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Seit Jahren habe ich den Wunsch, einmal einen Vortrag über den verlorenen Sohn halten zu können. Ich bin sehr froh, dass es heute so weit ist. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist das umfangreichste der ungefähr 40 Gleichnisse Jesu und sein bekanntestes. Den verlorenen Sohn öffentlich zu interpretieren, ist für mich etwas ganz Besonderes. In der Bergsteigersprache würde ich sagen, das ist wie die Ersteigung eines Achttausenders.

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Das ist also eine anspruchsvolle Aufgabe und ich will versuchen, mich an diese anspruchsvolle Herausforderung so umsichtig und vorsichtig wie möglich anzunähern. Ich habe schon eine hochinteressante und hochwichtige Info euch weitergegeben. Jesus hat ungefähr 40 Gleichnisse komponiert. Er hat sie erfunden. Er hat sie literarisch in die Form gebracht, die wir haben. Das heißt, Jesus hatte eine deutliche Vorliebe für Gleichnisse. Kennt ihr jemand, der eine deutliche Vorliebe für Gleichnisse hatte? Überlegt mal, kennt ihr irgendwo in der Literaturgeschichte einen Autor, dessen erzählerisches Lebenswerk in 40 Gleichnissen besteht?

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Ich bin kein Fachmann, aber ich kenne niemanden. Wer? Herr Esso, wie war es? Heul? Hat er so eine hohe Zahl an Gleichnissen verwendet? Wie viele sind es denn? Ja, super, gut, okay. Aber es sind sicher sehr wenige. Jesus hat die Form, die literarische Kleinform der Gleichnisse nicht erfunden. Es gibt auch im Judentum Gleichnisserzähler vor Jesus, neben Jesus und nach Jesus. Aber auch jüdische Theologen sagen, mit der Intensität, in der Jesus sich den Gleichnissen zugewandt hat, gibt es in der jüdischen Religionsgeschichte kein weiteres Beispiel.

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Und da bleiben wir mal bei diesem Punkt, weil dieser Punkt auffallend und sehr originell ist. Gleichnisse sind eine literarische Kleinform. Es gibt auch literarische Großformen, Romane, Lexika und alles Mögliche. Aber es gibt auch literarische Kleinformen. Gleichnisse sind Kurzgeschichten. Die umfangreichste ist der verlorene Sohn. Der geht aber auch bequem auf eine Seite und alle anderen Gleichnisse sind deutlich kürzer. Was ist das Besondere der Gleichnisse? Gleichnisse haben etwas Besonderes. Es sind erstens mal nicht leicht. Versucht mal euren Zeitgenossen ein wichtiges existenzielles Problem deutlich und lösbar zu machen,

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indem ihr ein Gleichnis komponiert. Ihr werdet merken, es ist nicht leicht. Geschichten hören ist aber was sehr Angenehmes, Lustvolles. Alle Menschen hören gern Geschichten. Von Beginn ihres Lebens an hören Menschen gerne Geschichten. Menschen sind Lebewesen, deren Identität verstrickt ist in Geschichten. Jesus hat sicher seine Gründe gehabt, warum er diese deutliche Vorliebe für Gleichnisse entwickelt hat. Was ist das Spezielle an Gleichnissen? Gleichnisse haben einen besonders intensiven Hörerbezug. Gleichnisse wollen ihre Hörer erreichen.

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Jesus war ein öffentlicher Redner, der für damalige Verhältnisse ein sehr gemischtes Publikum hatte. Er hatte oft Tausende von Zuhörern, aber die Zuhörer waren sehr bunt gemischt. Es gab unter den Zuhörern viele Fans und Anhänger und viele Gegner und Feinde. Und er wollte beide gewinnen. Und da kommt er auf die Idee, Gleichnisse zu verwenden. Gleichnisse wollen die Hörer gewinnen. Wartet mal ab, was dieses Gleichnis mit euch macht. Wollen wir mal sehen. Ihr habt heute einen Schnupperkurs an einem Gleichnis Jesu. Könnt ihr mal dran schnuppern?

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Mal sehen. Gleichnisse sind ja relativ kurz. Und wenn die Gleichnisse aufhören, dann kommt es darauf an. Bleiben sie bei dir haften. Ziehen sie dich vielleicht sogar in ihren Bann. Seid ihr von ihnen infiziert, vielleicht sogar kontaminiert. Und dann tragt ihr mit euch herum den Impuls zur Veränderung dieser Welt. Denn Gleichnisse sind Vorboten einer anderen Welt, die wir nicht kennen. Und wir können dann zwei, drei, vier Minuten lang diese fremde andere Welt beschnuppern. Mal ein Stück weit des Wegs im Rahmen dieser Gleichnisse gehen. Die nehmen euch mit auf einem Weg. Und jetzt habt ihr ein paar Minuten Gelegenheit, die Dinge mit den Augen zu sehen,

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mit denen er die Wirklichkeit gesehen hat. Man kann Jesus nicht verpsychologisieren. Das geht immer schief. Man kann Jesus nicht verpsychologisieren. Wir müssen es auch gar nicht, weil wir über die Gleichnisse tief in seine Psyche gelangen, ohne dass wir ihn psychologisieren. Die Gleichnisse sind ja objektiv vorhandene Literatur. Und mit Hilfe der Gleichnisse gelangt ihr in das Gehirn Jesu, in sein Bewusstsein. Und dann mal schauen. Gleichnisse wollen diese Welt verändern. Sie hat zu viel Gefühlskälte. Sie hat zu viel Gleichgültigkeit. Sie hat zu viel männerzentrierte Herrschaftsformen und vieles andere, Hass und Feindschaft.

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Und Gleichnisse wollen Bahn brechen für eine neue, andere Welt, die deutlich humaner ist. Und im Blick darauf, diese Welt zu überwinden und einer neuen Welt die Bahn zu ebnen, wirken Gleichnisse wie Brandbeschleuniger. Da geht es richtig los. Die Gleichnisse nehmen die neue Welt vorweg und bereiten ihr so den Boden, bereiten die Wandlung vor, die sie in sich voraussetzen. Brandbeschleuniger. Mal sehen, ob diese Brandbeschleuniger euch infizieren können und kontaminieren können, dass ihr den Impuls zur Veränderung der Welt nicht mehr loswertet.

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Mal sehen. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn besteht aus drei Teilen. Eine kurze Einleitung, sie hat vier Sätze und dann zwei Hälften. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist eine Einheit aus zwei Hälften. Und wie diese beiden Hälften aufeinander abgestimmt sind, ist sehr wichtig für das Verständnis dieses Gleichnisses. Nämlich diese beiden Hälften stehen in einer sehr auffallenden, sonderbaren Beziehung zueinander. Die zweite Hälfte des Gleichnisses setzt nicht einfach die erste Hälfte fort.

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Also die erste Hälfte erzählt die Geschichte des jüngeren Sohnes. Nur von ihm wird eine Geschichte erzählt. Vom älteren Sohn wird überhaupt keine Geschichte erzählt. Wir erfahren von ihm nur einige wichtige Gesprächsbeiträge, aber wir hören von ihm keine Geschichte. Also nachdem die erste Szene die Geschichte des jüngeren Sohnes erzählt hat, kommt jetzt nicht die zweite Szene und erzählt die Geschichte des älteren Sohnes. Nein, sondern die zweite Szene kommentiert die erste Szene. Man kann sagen, die zweite Hälfte ist die Besprechung der ersten Hälfte, ist die Metaebene zur ersten Hälfte.

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Also auch die zweite Hälfte dreht sich um die erste Hälfte. Deswegen ist der jüngere Sohn die dramatische Hauptfigur dieses Gleichnisses. Denn nur von ihm wird eine Geschichte erzählt, um die sich beide Hälften drehen. Wenden wir uns mal der Einleitung zu. Alle orientalischen Erzählungen haben eine Einleitung. Was ist die Aufgabe einer orientalischen Einleitung? Sind immer die gleichen Aufgaben. Erst mal Ort und Zeit der Handlung. Dann die Hauptperson oder die Hauptpersonen der Handlung. Dann das Thema des Gleichnisses der Erzählung und gegebenenfalls die Perspektive dieser Erzählung,

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wenn es eine Perspektive hat. Also Hauptperson, Hauptpersonen, die Themenstellung, Ort und Zeit und gegebenenfalls die Perspektive. Zeit der Handlung ist unwichtig. Dazu gibt es keine Angabe. Es gibt im ganzen Gleichnis vom verlorenen Sohn nur eine einzige Zeitangabe ziemlich weit vorne. Und die heißt folgendermaßen Nur nach wenigen Tagen packte er alles, was er hatte, zusammen und zog in ein weit entferntes Land. Es ist die einzige Zeitangabe. Nur nach wenigen Tagen. Man kann also sagen gesagt getan. Der macht es dann auch ziemlich ziemlich zügig. Ist ein Wort und eine Tat, die aufeinander folgen.

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Der Ort der Handlung ist das Leben auf dem Land. Es ist ein Bauernhaus. Zu den Auffälligkeiten dieses Gleichnisses gehört. Das Gleichnis beginnt in einem Haus und es endet auch im gleichen Haus. Ein Familienmitglied verlässt das Haus mal für längere Zeit, kehrt aber in dieses Haus wieder zurück. Deshalb müssen wir uns ein paar Minuten lang mit der Bedeutung des Hauses beschäftigen. Ein Haus heißt oft in der Antike ich und mein Haus. Ein Haus ist nicht das Gleiche wie eine Familie. Hart gesagt, bisschen leicht übertrieben gesagt. Gibt es gar keine Familie in der Antike? Das Wort Familie entsteht erst im 18. Jahrhundert im Französischen. Vorher gibt es dieses Wort gar nicht.

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Ein Haus, ich und mein Haus oder in mehreren Briefen im Schlussteil kommen Haustafeln. Die heißen nie Familientafeln. Ein Haus ist was anderes wie eine Familie. Ein Haus besteht aus 20 bis 40 Personen. Also keine moderne Kleinfamilie mit drei bis vier Personen in einer drei bis vier Zimmerwohnung. Sowas gibt es eigentlich in der Bibel gar nicht. Das Haus ist eine Einheit von Menschen, aber auch eine Wirtschaftseinheit, auch eine religiöse Einheit. Im Haus, zu dem Haus gehören auch die unverheirateten Sklaven und Mägde und Knechte.

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Die sind gar nicht verwandt mit den anderen. Also nicht alle Mitglieder eines Hauses sind verwandt. Jetzt das Entscheidende für uns ist die Ordnung des Hauses ist die Grundlage jeder antiken Gesellschaft. Jedes Haus hat eine Ordnung. Jedes Haus hat eine Moral. Man sagt auch mit Fachausdrücken Eukosethik. Eukos ist das griechische Wort für Haus. Da kommt auch Ökologie, Ökonomie, Ökomene. Es kommt alles von Eukos, das Haus. Und man spricht von einer Eukosethik. Die Eukosethik ist die Grundlage jeder damaligen Gesellschaft. Und das stellt vor eine sehr tiefe brisante Frage.

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Wie steht das Gleichnis vom verlorenen Sohn zur Eukosethik, zur Grundlage der Grundlage einer antiken Gesellschaft? Ihr werdet sehen, ziemlich kritisch. Da kommt vieles ins Rutschen. Da kommt so viel ins Rutschen, dass man gar keinen Überblick gewinnt. Was rutscht denn da noch alles? Wenn das mal ins Rutschen kommt, was folgt daraus? Da kriegst du gar keinen Überblick. Also im verlorenen Sohn geht es nicht nur um das Verhältnis Jesu zu pharisieren und zu sündern. Ja, er hatte Tischgemeinschaft mit Sündern. Das gab es damals nicht. Es gibt in den antiken jüdischen Schriften, die heute mehr oder weniger vollständig erforscht sind, gibt es kein einziges Beispiel, dass ein jüdischer Rabbiner eine Tischgemeinschaft mit Sündern hatte.

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Es gibt kein einziges Beispiel. Aber nach allem, was in den Evangelien steht, hatte Jesus das ständig. Er hatte ständig Tischgemeinschaft mit Sündern. Dieser widmet sich den Sündern und er ist sogar mit ihnen. Da hört sich ja alles auf. So beginnt Lukas 15, 1 bis 2. Das ist eine gute Einführung in Lukas 15. Trotzdem möchte ich gleich am Beginn sagen, im Gleichnis vom verlorenen Sohn geht es um viel mehr als um die Tischgemeinschaft Jesu mit den Sündern. Um viel mehr. Es geht um die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft und wie der Autor dieses Gleichnis zu dieser Grundlage steht.

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Das ist brisant. Bis heute kommt da manches ins Rutschen. Also die Einleitung besteht aus vier Sätzen und diese vier Sätze lauten. Ein Mensch hatte zwei Söhne. Der Jüngere der beiden sagte zum Vater, Vater, gib mir den Anteil des Vermögens, der mir zusteht. Da teilte der Vater das Erbe unter den beiden Söhnen auf. Nur wenige Tage danach packte der Sohn alles zusammen. Er hat alles zu Geld gemacht. Das kann man ja dann zusammenpacken. Die Möbel und so weiter kann man ja nicht zusammenpacken und zog in ein fernes Land. Der erste Satz ist schon sehr symptomatisch.

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Bleiben wir mal bei dem. Denn einer, der eine Geschichte erzählen will, steht erstmal vor einer schwierigen Aufgabe, nämlich der Aufgabe, wie fange ich an? Und er hat ja tausende von Möglichkeiten anzufangen. Also wenn sich einer zu einem ersten Satz seiner Geschichte entscheidet, ist das eine wahnsinnige Entscheidung. Unter all den Möglichkeiten greift er diesen Satz heraus. Der heißt Ein Mensch, Anthropos, hatte zwei Söhne. Der erste Satz heißt nicht Ein Vater hatte zwei Söhne oder Ein Mann hatte zwei Söhne. Natürlich ist es ein Vater. Kann man sich ja denken. Natürlich ist es ein Mann. Natürlich ist es ein Jude.

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Aber das sagt Jesus nicht. Er sagt Anthropos, ein Mensch hatte zwei Söhne. In diesem ersten Satz, den Jesus sicher nicht zufällig so daher labert, fällt auf, dass eigentlich fast keine Determinanten in diesem Satz sind. Wie alt sind diese drei Personen? Wie alt? Haben die einen Namen? Steht nichts da. Wie viel älter ist der ältere Sohn als der jüngere Sohn? Interessiert nicht. Warum will denn der jüngere Sohn auswandern? Das Motiv interessiert nicht. Was hat der jüngere Sohn denn vor? Was plant er denn? Interessiert nicht. Ein solcher Abschied für viele Jahre, vielleicht für immer, ist doch der gegebene Ort für tiefe Gefühle und Worte.

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Wenn in dieser Familie tiefere Spannungen herrschen sollten, dann ist doch jetzt die gegebene Zeit, dass sie ins Tageslicht kommen. Und wann will denn der jüngere Sohn zurückkommen? Will er überhaupt zurückkommen, sagt er nicht. Also auf jeden Fall so eine Ankündigung ist doch ein tiefer Einschnitt im Alltagsleben einer Familie. Aber bei diesem Abschied wird kein Wort gesprochen und er ist völlig emotionslos. Der Text dieses Gleichnisses interessiert sich nur für äußere Fakten. Er interessiert sich überhaupt nicht für innere Abläufe oder Planungen oder Emotionen.

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Dafür interessiert er sich null. Nur wenige Tage später packt der jüngere Sohn alles zusammen und zieht in ein weit entferntes Land. Keine Worte, keine Emotionen. Man nennt das in der Erzähltechnik, das ist eine Lehrstelle. Gleichnisse Jesu haben viele Lehrstellen, die Jesus sehr bewusst setzt. Denn gerade in den Lehrstellen greifen die Gleichnisse nach den Hörern. Sie animieren die Hörer, füll doch das selber aus. Was denkst denn du, was hier für Gefühle waren? Welche Gefühle hatte wohl der Vater, als er dem Sohn nachsah und der Sohn um die letzte Kurve verschwand? Wer weiß für wie lange. Welche Gefühle hatte wohl der Vater?

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Interessiert nicht. Welche Gefühle hatte wohl der ältere Sohn, als der Jüngere sich entschloss, ein Abenteuer einzugehen? Der Ältere konnte sich dazu nicht entschließen. Was wollen wir mit einer christlichen Erziehung erreichen? Überlegen wir mal. Wollen wir die ängstlichen angepassten jungen Erwachsenen, die Stubenhocker, die möglichst lange in Hotel Mama und Hotel Papa bleiben und Angst vor Abenteuern haben, ist das das Resultat einer christlichen Erziehung? Seid ihr tatsächlich der Meinung, die ängstlichen und angepassten Stubenhocker stehen Gott grundsätzlich näher als die Abenteurer? Meint ihr das? Wollt ihr das mit einer christlichen Erziehung ausdrücken? Also es geht hier um sehr viel.

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Diese Lehrstelle, warum zog eigentlich der jüngere Sohn aus, das wird ja bewusst nicht gesagt. Wir erfahren sein Motiv nicht, obwohl das Motiv für die Interpretation sehr wichtig wäre. Aber wir erfahren es nicht. Das hat man dann in der Geschichte der Auslegung jahrhundertelang nicht ertragen. Das Publikum hat jahrhundertelang diese Lehrstelle sofort ausgefüllt. Nämlich der Weggang des jüngeren Sohnes ist Sünde. Das ist seine Sünde. Steht aber nicht da. Wenn es die eine Sünde wäre, dann möchte ich mal sagen, ist der Vater aber ein verdammt verweichlichter Typ. Er ist doch ein Erfüllungsgehilfe. Der betreibt doch Beihilfe zur Sünde.

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Der könnte doch als Patriarisch mit der Autorität, die er hatte, könnte er doch sagen, Börschle, hör mal, ich glaube, du hast einen Vogel. Das geht so nicht. Du kannst wohl nicht abwarten, bis ich unter der Erde bin. Also meinst du, dass ich das auch noch fördere? Überhaupt nicht. Er müsste doch hier Widerstand leisten, aber er schwätzt kein Wort. Er lässt es einfach alles zu. Merkwürdig, für einen Hausherrn sehr merkwürdig. Und dann ist es auch so, heute in der modernen Bibelwissenschaft, die sich ja nicht mehr bevormunden lässt von frommen Menschen, Gott sei Dank. Die moderne Bibelwissenschaft lässt sich von niemandem einen Maulkorb geben, auch nicht von Bischöfen oder Geldgebern und so weiter.

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Sie sind ja Gott sei Dank genug abgesichert. In freien Gemeinschaften musst du öfters, als man denkt, so reden, dass es den Geldgebern gefällt. Sondern sagen die nämlich, ich unterstütze euch nicht mehr. Und dann kuschen aber viele. Da bin ich froh für die freie Forschung an den Universitäten. Die dürfen wir nie wieder aufgeben. Freie Forschung heißt ja nicht Extremismus, dass jeder den Unsinn sagen kann, den er halt sagen will. Nein, das heißt es gar nicht. Sondern den Studenten, 20, 25 Jahre traut man es zu, dass sie die Professoren prüfen können. Wenn sie die Universität wechseln und andere Professoren hören. Wir dürfen die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Forschung nicht wieder aufgeben.

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Sie ist teuer errungen. Danke, da habt ihr ganz recht. Ja, sie ist teuer errungen. Ja gut, also in der modernen Bibelwissenschaft, in der man ergebnisoffen forscht. Nicht das, was die Geldgeber hören wollen. Nein, sondern das, was Sache ist. In der modernen Bibelwissenschaft darf die Bibel ausreden, ob es euch passt oder nicht. Die Bibel darf ihre Sache anbringen, ob es der Kirche gefällt oder nicht. Und in dieser modernen Bibelwissenschaft hat man es verlernt, den Auszug des jüngeren Sohnes als seine Sünde anzuprangern. Das macht heute praktisch niemand mehr. Ich habe zur Vorbereitung dieses Vortrags vielleicht ungefähr 20 Fachbücher gelesen.

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In einem einzigen Fachbuch wird noch behauptet, ohne Begründung, der Auszug ist die Sünde des Sohnes. Ohne Begründung. Nein, das ist grundsätzlich falsch. Wie kommt man eigentlich dazu, dass man sagt, der Auszug des jüngeren Sohnes ist seine Sünde? Das hat vor allem folgende Voraussetzung, dass man dem Vater, dem Bauer sagt, das ist Gott. Das nennt man eine allegorische Auslegung. Der Vater ist Gott. Da möchte ich euch mal sagen, ein Gleichnis ist keine Gleichung. Da müsst ihr bitte unterschreiben. Ein Gleichnis ist keine Gleichung. Der Vater ist nicht gleich Gott.

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Er ist ein galiläischer, wohlhabender Bauer auf dem Land. Man kann den soziologisch versuchen, ein bisschen zu orten. Er ist wohlhabend. Er hat so und so viele Tagelöhner. Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot im Überfluss haben? Er weiß gar nicht, wie viele sein Vater hat, weil er ordentlich viele gehabt hat. Also er hat viele Tagelöhner. Er hat Feldsklaven. Er hat Haussklaven. Er hat ein Mastkalb. Hat auch nicht jeder. Also er ist ein wohlhabender Bauer der oberen Mittelschicht. Aber er ist kein Großgrundbesitzer. Er gehört nicht zur absoluten Elite. Das kann man auch erkennen, denn er hat nur ein Mastkalb. Die Großgrundbesitzer, die haben fünf oder zehn Mastkälber.

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Und er wohnt ja selber noch auf dem Land. Ja, die eigentliche Elite, die wohnt nicht mehr auf dem Land. Die wohnt in der Stadt. Da gibt es Pferderennen, da gibt es Theater. Da ist was los auf dem Land. Das ist viel zu langweilig. Die Elite will unter sich sein. Also die stellt einen Verwalter ein und dann besucht dieser Großgrundbesitzer einmal im Jahr seinen Verwalter und lässt ihn abrechnen. Und das war's. Aber der wohnt ja selber noch auf dem Land. Also er ist kein Mitglied der absoluten Oberschicht. Und dann fehlt auch bei der Beschreibung, es ist nicht die Rede von Gesang und Musik und Teichen und Parks und Schmuck und Gold. Davon ist nicht die Rede. Also das ist nicht Gott.

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Das ist ein wohlhabender galiläischer Bauer. Wenn es Gott wäre, ja, der verlässt Gott. Der sagt zu Gott Ade. Der will nicht in der Nähe Gottes bleiben. Und dann kommt man auf diesen Irrsinn. Dieser Abschied erruft gerade keinen Konflikt hervor. Der Text legt großen Wert darauf, dieser Abschied erfolgt ohne Konflikt, ohne Wertung. Die erste Wertung kommt erst ein Vers später nach Ende der Einlassung. Da heißt es, zog er in ein weit entferntes Land. Jetzt kommt der Vers 13. Jetzt kommt eine Wertung und die heißt, dort verschleuderte er sein Erbe in einem zügellosen Leben. Das ist seine Sünde, nicht der Weckern.

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Also das ist fromme Herrschaft über die Bibel. Man legt sich dann die Bibel doch so zurecht, wie es der eigenen Mentalität entspricht. Und ich sage euch, gegen Mentalität helfen Argumente offenbar sehr wenig. Bis du deine Mentalität änderst, oh, ich sag dir, da muss man hart arbeiten. Es gibt ja den Spruch, man komme mir nicht mit Argumenten. Ich habe schon meine Meinung. Jetzt sage ich euch aber ein ganz stichhaltiges Argument. Und ich sage euch, wenn euch dieses Argument nicht überzeugt, kann ich euch auch nicht helfen. Also ich sage euch jetzt ein Argument, das hat bis jetzt, soweit ich es grob einschätzen kann, alle Studierenden bis jetzt überzeugt.

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Die kommen dann zu mir her und sagen, Herr Zimmer, ich habe das noch nie gehört. Da sage ich, bin ja Ihnen schuld dran. Also ich sage euch, nach 23 Semestern PH auch Einführungsseminar für die Erstsemestrigen mache ich mir keine Illusionen mehr. Also das Argument lautet folgendermaßen. In der orientalischen Erzähltechnik spielt die Anrede eine ganz große Rolle. Der jüngere Sohn sagt zum Vater, Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht. Er sagt Vater. Jetzt Inessa, lies mal Vers 18. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen, Vater.

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Wieder eine Anrede. Also der verlorene Sohn, wo er ganz auf dem Hund ist, da sagt er, ich will mich aufmachen. Das ist eine geplante Rede, die er sich zurechtlegt. Und selbst in dieser fiktionalen Rede, wo ihn ja der Vater nur gar nicht hören kann, nimmt er sich vor zu sagen, Vater, ich habe gesündigt und verdirbt. Lies mal den Vers 21. Der Sohn aber sagte zu ihm, Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Er hat ja in der Fremde sich als Sprüche zurechtgelegt, was er in dem kritischen Augenblick, wo sein Vater zum ersten Mal seit Jahren wieder sieht, überlegt er sich ziemlich genau, was er sagen will. Er will sagen, Vater, ich habe gesündigt vor dem Himmel und vor dir. Dann ist doch der Vater nicht Gott. Das Gleichnis unterscheidet ja zwischen Gott und seinem Vater.

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Ich habe gesündigt vor dem Himmel. Das ist Gott und vor dir. Also er setzt das, was er sich vorgenommen hat, auch in die Tat um und verwendet wieder eine Anrede, Vater. Jetzt aber kommt Vers 29. Das ist die Rede des älteren Sohnes. Er aber entgegnete seinem Vater, all die Jahre diene ich dir nun. Keine Anrede. Er entgegnete dem Vater, alle diese Jahre diene ich dir nun. Und du hast mir nicht auch nur mal einen Ziegenbock geschenkt, dass ich mit meinen Freunden ein Fest feiern könnte. Zu dieser schweren Anklage. So ungerecht bist du, so unmoralisch. Du bist gegen die 1000 Jahre bewährte Hausordnung. Das macht man nicht. Das, was der Vater macht, das macht man nicht.

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Aber der Vater schert sich nicht drum. Also der ältere Sohn bringt keine Anrede. Jetzt antwortet der Vater auf diese deftige Anklage des älteren Sohnes. Der ist wirklich in Fahrt. Jetzt Antwort des Vaters. Der Vater aber sagte zu ihm, Kind. Anrede. Der Vater verwendet wieder eine Anrede. Der Vater sagt, Kind, du bist doch die ganze Zeit bei mir. Und dann sagt der Vater, alles, was mein ist, ist auch dein. Wow. Er ärgert den Sohn nicht. Er demütigt ihn nicht. Er erhöht ihn. Der Vater denkt höher vom älteren Sohn als der ältere Sohn selber. Gott demütigt seine Feinde nicht. Er erhöht sie.

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Also auf jeden Fall ganz kleiner Ausflug, ein bisschen genauer. Fünfmal in diesem einen Gleichnis ist eine Situation mit Anrede vorhanden. Es geht in diesem Gleichnis fünfmal um eine Anrede, viermal mit Anrede, einmal ohne Anrede und jedes Mal sehr genau überlegt. Also wenn der jüngere Sohn sagt, Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht, dann ist das nicht frech und rebellisch, sondern ist eine Bitte, ist eine höfliche Bitte und eine angemessene Bitte. Denn er sagt ja, Vater, es wird alles schlampig übergangen. Wenn man schon die Bibel liest, ist ja gut, ist ja gut. Dann sollte man sie aber auch sorgfältig lesen.

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Das wäre nicht schlecht. Gut, also es gibt aber noch weitere Gründe, die ich euch einfach sage, damit ihr sie einmal hört, in der Hoffnung, die vergesst ihr nie wieder. Diese Gründe haben sachlich enormes Gewicht. Sie sind keine Erfüllungs-Exegese, um jemandem nach dem Mund zu reden. Gar nicht. Man muss wissen, dass damals in Palästina viel mehr Juden außerhalb von Palästina gewohnt haben wie innerhalb. Nach heutigen Schätzungen wohnten zur Zeit Jesu in Palästina eine halbe Million bis eine Million Juden. Außerhalb von Palästina wohnten vier bis fünf Millionen Juden. Es wohnten also viel mehr, ein Mehrfaches an Juden außerhalb als innerhalb von Palästina.

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Und niemand verlässt seine Heimat einfach so, aus Jux und Tollerei. Niemand verlässt seine Heimat freiwillig. Dann muss man auch sagen, viele sagen, der will seinen Vater, dass er das Erbe auszahlt, obwohl er ja noch gar nicht tot ist. Das ist eine Unverschämtheit. Nein, überhaupt nicht. Diese Bitte ist völlig normal. Sie ist völlig üblich damals. Und der Vater weiß das auch. Und die Hörer dieses Gleichnisses. Wir müssen uns immer wieder mal in die Rolle der damaligen Hörer versetzen. Es gibt eine von mehreren Auslegungsregeln. Und wenn ihr die missachtet, kann eigentlich nur Scheiße rauskommen. Also, und die Regel heißt, stellt ihr immer wieder ernsthaft die Frage, wie hat dieser Text auf seine ersten Leser gewirkt, für die er ja ursprünglich geschrieben war.

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Das Gleichnisses ist ja nicht für euch geschrieben. Es hatte Leser. Und diese Leser, wie werden die, wenn die hören, erzog in die Fremde. Das wissen die, das sind Hunderttausende von jüngeren Söhnen in die Fremde gezogen. Und zwar gerade die Wagemutigeren, die Ängstlicheren nicht. Da werden die ersten Hörer gedacht haben, naja, ist okay, der will seine eigene Existenz aufbauen. Die Ablösung der Generationen muss doch kommen. Sie ist gesund. Ja, also er will, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht. Und der Vater zahlt das Erbe beiden aus.

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Hier geht es aber gar nicht um ein Testament. Es geht in diesem Beispiel überhaupt nicht um eine Testament Vollstreckung. Völlig falsch. Ein Testament kann man tatsächlich erst vollstrecken, wenn der, der das Testament geschrieben hat, gestorben ist. Das ist das Wesen eines Testaments. Es geht nicht anders. Aber hier geht es gar nicht um ein Testament, sondern gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht. Es gibt im antiken Judentum ein antikes Erbrecht. Das müssen wir an der Stelle schon kennen. Ohne dass wir es kennen, was willst du dann öffentlich zu diesem Gleichnis sagen? Macht doch das Gleichnis Jesu nicht kaputt. Macht es doch bitte nicht kaputt.

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Das heißt, gib mir den Teil des Vermögens. Und es gibt ein Gesetz im antiken Judentum, das lautet die Weitergabe von Vermögen innerhalb einer Familie. Gibt es ein ganzes Gesetz drüber? Das sollte man mal lesen, bevor man öffentlich die Bibel interpretiert. Der christliche Glaube ist immer kindlich und er wird immer kindlich bleiben. Und Kinder werden den christlichen Glauben wohl oft tiefer und besser verstehen als Erwachsene. Ich bringe nachher gleich mal ein paar Beispiele, dass euch die Ohren schlackern. Kinder können den christlichen Glauben oft besser verstehen als Erwachsene. Wir können Kinder niemals überholen. Niemals. Wir können Kinder höchstens einholen. Das Höchste, was wir können, aber nicht überholen.

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Also der christliche Glaube ist immer kindlich. Aber ihr Lieben, jetzt müsst ihr unterscheiden lernen. Die öffentliche Interpretation der Bibel ist nicht kindlich. Da muss man kompetent sein, sonst macht man den Bibeltext kaputt. Also öffentliche Interpretation der Bibel ist nichts kindliches, sondern muss öffentlich verantwortet werden. Also die Bitte des jüngeren Sohnes war normal. Sie kam tausendfach vor. Die damaligen ersten Hörer werden sich da nicht gewundert haben. Sie werden das mit Verständnis angehört haben. Und dieser Abschied ist sehr bewusst frei gehalten von jeder Wertung. Dann bringt doch ihr nicht eure mentale Wertung in diese Lehrstelle rein.

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So weit mal die Introduction, die Einführung dieses Gleichnisses. Ein Mensch hatte zwei Söhne. So fängt dieses Gleichnis an. Ein Mensch. Wir erfahren keinen Namen, kein Alter, keinen Beruf. Wir erfahren über dieses Drei-Personen-Stück. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist ein Drei-Personen-Stück. Und das wird gleich im ersten Satz, kurzer Satz, fünf Wörter, kein Nebensatz, kein Passiv, kein Adjektiv. Ein Vater hatte zwei Söhne. Keine Namen. Denn welche Namen ihr auch immer geben werdet, die bringen sofort etwas sehr regionales, kulturspezifisches. Stellt euch mal vor, die beiden Söhne heißen Wladimir und Gregorjev.

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Also es stellt euch mal vor, sie heißen Billy und Jimmy. Es stellt euch mal vor, ein Billy und ein Jimmy lesen dieses Gleichnis und sie hören, die beiden Söhne heißen Wladimir und Gregorjev. Da haben die ja wahnsinnige Fremdheitsgefühle. Also dieser Text ist nicht eine regionale Geschichte. Es steht auch nie, das Bauernhaus war nördlich vom See Genezareth. Es steht in diesem Text nichts Regionales, keine Namen, weil die sind alle regional. Schaut euch mal vor, sie heißen Sepp und Xaver. Das hält sich ja im Kopf nicht aus. Gut, also dieses Gleichnis ist keine Regionalgeschichte. Es ist eine Menschheitsgeschichte. Jesus will mit diesem Gleichnis alle Menschen erreichen.

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Dieses Gleichnis gehört nicht dem Judentum und nicht dem Christentum. Es gehört der Menschheit. Es ist eine Menschheitserzählung. Gut, jetzt gehen wir mal im ICE-Tempo durch dieses Gleichnis durch. Ich möchte unbedingt fertig werden und dabei auch den älteren Sohn wenigstens kurz ins Spiel bringen. Denn dieses Gleichnis erreicht seine eigentliche Tiefe erst als der ältere Sohn die Bühne betritt. Dann erreicht dieses Gleichnis erst seine Tiefe. In der Auslegungsgeschichte hat man sich eigentlich immer jahrhundertelang, das ändert sich jetzt erst durch die moderne Bibelwissenschaft, die bringt neue Gedanken rein. Sauerstoff und gestattet das freie Denken.

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Halleluja. Erst jetzt anerkennt man, dass der ältere Sohn enorm wichtig ist. Man hat auch lange Zeit den älteren Sohn klein niedergebütelt als irgendwie stolz und rebellisch. Man würdigt ihn erst seit kurzem. Kommen die ersten Stimmen, die sagen, das was der ältere Sohn sagt, auch dem Vater sagt, ohne Anrede, ist durchaus plausibel. Dann wird die Auslegung tiefer. Ihr müsst euch also, wenn ich euch einen taktischen Rat geben kann, stellt euch ehrlich, wenn er einen Bibeltext liest. Stellt euch ehrlich auf die Seite der Gegner Jesu. Der Gegner Jesu. Ehrlich, wenn ihr es könnt. Wenn ihr das könnt, ich ziehe im Religionsunterricht eine Kippa an, jüdisches Gebetskäppchen und sage, ich bin der Pharisäer Johannan und das da ist meine Tochter und mein Sohn.

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Stellt euch mal vor, ihr werdet der Sohn eines jüdischen Rabbi, der seinen Papa liebt. Dann hört ihr Jesus auch mal ein bisschen skeptischer. Wenn ihr von Anfang an auf die Seite Jesu treten, ja, der tolle Jesus hat ja sowieso immer recht. Das hört ja banal. Dass Jesus Recht hat, das wissen wir sowieso schon. Aber erst, wenn ihr auf die Seite seiner Gegner treten, dann hört ihr die Worte gegen euch. Und dann wird's interessant. Daran hängt eben eine schablonenhafte, langweilige Bibelauslegung, wo man immer schon nach drei Minuten weiß, was rauskommt. Und eine Bibelauslegung, wo die Grundlagen der Gesellschaft ins Rutschen kommen.

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Also der Sohn geht jetzt in die Fremde. Und jetzt überlegen wir mal die Erzähltechnik Jesu. Ich will Jesus nicht verpsychologisieren, was er vielleicht für Komplexe oder für Sehnsüchte hatte. Pappala Papp, das weiß kein Mensch. Aber seine Erzähltechnik, die interessiert mich schon, weil von der ergeben sich viele Rückflüsse, die nicht einfach verpsychologisiert sind. Die haben echten Anal. Jetzt, Ines, lies mal von Pfeers 13b, also die Einleitung ist 13a zu Ende. Nur wenige Tage später machte er alles zu Geld und zog in ein weit entferntes Land. Ende der Einleitung. Jetzt kommt der erste Erzählbaustein.

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Wie geht's dem in der Fremde? Lies mal 14 und 15. Dort lebte er in Saus und Braus und verschleuderte sein Vermögen. Als er aber alles aufgebraucht hatte, kam eine schwere Hungersnot über Jenes Land und er geriet in Not. In seiner Not hängte er sich an einen Bürger jenes Landes, der schickte ihn auf seine Felder, die Schweine zu hüten. Und er wäre zufrieden gewesen, sich den Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Schweine fraßen. Doch niemand gab ihm davon. Da ging er in sich und sagte, wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot in Hülle und Fülle. Ich aber komme hier vor Hunger um. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen.

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Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Stelle mich ein wie einen deiner Tagelöhner. Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Jetzt werten wir mal die Erzählweise dieses Meisters des Erzählens. Jesus war ein Meister der Sprache. Wie erzählt er? Er braucht nur vier Verse, das ist nicht viel, um den Niedergang eines Menschen zu schildern. In vier Sätzen ist er völlig auf dem Hund. Aber diese vier Sätze zeigen viel über die Qualität dessen, der diese Sätze erzählt. Für die Schuld des jüngeren Sohnes verwendet Jesus nur einen Satz für seine Schuld.

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Dort lebte er in Saus und Braus. Das ist eine sehr freie Übersetzung, ist nicht falsch. Wenn man sie wörtlich übersetzt, heißt es, dort verschleuderte er, verprasste er das Erbe in einem zügellosen Leben. Das ist seine Schuld, nicht sein Weggang. Hier wird er knallhart bewertet, ohne rumgeeiert, klare Kante. Das ist seine Schuld. Aber dazu braucht Jesus nur einen kurzen Satz. Jesus labert nicht, keine Gardinen predigt. Aber für seine Not braucht Jesus vier Sätze. Als er alles verbraucht hatte, jetzt hat er auch noch Pech, kam eine gewaltige Hungersnot.

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Das übersetzen manche die Hungersnöte in der Antike. Ich sage euch, die waren wirklich gefährlich. Große Regionen ohne Essen. Der ist wirklich in Todesgefahr. Als er alles aufgebraucht hatte, da kam eine gewaltige Hungersnot. Dafür kann er nichts. In dieser kurzen, dichten Erzählweise gibt Jesus zu erkennen, es gibt Faktoren, für die wir Verantwortung tragen und es gibt Faktoren aus den großen gesamtgesellschaftlichen Abläufen, für die wir nichts dafür können. Und beides spielt ineinander. Das gefällt mir unheimlich, dass Jesus, obwohl er so sparsam spricht, beides im Blick hat. Und er hängte sich in seiner Not an einen Bürger jenes Landes, der schickte ihn auf die Felder zum Schweinehüten.

54:00
Dort begehrte er sein Gedärm, etwa die Sprache au derb, Schluss mit vornehm, bittere Armut. Dort begehrte er sein Gedärm vollzuschlagen mit Johannisbrotschot. Das ist das Mastvieh. Also der Bürger jenes Landes war ein Hungerkatastrophengewindler, wie es ja auch Kriegsgewindler gibt, die am Krieg am meisten verdienen. Denn in einer gewaltigen Hungerslob sind seine Schweine besonders viel wert. Er verdient dort besonders viel. Also der schickt ihn zu den Schweinen. Mit einem Ausländer kann man das ja machen. Das ist jetzt allerdings ein schwerer moralischer Fehler, denn jeder Zuhörer damals, dass er in die Fremde ging, ja, okay, dass es dort auch schiefgehen kann, das wissen die ersten

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Hörer auch. 50 Prozent derer, die als Abenteurer in die levante östliches Mittelmeergebiet ausgewandert sind, 50 Prozent haben Geld gemacht, 50 Prozent sind bankrott gegangen. Das ist ein großes Risiko. Das verstehen die Hörer. Aber jetzt, dass er sich in der Not an einen Bürger jenes Landes hängt, das darf er nicht. Weil damit verleugnet er sein Jude sein. Was hätte er tun müssen? Ja, er hätte in die nächste Synagoge laufen müssen. Es gibt in fast jeder größeren Stadt im Mittelmeergebiet, gibt es eine jüdische Gemeinde. Und wenn die 100 Kilometer entfernt ist, das macht doch nichts. In der Antike ist man gewohnt zu Fuß zu gehen. Ihr müsst mal im heutigen Orient zwischen zwei Städten mit Auto fahren, dann seht ihr hunderte von Männern am Straßenrand, wie die zu Fuß von einer Stadt in die andere gehen.

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Also, ja, 100 Kilometer. In der Antike wandert man an einem Tag 30 Kilometer, das ist normal. Dann ist er doch in zehn Tagen in der Synagoge. Wo ist denn das Problem? Also, er hätte in die nächste Synagoge laufen müssen. Dort gibt es Fürsorge, Netze, die solche Gestrandeten auffangen. Da gibt es koscheres Essen. Da kann man den Schabbat feiern, Speisegebote. Also, er verleugnet sein Jude sein. Er verrät sein Jude sein. Aber das sagt Jesus nicht. Der Erzählstil von Jesus ist vornehm. Auch dort vergeudete er sein Erbe durch ein liderliches Leben. Ja, Jesus, ihr möcht mal genau wissen, was hat er denn getan, der Liederliche?

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Könntest du mir das mal genau sagen, was der Liederliche für liederliche Sachen macht? Nein, kann Jesus nicht. Er bedient diese plumpen Bedürfnisse, bedient er nicht. Jesus sagt auch nicht, da verleugnete er sein Judetum. Ist ja jedem klar. Er sagt nur, er hängt in seiner Not, hängt er sich an Sucht nach Arbeit, findet nichts. Für Ausländer gibt es da keine attraktiven Arbeitsmöglichkeiten. Das reicht doch. Der Erzählstil von Jesus ist meisterhaft knapp. Und er ist durchaus vornehm. Er warnt eine gewisse Diskretion. Jesus bleibt diskret. Und dann bei den Schweinen, da wäre am Nipsen ein Schwein gewesen sozusagen. Er beneidet die Schweine, weil die kriegen wenigstens Mastvieh. Die Schoten eines Johannesbrotbaumes habe ich auch schon reingepissen.

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Also die Schoten, wer Schwabe ist, dem kann ich das erklären. Die Schoten eines Johannesbrotbaumes sehen so aus wie ein Landjäger. Schwaben unter euch, kennt ihr Landjäger? Die sehen genau gleich aus, so lange harte Würste. Ihr habt schon reingepissen, die schmecken scheiss nicht. Einbissen und nie wieder. Aber er hätte es jetzt angenommen. Und mit diesem Beispiel ist pass pro toto, ist stellvertretend klar, jetzt ist der Mann am Ende. Und jetzt wo er am Ende ist, kommt er auf neue Gedanken. Also ob ihr in bitterer Armut lebt oder im Überfluss, das wird eure Weltanschauung und eure Mentalität ganz schön beeinflussen.

59:03
Kann ein Reicher einen Armen verstehen? Leben die überhaupt in der gleichen Welt? Man muss aber auch fragen, kann ein Armer einen Reichen verstehen? Leben die überhaupt in der gleichen Welt oder leben die nicht in völlig verschiedenen Welten? Jetzt ein frommer Christ würde sagen, jetzt bekehrt er sich. Jetzt kehrt er um zu seinem Vater. Jetzt will ich euch mal ein bisschen alternativ versuchen zu beschreiben, was versteht Jesus unter Bekehrung? Zieht euch gut an und setzt euch gut hin. Meint ihr, dass der jüngere Sohn aus Liebe zum Vater sich bekehrt? Gar nicht, gar nicht. Das ist gesunde Selbsterhaltung.

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Der jüngere Sohn sagt ja noch, es kommt die Erinnerung an seinen Vater. Es ist auch nicht sein freier Wille, wem hier die Erinnerung an diesen Vater nicht kommt. Ja, was will der machen? Die einzige Perspektive, die er jetzt hat, ist sein Vater. Er legt jetzt sein Leben in die Hand seines Vaters, obwohl er nicht wissen kann, wie der ihn empfängt. Das kann er wirklich nicht vorhersehen. Aber er weiß, sein Vater ist ein hoch anständiger Mann. Der hat viele Tagelöhner und die haben alle genug zu essen. Tagelöhner geht es in der Antike schlechter als Sklaven, zumindest die Haussklaven. Die Haussklaven gehören zum Haus, zum Eukos. Und die muss man verpflegen, dass die gesund bleiben und auch arbeiten können den ganzen Tag. Die müssen sich ja amortisieren.

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Also Haussklaven, für die muss man schon ein bisschen sorgen. Aus eigenem Interesse natürlich. Aber Tagelöhner, die gehen abends heim. Und die muss man ja am nächsten Tag gar nicht die gleichen wieder rufen. Wenn Tagelöhner nichts zu essen haben, die strafen sich nur selber. Das macht mir nichts. Cato, einer der großen Ökonomen in der Antike, sagt, wenn ihr Tagelöhner beschäftigt, wechselt sie jeden Tag aus, sonst werden die anhänglich. Jeden Tag ganz neue, ganz fremde. Da habt ihr nicht so viele Rücksichtsgefühle. Also Tagelöhner haben überhaupt keine Rechte. Was will denn ein Tagelöhner protestieren, wenn er am nächsten Tag wieder gerufen werden will? Da protestiert keiner. Gut, also mein Vater. Wie viele Tagelöhner hat mein Vater?

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Das ist jetzt eine echte Erinnerung, nicht eine Einbildung. Der erkennt ja seinen Vater aus jahrelanger Erfahrung. Es gibt auch wieder so, entschuldigt, dass ich das so sage, in konservativen Kreisen gibt es eine ganz oberflächliche, seichte Sehweise. Die geht ungefähr so, es gibt Ja-Sager zu Gott und es gibt Nein-Sager zu Gott. Und das kann jeder Mensch entscheiden. Ich bin natürlich ein Ja-Sager. Und der da drüben, das ist ein Nein-Sager. Als ob das so einfach wäre. Du kannst zu Gott ja oder nein sagen. Ich will mal nur eine Frage stellen gegen diese unglaublich schwarz-weiß-Nahme. Wie will denn ein Atheist zu Gott nein sagen? Das geht doch gar nicht. Er kennt ihn doch gar nicht. Du kannst doch zu niemandem Nein sagen, den du nicht kennst.

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Zu dem kannst du weder Ja noch Nein sagen. Wenn jemand sich überlegt, soll der Bundespräsident noch mal gewählt werden, ja, das können die Bundestagsabgeordneten wirklich entscheiden. Sie haben ja die ersten fünf Jahre Bundespräsident erlebt. Und jetzt kann man sagen, es sollen ja noch mal fünf Jahre. Das heißt, um in ein einigermaßen gediegenes, reales Verhältnis zu Gott zu kommen, musst du einen Eindruck von ihm haben. Sonst kannst du weder Ja noch Nein sagen. Der hatte einen Eindruck. Mein Vater ist ein sehr anständiger, sensibler, gütiger Mensch, bei dem auch die Tagelöhner alle genug zu essen haben. Mehr brauchst du nicht wissen. Das sagt über diesen Vater mehr als tausend andere Redensarten.

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Und dann sagt er, ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen. Aber das Hauptmotiv, würde ich jetzt mal vermuten, ist ein gesunder Selbsterhaltungstrieb. Denn dieser jüngere Sohn sagt, bei meinem Vater haben sie Tagelöhner besser als ich hier. Ich gehe hier vor Hunger kaputt und die Tagelöhner bei meinem Vater drin, dann geht's gut. Ich wäre ja schön blöd, wenn ich hier bleiben würde und kaputtgehen. Da gehe ich lieber zu meinem Vater. Der wird mich nicht gerade vom Hof jagen. Natürlich Sohnesrechte habe ich nicht mehr, bin ja abgefunden. Aber zu einem Tagelöhner wird mich mein Vater schon machen. Und jetzt zieht es diesen jüngeren Sohn ein. Jesus sagt mal, niemand kann zu mir kommen, es sei denn, der Vater ziehe ihn.

65:00
Ziehe ihn. Ja, der wird gezogen. Der Vater zieht ihn. Bei dem hat ein Tagelöhner mehr, wie ich hier. Ich gehe hier vor Hunger kaputt. Also da wäre ich schön blöd. Das mache ich nicht. Ich will nicht kaputtgehen. Lieber gehe ich zu meinem Vater, als kaputtgehen. Das ist nicht unbedingt Liebe zum Vater, aber er hat eine gute Meinung vom Vater. Das ist wichtig. Ohne die Erinnerung wäre hier gar nichts. Das heißt, es ist nicht der freie Wille. Es ist nicht der freie Wille. Es ist die Kraft der Erinnerung, die ihn überkommt. Und jetzt, ihr Lieben, jetzt geht's los. Alles bis jetzt war nur Vorspann. Aber jetzt, jetzt kann man sagen, das Unerwartete beginnt. Stellt euch das Nichtvorstellbare vor.

66:01
Die Gleichnisse Jesu wollen euch animieren. Stellt euch das Unvorstellbare, stellt es euch vor. Werdet flexibel, überwindet diese alte Welt zu Gunsten einer Humanerin. Tragt den Impuls zur Veränderung weiter. Also er geht heim, es kommt wieder Zeitraffer. Bis jetzt hat Jesu sehr stark im Zeitraffer erzählt. Er hält sich da nicht bei jeder Kleinigkeit auf. Auch diese Schuldzuweisung, er vergeudete alles in einem liderlichen Leben. Keine Einzelheit. Keine Striptease-Atmosphäre. Keine Türschloss-Guckloch-Luft. Nichts da. Vornehmend diskret. Einzelheiten brauchen euch nicht zu interessieren. Die gehen euch nichts an. Also so kommt er heim. Und jetzt, ihr Lieben, kommt der Brandbeschleuniger.

67:07
Jetzt nähern wir uns dem Herzschlag dieses Gleichnisses, dieser Kurzgeschichte. Jetzt geht's los. Der erste Satz, nur der erste Satz. Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Ja. Jetzt kommt ein Perspektivenwechsel. Als sehr bewusst erzähltechnisch. Bis jetzt ging die Kamera praktisch neben dem jüngeren Sohn mit ihm mit in die Fremde. Die Kamera ging neben dem jüngeren Sohn her und filmt alles aus dem Perspektive, was man von außen beobachten kann. Er hängt sich an den Bürger des Landes und so weiter. Und dann aber vers 21 Selbstgespräch. Jetzt kommt Innenperspektive. Ein Selbstgespräch.

68:01
Jesus macht in allen 40 Gleichnissen dreimal ein Selbstgespräch. Jedes Mal zähgegrund, muss ich euch sagen. Selbstgespräch ist ein ganz besonderes Stilmittel. Ihr kommt nie näher an einen Menschen heran, als wenn ihr sein Selbstgespräch hört. Da kommt ihr näher an den Menschen ran wie im Geschlechtsverkehr. Denn beim Selbstgespräch kommt ihr in sein Gehirn. Da kommt ihr in sein Bewusstsein. Wir hören jetzt das Selbstgespräch kameratechnisch Innenperspektive. Und warum ist ein Selbstgespräch etwas ganz Besonderes? Im Selbstgespräch ist der Mensch weder höflich noch diplomatisch. Oder überlegt mal, seid ihr in euren Selbstgesprächen höflich, diplomatisch?

69:06
In euren Selbstgesprächen? Nein. In einem Selbstgespräch ist der Mensch ganz er selbst. Und dieses Selbstgespräch zeigt ja vieles über den Erzähler. Ich kann gar nicht alles sagen. Er sagt ja, ich komme hier vor Hunger um. Da gehe ich lieber zu meinem Vater. Und jetzt versucht er eine Rede, sich zu überlegen. Vater, ich habe gesündigt vor dem Himmel und vor dir. Dass er Todesangst vor lauter Hunger hat, das sagt er in seiner Rede nicht. Das wird schlecht. Weil er schon so taktisch ist. Mein Papa will ein Schuldbekenntnis hören. Mein Papa kann ja nicht sagen, du, ich war in Todesnot und bin doch lieber zu dir gekommen.

70:02
Das ist ja keine gute Sache. Aber wenn ich sage, ich habe gesündigt vor dem Himmel und vor dir, ich bin es nicht mehr wert. Also der jüngere Sohn in seinem gesunden Selbsterhaltungstrieb ist noch in seiner Bekehrung taktisch. So sind wir und der liebe Gott weiss das auch. Das ist auch in Ordnung so. Ich glaube nicht, dass jemals ein Mensch aus Liebe zu Gott sich begehrt hat. Das glaube ich gar nicht. Und ich glaube, dass Gott das auch gar nicht braucht. Das ist so realistisch, das Selbstgespräch dieses jüngeren Sohnes. Da kriegst du mit, was der Mensch für ein Gebilde ist. Also er macht sich auf, geht zu seinem Vater. Und jetzt der erste Schritt. Jetzt kommt Kamerawechsel zum ersten Mal. Die Kamera ist jetzt wieder auf dem Bauernhof und alles wird vom Vater aus gesehen.

71:01
Wir üben hier den Perspektivenwechsel. Wir üben hier den Rollentausch. Und damit trainiert dieses Gleichnis unser Einfühlungsvermögen. Und das ist mit das Wichtigste, was es gibt. Also Perspektivenwechsel auf den Vater. Jetzt erster Satz. Er war noch weit weg. Da sah ihn sein Vater schon. Schluss, Schluss, Schluss. Jetzt Leute, der erste Satz im Unerwarteten. Er war noch weit entfernt. Da sah ihn sein Vater. Mehr sagt dieser Erzähler nicht. Das musst du dir selber denken. Was kann man sich da denken? Ich hab mal in der vierten Klasse im Religionsunterricht das Gleichnis erzählt. Ich erzähl immer nur die erste Hälfte in der Grundschule.

72:01
Nicht den älteren Sohn, das verkraften die Grundschüler nicht, das Hick-Hack zwischen diesen beiden. Ich erzähl nur die erste Hälfte, dass die Grundschüler baden können in der Liebe des Vaters. Da baden die drin. Also ich sag den Vierten Klasse, malt mal jetzt das, was in eurem Herzen die größte Freude ausgelöst hat. Wodurch kam die größte Freude in euch zustande? Das malt mal jetzt. Dann malt eine Viertklässerin einen älteren Mann auf dem Dach. Sie hat schon gelernt, die Dächer waren waagrecht im Orient. Wie er durch ein Fernrohr guckt. So hat sich die Kleine das vorgestellt. Sie hat es wahrscheinlich tiefer mitempfunden als viele Erwachsene. Er guckt durchs Fernrohr. Ja, Fernrohr, glaube ich, eher nicht, dass er eins hatte.

73:03
Aber wir können schon annehmen, dass er öfters in der Abendzeit mit seinen Augen den Horizont abgesucht hat. Und deswegen entdeckt er ihn auch sofort. Der war ja noch am Horizont. Es hätte ja auch sein können, der jüngere Sohn kommt heim, klappert am Gartentürle, die Eltern sitzen beim Abendessen, der Vater guckt raus und sagt, oh, der jüngere Sohn ist da. Da klappert nichts am Gartentürle. Der war am Horizont. Und jetzt kommt der Brandbeschleuniger. Bitte, nächster Satz. Da sah ihn sein Vater schon, und er wurde vom Erbarmen erfasst. Und er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Also der Vater fühlte nicht Erbarmen.

74:02
Ich fühle das und das. Sondern er wurde von Erbarmen gepackt, geschüttelt. Und dann eilt er ihm entgegen, er rennt. Das ist eine neue Welt. Darf ich euch sagen, ich muss hier ein bisschen stehen bleiben. Ein älterer orientalischer Mensch rennt nie, nie. Der hat ja gar keine Hosen. Der hat Gewänder, der hat lange Gewänder, die vornehmen. Die Würgenträger haben längere Gewänder. Die muss er mit seinen Händen hochhalten, dass er nicht drüber stolpert. Dann zeigt er seine behaarten Waden. Sind auch nicht gerade das Schönste, was man sich denken kann. Also das ist auch unziemlich. Man zeigt als älterer Herr nicht seine behaarten Stoppel an den Waden. Aber dieser Mann, der rennt.

75:03
Ja, was kommt da alles ins Rutschen? Da kommt so viel ins Rutschen. Wenn du ein Würdenträger bist, wenn du ein gesellschaftlicher Würdenträger bist, dann gehörst du zu den Menschen, die niemals rennen. Unterschichtsleute rennen, aber Oberschichtsleute nicht. Würdenträger ab einem gewissen Alter. Ich habe meinen Papa niemals im Leben rennen sehen. Nie. Ich war oft im Orient, in Marokko, Marrakesch, Rabat usw. Und die großen Würdenträger, die muslimischen Kollegen von mir, meinten, dass der eine, er sterbe fast. Weil rennen heißt würdelos. Du verlierst deine Würde. Du kannst schon gar nicht mehr souverän atmen.

76:00
Du schnaufst ja und kreuschst. Du kannst doch als Würdenträger nicht schnaufen. Völlig ausgeschlossen. Zur Würde gehört es, dass du angemessen schreitest. Also was der Vater hier macht, ist eine andere Welt. Die Liebe bricht sich hier Bahn. Das Gleichnis ist ein Aufbrecher uralter Verkrustungen. Die Liebe bricht sich Bahn. Dieses Gleichnis ist ein Brandbeschleuniger. Stell dir mal vor, das macht Schule. Stell dir mal vor, jeder zweite Würdenträger würde aus Liebe auch bereit sein zu rennen. Das hält schon im Kopf nicht aus, was ich da erinnere. Da ist ja die ganze Aura weg. Der macht sich ja lächerlich. Das ist nicht zum Lachen. Der darf das nicht. Er erniedrigt sich.

77:00
Wie kommt denn dieser junge Erzähler, 30 Jahre alt, aufgewachsen in einem Kuhnest? Nazareth ist ein Kuhnest. 500 Einwohner. Keine Stadtmauer, keine Straße. Zur Nazareth führt gar keine Straße. Wenn du nach Nazareth willst, musst du hier einlaufen. Der kommt aus Nazareth. Seine ganze Kindheit in diesen festgelegten Normen. Wie kommt denn dieser junge Mann da drauf? Also er und jetzt auch sprachlich, dreimal Kai und und und, nur hier. Er eilt ihm entgegen und fällt ihm an das Haus und küsst ihn. Alles hintereinander. Und der jüngere Sohn, der antwortet tatsächlich das, was er sich vorgenommen hat. Er könnte ja sagen, oh, der Alte ist gut drauf.

78:01
Da brauch ich mal ein Sprüchle gar nicht sagen. Nein, das macht er auch nicht. Er spricht sich die Verantwortung zu. Ohne dass du dir die Verantwortung zusprichst, wird es nicht gehen. Ja, und dann die Knechte. Wo kommen denn die her? Hat es genau gerannt. Der eine Knecht ruft dem anderen zu. Du, der Alte rennt. Da muss was passiert sein. Komm wir rennen gleich mit. Jetzt sind sie da, also auch da in der Öffentlichkeit. Und in aller Öffentlichkeit stellt sich jetzt der Vater zu diesem Sohn. Das hat vielleicht auch manchen Knecht geärgert. Aber der Vater entschuldigt sich nicht. Er rechtfertigt sich nicht. Sondern er sagt, auf das beste Kleid her. Das heißt in der Bräschung auf, zack, das beste Kleid her. Ist richtig aufgeregt.

79:00
Er kriegt sofort eine neue Würde. Ein gutes Kleid verändert ja total. Dann gibt ihn einen Ring, den Ring, den Ring an die Hand. Ist ein Siegelring. Da ist das Wort der Familie drauf. Damit kann er jetzt Verträge untersiegeln. Er kann im Namen der Familie Verträge untersiegeln. Ist eine wahnsinnige Wiederherstellung. Schuhe an seine Füße. Der kam also barfuß. Noch heute, wenn du im Orient in Gefangenschaft gerätst, nimmt man dir als erstes deine Schuhe weg. Weil ich sagte, abhauen macht barfuß nicht richtig Spaß. Abhauen tust du nur, wenn du Schuhe hast. Deswegen, man nimmt dem Gefangenen die Schuhe weg. Er kam barfuß. Jetzt hat er wieder Schuhe. Stand fest. Und schlachtet das Mast.

80:02
Denn, Begründung, man muss doch feiern und sich freuen. Denn dieser, mein Sohn, war tot. Für mich war er wie tot. Das heißt nicht, dass er inoffiziell für tot erklärt hat. Natürlich nicht. Aber er hat vielleicht wirklich mit seinem Tod gerechnet. Vielleicht hat er Nachricht bekommen von der gewaltigen Hunnersnot. Er hat vielleicht nicht mehr gedacht, dass er lebt. Und jetzt sieht er ihn. Dieser Vater ist besoffen vor Freude. Er ist besoffen vor Freude. Und die Hausethik, die Moral des Hauses, die jahrtausende alte bewährte Grundordnung des Lebens, ist ihm egal. Er schlachtet das Mast. Wir wollen feiern und fröhlich sein.

81:02
Also, ihr Lieben, so weit mal für heute. Lasst uns feiern und fröhlich sein. Denn der Glaube an Gott ist wie tot. Er ist uns verloren gegangen. Aber durch dieses Gleichnis kommt er wieder. Und die Sehnsucht danach, dass alles ein gutes Ziel hat, ist uns verloren gegangen. Aber durch dieses Gleichnis finden wir wieder die Spur dorthin. Wie die Kinder. Also, ihr Lieben, man muss doch feiern und fröhlich sein.

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Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) | 14.5.3

Worthaus 12 – Tübingen: 19. Mai 2024 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer

Dutzende Predigten über das Gleichnis haben wir schon gehört, was kann man da noch Neues lernen über die Geschichte vom verlorenen Sohn? Über die Geschichte vom suchenden Vater und dem anderen, dem zurückgebliebenen Sohn? Sehr viel, wenn man Siegfried Zimmer zuhört. Er dreht und wendet diese allzu bekannte Geschichte und schüttelt immer wieder neue Aha-Erlebnisse heraus: Für wen wird diese Geschichte erzählt? Warum ist sie unvollständig ohne den älteren Sohn, der beim Vater bleibt? Wollen wir Stubenhocker oder Abenteurer? Wir lernen, dass der jüngere Sohn nicht aus Liebe zurückkam, was seine wirkliche Sünde war und warum es so wichtig ist, Jesu Gleichnisse durch die Ohren seiner Gegner zu hören.