seine Kraft. Und es lahmten die Arme und die Beine krampften durch die Gicht. Aber unermüdlich schuf Händl weiter. Wie alle großen Künstler rühmte Händl seine eigenen Werke nie. Aber den Messias liebte er. In keiner der zahlreichen Aufführungen des Messias, die Händl selber erlebt und geleitet hat,

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hat er jemals Geld genommen. Er widmete dieses Stück den Kranken und den Gefangenen der Stadt London. Er schrieb in sein Tagebuch, kein Geld für dieses Stück. Niemals will ich dafür Geld nehmen. Denn ich stehe hier in einer anderen Schuld. Ich widme dieses Stück den Kranken und den Gefangenen der Stadt London. Denn ich war selbst krank und bin an diesem Stück gesund geworden. Ich war ein Gefangener und es hat mich befreit. Und mit diesem Stück wollte Händl dann auch Abschied nehmen. Im zunehmenden Alter erlosch auch sein Augenlicht. Als Händl seinen Jefta schrieb, erblindete er. Aber mit verschlossenem Auge wie Beethoven mit verschlossenem Ohr schuf er weiter.

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Und am 6. April 1759 ließ sich der 74-Jährige, schon schwer erkannt, noch einmal auf Covent Garden führen aufs Podium. Und verabschiedete sich mit dem Messias. Und da sang er inmitten seiner Sängerinnen und Sänger. Und als die Woge der Töne gegen ihn rollte, sang er mit, als betete er für seine und unser Aller Erlösung. Ergriffen haben die Freunde ihn nach Hause geführt. Auch sie spürten, dass es ein Abschied war für immer. Und am Karfreitag, den 13. April 1759, verließen Händl die Kräfte. Er sah nichts mehr, er hörte nichts mehr.

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Still lag der riesige Leib in den Kissen, ein leeres und schweres Gehäuse. Aber wie die leere Muschel dröhnt vom Tosen des Meeres, rauschte inwendig unhörbar Musik. Am nächsten Morgen, noch waren die Osterglocken nicht erwacht, starb dahin, was an Georg Friedrich Händls sterblich war.

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ERZÄHLUNG: Händels Auferstehung | 8.4.4

Worthaus 8 – Weimar: 21. Mai 2018 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer

Ein gewaltiger Mann, dessen Diener sich vor seinen Wutausbrüchen fürchtete, geachtet, gefeiert und manchmal tief verschuldet – das war Georg Friedrich Händel, Komponist und Erschaffer eines der größten Oratorien unserer Kulturgeschichte. Und wo geht es da jetzt um Gott und Christentum? Zwischen den Zeilen. Denn Siegfried Zimmer erzählt eine Geschichte, die sich in etwa so zugetragen hat, der man wunderbar zuhören kann, die Mut macht und berührt. Es geht um eine schwere Krankheit und den drohenden Schuldturm, um eisernen Überlebenswillen und verzweifelte Todessehnsucht. Und um den 21. August 1741, als ein schicksalhaftes Paket auf Händels Schreibtisch lag. Ein Paket, das ihn aus größter Not wieder auferstehen lässt, dessen Inhalt ihn befreit, genesen lässt und gleichzeitig in einen Wahn zu stürzen scheint, aus dem er erst Tage später wieder aufwacht – mit einem Meisterwerk in der Hand.