Veröffentlichungsjahr: 2011
Für viele Menschen ist Deutschland ein richtiges Weihnachtswunderland. Hier gibt es nicht nur alles zu kaufen, sondern auch viele bewährte Weihnachtstraditionen. Doch weißer Schnee, grüne Tannen, heißer Glühwein und ein alter Mann mit weißem Bart, der sich in den Unternehmensfarben eines amerikanischen Limonaden-Herstellers kleidet, haben den Blick auf den Kontext in dem die Geburt des Nazareners stattfand, inzwischen gehörig verstellt. So schildert Siegfried Zimmer erst einmal in Ruhe die damalige Situation und man erahnt, dass Bethlehem nicht im Erzgebirge liegen kann und die Sternforscher weder Heilige noch Adelige, noch zwingend zu dritt und erst recht auch keine volksliedersingenden Kinder mit Sammelbüchsen waren. Und dann öffnet sich die Perspektive für die große Reise des Lebens und ein Gefühl von Aufbruch und Abenteuer breitet sich aus.
Obwohl wir nicht genau wissen, wann und wo der jüdische Mann aus Nazareth das Licht unserer Welt erblickt hat, setzt mit seiner Geburt die Stunde Null unserer Zeitrechnung ein. Und gleichzeitig beginnt damit auch die eigenständige Geschichte des Christentums. Es ist eine Geschichte in der sich Schönes und Gutes mit viel Brutalität, Gier, Heuchelei, Ausgrenzung und Unmenschlichkeit vermengt. Mit einem Blick in die Historie der Menschheit könnte man sagen, dass das normal ist. Mit einem Blick auf die Botschaft des Mannes aus Nazareth könnte man sagen, dass das schizophren ist. Doch wenn man Siegfried Zimmer zuhört, dann liegt es nahe zu sagen, dass das vollkommen absurd ist. Denn er ist der Überzeugung, dass der Grund für den seltsamen weihnachtlichen Inkarnationsvorgang, der gerne als “Menschwerdung Gottes” bezeichnet wird, eben genau jene Unmenschlichkeit, jener Unfriede unter den Menschen ist. Kann man das ernst nehmen?
Der Mensch, was ist der Mensch? Im Abschluss-Vortrag von Worthaus 1 begibt sich Siegfried Zimmer in aller Freiheit auf die Suche nach dem Geheimnis des Lebens. Dabei ist er sich bewusst, dass es nicht möglich ist den Mensch an sich zu definieren. Und doch schafft er es sich dem Mensch an sich durch die Beobachtung von menschlichen Grunderfahrungen so zu nähern, dass deutlich wird, welche Erfahrungen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung entscheidend sind. Das macht nachdenklich, fordert heraus, setzt Impulse und appelliert letztlich an jede Hörerin und jeden Hörer das Leben aus einem “sich-getragen-wissen” in die Hand zu nehmen.
Worthaus 1 war für alle Beteiligten sehr anstrengend und bereichernd. Siegfried Zimmer ist an seine Limits als Vortragender gegangen. Welcher ernsthafte 50plus-Wissenschaftler hält schon vier Tage am Stück durchschnittlich drei Vorträge pro Tag und lässt sich dann noch auf intensive Diskussionsrunden ein? Und diese enorme Frequenz ging auch an der Worthaus-Teilnehmerschaft nicht spurlos vorüber. Umso beachtlicher ist es, dass am letzten Tag in Weimar noch zwei abschliessende Vorträge möglich waren, die den Blick noch einmal etwas weiteten. Denn während an den anderen Tagen die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Juden Jesus aus Nazareth im Mittelpunkt stand, schlägt der erste Teil des Epilogs anhand von sozialwissenschaftlichen Grunderkenntnissen und philosophischen Überlegungen eine Brücke zu den Lebensfragen des modernen Menschen. So schließt sich der Kreis während die verchromtem Füllhalter-Metallclips aus der Brusttasche des Professorenhemds hervorblitzen.
Welche Rolle wird Kindern in einer Gesellschaft zugewiesen? Jesus war ein Mensch, der sich intensiv mit den Rissen einer Gesellschaft und den sich oftmals dadurch gegenüberstehenden Gruppen beschäftigt hat. So definiert er vor dem kulturellen Kontext seiner Zeit das Verhältnis zwischen Armen und Reichen, Männern und Frauen, Einheimischen und Fremden, aber auch von Erwachsenen und Kindern neu und durchaus recht revolutionär.
Siegfried Zimmer vermittelt anschaulich wie Kinder in jeder Epoche ein Spielball der Erwachsenen sind und die Parole “Kinder sind unsere Zukunft!” letztlich auch nichts anderes meint. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann erahnen, dass die Botschaft des Nazareners bis heute nichts an ihrer Aktualität verloren hat und durchaus das Potenzial hat das gesamte Spektrum des Etablierten fundamental zu hinterfragen.
Ist das fair? Zehn Stunden in der Hitze des Tages schuften und genau so viel bekommen wie die Kollegen, die kurz vor Feierabend mal etwas mit angepackt haben! Das ist für keine Gewerkschaft in Deutschland in Ordnung, aber auch die schwarz-gelben Freundinnen und Freunde mit ihrem Leistung-muss-sich-lohnen-Credo laufen bei einem solchen Verhältnis Amok. Doch Jesus scheint damit überhaupt kein Problem zu haben. Oder geht es ihm gar nicht um diesen Vergleich, sondern um etwas ganz anderes? Siegfried Zimmer nimmt sich 73 Minuten Zeit, um die Situation des Textes lebendig werden zu lassen und bricht einmal mehr mit üblichen, gerade auch christlichen Vorstellungen und Klischees. So wird das Gleichnis der Arbeiter vom Weinberg so hörbar, wie es die Menschen vor 2000 Jahren in Juda aus dem Mund des Nazareners gehört haben, und landet ganz nebenbei bei den tieferen Geheimnissen des Lebens.
Besucht man christliche Gotteshäuser so ist man meistens zuerst mit Jesus-Darstellungen konfrontiert, die ihn in den letzten qualvollen Stunden seines Lebens, zeigen. Schaut man sich genauer um, findet man mit Glück unter der Decke, auf Kirchenfenstern oder in den Ecken einiger Altarbilder ein paar illustrierte Episoden die Jesus schmerzbefreit und lebendig zeigen. Nun gibt sicherlich einige Gründe dafür, dass Sterben und Leiden dieses Mannes näher zu thematisieren, doch eine so dominante Zurschaustellung, die einen mitunter das Leben des Nazareners vergessen lässt, ist schon überraschend – auch wenn sie sich damit nahtlos in die Tradition christlicher Glaubensbekenntnisse einfügt.
Genau bei dieser schweren Einseitigkeit, die das Leben und Reden weit nach hinten stellt, setzt Siegfried Zimmer an, um sich dem Lebensthema von Jesus aus Nazareth zu widmen. Denn dieser Mann war ja ein Mann, der sein Thema gefunden hat und der nicht nur bereit war diesem Thema sein ganzes Leben zu widmen, sondern auch für dieses Thema seine gesamte etablierte Existenz aufzugeben.
Was soll man so einer bekannten Geschichte wie der vom barmherzige Samariter noch Neues abgewinnen können? Und kann man wirklich ernsthaft über diese paar Zeilen des Gleichnisses eine 69-minütige Vorlesung halten, ohne dass Langeweile aufkommt? Die zweite Vorlesung der Gleichnis-Trilogie gibt hier eine verblüffend einfache Antwort: Man kann es und es gibt vieles zu entdecken. Mit fundiertem Hintergrundwissen und großer Leidenschaft nähert sich Siegfried Zimmer diesem Text. Fernab von jeglicher Spekulation oder Verklärung, eröffnet er die Lebenswelt des Textes und nimmt einen mit auf den staubigen und gefährlichen Pfad von Jerusalem nach Jericho bis man selbst die Spitze des Textes spürt.
Es ist schon merkwürdig: Obwohl man über 90 Prozent seines Lebens nichts Genaues weiß, wurden über keinen anderen Menschen mehr Bücher geschrieben als über Jesus Christus. Und es wird noch mysteriöser, wenn man bedenkt, dass er nichts Schriftliches für die Nachwelt hinterlassen hat, weltlich gesehen weder Ruhm noch Macht erlangt hat und seine entscheidenden Jahre im Prinzip als Landstreicher verbracht hat. Diesen Mann umgibt zweifellos ein tiefes Geheimnis. Denn da muss irgendetwas passiert sein, dass so jemand nicht in der Bedeutungslosigkeit der Geschichte versinkt, sondern zu ihrer beachtesten Persönlichkeit wird.
Mit Scharfsinn und aller wissenschaftlicher Redlichkeit nähert sich Siegfried Zimmer im ersten Teil der Jesus-Trilogie dem Phänomen Jesus aus Nazareth über seine Gotteserfahrung an und bringt so etwas Licht ins Dunkel der Geschichte. Entstanden ist so ein absoluter Basisvortrag, der das »Wort« nennt, das vor Jesus niemand so benutzt hat.
Ohne Umschweife kommt Siegfried Zimmer direkt zum Punkt, um dann voll durchzustarten. In der ersten Minute stellt er gleich klar, dass das Lesen mit Lineal unerlässlich für das Verstehen biblischer Texte ist. Denn nur wer ernsthaft Wort für Wort Millimeterarbeit leistet, hat die Chance einen unverstellten Blick zu bekommen. So demonstriert Siegfried Zimmer in den verbleibenden 76 Minuten an dem ersten Gleichnis-Text eindrucksvoll, was das bedeutet: Er sensibilisiert für Ausblendungen, erläutert Hintergründe, erschliesst neue Zugänge, feiert Jesus als Meister der Sprache, spricht von Nähe, Freiheit, Faszination und Energie, um in einer geheimnisvollen Verbindung zu enden. Was für eine Eröffnung der Gleichnis-Trilogie!
Etwas Aufregung lag in der Luft. Siegfried Zimmer hatte sein Zimmer in der kleinen Residenz bereits am Nachmittag bezogen, um sich optimal auf seinen Grundlagenvortrag vorzubereiten. Die letzten Teilnehmer schafften es gerade noch rechtzeitig den Hörsaal des Anna Amalia Studienzentrums zu erreichen, um pünktlich bei dem Start der ersten Worthaus Vorlesung überhaupt dabei zu sein. Und dann ging es auf einmal ganz unspektakulär los. Es war kein lauter, furioser Start, sondern eher ein Hineingleiten, ein sanftes Aufbrechen in die Thematik. An diesem ersten Abend war es so als ob sich Worthaus warm läuft. Doch wer wäre auch so töricht und würde einen Marathon mit einem Sprint beginnen? Und trotzdem stellt dieser Vortrag perfekt die Weichen für das, was kommt. Denn in aller Nüchternheit öffnet er ein Fenster zu einer verborgenden Wirklichkeit voller Geheimnisse.