Wir sind jetzt bei einem dritten Abschnitt und zwar ist die Auslegung des Alten Testaments ja Bestandteil eines größeren Problems, nämlich wie soll man überhaupt Bibel verstehen. Ich habe das etwas provokativ formuliert auf der Suche nach dem Sinn. Im Thomas-Evangelium, einem apokryphen Evangelium heißt es, wer diesen Text versteht, der wird den Tod nicht schmecken. Also eine sehr große Verheißung für das Verstehen. Wer versteht, wird den Tod nicht schmecken. In einem bestimmten Sinne finde ich diesen Satz wahr. Das ist eine Verheißung, wer das biblische Zeugnis wirklich
versteht, der wird vielleicht sterben, aber er braucht den Tod nicht zu fürchten. Ich möchte das Problem des Verstehens erst einmal kurz allgemein skizzieren und dann an einem Beispiel exemplifizieren. Ich komme noch aus einer Pädagogik, wo Beispiele eine große Bedeutung haben. Man kann sich vieles, was theoretisch sehr abstrakt klingt, an einem Beispiel dann doch klein brechen und nachvollziehen. Das Beispiel wird sein der Auszug Israels aus Ägypten. Aber zunächst lassen Sie mich wieder so einen Pflug machen, wie Sie es genannt haben, über das Problem, was heißt Verstehen von Bibel. Die Wissenschaft, das hatte ich vorhin ja noch zum Schluss gesagt,
die das systematisch untersucht, heißt Hermeneutik. Hermeneutik ist die Kunst des Verstehens. Die Kunst zu verstehen setzt relativ viel voraus. Vielleicht denken Sie etwas naiv, verstehen ist doch nicht so schwer, ich kann doch verstehen, was mein Mann sagt, ich kann doch verstehen, was meine Kinder von mir wollen, aber seien Sie vorsichtig. Das, was sich schnell und häufig zuerst einstellt, ist das Missverstehen. Das Verstehen ist häufig gar nicht tief oder nicht wirklich umfassend, sondern Sie brauchen viele Informationen, um einen Satz zu verstehen. Ein Satz für sich ist sehr schnell missverständlich. Zum Beispiel Ironie erkennt man schwer. Wenn man sagt, mein Mann vergisst nie etwas, dann kann das sehr ironisch sein. Das heißt, der vergisst dauernd
Sachen. Der muss sich immer sagen, wo der Schlüssel liegt, wo der Kalender liegt. Das ist aus dem Satz allein gar nicht erkennbar. Sie brauchen den Kontext, um richtig zu verstehen. Es sind viele Subinformationen notwendig. Wer sagt etwas? In welcher Situation sagt er etwas? In welcher Stimmung sagt er etwas? Gibt es vielleicht sowas wie einen Geheimcode? Wenn Sie in einer Diktatur einen Witz erzählen, müssen Sie ihn anders erzählen, wenn Sie in einer Demokratie einen Witz erzählen. Gibt es da versteckte Pointen? Also um einen Satz wirklich zu verstehen, brauchen Sie sehr, sehr viele Informationen. Philosophisch gesehen ist das das Problem von dem Teil und dem
Ganzen. Um einen Satz wirklich zu verstehen, brauchen Sie eigentlich eine ziemlich komplette Verständnisgrundlage von der Welt. Zum Beispiel könnte es ja sein, dass ich Ausländer bin und ich spreche nur Deutsch und ich habe die Vokabel falsch gelernt. Also solche Informationen sind absolut notwendig. Die Geschichte der philosophischen Untersuchung, also der erkenntnistheoretischen, systematischen Untersuchung des Verstehens hat viele Theorieelemente. Erlauben Sie mir so ein paar, 15 Minuten vielleicht, eine Geschichte der Hermeneutik. Die Hermeneutik hat wie so vieles in der Philosophie ihre Ursprünge in Griechenland. Da gibt es einen Herrn namens Platon.
Platon hat im Phaidron ein Gleichnis erzählt, das nennt man das Höhlen-Gleichnis. Nach Platon ist unsere Erkenntnis dadurch limitiert, dass wir auf einen Stuhl gefesselt in einer tiefen Höhle sitzen und gegen eine Wand schauen. Hinter uns brennt Feuer und vor dem Feuer werden Gegenstände vorbeigetragen, die Schatten werfen. Das was wir auf der Wand sehen, sind nur die Schatten der Gegenstände. Wir sehen gar nicht die Gegenstände, sondern nur die gebrochenen Schatten von diesen Gegenständen. Also nach Platon ist das unsere Erkenntnissituation. Der Mensch kann nicht wirklich sehen, was Sache ist, sondern er hat nur schattenhafte Erkenntnis. Die Philosophie hat die Aufgabe uns zu befreien. Wir können uns von diesem Fesseln der sinnlichen Erkenntnis befreien. Wir können uns umdrehen und aus der Höhle hinaufsteigen. Und wenn wir das durch philosophische
Reflexion schaffen, dann können wir die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind. Das Sehen der Wirklichkeit ist eine große Anstrengung. Diese platonische Vorstellung, dass die wahre Wirklichkeit im Reich der Ideen verborgen ist und dass es große Anstrengungen bedarf, um sich diese Realität zu erschließen, ist für weite Teile der Hermeneutik maßgeblich. Wir können uns das Verstehen nicht von vornherein zumuten, sondern wir brauchen eine große Anstrengung, um die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Diese platonische Vorstellung hat in vielen Spielarten bis in die Gegenwart gewirkt. Insbesondere hat sie gewirkt bei der Deutung der homäerschen Mythen. Also Homer erzählt
die Ilias, er erzählt die Odyssee und da spielen die Götter ja eine große Rolle, wie Sie wissen. Nicht erst seit Brad Pitt und den Verfilmungen von Troja, sondern die Götter greifen in die Welt ein und die Götter und vor allem auch die Göttinnen haben bestimmte Interessen. Wir erfahren bei Homer von dem Charakter der Götter und der Göttinnen, wir erfahren, wie sie miteinander ringen und wie schließlich diese oder jene gewinnt oder verliert. Mit der platonischen Hermeneutik wird dann diese Bibel der Griechen, das war Homer, der war die Bibel der Griechen interpretiert. Mit Platon wird dann gesagt, ja die Götter sind eigentlich die Triebe der Menschen und die Triebe der Menschen, die ringen miteinander. Also wenn Helena ihr Auge geworfen hat auf diesen oder jenen Helden,
dann ist das eigentlich ein Symbol, sagen wir mal, für das Böse. Jetzt gibt es einen Kampf zwischen den Göttern, das ist ein Kampf zwischen Gut und Böse und wenn diese oder jene Gottheit siegt, dann ist es ein Zeichen dafür, dass das Gute siegt oder das Böse. Das ist eine symbolische Darstellung für uns Menschen, die wir miteinander im Kampf stehen mit unseren inneren Trieben und Neigungen und letztlich geht es darum, dass die Tugend gewinnt. Wenn Sie mit so einer Hermeneutik die Ilias lesen und die ganzen Kriegsgeschichten und Liebesgeschichten, dann gewinnen die plötzlich eine große Tiefe, aber dafür braucht man diesen hermeneutischen Blick. Diese Art Texte allegorisch zu lesen ist systematisch ausgebaut worden. Es gab dann regelrechte Schulungen für Homer
Interpreten und das hat aus der griechischen Welt auch in die biblische Welt rüber gestrahlt. Auch da hat man dann versucht die biblischen Geschichten als symbolische Verschlüsselungen von anderen Wahrheiten zu enträtseln. Also die platonische Philosophie und die symbolische Interpretation von Texten ganz große Strömung in der Hermeneutik. Die Gegenbewegung ist Aristoteles, ein Schüler des Platon. Er hat versucht, wie er das selbst sagte, wenn Sie mal in Rom die Schule von Athen bei Raphael sehen, dann ist der Aristoteles derjenige, der auf die Erde zeigt. Der Platon zeigt in den Himmel, Aristoteles zeigt auf die Erde. Da wo die Wirklichkeit ist, das ist in dieser Welt. Für Aristoteles war dieser ganze allegorische Interpretationszugang unakzeptabel. Er war vor
allem an Grammatik interessiert, an Sprachstrukturen, an Logik und Dialektik. Also man lernt, wenn man interpretiert eine Sprache genau und wenn man die Sprache gut kann, dann versteht man auch gut. Eine ganz nüchterne Betrachtung und aller Allegorie abholt. Aristoteles und Platon, die allegorische Auslegung und die wörtliche literarische Interpretation stehen seit 400 vor Christus in Athen im Streit. Das zieht sich durch eigentlich bis in die Gegenwart. Eine Grundstruktur in der Hermeneutiktheorie. Ein zweiter Bereich, der mir bei diesem Theorieblock wo wir jetzt sind, wichtig ist, ist die Frage der Bedeutung des Lesers. In der einen Schule der Hermeneutik sagt man, der
Leser ist eigentlich irrelevant. Das was wir wissen wollen, ist die Intention des Autors, die Intentio Autoris. Aber die andere Schule der Hermeneutik sagt, ja was wollte der Autor wissen, das wissen wir gar nicht. Wir wissen nur, wie es beim Leser ankommt. Eigentlich entscheidend ist der Rezipient, eine sogenannte Rezeptions-Hermeneutik. Diese Theorie vom entscheidenden Beitrag des Lesers, die ist insbesondere im 20. Jahrhundert stark gemacht worden. Ein Autor ist da der Haupttheoretiker, den Sie vielleicht aus ganz anderem Kontext kennen, nämlich Umberto Eco. Der hat ja Romane geschrieben, weltberühmte Romane, tolle Romane, der Name der Rose und dann hat er ein Büchlein hinterher geschoben, Nachschrift zum Namen der Rose. In dieser Reflexion sagt Umberto
Eco, er als Kriminalautor hätte so viele Dinge sich gedacht, als er das Buch geschrieben hat, aber als er dann die Interpretationen gelesen hat, die andere über sein Werk von sich gegeben haben, hat er gemerkt, daran habe ich nie gedacht. Das ist eine Interpretation, die nicht mir entspringt, sondern dem Leser. Und er hat das dann sehr theoretisch entwickelt in mehreren Schriften, Lektor in Fabula heißt zum Beispiel ein Buch, also der Leser in der Erzählung und er sagt, jeder Sinn, der generiert wird, ist Leistung des Lesers. Der Leser muss mitarbeiten. Wenn Sie als Lesende nicht eine Theorie entwickeln, wer ist der Täter, warum hat er das getan? Man wird ja da immer hin und her geschickt von dem Autor und jeder hat so seine Theorie, wer hat denn diese ganzen Morde auf dem Gewissen? Eco sagt, der Autor müsste sofort sterben, wenn er das Buch veröffentlicht hat.
Der stört nur. Ein Text ist eine Maschine zur Generation von Sinn. Texte generieren sehr viel mögliche Interpretationen und das ist sehr gut. Eco schreibt ein Loblied auf solche Texte, die viel Sinn generieren. Also ein Telefonbuch ist kein guter Text, denn so viele Sinne generiert das Telefonbuch nicht. Aber ein Krimi, der viele Deutungen erlaubt und der ganz unterschiedliche Sichtweisen eröffnet, das ist ein guter Text. Und in dem Sinne ist auch bei Eco die Bibel ein sehr guter Text, weil er viele Deutungen provoziert. Aber das ist die entscheidende Frage, welche Bedeutung hat der, der liest? Es gibt viele Hermeneutiker, die sagen, das ist die alles entscheidende Bedeutung. Ob eine Frau liest oder ob ein Mann liest, es ist verschieden. Männer
haben andere Perspektiven als Frauen. Am besten lesen wir Stereo. Ob ein armer Mensch liest, wenn ein Bauer in Südafrika, der mit dem Überleben ringt, die Predigt Jesu hört oder den Propheten Amos hört, dann versteht er den anders als ein ganz gut bezahlter Zephyr-Professor in Heidelberg. Das Verstehen hängt auch von den materiellen Voraussetzungen ab, von den Lebensumständen des jeweiligen den Lesenden. Das ist in der Theologie der Befreiung sehr stark betont oder eben in der feministischen Theologie, die sehr betont, dass das Geschlecht des Lesenden oder der Lesenden eine Rolle spielt. Das Verstehen hängt eben auch sehr davon ab, welche Bildung man mitbringt. Wenn jemand einen Text liest, der das Land kennt, der die Orte kennt, wo diese
Dinge spielen, der die Sprache kennt, das ist eben anders Verstehen als wenn jemand liest, der noch nie da war, der noch nie sich mit diesen Dingen beschäftigt hat. Also die Bildung des Lesenden ist eine ganz wichtige Rolle. Wir haben also, wenn man das den Pol betont, Leser und seine Welten eine Fülle von verschiedenen engagierten Hermeneutiken. In der ganzen hermeneutischen Debatte ist eine Sache meines Erachtens viel zu kurz gekommen und dafür bin ich, wie soll ich sagen, im Ring und versuche das auch immer wieder deutlich zu machen. Zum Verstehen gehört auch, dass man über die Wahrheit von Texten streitet. Worte sind geduldig, Papier ist geduldig, aber ist
das auch wahr, was da steht? Also die Frage nach der großen Bedeutung von Sachgehalt, also der Unterschied zwischen einem fiktionalen Roman und einem wirklich guten, lebensmäßigen Roman, der ist nicht so leicht auszumachen. Was ist Wahrheit? Was ist nun die Wirklichkeit, die einen Text erschließt oder nicht erschließt? Und das ist ja nun bei der Bibel sehr in der Diskussion. Die Bibel erzählt, Gott hat Israel aus Ägypten herausgeführt. Stimmt das? Oder Jesus ist von den Toten auferstanden, der Erste unter den Wiedergeborenen. Ist das auch wahr? Also nach meinem Verständnis gehört zum Verstehen unbedingt auch die Wahrheitsfrage. Sonst haben Sie vielleicht
alle möglichen Ideen, aber was nutzt es, wenn man die Wahrheitsfrage nicht mit reflektiert? Ich möchte diese theoretischen Überlegungen in ein Modell zusammenfassen, dass ich das hermeneutische Viereck getauft habe. Der Begriff ist sozusagen auf mich patentiert, das hermeneutische Viereck. Und das will besagen, wenn Sie also einen Text lesen, dann brauchen Sie vier Pole, um zu verstehen, was damit gemeint ist. Erstens müssen Sie fragen nach dem Autor und seiner Welt. Wer hat das geschrieben? Wann hat er das geschrieben? Welche geschichtlichen Umstände waren zu seiner Zeit da? Der Autor und seine Welt. Das ist der erste Pole. Der zweite Pole, es gilt übrigens auch für die Gegenwart, also wenn Ihr Nachbar zu Ihnen was sagt, dann müssen Sie verstehen, wer ist
das, wer redet da zu mir? Also Sie müssen Informationen haben, um zu verstehen über den Autor, über den Sender, den Absender. Das zweite ist der Text und seine Welt. Der Text und seine Welt. Ein Text hat ja ein Leben und eine Bedeutung, auch wenn Sie von dem Autor gar nichts wissen. Wenn Sie einen Satz lesen, ohne dass Sie wissen, wer ihn geschrieben hat, hat das ja trotzdem eine Bedeutung. Ein Text als Text hat eine wichtige Funktion. Der dritte Pole ist der Rezipient, der Leser, die Lesenden und ihre Welt oder ihre Welt hin. Wo kommt dieser Text an? Wer bin ich? Ich meine vielleicht, also ich bin jetzt 58 und kann an meiner eigenen Vita schon feststellen, dass ich Texte unterschiedlich verstanden habe im Laufe meines Lebens. Dieselben Texte, die ich
vielleicht irgendwann mal völlig nicht sagen fand, sind im Laufe des Lebens für mich bedeutend geworden. Also ich greife jetzt auch spontan heraus das Glaubensbekenntnis, geboren von der Jungfrau Maria. Als Jugendlicher habe ich gedacht, ein total bescheuerter Satz, was wollen die mir da erzählen, geboren von der Jungfrau Maria. Das wüsste ich aber. Das ist doch irgendwie eine merkwürdige Glaubensaussage. Ich habe das nicht mitgesprochen im Gottesdienst, weil es mir nichts gesagt hat und ich fand das fast wie eine Lüge. Ich habe aber im Laufe des Theologiestudiums gelernt, Theologe sein heißt auch Symbole interpretieren und ich habe verstanden oder meine verstanden zu haben, die Jungfrau Maria ist ein Symbol. Es soll sagen, Jesus ist nicht ein normaler Mensch. Jesus ist eben mehr als nur ein Mensch. Er ist wahrer Mensch und wahrer
Gott. Wie kann ich das ausdrücken? Ich wähle das Symbol Jungfrau. Dann habe ich Theologie studiert und habe dann irgendwann mal gelernt, im Hebräischen, in Jesaja 7 steht da betula. Betula heißt aber heiratsfähige Frau und die griechische Übersetzung, die Septuaginta, die ungefähr so 150 vor Christus gemacht wurde, die hat das falsch übersetzt. Die hat betula mit Parthenos übersetzt und Parthenos heißt nunmal Jungfrau. Sie hat also eine heiratsfähige Frau und eine Jungfrau gemacht. Kann es ja sein, dass es heiratsfähige Frauen gibt, die Jungfrauen sind, aber es ist nicht dasselbe. Da ist plötzlich, naja gut, jetzt habe ich es verstanden, es ist ein Übersetzungsfehler. Die haben beim Übersetzen vom Hebräischen in die griechische Sprache leider einen Fehler gemacht. Da ist ein Irrtum entstanden und dann haben die Christen daraus ein Glaubensbekenntnis gemacht.
Nein, also ich habe, glaube ich, jetzt mittlerweile ein besseres Verhältnis zu diesem Satz und spreche ihn auch laut und deutlich mit beim Glaubensbekenntnis, weil er mir sagt, dieser Jesus von Nazareth ist wirklich mehr. Sein Ursprung sagt etwas über seine Qualität und das ist eine symbolische Aussage. So haben sich im Laufe des Lebens die Bedeutungen, die ich diesem Text beigemessen habe, verändert. Das wird ihnen auch so gehen. Sie haben als Kinder vielleicht im Kindergottesdienst Texte gehört, die ihnen runter gingen wie Butter. Dann kam die Pubertät und sie haben angefangen zu zweifeln. Dann wurde mit dem Erwachsenwerden und vielleicht mit dem Studium der Biologie das alles unglaubhaft. Und vielleicht kriegen sie dann irgendwann wieder die Kurve ins symbolische Verstehen und die Texte
werden plötzlich wieder kostbar und wertvoll. Also der Lesende ist ganz entscheidend für das konstitutive Geschehen des Verstehens. Und schließlich der vierte Pol, die Sache. Das klingt jetzt etwas komisch. Die Sache der Bibel ist Jesus Christus, ist Gott. Aber es geht um die Wahrheit. Die Wahrheitsfrage gehört zum Verstehen. Also wenn ich eine Hermeneutik entwerfe, eine biblische Hermeneutik, bin ich in einem hermeneutischen Zirkel oder sagen wir in einer hermeneutischen Spirale. Ich gehe in die Welt der Autoren, versuche die Welt zu rekonstruieren. Ich gehe in die Welt der Texte, versuche mit dem Text zu orientieren. Ich gehe in die Welt der Rezipienten, versuche mich da zu orientieren und gehe in die Wahrheitsfrage, die Welt der Sache. Und dann wiederholt sich das. Sie lesen Texte ja häufig nicht nur einmal. So, das war mein 20 Minuten Theorie-Blog und ich hoffe,
dass Ihnen dieses Modell des Hermeneutischen Vierecks eine gewisse Plausibilität erzeugt. Jetzt das Beispiel. Damit Sie das nachvollziehen können, wähle ich als ein Beispiel den Auszug Israels aus Ägypten. Das ist erzählt im zweiten Buch Mose, so Kapitel 1 bis 14, die Exodusgeschichte. Der erste Pol des Verstehens ist die Versenkung in die Welt der Autoren, in die Welt derer, die diesen Text produziert haben. Ich hatte das vorhin schon mal berührt. Ich hoffe, Sie haben es noch ein klein bisschen im Hinterkopf. Ramses der Zweite ist wahrscheinlich der Pharao im 13. Jahrhundert, weil eben die Orte Pitum und Ramses in Exodus 1, 12 erwähnt sind,
wo wahrscheinlich das Exodusgeschehen stattgefunden hat. Es wird erzählt in diesem Text, dass Israel ein Volk von Sklaven war, von Menschen, die wenig bis überhaupt keine Rechte hatten, dafür aber jede Masse Arbeit. Sie waren dem Pharao zu Frohendienst verpflichtet und haben ungeheure Bauten erstellt. Und viele von uns sind ja schon in Ägypten gewesen, haben also mal mit eigenen Augen gesehen, was das für eine fantastische große Kultur war. Vielleicht hat sich der ein oder andere schon mal gefragt, wer hat das eigentlich gebaut? Wer hat diese Pracht der pharaonischen Paläste, der pharaonischen Tempel, der pharaonischen Pyramiden errichtet? Die Bibel erzählt uns das. Sie erzählt von der Welt der Sklaven. Das ist eine ganz ungewöhnliche
Perspektive. Die meiste altorientalische Literatur erzählt von der Welt der Könige, der Herrscher, Prinzen, Prinzessinnen. Wen jucken die Sklaven? Das interessiert keinen. Die Bibel hat als Welt der Autoren diese kleinen Menschen, diese Unterschichtsangehörigen, also vielleicht auch weniger als Unterschicht, diese Nobodies, diese hebräischen Sklaven da. Wir wissen aus ägyptischen Bilddarstellungen, dass es sowas wirklich gibt. Die Pharaonen haben sich gerne damit gerühmt, dass sie zeigen, wie ihre Baudenkmäler errichtet werden und da kommen so am Rand, nebenthematisch dann auch manchmal solche Sklaven in den Blick. Also wenn man die Ägyptologen fragt, dann gab es in der Tat in Ägypten eine Sklavenhaltergesellschaft.
Es gab in der Tat eine große Masse an Menschen, die Frondienst leisten mussten. Also die Geschichte mit Josef und die daran anschließende Geschichte von Israel als Sklavenvolk hat historische Plausibilität. Dass es solche Menschen gegeben hat, kann man geradezu als historisch gesichert betrachten. Natürlich haben wir von denen fast keine Zeugnisse außer der Bibel. Also für den Historiker gibt es die Grundforderung, man brauche immer zwei unabhängige Zeugnisse. Wir haben außerhalb der Bibel keinen Mose erwähnt, wir haben keinen Aaron erwähnt, wir haben keinen Joshua erwähnt, Mirjam oder andere biblische Gestalten sind bisher in ägyptischen Urkunden nicht aufgetaucht. Insofern ist die Quellenlage schwierig. Ich würde
trotzdem behaupten, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass es so eine Gruppe von Sklaven gegeben hat. Über die Größe kann man sich natürlich streiten. Wie viele waren das? Die Bibel sagt, 600.000 Männer sind aus Ägypten ausgezogen. Wir wissen, es gibt kein Einwohnermeldeamt, aber Ägypten dürfte damals drei Millionen gehabt haben. Wenn davon 600.000 Männer ausgezogen sind, ich habe vorhin ja schon Reimarus zitiert, dann müsste ja halb Ägypten ausgezogen sein. Die Zahl ist mit Sicherheit nicht historisch. 600.000 ist viel zu hoch. Vielleicht gehen wir mit dem Komma drei Stellen rüber. Wenn es 6.000 waren, könnte es historisch plausibel sein. Nun erzählt die Exodus Geschichte von zehn Plagen, die dem Pharao zugemutet wurde, damit er die Sklaven ziehen lässt. Wir wissen aus Kauflisten, dass ein Sklave ungefähr so
viel wert war wie ein kleiner Mittelklassewagen. Einen Sklaven kaufen, das war teuer. Viele Sklaven haben und halten, das war sehr teuer. Kein Pharao hätte so ein großes Vermögen an Menschen einfach ziehen lassen. Natürlich lässt er die nicht ziehen. Die müssen für ihn arbeiten, die müssen für ihn Kinder gebären, die gehören ihm auch. Also es ist historisch extrem unwahrscheinlich, dass ein Pharao freiwillig Sklaven entlässt, weil Moses sagt, unser Gott will das. Also diese Erzählung von den Plagen, die den Pharao dann nötigen sollen, etwas zu tun, was er eigentlich gar nicht möchte, nämlich ein großes Vermögen verlieren, sind von daher verständlich. Es lassen sich auch plausibilisieren, die verschiedenen einzelnen
Plagen, dass es Heuschreckenplagen gab, dass manchmal der Nil verunreinigt war durch große Einspülungen von Lehm und der dann aussah, als ob er Blut wäre. Also Details lassen sich da auch historisch plausibilisieren, aber ob das so in dieser Reihenfolge wie die Exodus Erzählung, das bringt, in die Welt der Menschen damals gehörte, kann man bezweifeln. Aber wir wissen darüber nichts sicheres. Was wir sicher wissen, ist die Beschreibung des Exodus. Es wird gesagt, dass Israel auszieht und dann werden Orte genannt, wo ein Wunder sich ereignet hat, das Schilfmeerwunder, Yamsuf auf Hebräisch. Und die große Frage ist, wo ist das Schilfmeer? Wenn Sie nach Ägypten reisen, dann gibt es zwei Routen, die für den Exodus in Frage kommen. Entweder sind die am Mittelmeer entlanggezogen und da gibt es so eine Seenplatte, die syrbonischen
Seen, möglicherweise da oben am Mittelmeer. Oder aber, vielleicht überraschend, wenn Sie durch den Sinai durchziehen, dann gibt es in der Nähe des Golf von Aqaba eine Gegend, die so heißt Schilfmeer und vielleicht hat das Schilfmeer sich da dieses Wunder am Golf von Aqaba ereignet. Das ist historisch nicht sicher zu belegen. Also die archäologische Forschung, und darüber gibt es eine Menge, glauben Sie mir, der Sinai ist ziemlich durchgepflügt worden, auch von den Israelis, als sie den Sinai geobert haben, hat man Surveys gemacht und also Oberflächenuntersuchungen im großen Breitenstil und hat überall versucht Spuren zu finden des Exodus, leider ohne Erfolg. Es gibt keinen archäologischen Beleg dafür, dass ein großes Volk 40 Jahre durch die Wüste gezogen
wäre und auch von einem Schilfmeerwunder, wo das Heer der Ägypter umgekommen wäre, gibt es archäologisch keinen Nachweis. Gut, für Archäologie gilt, und ich grabe ja auch jedes Jahr in Israel, der gute Grundsatz, the absence of evidence is not the evidence of absence. Also, dass es keinen Beleg gibt, belegt nicht, dass es nichts gegeben hat. Es hat in der Archäologie, das muss man lernen, sowieso nur minimal was überlebt. Was glauben Sie, wenn in 3000 Jahren jemand diesen Raum ausgräbt? Wie viele Spuren von Ihnen werden hier sein? Keine. Also das, was Archäologen belegen können, ist gar nicht so gewaltig viel. Aber dass Sklaven existiert haben, dass Sklaven versucht haben abzuhauen, dass sie freigekommen sind, dass ihnen die Flucht
geglückt ist, vielleicht unter wunderbaren Umständen, dass sie aus Ägypten heraus nach Israel geflüchtet sind, möglich ist es. Ich glaube, niemand kann gestreiten, dass ein historischer Kern in diesen Aussagen enthalten sein könnte. Und ich persönlich stelle mir das auch so vor. Da gab es mal eine Erfahrung, dass Menschen aus der Sklaverei freigekommen sind, und sie haben das mit ihrem Gottesglauben in Verbindung gebracht. Der, der uns hier rausgebracht hat, das war Gott. Gott hat uns aus der Sklaverei herausgeführt. Und sie verehren einen Gott, der aus der Sklaverei befreit. Also, wenn man die Welt der Autoren betrachtet, kommt man zu gewissen Resultaten. Ich glaube auch, dass es ein historischer Mose gegeben hat, auch wenn es dafür keinen stichhaltigen Beweis gibt. Also wie gesagt, eine außerbiblische Quelle, die die Existenz eines Hebräers namens Mose belegt,
gibt es nicht oder noch nicht. Das kann sich ja bei jeder Grabung ändern. Also die Welt der Autoren hat eine gewisse Plausibilität. Wir haben es zu tun mit einer Erzählung aus der Zeit des 13. Jahrhunderts, die aber in ihrer literarischen Formulierung, so wie sie jetzt vorliegt, wesentlich später ist. Ich hatte vorhin ja schon angedeutet, bei der Pentateuch-Entstehung, diese Kerne, diese historischen Nukleen, die sind später von verschiedenen Menschen erzählt worden und unterschiedlich erzählt worden. Und damit kommen wir jetzt zu dem zweiten Pol, die Welt des Textes. Also wir wissen nicht, wer genau diesen Text geschrieben hat. Wir wissen nicht ganz genau, was historisch dahinter sich verbirgt, aber wir wissen, diesen Text, den gibt es. Und dieser Text, der hat Eigentümlichkeit. Und die Exodus-Erzählung mit ihren verschiedenen Zweigen fixiere ich jetzt
mal auf Exodus 14, das ist die Geschichte von der Errettung am Schilfmeer. Wenn Sie diese Geschichte, das Kapitel Exodus 14, sorgfältig lesen, dann werden Sie feststellen, es gibt da drei verschiedene Versionen, was sich ereignet hat. Die eine Version erzählt, den ganzen Tag über hat ein starker Ostwind geweht und der hat das Wasser weggeblasen. Der hat stark das Wasser zur Seite gedrückt und die Israeliten sind durch dieses frei gewordene Stück Land gelaufen und als das ägyptische Heer hinterher kam, sind die im Dreck hängen geblieben. Die hatten schwere Wagen, die sind eingesackt. Die sind hängen geblieben. Die haben die Sklaven verfolgt, wollten sie wieder einfangen und sind dann im Schmaddel, wie man im Saarländischen sagt, versackt. Das ist eine Version des Wunders. Die
zweite Version des Wunders sagt, als die Ägypter da durchgegangen sind, kam das Meer zurück. Die sind ersoffen. Die Ägypter sind ertrunken. Die dritte Version des Wunders sagt, Mose hat den Arm gehoben und das Meer hat sich gespalten, so wie diese Sitzreihen. Links das Meer, rechts das Meer, in der Mitte eine große Mauer. Die Israeliten sind hindurch gelaufen und als das ägyptische Heer hinterher gehechtet ist, um die Sklaven einzufangen, Klappe zu, Ägypten tot. Also wir haben eine Wundergeschichte, die sich immer mehr steigert. Die Ägypter versanken im Matsch und die Ägypter versanken zwischen einem wunderhaft gespaltenen Meer. Und wenn man diese Geschichten weiter
analysiert, glaube ich, kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, dieser Text hat eine Wachstumsgeschichte. Im Laufe der Erzählung wurde das Wunder immer wunderbarer. Die jüngste Version dieses Textes berichtet uns von einer Spaltung des Meeres. Der Text als Text sagt, die Errettung am Schilfmeer ist ein Wunder ganz extraordinärer Größe. Also wie gesagt, wir sind jetzt bei der Welt des Textes. So wird das in der Literatur dargestellt. Jetzt kommt der dritte Pol, die Welt des Lesers. Wie verstehen wir als Lesende diese Geschichte vom Auszug aus Ägypten und von der Errettung Israels am Schilfmeer? Und jetzt kommen die verschiedenen Lektüre-Möglichkeiten, oder da die Franzosen in der Richtung sehr aktiv waren, ist das Fachwort Relectüren, die verschiedenen
Relektüren. Lesen wir das also zunächst mal mit den Augen von Frauen, feministisch, theologisch. Was sehen Frauen? Und da braucht man nicht jetzt rumzuraten, da gibt es auch entsprechende Kommentarliteratur, Handbücher, feministische Exegese. Und da ist sehr deutlich, Frauen sehen die Rolle von Frauen. Davon war bisher noch gar keine Rede. Ich habe ja bis jetzt noch keine Frau richtig erwähnt. Aber wenn Sie hinschauen, welche Rolle spielen Frauen. Ich zitiere mal aus dem ersten Kapitel des Exodus Buches, da kriegt der König von Ägypten Angst, weil die Hebräer so zahlreich werden. Die vermehren sich, wie die Kanickel hätte ich beinahe gesagt. Und er gibt den Hebammen, und er sagt also zu den Hebammen, Zitat 15 folgende, der König von Ägypten sprach zu den
Hebammen der Hebräer, von denen die eine Schifra und die andere Pur hieß und sagte, wenn ihr den Hebräerinnen bei der Geburt helft und bei der Entbindung dabei steht und seht, dass es ein Sohn ist, dann tötet ihn. Wenn es aber eine Tochter ist, so mag sie am Leben bleiben. Aber weil die Hebammen Gott fürchteten, taten sie nicht, wie ihn der König von Ägypten gesagt hatte, sondern ließen auch die Jungen am Leben. Da rief der König von Ägypten die Hebammen zu sich und sagte zu ihnen, warum habt ihr das getan, dass ihr die Jungen am Leben lasst? Die Hebammen antworteten dem Pharao, ja die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind kräftig. Ehe wir Hebammen zu ihnen kommen, haben sie schon geboren. Eine List von Frauen. Diese Frauen ermöglichen,
Israel zu überleben. Eigentlich sollen die Kinder umgebracht werden. Aber diese Frauen sind, wie soll ich sagen, voller Zivilcourage. Sie widersprechen dem Befehl des Königs. Sie sollen die Kinder ermorden, wie beim Kindermord in Bethlehem. Aber sie machen es nicht. Da können sie sehen, das Schicksal Israels hängt entscheidend ab von dem Handeln der Frauen. Diese Frauen sind geradezu Vorbilder für zivilen Ungehorsam. Der König will, dass sie morden, aber hier steht, die Hebammen fürchteten Gott. Und Gottes Furcht ist mehr wert als Menschenfurcht. Selbst den König von Ägypten soll man nicht gehorchen. Sie werfen also das, was der König ihnen abverlangt, auf die Seite und sind für das Leben da. Sie sind Hebammen und bringen Kinder nicht um, sondern zur Welt. Also wenn Feministinnen diesen Text lesen, betonen sie ganz stark die Rolle, die tragende
Rolle der Frauen. Auch beim Auszug aus Ägypten spielen Frauen dann eine große Rolle, zum Beispiel Mirjam, die Schwester des Mose. Sie ist diejenige, die Mut macht, also sie bringt erstmal den Mose zum Nil, damit er dem Kindermord entkommt. Sie sorgt dafür, dass dieser Mose im Schilfkörbchen davonschwimmt. Dann wird er ja gefunden von der Tochter des Pharao und er wird am Pharao-Hof erzogen. Also die Tochter des Pharao, die ist unfruchtbar, die hat keine eigenen Kinder. Damals gab es noch keine In-Vitro-Fertilisation, die musste dann aus dem Körbchen im Nil den Mose herausziehen und hat behauptet, es wäre ihr Kind. Wie man ihr diese Lüge glauben konnte, ist mir zwar schleierhaft, aber der Pharao wird sich schon gewundert haben, wenn seine Tochter plötzlich
kommt und sagt, ich habe ein Kind bekommen. Normalerweise sieht man das ja kommen. Aber diese Pharaonentochter, die einfach den Mose nimmt und sagt, das ist mein Kind. Überlegen Sie, diese ägyptischen Hebammen, diese ägyptische Prinzessin, diese Frauen, die gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstoßen, ungehorsam sind. Wie wichtig ist das? Wie entscheidend wichtig, wie heilvoll und gut. Solche Frauen brauchen wir. Also die Leserinnen, die nun die Exodus-Geschichte aus der Perspektive von Frauen auf die Frage hin lesen, wie kommen denn eigentlich da Frauen zur Geltung, kommen voll auf ihre Kosten. Das Alte Testament bietet eine Menge an positiven Beispielen für tatkräftige Frauen, die das Leben fördern. Wenn Bauern von Solomantin, das ist eine ägyptische Insel, die
Bauern von Solomantin, Solomantin ist ein Ort in Brasilien, da gibt es Bauern, die haben Bibelteilen geübt im 20. Jahrhundert, so 1970, 1980. Die haben die Exodus-Geschichte aus der Perspektive von landbesitzlosen brasilianischen Bauern gelesen. Was passiert hier? Da ist der große König von Ägypten. Der beutet ein Volk aus. Dieses Volk leistet Widerstand. Der hat Gott auf seiner Seite. Dieses Volk will ein Land. Dieses Volk organisiert sich und dieses Volk bekommt ein Land. Das liest man da in Brasilien und sagt, wir müssen eine Bewegung gründen, die die Großgrundbesitzer enteignet. Im Auftrag Gottes müssen wir uns zusammentun. Wir haben nicht viel, aber das was wir haben, teilen wir. Dann können wir politisch was bewegen. Die Exodus-Geschichte wird im brasilianischen
Kontext zu einem Programm der Politik der Landverteilung auch an kleine Bauern. Das ist wichtig. Die Lektüre durch Arme verändert die Gesellschaft. Die Exodus-Geschichte entwickelt eine Kraft, eine ungeheure Kraft. Wobei die entscheidende Frage die der Gewalt ist. Der Vatikan hatte mit diesen Priestern, die solche Basisgemeinden in Lateinamerika geleitet haben, einige Probleme. Einerseits war man froh. Die Kirche hatte einen großen Zulauf. Man hat bei den Menschen dort gespürt, die Kirche ist wirklich dabei etwas für uns zu tun. Da bewegt sich was. Da kriegen wir Land. Auf der anderen Seite stand das natürlich das Problem der
Gewalt. Die Plagen-Erzählung. Wenn die lateinamerikanischen Bauern das so lesen, der Pharao, das sind die Großgrundbesitzer und wir müssen denen Widerstand leisten, dürfen wir dann Gewalt anwenden. Und es war damals Josef Kardinal Ratzinger, der kräftig gegen die Befreiungstheologie in Lateinamerika polemisiert hat und gesagt, diese Aktualisierung ist nicht Bibelgemäß. Das was da geschieht, dass Gott dem Pharao Gewalt zufügt bis hin zur Tötung der Erstgeburt, das darf man nicht übertragen. Es gab also einen Streit darum, inwieweit ist die Exodus-Geschichte übertragbar auf die Gegenwart. Ein schwerwiegendes Problem. Also dürfen Menschen zur Befreiung aus der Abhängigkeit, zur Befreiung aus der totalen Abhängigkeit, weil man kein eigenes Land hat, Gewalt anwenden und die Erstgeburt des Pharao töten. Schwierige Frage. Eine
andere Hermeneutik ist entwickelt von einem ebenfalls katholischen Theologen, Eugen Drevermann. Der war mal sehr berühmt, ist in den letzten Jahren ein bisschen ruhiger um ihn geworden, aber Eugen Drevermann hat eine sehr eindrucksvolle Exegese der Exodus-Erzählung vorgelegt und die möchte ich Ihnen schon zehn Minuten geben, sie mir für Drevermann, weil ich das für interessant halte, wirklich interessant. Drevermann ist der Meinung, dass die biblischen Texte, die biblischen Texte das Problem der Angst im Zentrum haben. Menschen haben Angst. Die Bibel ist eine Hilfe gegen menschliche Ängste. Die Exodus-Erzählung deutet er auf zwei
Ebenen. Es gibt auf der Oberfläche das, was er die objektale Erzählung nennt und darunter eine Substruktur, die nennt er die subjektale Ebene. Das, was auf der objektalen Ebene läuft, hat eine subjektale Entsprechung und dabei geht es um psychische Entwicklungen. Also wenn hier in diesem konkreten Beispiel erzählt wird, dass der Pharao ein Sklavenvolk unterdrückt hat, dann deutet das Drevermann auf der subjektalen Ebene und lachen Sie jetzt nicht, das ist meines Erachtens durchaus seriös, der Pharao ist Symbol für den Vater. Der ist Symbol für die Kraft einer väterlichen Autorität, die die Sklaven, sprich die Kinder unterdrückt. Es geht auf der objektalen Ebene Israel gegen den Pharao, aber auf der Gefühlsebene, auf
der subjektalen Ebene geht es, ich als Kind gegen den Vater und seine Übermacht. Also dieser Gedanke, dass biblische Erzählungen psychische Prozesse meinen könnten, den muss man erstmal fassen. Drevermann weiß natürlich auch, dass das eine am Leser orientierte Rezeption ist. Er behauptet nicht, dass der Autor der Bibel das so gemeint hat, aber für ihn als Leser der Bibel im 20. und 21. Jahrhundert hat die Bibel diese Bedeutung. Seine Relektur ist halt eben informiert von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung und er liest Texte als Spiegel von inneren Entwicklungsprozessen. Wenn Sie sich darauf mal einlassen und mit mir die Exodus-Geschichte nochmal abgehen und dann fragen, was könnte das auf der seelischen
Entwicklungsebene meinen? Ergibt sich etwa folgendes. Israel lebt in Ägypten und zwar gut, im Sinne von sie sind versorgt. In der Wüste klagen sie nachher bei Moser, oh wären wir doch bei den Fleischtöpfen Ägyptens gewesen, jetzt sitzen wir hier in der Wüste und haben nichts zu essen, es geht uns schlecht. Brevermann deutet das so, die Fleischtöpfe Ägyptens, das ist das Elternhaus. Das sind ja hier auch Eltern mit ihren Kindern, denken Sie mal mit. Der Pharao hat Fleischtöpfe. Man muss zwar solange man die Füße unter seinen Tisch setzt, tun was sein Wille ist, aber man ist versorgt. Jetzt kommt der Gedanke auf, mit Gottes Hilfe könnte man aus diesem Haus der Knechtschaft ausziehen. Die Vorstellung
Gottes in den Zehn Geboten, ich bin der Herr, der Gott, der dich aus Ägyptenland, dem Haus der Knechtschaft herausgeführt hat. Das heißt für Brevermann, ich bin der Herr, der Gott, der dich aus dem Elternhaus in die Unabhängigkeit hinausgeführt hat. Also die wollen raus, die Israeliten sagen, wir möchten ausziehen. Der Pharao sagt, ich lasse euch nicht gehen. Mama sagt, nein das kannst du mir nicht antun, du musst hier bleiben, ich brauche dich, ich lasse dich nicht gehen. Jetzt kommen die Plagenerzählungen. Die Pubertät, genau. Das sind die Konflikte, die Eltern mit Jugendlichen haben. Die Jugendlichen wissen ganz genau, dass sie die Eltern verletzen, wenn sie bestimmte Dinge tun, aber sie tun sie trotzdem. Sie wissen vielleicht sogar,
dass es nicht richtig ist, was sie machen, aber sie plagen die Eltern. Zehn Plagen ist da manchmal noch sehr tief gegriffen. Diese Konflikte, ich will raus, nein du darfst nicht raus, ich will aber raus, wenn du mich nicht gehen lässt, dann mache ich das, du bleibst hier, nein du gehst, ich will jetzt aber bis um zwei Uhr in die Disco, nein du bleibst hier, du bist um zehn Uhr hier, um elf Uhr hier. Also diese Plagen zwischen Pharao und dem Volk spiegeln nach Drevermann den inneren Konflikt von Heranwachsenden mit der elterlichen Autorität. Jetzt kommt die Nacht des Auszugs, die Tötung der Erstgeburt. Das heißt auf der subjektalen Ebene, die Kinder nabeln sich ab. Du bist für mich wie Tod.
Da findet eine Abnabelung statt, die für den Pharao sehr schmerzhaft sein kann und ist, es tut weh, wenn Kinder sich ablösen von den Eltern mit Streit, mit Gewalt. Der Pharao stimmt zu, sie dürfen gehen, aber kaum sind sie aus dem Haus, geht dann mit dem Heer hinterher und will sie wieder zurückholen. Also das Erwachsenwerden soll verhindert werden, kommt zurück, am Schilfmeer findet ein Kampf statt und das Heer des Pharao versinkt, wie jetzt auch immer entweder im Morast oder in den zurückkehrenden Wellen oder zwischen den Mauern aus Wasser. Das heißt, es ist ein harter, harter Kampf, diese Abhängigkeit
von den Eltern zu beenden. Aber wenn man dann wirklich es geschafft hat, den Pharao loszuwerden mit seinem Heer, dann kommen 40 Jahre Wüste. Dann kommt man nicht gleich ins gelobte Land, sondern jetzt muss man 40 Jahre durch die Wüste ziehen. Für Drevermann ist das ein Symbol für das Erwachsenwerden. Die Tochter, die endlich die Mutter los ist, muss jetzt die Wäsche selber waschen. Sie muss selber kochen und die Wäsche bügelt sich auch nicht von alleine. 40 Jahre Wüste. Das ist eine harte Sache und manch einer klagt dann so, wie die Israeliten in der Wüste, ach, wären wir doch bei den Fleischtöpfen Ägyptens geblieben. Aber das ist gerade nach Drevermann die Aufgabe in dieser Lebensphase reif zu
werden, selbstständig zu werden und sich durch die Wüste einen eigenen Weg zu bahnen. Diese Geschichten mit viel Angst, mit viel Schmerz, mit viel Verletzungen enden im gelobten Land. Der Auszug aus Ägypten hat seine Entsprechung mit dem Einzug in das Land, wo Milch und Honig fließt. Nach Drevermann ist das die reife Persönlichkeit. Am Ende des Exodus steht der reife Mensch. Mit Sege Jung und bei Drevermann ist das das Gleiche, ist das ca. mit 40. Einige von ihnen sind noch eine Weile unterwegs, bis sie das gelobte Land erreichen werden. Und ich habe manchmal den Eindruck, ich bin auch noch unterwegs, dass mit 40 scheint mir ein bisschen früh. Bei Sege Jung heißt das Integration des Schatten, Integration der
negativen Persönlichkeitsanteile, der Dinge, die man an sich selber nicht mag. Man muss lernen mit sich selbst klarzukommen, das ist sehr schwer. Also diese Leistung der Integration der Dinge, die man an sich selbst nicht gut findet, Jung bringt das auf den Begriff der Individuation, also ein selbstständiges in sich ruhendes Ich zu werden, das ist schwer und dauert. Also Sie haben jetzt in Kurzform eine Relektur der Exodus-Geschichte aus tiefen psychologischer Perspektive. So hat das vor dem 20. Jahrhundert natürlich noch nie jemand gelesen. Das weiß Drevermann auch. Aber wir sind nun mal Bürger einer Leitwissenschaft Psychologie und für Drevermann ist das das normale Bibelverständnis. Bibel ist im Grunde
symbolische Verschlüsselung von psychologischen Entwicklungsprozessen. Wir können darüber diskutieren, ob das überzeugend ist. Aber ich halte das zumindest für eine sehr seriöse und sehr ernstzunehmende Exegese, die in diese biblischen Überlieferungen den Leser ins Spiel bringt. Sie sind im Spiel. Diese Geschichte handelt nicht wie ein Museumstück von den Ereignissen im Jahre 1250 unter Ramses II., sondern Tuares Agitur. Es geht um dich. Es geht um dich. Deine Sache wird hier verhandelt. Also diese Hermeneutik, die den Pol-Leser und seine Welten in den Blick nimmt, hat auch neben der feministischen oder der Befreiungstheologischen auch so eine tiefenpsychologische Hermeneutik hervorgebracht. Überhaupt ist die Rezeptionsgeschichte
als Gegenstand der alttestamentlichen Wissenschaft im Moment sehr en vogue. Das ist geradezu ein riesiges Forschungsprogramm. Es erscheint gerade eine Enzyklopädie der Bibel und ihrer Rezeption, The Bible and its Reception, ein dreißigbändiges Monumentallexikon, das genau das versucht, die biblischen Motive und ihre Rezeptionsgeschichte aufzuarbeiten. Und ich finde das immer wieder sehr interessant, so zu arbeiten und tue das auch für mich persönlich gerne. Zum Beispiel, Sie alle kennen Google, Sie kennen Google Bild und dann geben Sie zum Beispiel einen Text ein, Auszug aus Ägypten und klicken auf Bilder. Dann werden Sie hunderte
von Gemälden finden, wo verschiedene Maler die unterschiedlichen Stationen der Auszugsgeschichte dargestellt haben. Und sich das mal anzuschauen, wie malen Maler den Exodus. Das ist klasse. Oder vielleicht kennen Sie Charles Heston noch, Die Zehn Gebote, das ist ein Exodus-Film, der bringt auch in dieser filmischen Umsetzung neben allem Hollywood-Kitsch auch manchmal Dinge, wo man denkt, wow, das hat er echt gut gemacht. Also wo zum Beispiel die Zehn Gebote mit so einem Laserstrahl in den Felsen geätzt werden, du sollst nicht töten. Das ist einfach unvergesslich. Das sind so Urbilder, die ich, ja. Also die Rezeptionsgeschichte
ist für die Bibelgeschichte, für das Verstehen der Bibel sehr hilfreich. Also verachten wir das nicht. Literatur, Film, Bildhaurei, Malerei, alles das sind Formen der leserorientierten Bibelinterpretation. Kommen wir jetzt zum vierten Pol, die Frage nach der Wahrheit. Das ist glaube ich jetzt an diesem Beispiel Exodus-Geschichte eine heikle Frage. Ich glaube, dass die allermeisten Leser ein Verständnis haben, hier soll eigentlich eine Tatsachenreportage geliefert werden. Hier soll eine Geschichte erzählt werden, die sich genau so in der geschichtlichen Realität abgespielt hat. Also im Englischen hat man die Unterscheidung von Story und History und die meisten glauben, dass die Story History wäre. Das ist die
Frage, ist das so gewollt? Die, die das vertreten werden gerne Fundamentalisten genannt. Früher hatte der Ausdruck gar keine so negative Bedeutung, wie er sie in den letzten zehn Jahren bekommen hat. Es gab eine Zeitschrift, die hieß The Fundamentals und da ging es um die Grundlagen, die Fundamente des Glaubens und vor allen Dingen darum, wie man den Glauben als Grundlage seines Lebens entwickeln kann. Also das war überhaupt gar nicht negativ, seitdem es halt Selbstmordattentäter gibt, die sich mit Bomben in die Luft jagen und die als Fundamentalisten bezeichnet werden, ist der Begriff im Grunde vergiftet worden. Also man muss vielleicht ein bisschen anderes Wort suchen, um das zu verstehen, was ich jetzt sagen will. Es geht darum, dass Menschen sagen, ich glaube, dass sich der Ausdruck aus Ägypten wirklich ereignet hat, dass Gott wirklich in die Geschichte eingegriffen hat, dass sich tatsächlich Sklaven
aus der Sklaverei heraus bewegen durften und in ein Leben in Freiheit, in ein gelobtes Land geführt wurden. Ich hatte das vorhin bei der Frage nach der Autorenwelt schon mal gestreift, was ist daran historische Wahrheit? Ich denke, es gibt da einen Kern. Also bei aller Kritik, die wir ja methodisch uns immer antrainieren als Bibelexegeten, ich denke doch, dass es so etwas wie die Sklaven in Ägypten gegeben hat und dass auch solche Fluchtgeschichten einen historischen Gehalt haben. Ob das alles so geschehen ist, wie das jetzt in der Entfaltung der Story im Exodus-Buch geschrieben wird, muss man in der Tat bezweifeln. Also ich würde nicht sagen, das ist eine 1 zu 1 Tatsachenreportage. Für viele ist das,
was ich jetzt gerade im Moment gesagt habe, aber ein Problem. Das hat doch alles historisch so stattgefunden und selbst die Geschichte mit dem Ertrinken der ägyptischen Armee im Schilfmeer ist geschichtlich so passiert. Und gar nicht allzu langer Zeit habe ich auf Arte eine Reportage gesehen, wo gezeigt werden sollte, dass es just in dem Augenblick, als die Israeliten auf das Meer zugingen, den Untergang von Atlantis gegeben hat. Und ein Untergang bewirkt eine Tsunamiwelle. Und gerade als die Israeliten da durchzogen, kam der Tsunami und schwupp, das ägyptische Heer war halt zufälligerweise oder Gott gefügt, gerade in der Stellung, dass der Tsunami die Ägypter ersäuft hat und die Israeliten sind davon
gekommen. Alles historisch. Ja, einige von Ihnen haben gelacht, ich auch, muss ich sagen. Also die Zufälligkeiten werden ja immer mehr. Und vor allen Dingen die Menschen, die so argumentieren, wollen die Wahrheit der Bibel retten, aber meines Erachtens widerlegen sie die Bibel, wenn sie sagen, es war nicht Gott, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat, sondern es war ein unglaublicher Zufall. Da waren Erdbeben und da gab es eine Flutwelle und die Flutwelle hat gerade Ägypter versenkt. Dann ist ja gar nicht Gott im Spiel. Also nach meinem Verständnis wäre das eher eine Widerlegung der biblischen Erzählung als eine Bestätigung. Denn das biblische will ja sagen, da wo keine Chance mehr ist, wo Menschen überhaupt keinen Weg mehr sehen, da schließt Gott einen Weg mitten durchs Meer auf. Für mich ist das symbolisch. Also ich kann mir das als historisches Ereignis nur schwer vorstellen und empfinde solche Erklärungen in Anführungszeichen doch sehr
gezwungen. Ein anderes Beispiel in derselben Lesweise. Mose kommt an einen Dornbusch und der Dornbusch brennt und brennt und brennt und verbrennt nicht. Wie ist das denn möglich? Jetzt sagt die Geschichte, es ist Gott, der in diesem Dornbusch erscheint. Dann gibt es aber jetzt Biologen, die haben erforscht, es gibt eine bestimmte Art von Käfern. Das sind so Glühwürmchen. Diese Glühwürmchen paaren sich zu einer bestimmten Zeit und wenn diese Glühwürmchen sich paaren, dann glühen die so, dass das aussieht, als würde der Busch brennen. Und die glühen und glühen und glühen und verbrennt der Busch immer noch nicht. Das ist kein Witz, also das ist ganz seriös. Jemand hat behauptet, die Erscheinung Gottes am Dornbusch beruht auf dem Paarungsverhalten der Glühwürmchen. Was wäre der Erklärungswert?
Also manch einer sagt, ah dann ist es ja historisch, Gott sei Dank. Ich würde sagen, wenn das so historisch ist, dann wird es lächerlich. Wenn Mose sich in der Weise geirrt hat, dass er geglaubt hat, es erscheint ihm Gott, aber in Wirklichkeit schaut er nur dem Glühwürmchen bei Paaren zu. Also für mein Verständnis ist das keine wirkliche Hilfe zum Verstehen. Also man muss bei diesen Versuchen mit den Mitteln der Naturwissenschaft, die Bibel hat doch Recht zu behaupten, aufpassen. Man muss da sehr aufpassen. Also meines Erachtens muss man den Wahrheitsbegriff ändern. Und das ist ein Pol, der mir halt persönlich sehr am Herzen liegt. Die Wahrheit der Bibel erschöpft sich nicht im Historischen. Die Wahrheit der Bibel hat eine andere Dimension, als geschichtliche Tatsachen zu beschreiben. Also weder die Glühwürmchen noch der Untergang von einem Atlantis, der mythische Untergang,
der ist ja noch nicht mal bewiesen, können die Wahrheit der Bibel retten, sondern die Wahrheitsfrage muss man in der biblischen Überlieferung meines Erachtens anders stellen. Und das ist so mein vorletzter Punkt. Was für ein Wahrheitsbegriff steckt denn dahinter? Und ich komme jetzt von einer bestimmten Art, ja vielleicht ist das sogar eine Fernwirkung von Platon, womit ich eingestiegen bin. Für mein Verständnis hat das biblische Zeugnis nicht die Absicht, uns darüber zu informieren, dass im Jahre 1350 eine Gruppe von Menschen diesen wunderbaren Rettungserfahrungen teilhaftig werden durfte, sondern, und da bin ich dann in gewisser Weise bei Drevermann, die biblischen Autoren wollten die Geschichte so erzählen,
dass wir uns selbst mit unseren lebensgeschichtlichen Erfahrungen da eintragen können. Das hat in der Bibelwissenschaft eine bestimmte Tradition, die verbindet sich mit Namen wie zum Beispiel Martin Heidegger oder Rudolf Bultmann. Deren Hermeneutik sieht etwa folgendermaßen aus. In biblischen Erzählungen gibt es ein darunter liegendes Verständnis des Daseins. Und dieses Daseinsverständnis ist zutiefst geprägt von der Erfahrung, dass der Mensch Angst hat. Dass der Mensch sich selbst als endlich erfährt, als fehlbar, als schuldig, als schwach. Aus dieser Grundangst, aus diesen Erfahrungen von Menschsein, das ist eben Menschsein, erzählen
die Bibelautoren immer wieder Auswege. Diesen Ausweg können wir Menschen nicht selber leisten. Also dass Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft herauskommt, ist ein Wunder, weil hier dasjenige wirksam wird, was wir Gott nennen. Gott greift ein, das heißt Gott macht Wege auf, die es uns ermöglichen, aus diesem Gefangensein in uns selbst, in unserer Schuld, in unserer Schwachheit, in unserer Unterdrücktheit herauszukommen. Also bei den klassischen Auslegern nennt man das die existenziale Interpretation. Das klingt jetzt wieder so nach Professorenart.
Existenzial und existenziell sind zwei Fremdworte, die sich nur mit einem Buchstaben unterscheiden, A und E. Das ist gerade das Gute. Existenziell heißt ich im Einzelnen und existenzial heißt alle, allgemein. Ein Existenzial ist etwas, was alle Menschen gemeinsam betrifft. Und Heidegger hat eine existenziale Analytik des Daseins versucht und etwa folgende These entwickelt. Jeder Mensch, wenn er geboren wird, lebt in einer naiven Selbstverständlichkeit. Wir werden als Babys in eine Wiege gelegt und dann ist da einfach eine Mutter, dann ist da einfach ein Vater, da ist da einfach die Umwelt, die Mitwelt, die da ist. Und wir nehmen das erstmal ganz selbstverständlich, ganz selbstverständlich, ganz naiv. Wir sind
in der Welt hineingeworfen, in die Welt, die uns nun ausmacht. Diese Welt ist gekennzeichnet durch eine gewisse, wie Heidegger das nennt, Diktatur des Mann. Man macht das nicht. Man ist freundlich. Man geht zur Schule. Man lernt. Man arbeitet. Man verdient sein Dasein, sein Lebensunterhalt. So macht man das. Das nennt Heidegger die Diktatur des Mann. Diese Diktatur des Mann und die selbstverständliche Ausgelegtheit unserer Welt wird durch eine Sache gestört und damit durchbrochen. Das nennt Heidegger das Vorlaufen zum Tod. Wenn wir realisieren, dass man nicht ewig lebt, sondern dass ich sterben muss, dass dieser Tod mein Tod ist,
unvertretbar, ich muss meinen eigenen Tod sterben, das ist mein Urproblem, ich muss sterben, dann entsteht eine große Angst. Die Angst vom Sterben. Diese Angst vom Sterben zerstört die Selbstverständlichkeit. Diese Angst vom Tod, das Vorlaufen zum Tod, ist wie ein Aufmachen der Augen. Bei Heidegger ist das sozusagen der notwendige Schmerz, um in das zu kommen, was er die Eigentlichkeit nennt. Die eigentliche Existenz, meine Existenz. Nicht man macht das, sondern ich mache das oder ich mache das nicht. Aber ich lerne durch diesen Schock der Erfahrung des Todes selbst zu sein. Die Selbstständigwerdung. Das ist
der Philosoph Heidegger. Das hat bei ihm zunächst mal gar nichts mit Bibel zu tun, sondern es ist eine Analytik des Daseins. Und es ist dann eben bei manchen Theologen so gelaufen, dass man diese philosophische Theorie genommen hat und damit Bibel interpretiert hat. Und ich denke, es ist gar nicht so schwer, die Exodusgeschichte von daher zu interpretieren, existenzial zu interpretieren. Der Menschen der Gefangenschaft unter der Diktatur des Pharao, bzw. unter der Diktatur des Mann. Dann die Herausführung durch das Vorlaufen zum Tode, diese Auseinandersetzung bis auf den Tod. Das herausgeführt werden aus Ägypten und die eigentliche Existenz, die selbstbestimmte Existenz im Lande Kanan, wo Milch und Honig fließen. Also man kann versuchen, und ich halte das für legitim, aufzuzeigen, dass
in den Exodusgeschichten das Schicksal eines jeden von uns sich spiegelt. Also Sie verstehen die Texte eigentlich nur, wenn Sie diesen Wahrheitsgehalt entdecken, für sich entdecken. Wo komme ich in meinem Leben in diesen Texten vor? Und wenn man Pfarrer ist zum Beispiel und eine Predigt halten muss über diese Exodusgeschichten, und die kommen mehrfach im Predigtplan vor, dann ist man glaube ich nicht schlecht beraten, wenn man der Gemeinde verdeutlicht, das geht um dich, hier ist deine Gefangenschaft, hier ist deine Befreiung, hier ist dein gelobtes Land im Visier. Und die Wahrheit der Bibeltexte realisiert sich in meinem Leben. Das ist natürlich
ein völlig anderer Wahrheitsbegriff, das ist mir restlos klar. Ich rede jetzt über den Exodus nicht mehr als historisches Geschehen, ich rede nicht mehr über den Text der Exodusgeschichte und seine Struktur, ich rede nicht mehr nur über die Rezeptionsarten, sondern ich behaupte, es gibt eine sachliche Wahrheit, es gibt einen Gott, der auf mich schaut, der mich und meine Notsituation wahrnimmt, der mich errettet, der von außen in mein Leben eindringt, mir einen Retter schickt, der mich da herausführt aus der Gefangenschaft und der mich beschenkt, gnadenhaft beschenkt mit der Freiheit. Das ist eine Dimension einer solchen Erzählung wie der Exodusgeschichte, die eben eine ganz andere Qualität hat als Historie oder bloß Story, da geht es um die Wahrheit meines Lebens. Kommen wir nochmal sozusagen zurück auf das
Modell vom hermeneutischen Viereck und überlegen nochmal, was uns jetzt das Beispiel gebracht hat. Also ich hatte gesagt, verstehen ist ein schwieriger Prozess und man muss da viele Pole abklappern. Wir haben versucht kurz in die Welt der Autoren zu schauen, in die Welt der Spätbronzenzeit, in die Welt der Eisenzeit, eins und zwei, die Welt der Autoren, die diese Texte so erlebt haben und die diese Texte produziert haben. Wir haben geschaut auf die Struktur der Texte als Texte, wir haben einen Blick geworfen auf verschiedene Formen der Rezeption der Exodusgeschichte in allen möglichen Variationen von feministischer, befreiungstheologischer, tiefenpsychologischer Interpretation und wir haben viertens die Frage gestellt, was
es daran war. Ich habe mich dafür stark gemacht, dass man Wahrheit nicht auf historische Tatsächlichkeit reduziert, sondern dass es bei der Frage nach der Wahrheit der Exodusgeschichte um mein Leben geht, um meine Existenz im Angesicht Gottes. Also ein Plädoyer für eine existenziale Interpretation geführt. Ich komme jetzt zum Schluss und frage, ist diese Suche nach dem Sinn eigentlich erfolgreich? Haben wir jetzt nicht eine solche Sinnfülle erlebt, dass man fast schon von einer Sinnflut sprechen müsste? Alles ersäuft, alles irgendwie, so viele Sinne, ja was ist denn jetzt der Sinn? Was ist der Sinn dieser Bibelgeschichten oder der Exoduserzählung als unseren Beispieltext? Viele erleben diese hermeneutische Reflexion
auf die Vielfalt der Wahrheiten als Chaos. Ich kenne das von Studierenden, die sagen, das ist ja alle, aber da hat ja jeder irgendwie, irgendwas recht. Aber ich würde statt Chaos den Begriff Reichtum verwenden. Wenn Sie verstehen, dann entdecken Sie viele Dimensionen und Sie haben ein vielgestaltiges Verstehen. Das beste Beispiel für solches Verstehen ist immer eine gute Partnerschaft. Wenn Sie Ihren Partner kennenlernen, dann lernen Sie im Laufe der Zeit von verschiedenen Seiten kennen. Sie kennen einen Menschen nicht sofort gleich und ganz, sondern in bestimmten Situationen, entdecken Sie immer wieder Facetten, immer wieder neue Bereiche. Und Sie werden auch entdeckt. Der andere nimmt an Ihnen ja auch immer neue Facetten
wahr. Das ist nicht Chaos. Das ist eben das Verstehen in seiner realen Gestalt. Sie nehmen an einem Menschen so viel wahr, seine Art zu sprechen, seine Art sich zu bewegen, seinen Geruch, seine Gewohnheiten, seine Kleidung. Sie nehmen seine Gefühlswelt wahr. Sie nehmen wahr, wie er sich in Konfliktsituationen verhält. Das ist sehr wichtig, wie einer im Stress ist, wie er im Streit ist, wie er in der Entfernung ist. Alles das sind Facetten, die sich allmählich zusammensetzen. Deswegen ist Verstehen ein lebenslanger Prozess. Ich bin jetzt 30 Jahre bezahlter Bibelwissenschaftler. Ich mache das sozusagen für Geld. Aber ich habe immer das Gefühl, ich entdecke noch Neues. Ich entdecke immer wieder anderes. Die biblischen Texte
werden facettenreicher und man erlebt immer wieder neue Relektüreformen, immer neue Reaktorien, Kupalisierungen, entdeckt sich selbst auch immer wieder neu in diesen biblischen Texten. Also die Fülle des Verstehens ist keine Sinnflut, sondern ist der pure Reichtum. Und wer mit der Bibel lebt und sie immer wieder mal auf sich einwirken lässt, der entwickelt so was wie Vertrautheit, so wie in einer Partnerschaft. Sie verlassen sich dann blind auf den anderen. Und so ist es eben auch mit der Bibel und dem Gott, der ihnen in der Bibel entgegenkommt. Wer mit der Bibel lebt, entwickelt ein Repertoire an unterschiedlichen Facetten des Gottesbildes und durch alle Krisen, durch alle pubertäre Konflikte hindurch, am Ende steht das Vertrauen
auf diese Texte. In Analogie zu einem Werbeslogan würde ich sagen, Bibelleser wissen mehr.
Auf der Suche nach dem Sinn – Zugänge zur Bibel | 4.2.3
Was bedeuten die Dinge, die in der Bibel stehen? Dieser Frage geht Manfred Oeming nach. Seine überraschende Antwort: Vieles. Es kommt darauf an, wer den Text liest. Ein Gebildeter oder ein Ungebildeter, ein Alter oder ein Junger, eine Frau oder ein Mann, ein Reicher oder ein Armer, ein Europäer oder ein Araber. Die Bibel hat allen Menschen etwas zu sagen, aber sie sagt jedem etwas anderes. Heraus kommt kein Chaos an Deutungen, sondern ein Reichtum an Sichtweisen, eine Fülle des Verstehens, eine einmalige Multidimensionalität. Die Bibel spricht ins Leben von Menschen, sie zeigt auf ganzer Breite Auswege, Perspektiven, Hoffnungen. Manfred Oeming bringt es auf eine klare Formel: Bibelleser wissen mehr.