Stellt euch mal bitte folgenden Fall vor: Die UNO, die Vereinten Nationen, laden für kommende Woche eine Expertenkommission ein, deren Mitglieder aus allen Erdteilen kommen. Und die UNO gewährt dieser Expertenkommission genügend Zeit und genügend Mittel, um eine sehr anspruchsvolle Aufgabe anzupacken. Die Expertenkommission soll nämlich das gesamte moralische Wissen der Menschheit durchleuchten und den entscheidenden Kern freilegen. Und diesen entscheidenden Kern
soll die Expertenkommission auf ein einziges Fundamentalprinzip konzentrieren. Dieses Fundamentalprinzip soll der Menschheit die notwendige moralische Orientierung geben und sie soll die Menschheit gleicherweise vor Mord und Totschlag, vor Raub und Diebstahl, vor Unterdrückung, Hass und Gewalt schützen. Ich nehme an, dass die Mehrzahl unserer Zeitgenossen vermutet, dass diese Aufgabe unlösbar ist. Zu schwierig. Aber in unserem Fall ging das ganz
anders weiter. Die Expertenkommission hat schon bald, nachdem sie ihre Arbeit aufgenommen hatte, ihre Arbeit wieder beendet. Denn alle Mitglieder dieser Expertenkommission waren einstimmig der Überzeugung, dieses fundamentale moralische Prinzip muss man gar nicht finden. Man muss es gar nicht suchen, denn es ist bereits vorhanden. Und dieses moralische Grundprinzip lautet: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu." Dieses Prinzip ist der Kern aller Moralität, aller Moral. Es ist nicht nur eine Regel, die zu all den anderen Regeln noch dazukommt. Nein,
es ist die Regel aller Regeln. Es ist die eine Regel, die über allen anderen Regeln steht und an der sich alle anderen Regeln bewähren müssen. Ich könnte mir vorstellen, dass vielleicht manche von euch bisher gedacht haben, dieses Sprichwort, das ich da gerade zitiert habe, "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu", das ist so ein typisch deutsches Sprichwort, gibt es wahrscheinlich nur im Deutschen. Nein, nein, dieses Sprichwort, ob so oder so formuliert, gibt es in allen, fast allen, Kulturen und fast allen Religionen. Seit dem siebten Jahrhundert
vor Christus ist diese Regel belegt in China, in Indien, in Persien, in Ägypten, in Griechenland, im Hinduismus, im Buddhismus, im Judentum, im Christentum, im Islam und so weiter. Seit ungefähr 400 Jahren nennt man diese Verhaltensregel, die den Umgang der Menschen miteinander betrifft, die "goldene Regel", the golden rule. Das ist eine sehr ehrenwerte Bezeichnung. Die Metapher Gold soll darauf hinweisen, dass diese Regel eine einzigartige Bedeutung hat. Man kann diese goldene
Regel bezeichnen als moralische Errungenschaft der Menschheit. Denn diese goldene Regel war ein echter Fortschritt über die damals üblichen Verhaltensprinzipien hinaus, zum Beispiel über das Vergeltungsprinzip oder das Tauschprinzip und andere. Wir haben seit knapp 3000 Jahren keine bessere Verhaltensregel gefunden. Es ist auch vollkommen unwahrscheinlich, dass man jemals eine bessere finden wird. Diese Regel kommt meistens in der verneinenden Form vor,
also: "Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu." Das nennt man die negative Form. Die ist wesentlich häufiger. Meistens begegnet man dieser Form. Aber es gibt auch positive Formulierungen der goldenen Regel. Also zum Beispiel: "Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst." Oder: "Was du dir von den anderen wünschst, das tue du ihnen." "Handle an anderen so, als wenn du selbst der Betroffene wärst." Und so weiter. Also das ist die goldene Regel, um die es heute gehen wird. Gehen wir mal zur Gegenwart. Im Zeitalter der Globalisierung
wird der Dialog zwischen den Kulturen immer wichtiger. Die Alternative zum Dialog der Kulturen wäre der Kampf der Kulturen. Und das ist eine furchtbare Perspektive. Also, immer mehr Menschen in Gesellschaft und Wissenschaft, in Politik und Wirtschaft besinnen sich wieder auf die Weisheit dieser uralten Regel zurück. Es kommt im Zeitalter der Globalisierung zu einer Art Renaissance dieser Regel im globalen Dorf. Die goldene Regel ist zum
Beispiel zu einem Grundbestandteil geworden in dem Projekt "Weltethos", das der katholische Theologe Hans Küng, der vor kurzem gestorben ist, im Jahr 1990 begründete. Und dieses Projekt hat bis heute eine weite internationale Verbreitung und Anerkennung gefunden. Küng hat es auch in die Wege geleitet im Jahr 1995, dass sich 300 bis 400 führende Vertreter aller Weltreligionen eine Woche lang getroffen haben in Chicago und eine gemeinsame Erklärung entwickelt haben in den moralischen Punkten, in denen alle Religionen übereinstimmen. Da spielt die goldene Regel eine
entscheidende Rolle. Ich kann euch nur empfehlen, euch mal längere Zeit mit diesem Projekt uu beschäftigen. Die zahlreichen Mitarbeiter dieses Projekts suchen die Zusammenarbeit mit Schulen und Hochschulen und mit den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog, er war Bundespräsident von 1994 bis 1999, hat immer wieder auf die goldene Regel hingewiesen. Er hat zum Beispiel im Jahr 1995 auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos gesagt: "Die universelle Zivilisation ist unverzichtbar
angewiesen auf ein gemeinsames Ethos. Das kann nur die goldene Regel sein." Der frühere Bundespräsident Köhler hat 2009 bei seinem Neujahrsempfang für das gesamte diplomatische Korps Folgendes gesagt: "Wir als Weltgesellschaft sind darauf angewiesen, dass wir eine gemeinsame Wertebasis haben. Und die kann nur lauten: Wir können andere nur so behandeln, wie wir selber behandelt werden wollen." Ich bringe noch so ein paar besonders wichtige Hinweise, die sollen
nur ein Gespür dafür geben, dass die goldene Regel seit Jahrzehnten enorm wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Im Jahr 1997 haben sich 25 frühere Staatspräsidenten getroffen nach einer jahrelangen Vorarbeit. Diese 25 ehemaligen Staatspräsidenten unter dem Vorsitz von Helmut Schmidt, also unserem früheren Bundeskanzler, und Michael Gorbatschow haben eine gemeinsame Erklärung erarbeitet und die wurde von der UNO verabschiedet. Diese Erklärung heißt "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten". Also es gibt ja 1948 bei der Gründung der UNO die
allgemeine Erklärung der Menschenrechte, und jetzt, sehr genau darauf bezogen, 1997, also 50 Jahre später, "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten". In dieser Erklärung wird die grundlegende Erkenntnis klar ausgesprochen: Wenn man nur von den Rechten der Menschen spricht, ohne ihre Pflichten zu betonen, das führt zu nichts. Und genauso einseitig ist es, wenn wir nur von den Pflichten der Menschen reden, ohne die dazugehörigen Rechte zu betonen. Also beides ist nötig. Diese Erklärung der Menschenpflichten gilt als eine der wichtigsten Dokumente seither für die internationalen
Beziehungen. Diese Erklärung der Menschenpflichten ist so aufgebaut: Sie hat 30 Artikel und eine Präambel. Artikel 4 dieser allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten kommt auf die goldene Regel zu sprechen: "Alle Menschen, begabt mit Vernunft und Gewissen, müssen im Geist der Solidarität Verantwortung übernehmen gegenüber jeden und allen, Familien und Gemeinschaften, Rassen, Nationen und Religionen. Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu." Im Jahr 2001 hat nach langer Vorbereitung die UNO ein Manifest verabschiedet, im November 2001. Das heißt Crossing the Divide, zu Deutsch "Überwindung des Trennenden". Und
dieses sehr wichtige Manifest, der Untertitel heißt "Zum Dialog der Kulturen", kommt mehrmals auf die goldene Regel zu sprechen: "Wir glauben, dass das Wahrnehmen, die Anerkennung, die Annahme und die Hochschätzung des anderen als Bestandteil unseres eigenen Selbstverständnisses, wie sie die goldene Regel verlangt, uns helfen kann, zu lernen, wie man menschlich ist. Es ist eine Tatsache, dass gerade angesichts der Not sich der Kern eines globalen Ethos aufs Großartigste entfaltet. Und dieser Kern ist menschliche Solidarität, die ethisch durch die goldene Regel in ihren zwei unterschiedlichen Facetten auf den Begriff gebracht
wird. Anderen nicht anzutun, was uns nicht angetan werden soll, und so für andere zu sorgen, für uns zu sorgen." Ich will euch mit diesen Hinweisen bewusst machen: Die goldene Regel gibt es in so gut wie allen Kulturen und Religionen. Wir haben in 3000 Jahren keine bessere Regel gefunden, und gerade in den letzten 40, 50 Jahren, im Zeitalter der Globalisierung, hat sich die Aktualität und die Bedeutung dieser uralten Regel enorm erhöht, und immer mehr Menschen in unterschiedlichen Kulturen, in Gesellschaft, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft sehen es ein, dass wir die Weisheit dieser Regel dringend benötigen. So weit ein erster Teil, der einleitende
Teil zu unserem Thema. Ich möchte jetzt in einem zweiten Teil die Qualitätsmerkmale der goldenen Regel im Einzelnen vorstellen. Und zwar so vorstellen, wie die goldene Regel für alle Menschen, die auf dieser Erde leben, gilt. Also es geht mir jetzt nicht um eine bestimmte Weltanschauung oder Religion, sondern erstmal unabhängig davon. Erst im letzten Teil dieses Vortrags komme ich dann auf die christliche Verwendung der goldenen Regel zu sprechen, wie wir sie im Matthäus-Evangelium und im Lukas-Evangelium finden. Beide Male in der Bergpredigt. Jesus spricht sie aus, und
zwar in positiver Formulierung. Aber das erst dann im dritten Teil. Jetzt habe ich vor, 15 Punkte herauszuheben, die hängen alle eng miteinander zusammen. Aber ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir das nicht nur so einfach daherreden, sondern dass wir die Qualität erkennen, die in dieser kurzen Regel steckt, denn die ist unerschöpflich tief. Wir werden mit ihr niemals fertig werden. Und sie ist unentbehrlich. Diese Tagung hat ja das Thema "Hoffnung". In der goldenen Regel steckt Hoffnung. Wenn wir die goldene Regel missachten und verachten, gibt es keine Hoffnung für die
menschliche Gesellschaft. Also erstens: Die goldene Regel ist praxisnah, einfach, aber doch sehr herausfordernd. Nochmal: Erstens: Die goldene Regel ist einfach, praxisnah und doch sehr herausfordernd. Also ich werde jeden dieser Punkte ein bisschen erläutern. Die goldene Regel ist sehr praxisnah, sehr alltagsnah. Jeder kann sofort damit beginnen, sie in die Tat umzusetzen. Die goldene Regel ist auch sehr einfach. Jedes Kind versteht sie schon. Man kann sie in der Grundschule behandeln und sie stößt auf große Wirkung und Einverständnis. Also die goldene Regel richtet
sich an so Otto Normalverbraucher, so wie du und ich. Aber sie fordert uns tief heraus. Die goldene Regel bittet uns, dass wir ein gewisses Maß an Verantwortung übernehmen für andere, die wir vielleicht gar nicht kennen oder mit denen wir gar nicht in allen Dingen übereinstimmen. Die goldene Regel bittet uns, etwas von uns selbst zu geben zum Wohle der anderen und der Menschheit. Die goldene Regel ist insofern eine moralische Selbstverpflichtung. Niemand kann dich zu ihr
verpflichten, außer du selbst. Zweitens: Die goldene Regel benötigt keine Begründung. Sie setzt darauf, dass sie unmittelbar einleuchtet. Und in der Tat, die Menschen spüren intuitiv: Diese Regel ist stimmig, sie ist berechtigt und sie ist gerecht. Diese Regel wendet sich an unsere Vernunft und unser Gewissen. Denn wir Menschen haben eine doppelte Begabung. Wir haben die
Vernunft und das Gewissen. Und an die beiden wendet sich die goldene Regel. Diese Begründungsfreiheit der goldenen Regel macht es möglich, dass man die goldene Regel mit unterschiedlichen Weltanschauungen und unterschiedlichen Religionen verbinden kann. Die goldene Regel ist weltanschauungsneutral. Sie macht selber keinerlei weltanschauliche oder religiöse Vorgaben. Sie schließt niemand um seines Glaubens willen oder seines Unglaubens willen aus. Die goldene Regel formuliert ihre Plausibilität rein immanent, ohne Transzendenz. Die Plausibilität der goldenen Regel ist rein
immanent. Aber es ist schon faszinierend, diese rein immanente Regel kommt in fast allen Religionen vor. Drittens: Die goldene Regel anerkennt die moralische Autonomie und Eigenverantwortung des Menschen. Sie wendet sich gegen jede Art der Bevormundung, der Gängelung und der Außensteuerung. Diese Verankerung im eigenen Wollen, sie basiert auf dem eigenen Wünschen und
Wollen des Menschen. Das ist eine starke Verankerung, denn jeder Mensch kennt seinen eigenen Willen und nimmt ihn ernst. Die goldene Regel setzt insofern einen Menschen voraus, der eine einigermaßen realistische Selbstwahrnehmung hat. Denn dieser Blick auf mich selbst kann eine enorme Hilfe sein. Dieser Blick ist dann nicht egoistisch, wenn mir mein Blick auf mich selbst bewusst ist und ich mir dessen im Klaren bin, dass ich mein Selbst nicht isoliert, einsam gewinnen konnte, sondern dass ich mein Selbst den anderen verdanke. Dann ist der Blick auf mein Selbst nicht egoistisch, sondern er ist
eine große Hilfe. Aber die goldene Regel setzt einen Menschen voraus, der einigermaßen weiß, was er selber wünscht und will. Also bei Menschen, die von schweren Problemen und Persönlichkeitsstörungen und anderen Dingen schwer belastet sind - diese Menschen wollen wir ja in keiner Weise abwerten - kann man die goldene Regel manchmal nicht voraussetzen und auch nicht praktizieren. Also die goldene Regel anerkennt die Autarkie und die Eigenverantwortung des Menschen gegen jede Bevormundung und Gängelung. Und sie geht aus von dem eigenen Wünschen und Wollen des Menschen.
Dann: Die goldene Regel überwindet die Orientierung an den vielen Geboten und Verboten. Also in der Torah hat man mal gezählt: 613 Verbote und Gebote. Mehr Verbote als Gebote. Oder anderweits dieses Gestrüpp der unendlichen Vorschriften: Die goldene Regel überwindet die Orientierung an der Vielzahl von Geboten und Verboten. Es geht ihr um eine Grundhaltung. Auch die goldene Regel selber gebietet oder verbietet keinerlei bestimmte Handlungen.
Jetzt kommt der nächste Punkt: Die goldene Regel
nimmt den Menschen als Beziehungswesen ernst. Das ist übrigens der Unterschied zum kategorischen Imperativ von Immanuel Kant. Der nimmt den Menschen nicht als Beziehungswesen ernst. Also ich stufe die goldene Regel deutlich höher ein als den kategorischen Imperativ von Kant, aber es gibt auch eine echte Nähe zwischen denen. Aber die goldene Regel hat mehr im Blick. Kant hat eine Gesinnungsethik und die isoliert den Einzelnen, als ob der Einzelne vor dem sittlichen Gesetz steht und jetzt soll er das tun, was für andere auch richtig wäre und so. Also die goldene Regel entstammt nicht einer
Gesinnungsethik, sondern einer Verantwortungsethik, die auch heute allgemein als qualifizierter gilt als jede Gesinnungsethik. Die Verantwortungsethik verantwortet sich vor den Folgen. Da kannst du zum Beispiel nicht mehr sagen: "Ach, so habe ich es gar nicht gemeint." Das ist einer der dümmsten Sprüche, die es gibt. Also ich mache euch mal einen Vorschlag, sagt diesen Satz "Ach so habe ich es nicht gemeint" bitte nie wieder, im ganzen Leben nicht, denn das ist auf jeden Fall einer der dümmsten Sätze. Wenn mir einer sagt - und es sagt immer wieder einer -: "Ach Siggi, so habe ich es nicht gemeint", dann sage ich: "Ja, das setz ich sowieso voraus, dass du das so nicht gemeint hast. Stell dir mal vor, du hast es so gemeint. Das wäre ja wirklich eine Katastrophe. Also dass du mich nicht verletzen wolltest,
das setze ich sowieso voraus. Stell dir mal vor, du wolltest mich verletzen! Aber 'Weißt du, ich habe es nicht so gemeint', das ist eine Gesinnungsethik. Es kommt es gar nicht darauf an, wie du es gemeint hast. Das ist unwichtig. Deswegen ist da auch keine Entschuldigung. Es ist völlig unwichtig. Es kommt nur darauf an, wie es bei mir angekommen ist. Und weißt du, ich bin verletzt. Das alleine zählt. Du musst dich davor verantworten, dass du mich verletzt hast, obwohl es deiner Gesinnung gar nicht entsprochen hat. Da habe ich ja auch nichts davon." Also es kommt nicht darauf an, wie du es meinst, sondern allein darauf, wie es beim anderen ankommt. Also die goldene Regel
nimmt den Menschen als Beziehungswesen ernst. Die goldene Regel macht deutlich, dass unser Dasein in einem wechselseitigen Austausch besteht, dass unser Dasein sich kommunikativ vollzieht. Nicht nur ich komme in der goldenen Regel vor, auch der andere hat in ihr seinen festen Platz. Der andere soll als gleichberechtigt berücksichtigt und geachtet werden. Er hat das gleiche Lebensrecht wie ich, nicht mehr und nicht weniger. Ohne Rücksicht gibt es überhaupt keine Moral. Dann
Nächster Punkt: Die goldene Regel animiert mich dazu, den ersten Schritt zu tun. Warte nicht darauf, dass der andere den ersten Schritt macht. Sei zuvorkommend. Es geht also in der goldenen Regel nicht um meine Reaktion auf irgendwas, sondern es geht um meine Initiative. Darum geht es, dass ich von mir aus was tue. Also die goldene Regel ermutigt zu einem Vorschuss an Vertrauen. Sie ermutigt zu
vertrauensbildenden Maßnahmen. Das hat nämlich eine langfristige Wirkung, das ist soziologisch inzwischen vielfach empirisch bewiesen. Vertrauensbildende Maßnahmen haben folgende Folgen: Sie steigern die Vernetzung der Menschen untereinander. Die Vernetzung der Menschen untereinander nimmt zu und damit intensiviert sich ihre Kommunikation. Das ist die langfristige Folge. Und diese Folge wird dem Allgemeinwohl zugutekommen. Die goldene Regel zielt auf das Allgemeinwohl. Warum wird es dem Allgemeinwohl zugutekommen, wenn die Menschen sich intensiver vernetzen und ihre
Kommunikation zunimmt? Weil unser Dasein dialogisch und interaktiv angelegt ist. Deswegen tun vertrauensbildende Maßnahmen dem Allgemeinwohl gut. Also ich sage noch mal, die goldene Regel animiert uns dazu, den ersten Schritt zu tun. Damit überwindet sie das Vergeltungsprinzip. Das Vergeltungsprinzip heißt: "Wie du mir, so ich dir" oder "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Das ist das Vergeltungsprinzip. Im Vergeltungsprinzip reagiere ich auf etwas, was der andere an mir bereits getan hat. Und ich nehme das zum Maßstab für meine eigene Reaktion. Im Grunde genommen, streng genommen,
bin ich dann gar nicht mehr das Subjekt meiner eigenen Handlung. Denn der andere kitzelt ja das "Auge um Auge" aus mir raus und dann kommt dieses Echo. Ich bin da im Grunde genommen gar nicht mehr selbst gesteuert. Wer Gleiches mit Gleichem vergilt, kommt aus einem Kreislauf nicht heraus. Nächster Punkt: Die goldene Regel eröffnet uns eine Chance, die nur sie eröffnen kann: Sie eröffnet uns eine Chance auf verlässlichen Umgang im zwischenmenschlichen Verhalten,
auf Verlässlichkeit, auch Vorhersehbarkeit. Das schafft eine Erwartungssicherheit. Was nicht geht, ist Doppelmoral, mehrere Maßstäbe. Hier wende ich den Maßstab an, hier den und mache ein Pokerface. Damit macht man die goldene Regel kaputt. Die goldene Regel braucht Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Transparenz. Sonst haben wir keine Hoffnung. Also die goldene Regel eröffnet uns diese Chance auf Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit. Nächster Punkt: Die goldene Regel überwindet noch ein anderes wichtiges Verhaltensprinzip, nicht nur das Vergeltungsprinzip. Die goldene Regel überwindet
auch das Tauschprinzip. Oder manche Soziologen sagen dazu die "Marktplatzmoral". Es gibt also in der Gesellschaft ein Tauschprinzip und eine Marktplatzmoral. Das ist das Gleiche. Also die geht ungefähr so: Ich gebe dir etwas, damit du mir etwas gibst. Im Lateinischen gibt es da eine berühmte Regel: Do ut des. Ich gebe - do -, damit - ut - du gibst - des. Oder dieses Tauschprinzip und diese Marktplatzmoral heißt auch "Eine Hand wäscht die andere". Ja, dieses Tauschprinzip und diese Marktplatzmoral hat nicht das Niveau der goldenen Regel. Die goldene Regel ist da anspruchsvoller, bringt aber viel mehr an Frieden und Zufriedenheit und Gerechtigkeit. Die goldene Regel möchte,
dass ich beginne mit einem Vorschuss an Vertrauen, unabhängig davon, wie der andere reagiert. Das ist die Überwindung des Tauschprinzips. Unabhängig davon: Ich kann ja ohnehin in vielen Fällen nicht sicher vorhersagen, wie der andere reagieren wird. Also das riskiere ich. Wenn wir das nicht riskieren, können wir alle heimgehen. Aber ich hoffe, dass der andere meinen ersten Schritt würdigen wird. Das hoffe ich. Also mit dieser Hoffnung, die aber nicht die Reaktion bindend
voraussetzt, überwindet die goldene Regel das Tauschprinzip und die Marktplatzmoral. Nächster Punkt: Die goldene Regel wendet sich an das Einfühlungsvermögen des Menschen und will es fördern. Zur goldenen Regel gehört die Bereitschaft. Ihr Lieben, das muss man wollen, sonst hilft es nichts. Zur goldenen Regel gehört die Bereitschaft, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen, der
Perspektivenwechsel oder man kann auch sagen, gehört der gedankliche Rollentausch. Wichtig dafür ist Aufmerksamkeit, Sensibilität, oder man kann auch auf Deutsch sagen "Feingefühl" und "Empathie". Wenn diese Dinge nicht vorhanden sind oder kaum vorhanden sind, dann wird die goldene Regel auch kaum klappen. Zum Beispiel beim Vergeltungsprinzip, Auge um Auge, Zahn um Zahn, da brauche ich kein Einfühlungsvermögen in den anderen. Ich brauche auch gar keinen Perspektivenwechsel. Gut, also Einfühlungsvermögen. Jetzt nächster Punkt:
Die goldene Regel will das Bedrohliche beseitigen, das in den zwischenmenschlichen Beziehungen liegen kann. Sie will nicht, dass durch mein Verhalten oder Unterlassen einem anderen Menschen Schaden entsteht. Die goldene Regel will Unrecht verhindern. Sie will das Bedrohliche beseitigen, das im Zwischenmenschlichen liegen kann. Also die goldene Regel will verhindern, dass das Kind in den Brunnen fällt. Jetzt kommt aber ein ganz wichtiger Punkt: Ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen, dann kann man mit der goldenen Regel oft nichts machen, es ist dann zu spät. Man muss
die goldene Regel also im Vorfeld bestimmter Handlungen berücksichtigen, sonst kann es zu spät sein. Wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, dann treten ganz neue Gesichtspunkte auf. Nächster Punkt: Die goldene Regel hat präventiven Charakter. Sie will im Vorfeld Dinge vermeiden. Das habe ich gerade schon mit dem Punkt vorher ein bisschen ineinander verhakt, ist aber nicht schlimm. Jetzt kommt der nächste Punkt: Es gibt ja die goldene Regel in positiver Form und in negativer Form. Die positive Form steht auch im Matthäus-Evangelium
und im Lukas-Evangelium - die goldene Regel kommt zweimal im Neuen Testament vor, beide Male im Munde Jesu, in der Bergpredigt, beide Male nur in der positiven Form. Und diese positive Form der goldenen Regel hat weitreichendere Folgen als die negative Form, nämlich: Gutes zu tun, umfasst mehr, als Schlechtes zu vermeiden. Aber man muss trotzdem hier ganz vorsichtig sein. Es gibt da viele Jahrzehnte an Erfahrungen. Das Ausschöpfen der goldenen Regel ist keine Sache von einem Nachmittag. Nein, das ist völlig unmöglich. Also die positive Form der goldenen Regel bringt mehr als die negative Form. Denn Gutes zu tun, ist mehr,
als Schlechtes zu vermeiden. Eine reine Vermeidungshaltung kann gar nicht das Ziel der Ethik sein. Vermeide das, vermeide das, vermeide das, und dann bist du okay. Also nehmen wir mal die zehn Gebote, die haben auch eine Vermeidungsethik: Töte nicht, kein Ehebrechen, kein Lügen, kein Stehlen, und dann ist es okay. Nein, die zehn Gebote können niemals die Zusammenfassung der christlichen Ethik sein. Niemals, denn die christliche Ethik beschränkt sich nicht auf eine Vermeidungsethik. Es gibt zum Beispiel ein Gebot im Alten Testament, das in den zehn Geboten nicht steht, und das Gebot heißt: "Brich dem Hungerigen dein Brot." Leider steht so was in den zehn Geboten nicht. Also die zehn Gebote sind eine Vermeidungsethik und können nur einen Mindestbestand beschreiben, unter den man auf keinen
Fall gehen soll. Aber die zehn Gebote hat auch Luther überschätzt in seinen Katechismen. Nein, das Doppelgebot der Liebe oder die goldene Regel bei Jesus, das ist alles positiv formuliert. "Liebe Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinem Denkvermögen und deinen Nächsten wie dich selbst." Das ist keine Vermeidungsethik wie "Tu das nicht, tu das nicht". Aber jetzt bei der goldenen Regel müssen wir etwas vorsichtiger sein, denn das ist ja nicht einfach eine christliche Regel. Sie kommt zwar im Christentum vor, Jesus verwendet sie an ganz wichtiger Stelle. Er nimmt sie also herein in seine Botschaft. Jesus macht in seiner Liebe sich die
goldene Regel zunutze und das tut der goldenen Regel sehr gut. Wir können dann an der Bergpredigt sehen, wie es ist, wenn die Liebe sich die goldene Regel zunutze macht. Aber wir sind jetzt ganz säkular, keinerlei weltanschaulich religiösen Vorgaben. Gut, und da muss man sagen: Ja, das stimmt schon. Also eine bloße Vermeidungsethik kann nicht das Ziel der Ethik sein, das stimmt schon. Aber die negative Form der goldenen Regel ist eindeutiger und sie ist einfacher in die Tat umzusetzen. Und das sind zwei Vorteile, die man nicht geringschätzen soll. Deswegen kommt auch
die goldene Regel insgesamt viel öfter in negativer Form vor. Das hängt damit zusammen, dass es eindeutiger ist, wenn ich etwas nicht tue, als wenn ich was tue und mich dann frage: "Habe ich es jetzt richtig gemacht?" Ja, und es ist einfacher in die Tat umzusetzen. Die positive Formulierung der goldenen Regel ist schwieriger in die Tat umzusetzen, bringt aber deutlich mehr. Und deswegen ziehe ich daraus folgenden Schluss: Wir sollen diese beiden Formen der goldenen Regel nicht gegeneinander ausspielen. Das führt zu nichts, wie die Erfahrung gelehrt hat. Denn es besteht zwischen der positiven Form der goldenen Regel und der negativen Form der goldenen Regel
kein Qualitätsunterschied. Es besteht kein qualitativer Unterschied, sondern eher ein quantitativer. - Jetzt kommt der vorletzte Punkt: Die goldene Regel gilt nicht in allen Situationen. Sie ist kein Patentrezept für sämtliche Fälle. Es gibt Situationen, in denen es nicht ratsam ist, sich nach der goldenen Regel zu verhalten. Man muss die jeweilige Situation ernst nehmen und man muss alle Beteiligten an dieser Situation ernst nehmen. Das ist ein großes Kapitel, das kann ich jetzt nicht aufmachen. In welchen Situationen gilt die goldene Regel nicht? Die goldene Regel gilt für alle Menschen, für alle Zeiten, für alle Religionen,
alle Kulturen. Aber sie gilt nicht in allen Situationen. Da müsst ihr unterscheiden. Also nehmen wir mal an, es liegt eine starke Persönlichkeitsstörung vor. Ich begegne einem richtig ausgewachsenen, fortgeschrittenen Masochisten. Ich weiß nicht, ob ihr einen echten Masochisten in eurer Umgebung habt. Ja, wenn ich dem nach der goldenen Regel begegnen müsste, müsste ich eigentlich ein Sadist sein. Das würde dem gefallen, aber das kann ich nicht. Oder es gibt bestimmte Menschengruppen, in deren Lage ich mich kaum oder gar nicht hineinversetzen kann. Könnt ihr euch in einen Blinden hineinversetzen? Oder können wir uns in einen Sterbenden hineinversetzen,
der weiß, dass er noch zwei oder drei Tage hat? Können wir uns in einen Altersdementen hineinversetzen? Und es gibt auch eben tiefe Unterschiede in Gewohnheiten, in Essgewohnheiten, in Höflichkeitsgewohnheiten und so weiter. Da gibt es sehr tiefe Unterschiede zwischen den Kulturen, die kann man mit der goldenen Regel nicht einfach überspringen. Die goldene Regel setzt in aller Regel voraus, dass der andere relativ ähnlich ist wie ich. Also wir alle, überlegt mal für euch, wir alle unterscheiden ja in irgendeiner Form zwischen wir, also die und die und die Personen, das sind wir, die Bayern sagen ja: "Wir sind wir." Jeder von euch hat irgendwie eine Wir-Gruppe,
zu der er sich zählt. Das kann seine Familie sein, seine Sportskameraden oder alle Deutschen, im Vergleich zu Saudi-Arabien sind wir Deutsche und so. Also wir haben eine Wir-Gruppe, die kann klein oder groß sein, je nachdem. Und dann sagen wir: "ihr da drüben". Also die goldene Regel klappt am besten bei den Menschen, die unterbewusst, instinktiv sagen: Das sind wir. Da ist also die Ähnlichkeit relativ hoch, dann klappt sie am besten. So, jetzt kommt der letzte Punkt, und dann bringe ich einen Schlussteil, der hinüberblickt ins Neue Testament, da mache ich ja dann zweimal weiter. Der letzte Punkt ist folgender: Viele Menschen haben sich in langen Zeiten dankenswerterweise
darum bemüht, die Reichweite der goldenen Regel immer mehr auszudehnen. Denn prinzipiell gilt sie allen Menschen dieser Erde. Aber in der Praxis, bei bestimmten Gruppierungen, Ideologien und Ausländern und unterschiedlicher sexueller Orientierung und was es alles gibt, kommen da Schwierigkeiten. Also nochmal, letzter Punkt: Es haben sich immer wieder viele Menschen dankenswerterweise darum bemüht, den Geltungsbereich der goldenen Regel auszudehnen. Es wurde an ihrer Entgrenzung gearbeitet. Aber dieser Entgrenzungsprozess ist bis heute noch nicht abgeschlossen, sondern er bleibt für uns alle eine Daueraufgabe. Wir können uns auf der
Stufe, in der wir heute die goldene Regel verstehen, nicht ausruhen. So weit also mein weltlicher Teil über den Kern aller Moral in allen Kulturen und allen Religionen. Da haben wir keinen Monopolanspruch, sondern Hinduisten, Buddhisten, Juden, Christen und Muslime, auch Bahai-Religionen nehmen es sehr ernst. Also die ist sehr, sehr weit verbreitet, Gott sei Dank. Und sie ist für heute das beste moralische Prinzip, in der für unsere Zukunft die Hoffnung liegt. Jetzt will ich zum Schluss noch so zehn, zwölf Minuten ins Neue Testament
schauen. Es gibt die goldene Regel zweimal im Neuen Testament. Im Alten Testament kommt sie nicht vor, im Judentum dann schon. Aber das lassen wir mal, das kann man ja nicht alles gleichzeitig behandeln. Es kommt zweimal im Neuen Testament vor. Die eine Stelle ist Matthäus 7, 12. Das ist in der Bergpredigt. Die Bergpredigt geht von Kapitel 5 bis Kapitel 7 Ende. Ab Kapitel 8 kommen dann Wundererzählungen. Also die Kapitel 5, 6 und 7, alle drei ganz, das ist die Bergpredigt. Und in 7, 12 - das ist jetzt also schon relativ weit - kommt die goldene Regel. So steht sie als Rede Jesu im Matthäus-Evangelium: "Alles nun, was ihr wollt,
dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen. Das ist das Gesetz und die Propheten." Ja, also Jesus sagt hier: "Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen. Das ist die gesamte Torah." Die Torah ist der Grundstock der jüdischen Bibel, das sind die fünf Bücher Mose und auch die Propheten. Also das ist natürlich so gemeint: In diesem Universalprinzip steckt die Gesamtbotschaft der Torah und der Propheten. Also hier wird der goldenen Regel auch ein enormer Stellenwert zuerkannt. Jetzt will ich dazu ein paar Sachen sagen, dann habe ich morgen schon eine gewisse Ausgangsbasis. Die Bergpredigt bei Matthäus ist
so aufgebaut: Sie hat einen Einleitungsteil, der geht von 5, 1 bis 5, 16. Diese 16 Verse sind die Einleitung, sehr wichtig. Dann kommt der große Hauptteil, der geht von 5, 17 bis 7, 12, also genau bis dorthin. Und der Hauptteil beginnt in 5, 17: "Denkt nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz aufzulösen, sondern ich bin gekommen, das Gesetz und die Propheten zu erfüllen." Da kommt also diese Formulierung vor, "das Gesetz und die Propheten". Wir haben leider so einen negativen Gesetzesbegriff, die "gesetzlichen Juden" oder der hat eine "gesetzliche Frömmigkeit", das müssen wir hier ganz weglassen. Das heißt halt im Griechischen nomos, und nomos heißt eben
Gesetz. Aber man muss das anders übersetzen. Die Torah ist die Weisung, die Wegweisung, nicht ein stures Gesetz. Deswegen feiern Juden ja das Fest der Torah-Freude. Da tanzen sie mit der Thora im Arm. Also die Thora ist für gläubige Juden kein schweres Gesetz, das kann es mal sein, aber das ist dann mal ein Aspekt, den es mal gibt. Aber grundsätzlich ist sie ein Geschenk von Gott an uns wie an kein anderes Volk. "Darin besteht die ganze Torah und die Propheten." Also dieser Vers in 7, 12 bildet sehr bewusst den Abschlussvers im
ganzen Hauptteil von 5, 17, wo auch direkt diese Worte "Gesetz" und "Propheten" vorkommen, bis 7, 12, hier kommt auch wieder vor "Gesetz" und "die Propheten". Beim Doppelgebot der Liebe, 22, 40, wird es auch wieder heißen: "Darin besteht das ganze Gesetz und die Propheten." Das sind die drei Stellen, die ganz stark miteinander zu tun haben. Also nach der Meinung Jesu ist die goldene Regel der Abschluss und die Zusammenfassung der gesamten Torah-Auslegung Jesu. Und da kommt zum Beispiel in Kapitel 5, Vers 44 das Gebot der Feindesliebe vor und auch das Gebot der Nächstenliebe und der Gottesliebe. Wie hängt das zusammen? Das machen wir dann morgen und am
Dienstag. Aber ich will nur sagen: Jesus gibt der goldenen Regel einen enormen Rang. Er steht am Abschluss des Hauptteils, als Abschluss und Zusammenfassung. Und Jesus bringt sie mit der Feindesliebe und der Nächstenliebe zusammen. Danach, 7, 13 bis Schluss, kommt der Schlussteil, da geht es wieder um andere Dinge. Also ich will so weit sagen: Auch Jesus und die Urchristenheit und Matthäus geben der goldenen Regel einen enormen Stellenwert. - Jetzt zum Schluss noch Lukas 6, Vers 27 bis 35, das könnt ihr ja zu Hause auch vielleicht lesen als Vorbereitung für die weiteren Vorträge.
Lukas 6, Vers 27 bis 35, das ist ein zusammenhängender Textabschnitt, eine Perikope, die ist sehr genau aufgebaut, ganz genau. "Aber ich sage euch, die ihr zuhört, liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, segnet, die euch verfluchen, bittet für die, die euch beleidigen. Und wer dich auf die eine Wange schlägt, dem biete die andere auch dar." Also er kommt hier sehr ausführlich, ausführlicher als Matthäus auf die Feindesliebe zu sprechen. Da hatten wir bis jetzt keinen Grund, dass wir auf sie zu sprechen kommen. Nochmal dieser Vers 27: "Ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde, tut wohl
denen, die euch hassen, segnet, die euch verfluchen, bittet für die, die euch beleidigen." Also das sind wirklich starke Sprüche. Ich darf euch sagen, nach 100 bis 200 Jahren Forschungsarbeit, solche Sprüche in dieser Klarheit gibt es nirgendwo auf der Welt. Nirgendwo. Also darin steckt was sehr Spezielles. Es gibt Annäherungsstufen, auch schon im Alten Testament und in bestimmten Kulturen. Aber in dieser Schlichtheit und Klarheit gibt es sie nirgendwo. Weiter: "Und wer dich auf die eine Wange schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. Wer dich bittet, dem gib. Und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück." Ja, das ist jetzt die erste Hälfte
dieser Perikope, Vers 27 bis 30, Feindesliebe, Gewaltverzicht und Freigiebigkeit im Borgen. Jetzt kommt die goldene Regel, Vers 31: "Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch." Das ist jetzt sehr erstaunlich. Also hier kombiniert Jesus sein Gebot der Feindesliebe und die goldene Regel. Die stehen also offensichtlich nicht im Widerspruch zueinander. Man kann auch nicht sagen, die Feindesliebe geht weit über die goldene Regel hinaus. Vorsicht, Vorsicht, denn ihr werdet vielleicht noch erkennen: Die goldene Regel interpretiert hier auch das Gebot der Feindesliebe. Die interpretieren sich hier gegenseitig. Das Gebot der goldenen Regel hat eine wichtige Funktion für
das Verständnis der Feindesliebe. Das kann ich aber jetzt heute nicht weiter behandeln. Jetzt kommt der Schluss: "Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder des Höchsten sein. Denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen." Also das ist ein erstaunlicher Kontext, in den Lukas die
goldene Regel stellt. - Insgesamt will ich den Vortrag so beschließen: Die goldene Regel ist der entscheidende Kern aller Moral, das Unterpfand unserer Hoffnung für die Zukunft. Nur mit ihr wird es Hoffnung geben, ohne sie nicht. Diese goldene Regel kommt auch im Neuen Testament vor, an betonter Stelle, hier im Kontext der Feindesliebe, des Gewaltverzichts und auch der deutlichen Überwindung des Tauschprinzips. "Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben", das ist ja wieder Reaktion, das ist eine Art positives Vergeltungsprinzip. Das ist mit der goldenen Regel nicht gemeint, dass ihr nur die grüßt, die euch grüßen. Nein, nein, da geht es schon um deutlich mehr.
Die goldene Regel (Mt 7,12) | 13.5.3
Acht Milliarden Menschen leben auf diesem Planeten, unzählige Kulturen, Weltanschauungen, Sprachen, Meinungen. Dass es da immer wieder Auseinandersetzungen gibt – im Sandkasten, im Parlament und zwischen Nationen – wundert kaum. Doch es gibt eine einfache Regel, die (fast) allen Menschen Frieden und Freiheit sichern, Verletzungen vermeiden und sogar Kriege verhindern kann. Wenn sich nur alle, vom Kleinkind bis zum Politiker, daran halten würden.
Siegfried Zimmer erklärt, welche Kultur diese Goldene Regel erfunden hat, wieso sich Menschen jeder Kultur und Religion daran halten können und warum sie trotzdem nicht auf jeden Menschen in jeder Situation angewandt werden kann.