Es sind nur wenige Verse in den Evangelien. Sie werden schnell überlesen. Und auch gern ignoriert, denn sie zeigen einen Jesus, der auf den ersten Blick so gar nicht zu dem liebevollen, sich aufopfernden Sohn Gottes passt, von dem gerne gepredigt wird. Die Geschichte der Tempelaktion – oder auch Tempelräumung – zeigt einen Jesus, der die Tische der Geldwechsler umschmeißt, der Händler vertreibt. Wenn man sich das so ausmalt, klingt die Tempelaktion wie der Beginn der Revolution, auf die so viele Juden damals gewartet haben. Doch Jesu Händlervertreibung im Tempel ist viel weniger – und viel mehr als das. Er beginnt keine Revolution. Er bringt lediglich die Botschaft nach Jerusalem, die er schon in ganz Galiläa gepredigt hat. Nach Jerusalem: Ins politische Zentrum der Juden, wo die Römer die Herrschaft über die Region ausüben. In den Tempel: Das Herz des jüdischen Glaubens, wo Sünden vergeben werden, wo Gott selbst wohnt. Es ist keine Revolution. Es ist der Anbruch einer neuen Zeit.

Sie hatten sich das so einfach vorgestellt: Im Leben begeht man immer wieder Sünden, das lässt sich kaum vermeiden. Dann geht man hin, kauft einen Ablassbrief, und der Platz im Himmel ist gesichert. Dachten sie. Aber dann kam dieser junge Pfarrer und haut den ganzen schönen Plan kaputt. Er wirft der Kirche nicht nur vor, mit dem Ablasshandel Geld zu machen. Viel schlimmer findet er, dass die Kirche dadurch Gläubige heranzüchtet, die aus Furcht vor Strafe wertloses Papier kaufen statt ehrlich Buße zu tun und die Strafe anzunehmen. Dieser sogenannte Beichtstuhlstreit ist Auslöser einer Revolution, die das Verständnis der Sündenvergebung zu Luthers Zeiten über den Haufen wirft. Und die theoretisch alle Christen von der Angst vor der Sünde befreien könnte. Die Angst aber belastet noch immer die Gläubigen. Auch Nicht-Christen fühlen sich bisweilen von der eigenen Schuld erdrückt. Diese schlechten Gefühle zu nehmen und Rat zu geben im Umgang mit Schuld und Sünde, das sollte eigentlich die Aufgabe der Beichte sein. Die Abnahme der Beichte ist also Seelsorge am anderen. Der Leipziger Theologe Peter Zimmerling erklärt, wie sich die Gläubigen einst die Sündenvergebung zu erkaufen suchten, warum jeder Gläubige die Beichte abnehmen kann und was Luther damit meinte, als er dazu aufrief, »tapfer zu sündigen«.

Christentum – das klingt altmodisch, langweilig, naiv. Spiritualität aber klingt modern, entspannend, ein bisschen exotisch. Spirituelle Menschen werden bewundert, Christen werden belächelt. Dabei meint Spiritualität nichts anderes, als den Glauben an etwas, der eingeübt wird und ethisches Handeln im Alltag verlangt. Nichts anderes tun Christen. Sie suchen die Nähe zu Gott und versuchen, ihren Glauben in den Alltag zu integrieren. Das versuchte auch Martin Luther. Er war spirituell, lebte seinen Glauben, wollte ihn erfahren. Und wie so oft in Luthers Theologie hatte seine Spiritualität, sein Verständnis eines lebendigen Glaubens, auch mit Sünde und Vergebung zu tun. Der Leipziger Theologe Peter Zimmerling erklärt, was der christliche Glaube mit Spiritualität zu tun hat, wie der Glaube erfahrbar wird und warum schwierige Lebenssituationen das beste sind, was uns für unseren Glauben und unsere Spiritualität passieren kann.

Es ist die dunkelste Seite Martin Luthers – unangenehm, beschämend, geradezu schmerzhaft ist es, seine späteren Schriften über die Juden zu lesen. Sie strotzen nur so von Vorurteilen und Gerüchten, die man vierhundert Jahre später so ähnlich wieder in Deutschland hören würde. Der junge Luther allerdings dachte noch ganz anders. Er hatte noch betont, dass „Jesus Christus ein geborener Jude sei“, hatte gefordert, Juden in die Zünfte zu lassen und mit ihnen über den Glauben zu diskutieren. Wie kam es zu diesem Wandel? Wie wurde der junge Mönch, der gefordert hatte, Juden besser in die Gesellschaft zu integrieren, zu dem einflussreichen Reformator, der die Juden aus der Gesellschaft auslöschen wollte? Ganz ungeschönt erzählt der Marburger Theologe Thorsten Dietz von den judenverachtenden Schriften Luthers, erklärt die überraschende Wandlung Luthers vom Paulus zum Saulus und erläutert, ob Luther dennoch ein Vorbild für Christen bleiben kann.

Mit Begeisterung und einigen Lachern aus dem Publikum steigt der Marburger Theologe Thorsten Dietz ein in ein Thema, das eigentlich gar nicht lustig ist: die Angst. Ein fieses Gefühl, das wir nicht zugeben wollen, wenn es uns doch mal packt. Und gerade Menschen, die bewundert werden, die großen Vorbilder der Geschichte verbindet man kaum mit Angst und Furcht. Dabei fürchten selbst die Mutigsten zumindest den Tod – die Ungewissheit und Unendlichkeit, die dahinter lauert. Für Martin Luther war die Angst vor dem Tod sogar lebensbestimmend. Todesangst war es, die ihn ins Kloster trieb, Todesangst quälte ihn selbst dort, obwohl das Dasein als Mönch im damaligen Glauben die größtmögliche Sicherheit bot, nach dem Tod in den Himmel zu kommen. Doch überall wurde die Todesangst geschürt. Folterszenen aus der Hölle und Bildnisse qualvoller Märtyrertode schmückten die Kirchen. Diese Angst vor dem Tod ging zu Luthers Zeiten einher mit der Angst vor der Hölle. Dabei heißt es in der Bibel an verschiedenen Stellen: „Fürchtet euch nicht.“ Doch Furcht und Angst sind nicht das gleiche. Wie wir unnötige Angst verlieren, aber die gute, die „reine“ Furcht bewahren, erklärt Thorsten Dietz anschaulich und alltagsnah. So dass zum Ende des Vortrags selbst diese Aussage Luthers einleuchtet: Er werde Gott auch dann noch lieben und loben, wenn er in der Hölle landen sollte.

Machen wir uns nichts vor: Wir alle urteilen über andere. Wir lästern über Kollegen, beschweren uns über die unfreundliche Kassiererin im Supermarkt, glauben, die eigenen Kinder seien besser erzogen als die Nachbarskinder. Gleichzeitig sind wir alle abhängig von der Meinung anderer. In unserer Leistungsgesellschaft ist die Meinung der Kollegen und Chefs nahezu überlebenswichtig. Hält der Chef uns für nützlich, behalten wir den Job. Lästern die Kollegen und halten uns für unfähig, dann beantragen wir bald Arbeitslosengeld. Wen andere Menschen für unnütz halten, schlecht bewerten und verurteilen, der hat keinen Platz in der Gesellschaft. Was andere von uns halten kann uns aufbauen oder zerstören. Martin Luther aber ging es immer darum, was Gott von einem Menschen hält. Diese Frage bestimmte sein Leben, denn die Meinung Gottes war im damaligen Verständnis noch lebensspendender oder zerstörender als die Meinung der Menschen. Wen Gott schlecht findet, der kommt in die Hölle. Glaubte man. Bis Luther durch seine Rechtfertigungslehre mit diesem Glauben aufräumte. Was so sperrig klingt, bringt Siegfried Zimmer auf einen einfachen Satz, den er dann leicht verständlich in seine Einzelteile zerlegt. Und danach ist endlich klar, was diese „Rechtfertigung“ eigentlich bedeutet. Warum Gott jeden Gläubigen für gerecht erklärt, egal welche Sünden und Verbrechen, er begangen hat. Wie wir uns frei machen von dem Urteil anderer. Und wie  Christen lernen, andere nicht zu verurteilen.